Kate und Alex - der alltägliche Wahnsinn einer Patchworkfamilie  hört nicht mehr auf - Anne Reinert - E-Book

Kate und Alex - der alltägliche Wahnsinn einer Patchworkfamilie hört nicht mehr auf E-Book

Anne Reinert

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Beschreibung

Kate und Alex können es immer noch nicht fassen, was an ihrer Schule in Lonecity passiert ist. Die Situation ist für sie und die anderen Schüler nur schwer zu ertragen. Alex möchte sich gerne von den Strapazen erholen und fasst den Entschluss, wieder zu seinem Vater zu ziehen. Je länger er jedoch bei seinem Vater lebt, desto mehr plagen ihn Zweifel, ob er Kate alleine lassen kann. Soll er in seiner Heimatstadt bleiben oder wieder nach Sun Village zurückkehren?

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Anne Reinert

Kate und Alex - der alltägliche Wahnsinn einer Patchworkfamilie hört nicht mehr auf

Band 3

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Kate schaute nachdenklich aus dem Fenster. Das Wetter war regnerisch und kalt. Typisch für den November. Die grauen Wolken zogen an ihrem Fenster vorbei. Dabei prasselten die vielen Regentropfen       ununterbrochen auf die Erde herab. Die Blätter hatten sich gelb verfärbt und fielen von den Ästen herab.

Kate hatte nicht viel an diesem Sonntag zu tun und schaute dem ganzen Schauspiel interessiert zu.

 

Wenn sie die Regentropfen an ihrer Fensterscheibe betrachtete, dann merkte sie wie unterschiedlich und einzigartig sie alle waren. Einige von ihnen waren ganz klein und unscheinbar, andere wiederum       wirkten größer und fielen sofort auf. Viele Blätter hatten sich gelb oder braun verfärbt.

Die Kälte, der Wind und der Regen taten ihr Übriges, damit die Bäume nach und nach kahl wurden. Die Äste verloren immer mehr Blätter und sahen da draußen einsam aus.

Allerdings spielte es am Ende gar keine Rolle mehr wie sie aussahen.

Sie alle erwartete das gleiche Schicksal. Kate seufzte bei diesem Gedanken.

 

Der Regen versickerte im Boden und verschwand nach und nach. Das war das Schicksal der Regentropfen. Das triste Ende. Der Regen wurde zu Wasser und das Wasser verschwand schließlich in der           Erde oder der Kanalisation.

Ein ziemliches einsames und verlorenes Ende der Regentropfen.

Allerdings war der Regen sehr wichtig für die Natur. Er war nicht sinnlos und hatte eine wichtige Bedeutung.

Die Regentropfen hatten einen wichtigen Sinn in diesem Leben und verschwanden nicht ohne jegliche Bedeutung. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag für die Natur und die Erde. Und für die ganze             Menschheit.

 

Ja, die Natur hatte sich etwas Wichtiges dabei gedacht. Wie interessant dieser ganze Kreislauf der Natur doch war. Es war alles wichtig und hatte eine Bedeutung.

Warum konnte es nicht auch bei den Menschen so einfach sein? Es wäre interessant zu wissen, welche Bedeutung und welchen Sinn mache Dinge in ihrem eigenen Leben hatten. Die letzten Wochen           waren so dermaßen intensiv und schrecklich gewesen, so dass sich Kate überhaupt keinen Rat mehr wusste.

 

Was für einen Sinn hatte Valentins Tod mit sich gebracht? Und der furchtbare Amoklauf in ihrer Schule? Von den toten Mitschülern und Lehrern ganz zu schweigen?

 

Kate wusste überhaupt keine Antwort darauf. Sie wünschte sich, dass sich die verschiedenen Puzzle-Teile zusammenfügen würden und sie ein ganzes, komplettes Bild von Allem erkennen würde.

 

Allerdings schien das alles in ganz weiter Entfernung zu sein.

 

Was sie seit Wochen fühlte war eine innere Leere. Eine Einsamkeit und Verwirrtheit, welche sie nur einmal in ihrem Leben gespürt hatte. Als ihre Mutter Maria bei dem Autounfall vor mehreren Jahren           ums Leben gekommen war.

Damals hatte sie sich genauso einsam, verloren, verwirrt und durcheinander gefühlt.

Sie hatte keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen mehr.

 

Valentin war nicht mehr da. Er war nicht mehr am Leben. Warum musste er bloß diesen Amoklauf planen und in die Tat umsetzen?

Kate plagten noch immer Schuldgefühle, wenn sie an ihn dachte.

Vielleicht hätte sie etwas ändern können? Ihn überreden können, es sein zu lassen? Wenn sie doch nur mit ihm zusammengeblieben wäre. Vielleicht wäre es dann nicht soweit gekommen. Vielleicht             wären dann ihre Lehrer und Mitschüler noch am Leben. Vielleicht wären zahlreiche Leben in Lonecity nicht einfach so ausgelöscht gewesen.

 

Kate schwirrte der Kopf. Wenn sie doch nur etwas hätte bewirken können.

Sie hätte alles getan, um die Uhr zurück zu drehen. Die Zeit angehalten und Valentin ins Gewissen geredet. Ihn von der schrecklichen Tat abgehalten.

 

Da war jedoch der Abschiedsbrief, welchen sie am gleichen Tag des Amoklaufs gelesen und danach in den Fluss geworfen hatte. Die selbst geschriebenen Zeilen gingen Kate nicht mehr aus dem Kopf.         Valentin hatte sich solche Mühe beim Schreiben gegeben. Und er wollte, dass sie ihn in guter Erinnerung behielt. Er wollte nicht, dass sie ihn als Monster sah.

 

Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr bekam sie Kopfschmerzen. Wie konnte sie Valentin als liebevollen und tollen Menschen in Erinnerung behalten, wenn er mehrere Mitschüler und Lehrer             kaltblütig erschossen hatte? Wie sollte sie das anstellen? Auch wenn sie sich Mühe gab, gut über ihn zu denken, gelang es ihr nicht.

 

Kate war einfach nur wütend. Auf sich selbst. Auf Valentin. Und auf das Leben.

 

Ihr Leben und das gesamte Leben von Lonecity war seit dem Amoklauf nicht mehr das selbe. Ihre Mitschüler waren verängstigt, die Lehrer immer noch schockiert und die Einwohner tieftraurig.

Es verging kein einziger Tag, an welchem keine Blumen oder Stofftiere an der Schule abgegeben wurden. An den Treppen hatte sich mittlerweile eine ganze Reihe an Blumen, Geschenken, Kerzen und         anderen Dingen angesammelt.

Die Menschen dachten jeden Tag an die Opfer und wollten mit verschiedenen Andenken und Geschenken ihre Trauer zum Ausdruck bringen.

 

Aber es war zu wenig.

 

Nichts konnte diese schreckliche Tat ungeschehen machen.

 

Keine Blumen der Welt konnten die Toten wieder auferstehen lassen.

 

Valentin hatte Menschenleben ausgelöscht. Und ein Chaos angerichtet.

Er hatte Menschenleben zerstört.

 

Wie konnte er nur diesen Abschiedsbrief schreiben und ihr mitteilen, dass er sie für immer lieben wird? Was sollte diese Weisheit ihr bringen? Sie wurde von einem Mörder geliebt. Diese Einsicht machte       sie traurig und wütend zugleich. Schließlich war es kein Kompliment von einem Mörder geliebt zu werden. Wer wollte schon von einem Menschen geliebt werden, welcher im Stande war Menschenleben       auszulöschen?

 

Kate wusste mit dieser Liebe nichts mehr anzufangen. Und sie wollte auf keinen Fall von einem Mörder geliebt werden. Nein, ihr wäre es lieber gewesen, wenn Valentin sie verachtet hätte. Ja, wenn er         ihr im Abschiedsbrief von seinen Hassgefühlen ihr gegenüber berichtet hätte. Damit hätte sie wesentlich einfacher umgehen können. Aber so. Valentin liebte sie bis zum Schluss und wollte sie sogar vor       dem Amoklauf in der Schule warnen. Ja, sie dazu bringen, zu Hause zu bleiben. Was sie schlussendlich auch beinahe getan hätte.

Dann wären ihr diese schrecklichen Bilder und Erinnerungen von den schreienden und toten Menschen erspart geblieben.

 

Ja, Valentin wollte sie beschützen. Und das hatte er dann mit dem Schlüssel zur Putzkammer getan. Er hatte sogar Alex beschützt und in Sicherheit gebracht. Obwohl er ihn nie wirklich leiden konnte.           Und trotzdem wollte er nicht, dass ihm bei dem Amoklauf etwas zustoßen würde.

Und das nur für sie.

Valentin hätte wahrscheinlich alles für sie getan.

 

Normalerweise hätte sie sich über diese Einsicht gefreut. Aber jetzt kam keine Freude auf. Nein, Kate fühlte sich weder glücklich noch geliebt. Es war eher das Gegenteil der Fall. Sie war einfach nur             tieftraurig.

Über das Geschehene, den Brief und den Amoklauf.

Außerdem hatte sie sehr starke Schuldgefühle. Wenn sie doch nur anders gehandelt, reagiert oder gesprochen hätte. Vielleicht hätte sie den Amoklauf verhindern können. Wenn sie anders mit Valentin         umgegangen wäre.

Allerdings war Valentin der Jenige, welcher alle ihrer Kontaktversuche abgeblockt hatte. Kate hatte sich um einen guten Umgang mit ihm bemüht, war aber immer wieder gescheitert. Valentin wollte             schlicht nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen.

 

Zum Glück hatte diesen Abschiedsbrief niemand anderes gelesen. Sogar die Polizisten hatten sich zurückgehalten und gemeint, dass sie den Brief nicht angerührt hätten.

Kate war erleichtert darüber, dass sie den Brief schnell entsorgt hatte.

So musste sie sich nicht weiter mit ihm beschäftigten.

Vielleicht würde sie die Inhalt des Briefes sogar irgendwann vergessen. Ja, das wäre das Beste. Wenn die gelesenen Zeilen nach und nach verblassen und schließlich vollkommen aus ihrem Gedächtnis         verschwinden würden.

Wenn das passieren würde, dann wäre sie der glücklichste Mensch auf dieser Erde.

 

Kate stand von ihrem Platz auf und schaute zur Uhr. Es war bereits Nachmittag und eigentlich sollte es bald Kuchen und Tee geben. Susanne umsorgte sie und John so gut sie es eben konnte. Es war           wohl ihre Art, Kate und der gesamten Familie zu zeigen, wie wichtig sie ihr alle waren.

 

Gerade nach dem schrecklichen Amoklauf an Kates Schule wollte Susanne für alle nur das Beste. Es gab jeden Tag Kuchen, Tee, Süßigkeiten, Obst, Gemüse und köstliche Aufläufe. Susanne kochte wie         besessen verschiedene Gerichte und putzte jeden Tag das gesamte Haus von oben bis unten durch.

Eines Tages wollte sie sogar die gesamte obere Etage durchwischen und aufräumen. Dann musste Kate einschreiten und Susanne zurecht weisen. Es war zwar lieb von ihr gemeint, allerdings brauchte         Kate ihren eigenen Rückzugsraum. Außerdem konnte sie ihr Zimmer auch selbst einmal in der Woche aufräumen. Susanne war zuerst etwas beleidigt, fing sich jedoch schnell wieder.

 

Kate schaute kurz in den Spiegel, um sicher zu gehen, dass sie einigermaßen normal aussah. Es war ein Sonntag und eigentlich spielte es keine große Rolle wie sie aussah. Sie hatte weder eine                   Verabredung noch musste sie sich für jemanden hübsch machen. Ein kurzer Blick reichte bereits aus, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Kate machte die Tür auf und ging durch den Flur.

 

Den leeren und verlassenen Flur.

 

Auf einmal blieb sie stehen und drehte sich um. Allerdings war dort niemand zu sehen. Das Zimmer von Alex war leer und verlassen. Es standen zwar einige Möbel und Gegenstände in seinem Zimmer         herum. Allerdings befanden sich dort keine persönlichen Dinge mehr von ihm.

 

Alex war nicht mehr da.

 

Kate hatte seit dem Auszug von Alex die ganze Etage wieder alleine für sich. Wenn sie das Haus verließ und wieder zurück kam, war Alex nicht da.

Bei diesem Gedanken musste Kate plötzlich gegen ihre Tränen ankämpfen. Sie spürte wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Die Tränen kamen hoch und kullerten ihre Wangen herunter. Jetzt fühlte sie       sich traurig und schuldig zugleich.

 

Diese Schule und dieser Ort haben Alex verjagt. Ja, ihn regelrecht in die Flucht getrieben. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Ohne sie.

Alex hatte sie weder in seine Pläne eingeweiht noch um ihre Erlaubnis gefragt.

 

Er war einfach gegangen.

 

Und diese Entscheidung richtete sich eindeutig gegen diesen Ort. Dieses Haus.

Und Kate selbst.

 

Anscheinend wollte Alex alles, was hier passiert war, vergessen. Vielleicht wollte er sogar sie vergessen. Kate kannte die genauen Gründe für seine Entscheidung nicht. Alex hatte seine Entscheidung            alleine und sehr plötzlich getroffen. Er hatte einfache seine Sachen in zwei Taschen gepackt und ist dann schnell weggefahren.

 

So viel hatte sich nach dem Amoklauf an der Schule in Lonecity verändert. Die Menschen waren nicht mehr so unbeschwert wie früher. Einige ihrer Mitschüler hatten die Schule gewechselt. Andere              Familien sind sogar in andere Städte oder Dörfer gezogen. Sie wollten nicht mehr an diesen schrecklichen Ort zurückkehren.

 

Nach dem Amoklauf wurde die Schule in Lonecity für mehrere Wochen geschlossen. Danach ging der Regelunterricht wieder nach und nach los. Allerdings trauten sich viele Mitschüler immer noch nicht       in die Schule hinein. Deswegen konnten alle Schüler zwischen dem normalen Regelbetrieb in der Schule und dem Unterricht zu Hause wählen.

 

Kate fühlte sich nicht gut bei dem Gedanken, wieder zur Schule zu gehen. Deswegen hatte sie den Unterricht zu Hause gewählt. Sie verbrachte mehrere Stunden am Tag am Computer und wurde ab           und zu von ihren Lehrern angerufen und gefragt, wie weit sie mit dem Unterrichtsstoff gekommen war.

 

Kate wischte sich die Tränen aus dem Gesicht weg und schaute sich nach einem Taschentuch um. Sie stand immer noch im Flur und starrte wie gebannt auf die offene Tür von Alex` Zimmer.

Dann erinnerte sie sich daran, dass Alex immer Taschentücher auf seiner Tischkommode liegen hatte. So schritt sie nach vorne und ging in das Zimmer hinein. Die Taschentücher lagen wie vermutet auf       der Kommode direkt neben seinem Bett.

 

Kate griff nach einem Taschentuch und wischte sich die Tränen aus Gesicht weg. Danach blieb sie wie angewurzelt an der Kommode stehen und schaute sich ein Foto an. Auf diesem Bild waren Alex,           Susanne, John und sie selbst zu sehen.

Kate nahm das Bild in die Hände und schaute es sich näher an. Das Foto wurde kurz nach dem Zusammenziehen der Patchworkfamilie gemacht.

 

Wie unbeschwert und fröhlich sie dabei doch wirkten. Alex grinste regelrecht in die Kamera. Je länger sie sich das Bild anschaute, desto schlechter fühlte sie sich. Alex war weg und sie wusste nicht, ob         sie ihn jemals wiedersehen würde.

Und das konnte sie ihm nicht einmal übel nehmen.

Nach dem furchtbaren Amoklauf mit mehreren Toten an ihrer Schule waren alle traumatisiert. Auch sie selbst.

 

Kate konnte nach dem Amoklauf einige Tage lang nicht sprechen und hatte mehrere Stunden am Tag schweigend am Fluss gesessen. Nur dort fühlte sie sich sicher und kam zur Ruhe. Außerdem konnte       sie dort sehr gut über das Geschehene nachdenken. Ja, sie fühlte sich an diesem Platz geborgen, wohl und sicher.

Wenn sie jedoch wieder nach Hause ging, dann kamen die ganzen Erinnerungen an die Schule und den Amoklauf hoch.

Kate wusste überhaupt nicht wie sie noch an ihre alte Schule zurück kehren sollte.

 

Das ganze Blut im Flur und im Treppenhaus..... .

 

Kate zucke bei diesen Erinnerungen zusammen und fing an zu zittern. Dann stellte sie das schöne, gemeinsame Foto wieder zurück auf die Tischkommode.

Ja, Kate war traumatisiert und konnte weder klar denken noch handeln.

 

Sie schaute sich noch einmal im Zimmer um und ging schließlich wieder raus. Dann machte sie die Tür zu und entschloss sich, nach unten in die Küche zu gehen. Beim Gehen nahm sie einen intensiven       und köstlichen Geruch wahr. Susanne war wieder dabei, eine Köstlichkeit für sie und ihren Dad zuzubereiten. Kate ging direkt auf die Küche zu und spähte hinein.

 

„Hallo mein Schatz, lass dich mal drücken. Gut siehst du heute aus. Wie fühlst du dich?“, fragte Susanne aufgeregt, ging auf Kate zu und umarmte sie.

 

„Ach, es geht. Es geht schon wieder, Susanne. Du weißt schon....“, antwortete Kate und wusste nicht so recht was sie sagen sollte. Die Wahrheit etwa? Dass es ihr beschissen ging? Oder sollte sie lieber       lügen und sagen, dass es ihr toll gehe? Zum Glück nahm Susanne ihr diese Entscheidung ab. Kate wusste, dass sie bei ihr nicht zu lügen brauchte. Susanne würde ihr eine Lüge sowieso nicht abkaufen.

 

„Schatz, lass es raus. Wenn du traurig sein musst, dann sei traurig. Du musst dich von diesem ganzen Schock erholen. Es ist okay und vollkommen in Ordnung, zu weinen und geschockt zu sein. Du             weißt doch, was der Therapeut gesagt hat.“, sagte Susanne und strich Kate liebevoll über die Haare. Dabei schaute sie Kate liebevoll und verständnisvoll an.

 

„Ach Susanne....ich....es wird einfach nicht besser. Keine Ahnung...und dann...ist Alex auch noch weg. Ich fühle mich grauenvoll.“, sagte Kate und wunderte sich über ihre eigene Offenheit. Sie wusste,         dass es Zeit brauchte bis der Schock ganz überwunden war. Allerdings verging die Zeit sehr langsam.

Und der Schock saß sehr tief.

 

„Lass dir Zeit. Es war ein schlimmes Erlebnis..ein großes Trauma...und das für uns alle. Ich und John sind sehr froh, dass euch zwei nichts passiert ist.“, antwortete Susanne und machte eine Pause. Sie         setzte sich auf einen Stuhl und nickte Kate zu.

 

Als Kate sich auf einen anderen Stuhl direkt ihr gegenüber hingesetzt hatte, hörte sie Susanne gespannt zu. Schließlich sprach ihre Stiefmutter weiter.

 

„Weißt du Kate, Alex wirkt oft sehr stark und belastbar. So als würde ihn nichts treffen. Aber...in seinem Inneren....ist er verwundbar. Er zeigt es einfach nicht nach außen. Ich denke, die ganze Situation       in der Schule hat ihn sehr mitgenommen. Er muss Kraft tanken und sich erholen. Und das kann er gut bei seinem Vater.“, sagte Susanne und lächelte Kate zu. Dann schwieg sie einen Moment lang und       schien dabei auf eine Antwort von ihr zu warten.

 

„Ich verstehe das. Wirklich. Susanne. Ich meine... . Es ist gut, dass er bei seinem Vater Abstand von der gesamten Situation gewinnt. Und seine Freunde tun ihm bestimmt gut. Wahrscheinlich wollte er        auch von mir Abstand gewinnen... .“, antwortete Kate und wurde prompt von Susanne unterbrochen.

 

„Schatz, er wollte nicht von dir weg. Er wollte von dieser Schule und allem, was ihn an diesen Amoklauf erinnert, weg. Diese Stadt und alles drum herum.“, sagte Susanne und stand von ihrem Stuhl auf.

 

„Ja, aber das....Susanne...ich habe das Gefühl, dass er meinen traurigen Anblick nicht mehr ertragen hat. Schaue mich doch mal an. Wie depressiv ich bin...“, sagte Kate und schaute Susanne traurig           an. Sie wollte noch etwas ergänzen, wurde jedoch erneut von Susanne unterbrochen.

 

„Kate, ich weiß, dass du ihm sehr am Herzen gelegen hast. Und mit großer Wahrscheinlichkeit tust du das immer noch. Er meldet sich schon. Er hat dich gern. Und du weißt das. Du musst Geduld               haben. Und du bist nicht depressiv. Du bist traumatisiert und daran arbeiten wir doch. Sag mal, wie war denn dein letztes Gespräch beim psychologischen Beratungsdienst?“

 

Kate räusperte sich und stand von ihrem Stuhl auf. Seit dem Amoklauf an ihrer Schule musste sie einmal in der Woche zur psychologischen Beratung gehen und über ihre eigenen Gefühle, Gedanken           und Erinnerungen sprechen.

Sie verstand nicht so recht, was diese Beratungsstunden bringen sollten, ging jedoch hin. Susanne bestand darauf und war der Meinung, dass es ihr helfen würde.

 

„Ach, naja, wie immer. Wir haben über meine Träume gesprochen. Der Therapeut meinte, dass ich Fortschritte mache und die Alpträume normal seien. Keine Ahnung....“, sagte Kate verunsichert. Sie           wusste wirklich nicht, was diese Gespräche bringen sollten. Am liebsten hätte sie diese Beratungen beendet.

Das Sprechen über die Alpträume und die schlimmen Gefühle, die sie hatte, waren sehr belastend für sie. Ja, sie fühlte sich auch einen Monat nach dem Amoklauf schlecht. Und das nicht nur psychisch.       Nein, sie fühlte sich auch körperlich nicht gut. Ihre Psyche wirkte stark auf ihren Körper ein.

An einigen Tagen hatte sie überhaupt keinen Hunger und ihr war richtig übel. Und an machen Tagen würde sie am liebsten gar nicht von ihrem Bett aufstehen. Sie hatte es nur der liebevollen Fürsorge         von Susanne und ihrem Vater zu verdanken, dass sie regelmäßig Essen zu sich nahm und aus dem Bett kam.

 

„Geduld haben, Schatz. Es ist alles ganz normal was du empfindest. Dein Therapeut kennt sich aus. Er ist auf Traumatisierungen spezialisiert. Dein Körper muss wieder zur Ruhe kommen. Und das geht        nicht von heute auf morgen. Du hast etwas Furchtbares durchlebt und deine Psyche ist stark mit den Geschehnissen beschäftigt.“, sagte Susanne und umarmte sie. Dann drückte sie ihr einen Kuss auf        die Stirn und lächelte Kate aufmunternd zu.

 

„So, willst du mir helfen? Da drüben stehen die Teller, bring sie doch bitte her.“, sagte Susanne und widmete sich wieder dem Kochen und Backen zu.

 

Kate ging zu den Tellern und kümmerte sich um den Tisch. Sie stellte Teller, Besteck und einige Tassen auf den Tisch. Die Ablenkung tat ihr gut und lenkte sie von ihren eigenen Gedanken ab. Nach und       nach verstand sie, warum Susanne nach dem Amoklauf so viel mit der Hausarbeit beschäftigt gewesen war.

Es hatte einen therapeutischen Effekt auf sie. Wenn sie mit Kochen, Putzen, Wischen und Waschen beschäftigt war, musste sie nicht nachdenken. Und das half ihr mit der gesamten Situation                       umzugehen.

Kate seufzte lauf auf. Wie schlau Susanne doch war.

Vielleicht sollte sie es ihr gleich tun und genauso viel im Haushalt mithelfen.

 

„Hallo, mein Schatz, was gibt es denn heute Leckeres zu essen?“

 

Kate drehte sich um und sah ihren Vater in der Küche stehen. Anscheinend war er aus seinem Arbeitszimmer gekommen und schaute sich nach dem Essen um. Er wirkte wie immer gepflegt und                 ordentlich. Nach dem Amoklauf hatte er sich kaum verändert. Er wirkte einfach so wie früher. Und verhielt sich auch ganz normal. Als wäre nichts geschehen.

 

Entweder verdrängte er das Geschehene sehr gut oder er konnte sich vor ihr und Susanne gut zusammenreißen. Wahrscheinlich wollte er nicht vor seiner Tochter schwach und deprimiert wirken. Es             reichte ja bereits, dass Kate diese Rolle übernahm und in dieser komplett aufging.

 

„Es gibt leckeren Erdbeerkuchen. Er ist gleich fertig. Du kannst uns ja schon mal Tee machen.“, antwortete Susanne.

 

„Ok, dann mache ich das gleich.“, sagte Kates Vater. Beim Vorbeigehen begrüßte er freundlich seine Tochter.

 

„Hallo Kate, wie geht es dir? Du siehst heute wie ein Engel aus. Und du hast es sehr schön zurechtgemacht.“, sagte John und umarmte seine Tochter.

Kate löste sich aus seiner Umarmung und widmete sich erneut dem Besteck auf dem Tisch zu.

 

„Danke Dad, du siehst heute auch gut aus. Zumindest bist du sehr gut gelaunt.“, antwortete Kate und lächelte John zu.

 

„Warum sollte ich das nicht sein? Ich habe meine tolle, großartige und schöne Tochter bei mir. Sie ist gesund und unversehrt. Und außerdem ist Susanne immer noch da. Da freut sich mein Herz. Was            sollte es noch Schöneres geben? Mir fallen keine weiteren Dinge ein.“, sagte Kates Vater und schaute sie nachdenklich an. Dann lächelte er wieder und summte vor sich hin. Anscheinend gab es für ihn        nicht Besseres als Kate und Susanne gesund und munter bei sich zu haben.

 

„Weißt du, Kate, ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass dir nichts passiert ist. Der Tag, an dem du unversehrt aus der Schule gekommen bist, ist wie mein zweiter Geburtstag. Ich glaube, wir sollten                diesen Tag feiern.“, sprach Kates Vater weiter und schmunzelte vor sich hin.

 

„Dad, bitte nicht. Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?“, fragte Kate und hoffte darauf, dass es ein Scherz war. Sie wollte diesen schrecklichen Tag einfach nur vergessen. Aus ihrem Gedächtnis                löschen. Und ihr Vater wollte diesen Tag wie einen Geburtstag feiern. Kate schwirrte bei dieser Vorstellung der Kopf.

 

„Doch, ich meine es wirklich ernst, Kate. Wir sollten diesen Tag feiern. Mit Geschenken und so etwas. Natürlich würdest du die Geschenke bekommen, nicht ich. Ich meine, dieser Tag sollte dein Feiertag        werden. Dein zweiter Geburtstag.“, antwortete John und schaute Kate direkt an. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, widmete er sich der Teekanne zu und stellte diese direkt in der Mitte des Tisches auf.

 

Als Kate nichts weiter dazu sagte und ihn nur irritiert anblickte, gab er schließlich auf. John setzte sich auf einen Stuhl und nahm eine Zeitung in die Hand. Dann schaute er erneut seine Tochter an.

 

„Ok, ist doch keine so gute Idee. Ich habe es verstanden. Komm, gleich gibt es leckeren Kuchen. Schau mich nicht so böse an. Ich habe es nur gut gemeint“, sprach Kates Vater weiter und las die                Nachrichten in der Zeitung.

 

„Danke, Dad, für deine Einsicht. Diese Idee war wirklich nicht besonders toll.“, antwortete Kate und setzte sich hin. Sie versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und sich positiven Gedanken zu             widmen.

Ja, sie wollte positiv denken und sich eine gute Zukunft für sich und alle anderen ausmalen. Allerdings gelang es ihr nicht besonders gut. Ihre Gedanken schweiften unruhig hin und her. Am liebsten             wär sie wieder aufgestanden und nach draußen zum Fluss gegangen.

Als sie jedoch aufstehen wollte, verwarf sie diese Idee wieder. Sie wusste mittlerweile wie besorgt ihr Vater und Susanne waren, wenn sie die Zeit vergaß und stundenlang am Fluss saß. Genau das hatte       sie die ersten Tage nach dem Amoklauf getan.

Deswegen überlegte sie es sich dieses Mal anders. Sie blieb einfach sitzen und wartete auf den leckeren Erdbeerkuchen von Susanne.

 

Als hätte Susanne ihre Gedanken erraten, holte sie den fertigen Erdbeerkuchen aus dem Backofen. Der köstliche Duft breitete sich in der gesamten Küche aus. Susanne strahlte über das gesamte                Gesicht. Anscheinend war sie mit dem Ergebnis ihrer Koch- und Backkünste sehr zufrieden.

 

„So, ihr Lieben, hier kommt der leckere Erdbeerkuchen. Die Erdbeeren sind ganz frisch vom Markt. Lasst uns essen, tollen Tee trinken und den Sonntag genießen.“, sagte Susanne und schaute zwischen        Kate und John hin und her.

 

Die beiden ließen es sich nicht zwei Mal sagen und verteilten den Kuchen auf den Tellern. John kümmerte sich um die Teekanne und bereitete den Tee zu. Kate lächelte Susanne zu und freute sich über       diesen entspannten Sonntag, welchen sie zusammen mit ihrer Familie verbringen durfte.

Kapitel 2

 

Alex stand an der Brücke und schaute auf den Fluss direkt unter ihm. Die Wellen schlugen heftig gegeneinander und bauschten das Wasser auf. Es war windig, kalt und nass zugleich.

Es war Ende November und das Wetter ließ ihn das deutlich spüren. Er fühlte den kalten Wind in seinem Gesicht. Bei jedem Windstoß zog sich seine Haut zusammen und fing an zu schmerzen.                   Außerdem prasselten zahlreiche Regentropfen auf seine Jacke nieder und machten diese nass.

Der Regen hatte heute morgen angefangen und hörte seitdem nicht mehr auf.

 

Es regnete den ganzen Tag.

 

Obwohl das Wetter kühl und unangenehm war, hatte Alex den Drang verspürt nach draußen zu gehen. Er wollte nicht zu Hause sitzen und sich mit langweiligen Dingen beschäftigen.

Es war schließlich Sonntag und an diesem Tag wollte er etwas erleben.

 

Er wusste nicht genau wie lange er durch die Stadt geirrt war. Denn er hatte das Zeitgefühl verloren. Außerdem konnte er nicht genau sagen, wie er zu dieser Brücke gekommen war.

 

Und mit welchen Absichten er es getan hatte.

 

Während er hier stand, wusste er nur, dass er nur kurz frische Luft schnappen wollte. Deswegen hatte er sich warm angezogen und war nach draußen gegangen.

 

Hierher.

 

An diese Brücke.

 

Hier konnte er in Ruhe nachdenken und seine Entscheidungen treffen.

 

Es waren mehrere Wochen vergangen nachdem er Sun Village verlassen hatte. Seitdem hatte er sich weder bei Kate noch bei seiner Mutter gemeldet. Susanne hatte zwar mehrmals versucht, ihn                 anzurufen, jedoch ohne Erfolg.

Alex wollte nicht mit ihr sprechen. Oder besser gesagt, wusste er nicht was er ihr erzählen sollte.

Er wollte sich nicht für seine getroffenen Entscheidungen rechtfertigen müssen.

 

Er war abrupt abgereist und hatte sich bei seinem Vater niedergelassen. Für seine Entscheidung hatte es mehrere Gründe gegeben.

Zum Einen wollte er die Stadt Lonecity für einen gewissen Zeitraum nicht mehr sehen. Außerdem wollte er von dem Amoklauf an seiner neuen Schule Abstand gewinnen. Die Ereignisse waren sehr               heftig gewesen und haben auch bei ihm tiefe und schmerzhafte Spuren hinterlassen.

 

Er fühlte sich bei dem Gedanken nicht mehr wohl, erneut in diese Schule zu gehen. Alex wusste, dass er und Kate nur knapp dem Tode entkommen waren. Wenn er andere Entscheidungen getroffen           oder anders gehandelt hätte, dann wäre er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben.

Vielleicht hätte es auch Kate getroffen.

 

Alex konnte diese Gedanken nicht ertragen.