Käthe Kruse und das Glück der Kinder - Julie Peters - E-Book
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Käthe Kruse und das Glück der Kinder E-Book

Julie Peters

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Beschreibung

Käthe Kruse – Künstlerin, Liebende, Unternehmerin 

1911: Käthe hat sich mit ihren handgefertigten Puppen einen Namen gemacht und lebt mit dem Bildhauer Max Kruse in Berlin. Um die zahlreichen Bestellungen bearbeiten zu können, gründet sie ihre eigene Manufaktur, und wenn es nach ihr ginge, könnten nun goldene Zeiten auf sie warten. Doch plötzlich gibt es auf dem Markt Nachahmungen ihrer Puppen, und alles, was Käthe sich mühsam aufgebaut hat, droht zu zerbrechen. Soll sie den Kampf aufnehmen, auch wenn er für eine Frau in einer Welt von Geschäftsmännern aussichtslos scheint? 

Die fesselnde Geschichte einer Frau, die für ihre Selbstbestimmung kämpft und zur berühmtesten Puppenmacherin der Welt wurde

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Seitenzahl: 438

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Über das Buch

Käthe hat es geschafft: Ihre handgefertigten Puppen erfreuen sich großer Beliebtheit. Kurzerhand gründet sie ihre eigene Manufaktur und entwickelt neue Modelle. Allein ihr Mann, der Bildhauer Max Kruse, kann sich nicht damit abfinden, dass Käthe ein aufstrebendes Unternehmen führt, während sein Erfolg ausbleibt. Sie spürt, dass sie sich immer weiter voneinander entfernen. Doch Käthe will nicht zurückstecken, nur um nicht aus Max’ Schatten zu treten. Als es plötzlich Nachahmungen ihrer Puppen gibt, droht alles zu zerbrechen, was Käthe sich aufgebaut hat – und plötzlich ist Max wieder an ihrer Seite.

Über Julie Peters

Julie Peters, geboren 1979, arbeitete als Buchhändlerin und studierte Geschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen.

Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg«, »Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen«, »Der kleine Weihnachtsbuchladen am Meer«, »Die Dorfärztin – Ein neuer Anfang«, »Die Dorfärztin – Wege der Veränderung«, »Ein Sommer im Alten Land«, »Ein Winter im Alten Land« und zuletzt »Käthe Kruse und die Träume der Kinder« erschienen.

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Julie Peters

Käthe Kruse und das Glück der Kinder

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1 — Berlin, November 1911

Kapitel 2

Kapitel 3 — Berlin, Dezember 1911

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6 — Gehlberg, Juni 1912

Kapitel 7 — Kösen, August 1912

Kapitel 8 — Kösen, Oktober 1912

Kapitel 9 — Kösen, Dezember 1912

Kapitel 10

Kapitel 11 — Kösen, Januar 1913

Kapitel 12 — Berlin, April 1914

Kapitel 13 — Weimar, April 1914

Kapitel 14 — Rom, Mai 1914

Kapitel 15 — Kösen, Dezember 1914

Kapitel 16 — Potsdam, Mai 1915

Kapitel 17 — Kösen, August 1915

Kapitel 18 — Potsdam, April 1918

Kapitel 19 — Kösen, August 1918

Kapitel 20 — Kösen, Januar 1919

Kapitel 21 — Berlin, Februar 1921

Kapitel 22

Kapitel 23 — Holland, Oktober 1923

Kapitel 24 — Kösen, November 1923

Kapitel 25 — Kösen, Dezember 1924

Kapitel 26 — Kösen, Juni 1925

Kapitel 27 — Leipzig, Juli 1925

Kapitel 28 — Bozen, Juli 1925

Kapitel 29 — Kösen, August 1925

Kapitel 30 — Berlin, September 1927

Kapitel 31 — Berlin, Oktober 1925

Kapitel 32 — Kösen, Januar 1928

Kapitel 33 — Berlin, August 1928

Kapitel 34 — Hiddensee, September 1928

Impressum

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1

Berlin, November 1911

Manchmal konnte Käthe es immer noch nicht glauben. Und weil sie nicht Max fragen wollte, ob es wirklich stimmte, da er inzwischen über ihren Unglauben mehr brummte als lachte, griff sie lieber in die Rocktasche und holte das Telegramm hervor. Weil sie es so oft nicht glauben konnte, war das dünne Papier schon ganz brüchig an den Kanten. Aber da stand es, schwarz auf weiß.

Wir bestellen hiermiet 150 Käthe-Kruse-Puppen, Liefertermin 8. November, free on board Bremen. F. A. O. Schwarz, New York.

Irrtum ausgeschlossen. Aber lange konnte sie nicht verweilen und diese Momente auskosten. Denn nicht nur die Bestellung von so vielen Puppen war im Telegramm vermerkt; auch das Datum, an dem die Lieferung in Bremen eintreffen musste, damit sie fristgerecht auf das Schiff nach Amerika verladen werden konnte. Und dieser Termin war in wenigen Tagen.

Als sie schon glaubte, ihr Kunsthandwerk habe keine Zukunft, sie werde bis ans Ende ihrer Tage ein paar Dutzend Puppen im Jahr in der Wohnstube nähen und verkaufen, was allenfalls für ein Zubrot zum Familieneinkommen reichte, hatte sie genau das Wunder bekommen, das sie brauchte.

Eine Bestellung über einhundertfünfzig Puppen vom New Yorker Spielzeughändler F. A. O. Schwarz – dem bekanntesten Spielzeughändler der Welt! Und sie hatten sich trotz der vielen Misserfolge, die Käthe in den vergangenen Monaten hatte einstecken müssen, direkt an sie gewandt und diese Menge bestellt, die sie unmöglich allein in den fünf Wochen anfertigen konnte.

Ihre Hände zupften an dem Haar der einhundertneunundvierzigsten Puppe herum, sie zog die Schleifen in den beiden Zöpfen zurecht, schnippte einen kaum sichtbaren Flusen von dem roten Samtkleid mit Spitzenkragen. Unter dem Kleidchen lugte der Spitzenunterrock hervor, die Strümpfchen waren aus dünnem Stoff genäht, die Schühchen aus brauner Wolle gehäkelt. Jedes Detail an dieser Puppe hatte sie sorgfältig überprüft, wie bei den einhundertachtundvierzig Puppen davor, die bereits in ihre Schachteln verpackt an einer Wand der Wohnstube in zwei Reihen aufgestapelt standen. Ihr Blick ging gehetzt zur Uhr. Bald Abendessenszeit, und wenn die Kinder im Bett waren, blieben ihr vielleicht zwei Stunden, um die letzten beiden Puppen zu kontrollieren. Und dann würde sie morgen früh alle einhundertfünfzig Schachteln in die große Überseekiste stapeln, die seit zwei Tagen unten in Max’ Atelier stand. Ihre Haushälterin Birgit, die gute Seele, war mit den Kindern rausgegangen, sie hörte ihren Jüngsten Michel im Hinterhof juchzen. Ohne Birgit wär’s nicht gegangen, in den letzten Wochen hatte auch sie mehr gearbeitet, hatte sich zusätzlich um die Kleinen gekümmert, wann immer Käthe sich nicht länger zwischen ihnen und der Arbeit zerreißen konnte.

Ihr Mann Max hingegen hatte es die ganze letzte Woche vorgezogen, im Atelier eine Stiege weiter unten zu nächtigen; tagsüber brachte Birgit ihm ein Tablett mit Essen, und fürs Abendbrot bequemte er sich zu ihnen nach oben. »Mir ist’s hier zu puppig«, bemerkte er lapidar.

Dann war’s ihm eben zu puppig. Sie hatte jetzt keine Ruhe, sich auch noch um das verletzte Gemüt ihres Gatten zu kümmern. Dabei liebte sie ihn von Herzen; sie liebte, wie er sie ermutigt hatte, diesen Auftrag anzunehmen, als sie selbst schon glaubte, sie würde es nicht schaffen. Sie konnte ja was. Puppen nähen. Anderen zeigen, wie man sie nähte. Ihre Puppen waren etwas Besonderes, das sagte jeder, der sie mal in die Hand nahm.

Behutsam legte sie die Puppe in die Schachtel, verschloss diese mit dem Deckel und wickelte einen blauweiß-gestreiften Bindfaden herum, fädelte ein kreisrundes Schild auf und verschloss alles mit einer Schleife. »Die Käthe-Kruse-Puppe – DIE Sensation aus dem Deutschen Kaiserreich!« stand darauf. Die Rückseite enthielt neben ein paar Pflegehinweisen auch eine Garantie. Käthe hatte lange mit Max gestritten, bevor sie sich durchsetzte. »Mit einer Garantie sorgst du nur für Beschwerden!«, hatte er sie gewarnt.

»Ach was! Die Puppen sind robust, es ist bestes Kunsthandwerk! Kein Kind wird ihnen die Arme ausreißen oder das Gesicht abkratzen können.«

Qualität – das war ihr immer so wichtig gewesen.

Vor fünf Wochen hatte sie gedacht, sie müsste ihr ganzes Puppenhandwerk aufgeben, weil ihr nach ein paar Fehlentscheidungen jeglicher Bewegungsradius genommen worden war. Sie hatte die Lizenz ihrer Puppen an den Spielwarenfabrikanten Reinhardt & Kämmer im Thüringischen vergeben. Doch war sie mit der Ausführung aus den dortigen Werkstätten überhaupt nicht zufrieden gewesen, und die Verkäufe waren weit hinter den Erwartungen von Reinhardt & Kämmer zurückgeblieben. Deshalb hatten sie den Vertrag aufgelöst, und es stand Käthe frei, ihre Puppen selbst zu vertreiben.

In der Stunde ihres größten Rückschlags aber kam wie gerufen jene Bestellung, an der sie nun seit Wochen mit ein paar Heimarbeiterinnen und einem eigens dafür eingestellten Künstler saß, der die Gesichter aufmalte. Schön waren sie geworden, fand Käthe. Jede ein kleines bisschen anders, dabei aber alle so neutral, dass die kindliche Phantasie allerhand hineindenken und -fühlen konnte. Sie nahm sich vor, Herrn Beyer noch mal explizit für die hübsche Ausführung zu loben.

Ihr war also ein Wunder geschehen, doch auch dafür hatte sie hart arbeiten müssen. Käthe Kruse seufzte, sie strich sich eine verschwitzte Strähne ihrer dunkelblonden Haare aus der Stirn und betrachtete liebevoll das Püppchen, das vor ihr in dem Karton lag, der als Umverpackung diente. Sie stand auf, drückte die Hand ins schmerzende Kreuz und trug die Schachtel zu den anderen. Aus dem Hof drang das Kreischen ihrer Kinder, und auf der Treppe hörte sie die schweren Schritte ihres Mannes, der aus dem Atelier nach oben kam. War es schon so spät? Warum war Birgit noch nicht oben, um das Abendbrot zu richten?

»Immer noch nicht fertig?«, brummte Max, als er die Wohnstube betrat. Ihn hatten die vergangenen Wochen auch ganz schön angestrengt, das merkte Käthe wohl. Sie hatte jedoch aus früheren Zeiten gelernt, da sie ihn kaum zu Gesicht bekommen hatte, weil er sich das Essen nach unten bringen ließ und ansonsten nur über seiner Arbeit hing. Als Bildhauer widmete er sich den Bismarcks und Liebenden, Marathonläufern und Büsten. Die abendliche Mahlzeit nahmen sie gemeinsam als Familie ein, so war ihre Bedingung. Er hatte sich murrend gefügt.

»Morgen wird alles abgeholt.« Käthe trat zu ihm. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Max legte einen Arm um ihre Taille, er zog sie an sich. Küsste sie auf den Mund. Sie lachte, dann seufzte sie, genoss diesen kleinen Moment der Intimität. Ungestört sein. Das hatte ihr gefehlt, merkte sie. »Danach brauche ich aber eine Pause.«

»Was denn, mein Frauchen will danach nicht direkt die nächsten hundert Puppen anfertigen? Was ist mit den deutschen Kindern, dürfen die keine Käthe-Kruse-Puppe unterm Baum erwarten?«, neckte Max sie. Er umschloss sie mit seinen starken Armen wie ein Bär, sein Vollbart kitzelte ihre Stirn, und sie kicherte. Doch dann wurde sie ernst.

»Für wen sollte ich hundert Puppen nähen?«, fragte sie und runzelte die Stirn. »Es war ein Glücksfall, dass F. A. O. Schwarz hundertfünfzig bestellt hat, aber ich glaube nicht daran, dass so schnell weitere Aufträge folgen.«

»Da solltest du wohl deiner eigenen Erfahrung mehr vertrauen, Käthchen. Bisher kam immer wer und hat bestellt, warum sollte es sich jetzt ändern?«

Dazu sagte sie nichts. Max, dem ihre Ängstlichkeit gegen den Strich ging, löste sich aus der Umarmung, sah sich suchend nach einem freien Platz um. Es gab keinen. Sogar auf den Stühlen stapelten sich die Zuschnitte für Puppenkleider, Arme und Beine, als hätte sie tatsächlich vor, hundert weitere anzufertigen. »Das holt morgen früh die Suse«, beeilte sie sich zu sagen.

»Die Suse, na so was.« Suse gehörte zu den beiden ersten Heimarbeiterinnen, die Käthe im Sommer eingestellt hatte, um der Flut an Bestellungen Herrin zu werden, die regelmäßig in ihren Briefkasten strömte oder sie – welch moderne Zeiten! – über den Fernsprecher erreichte. Wie aufs Stichwort bimmelte der schon wieder im Flur los, und Käthe murmelte eine Entschuldigung. Keine einzige Bestellung wollte sie verpassen, wer wusste schon, ob der Gesprächspartner ein zweites Mal anrufen würde, wenn sie beim ersten Mal nicht verfügbar war. Sie hörte aus der Wohnstube ein Rumsen, als sie die Tür hinter sich zuzog. Max hatte wohl, wie es seine Art war, den Stapel Puppenarme oder halbfertige Kleidchen von einem der besetzten Stühle gekippt, weil er es nicht aushielt, wenn für ihn so gar kein Platz war in seinem eigenen Heim.

»Kruse am Apparat«, meldete sich Käthe. Um das von Max angerichtete Chaos konnte sie sich später kümmern.

»Ein Gespräch aus Bochum«, meldete das Fräulein vom Amt.

»Sehr gerne.«

Ein Knacken, dann meldete sich eine forsche Stimme. »Meller hier, schönen guten Abend! Spreche ich mit der Puppenmanufaktur Kruse?«

»Guten Abend, Herr Meller. Käthe Kruse am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Ja, äh … Also sind Sie’s persönlich, Frau Kruse?«

Käthe lächelte. »Die bin ich.«

»Ich wollte Puppen bestellen, bin ich da bei Ihnen denn richtig?«

»Ja, das passt schon.« Käthe zog den Schreibblock heran, der nebst Bleistift immer neben dem Fernsprecher bereit lag. Sie notierte Datum und Namen, während sie redete. Für eine Schreibkraft reichte ihr Mut noch nicht; das Geld wäre wohl da, dass zumindest halbtags jemand eingestellt werden könnte, um all die Büroarbeiten zu erledigen. »Wie viele Puppen möchten Sie, Herr Meller?«

Im Folgenden fragte sie alles ab, was sie wissen musste. Sollten es Mädchenpuppen oder kleine Babyjungs sein, welche Kleidung, welche Haarfarbe, Augenfarbe … Sie schrieb mit und erklärte Herrn Meller dann, was die Puppen kosteten und dass es aktuell vier bis sechs Wochen dauern würde, bis die Puppen geliefert wurden.

»Wird knapp fürs Christkind«, kommentierte er.

»Das kriegt das Christkind schon noch hin. Es hat nur gerade viele Aufträge für andere Kinder überall in Deutschland zu erledigen.«

»Nun denn. Ich sag Ihnen was – so machen wir’s. Drei Ihrer hübschen Puppen, da werden sich meine Enkelinnen wohl drüber freuen.«

Sie klärten die Zahlungsmodalitäten, und Käthe notierte die Lieferadresse. Als sie auflegte, lauschte sie. Im Hof war es still geworden. Bestimmt kamen bald die Kinder mit Birgit nach oben, dann wär’s höchste Zeit fürs Abendbrot. Sie huschte in die Küche, die anders als das Wohnzimmer aufgeräumt und sauber war. »Mein Reich bleibt von den Puppen unberührt!«, rief Birgit jedes Mal, wenn Käthe versuchte, ein kleines Kistchen mit Puppenhaaren oder Garnspulen unter die Küchenbank zu schmuggeln. Käthe richtete auf einem Teller Käse, Kekse und Trauben, schnitt eine Wurst auf und belegte eine Scheibe Brot damit. Eine zweite mit Butter, fingerdick, wie’s Max mochte. Dazu noch eine Flasche Bier. Das alles trug sie auf einem Tablett zu ihm.

Die Wohnungstür sprang auf, ihre Kinder purzelten herein, Mimerle voran, sie hatte den Jüngsten Michel unter den Armen gepackt. »Mama, er läuft!«, behauptete sie, dabei war der Kleine doch keinen Tag älter als neun Monate. Fifi, die Zweitälteste, half Hanni aus der Strickmütze und den dicken Fäustlingen, während Birgit die Kinder zur Ruhe ermahnte und ihren Umhang aufhängte.

»Mach ruhig Pause, ich kümmere mich um die Bande!«, rief sie lachend. Käthe lächelte ihr dankbar zu. Ohne Birgit, da machte sie sich nichts vor, ginge es schon lange nicht mehr.

Max saß in dem Sessel, um seine Füße verstreut lagen die Puppenköpfe, die in einer Kiste auf dem Polster auf die Verarbeitung gewartet hatten. Käthe gab ihm das Tablett, das er sich in Ermangelung einer freien Fläche auf die Knie stellen musste. »Der Lärm da draußen?«

»Die Kinder.«

»Na gut.« Die durften lärmen, zumindest jetzt; in einer Stunde aber hatten sie ruhig zu sein und durften allenfalls noch mal kurz zu ihrem Papa in die Stube kommen, die Kleineren würden auf seinen Schoß klettern und ihm den Bart zausen, die beiden großen Mädchen fragte er nach der Schule. Dann aber rasch ins Bett mit ihnen, Kinder waren ihm am liebsten, kam’s Käthe manchmal vor, wenn man nicht zu viel von ihnen mitbekam.

Sie schob seine Ungeduld mit ihnen allen – sie eingeschlossen! – auf die aktuellen Zustände in der Wohnung, die er nicht mehr wohnlich fand. Deshalb verbrachte er eben so viel Zeit unten in seinem Atelier, wenngleich …

»Käthe? Diese Kiste. Sie steht mir im Weg.«

Ach ja, die Kiste. Bei einem Tischler hatte sie die Überseekiste für den Transport der einhundertfünfzig Puppen für F. A. O. Schwarz in New York in Auftrag gegeben. Er hatte prompt geliefert, und nun stand diese nach Kiefernholz duftende Kiste eben im Atelier, denn sie war so groß, dass Käthe nicht mal über den Rand schauen konnte; Platz dafür wäre hier oben auf keinen Fall noch gewesen, da hätte Birgit ihr Küchenreich doch aufgeben müssen.

»Morgen«, versprach sie. Setzte sich auf die Sofakante, nahm die einhundertneunundvierzigste Puppe noch einmal zur Hand und kontrollierte alles. Nein, es gab nichts zu bemängeln an dieser Arbeit, sie war rundweg perfekt. Ihre Heimarbeiterinnen, fünf waren es inzwischen, waren sorgfältig und genügten vollauf Käthes hohen Qualitätsansprüchen.

»Hast du’s jetzt?«, fragte Max. Er hatte seine Mahlzeit beendet, und in der Küche war es auch ruhig. Alle satt und zufrieden. Käthe verschloss die letzte Schachtel. Sie stand auf und streckte sich. Nur noch eine Puppe zu kontrollieren. Und da stellte sich auf einmal ein zuversichtliches Gefühl ein, das sie so nicht kannte. Aber es wärmte sie. Fast geschafft. Sie war zufrieden mit dem, was sie in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt hatte. Max stellte das Tablett auf den Boden, und kurz flammte Ärger in ihr auf und vertrieb das wohlige Gefühl. Das hätte ihm jetzt nicht geschadet, wenn er das Tablett kurz in die Küche gebracht hätte.

»Gleich hab ich’s.«

»Immer dieses Weiberzeug.« Er war sauer, das merkte sie wohl. Käthe ging in die Küche, wo Birgit gerade das letzte Geschirr spülte. Die Kinder saßen am Tisch, jedes aß artig, was ihm vorgesetzt worden war.

»Nimm dir auch was«, sagte Käthe und legte die Hand auf Birgits Schulter. »Danke, dass du heute und all die Tage länger geblieben bist. Dein Umschlag liegt im Flur auf der Kommode.«

Birgit erwiderte das Lächeln. Auch in ihr Gesicht hatte die Anstrengung der letzten Wochen sich eingegraben. Es klirrte vom Tisch; Birgit war schneller als Käthe bei den Kindern, sie wischte eine Wasserpfütze auf, sie tröstete Hanni, sie schenkte nach und streichelte den Schopf der Zweijährigen. Michel krabbelte über den Boden. Er hatte seine Mama bemerkt und kam auf sie zu. »Der hat auch Hunger, aber ihm schmeckt mein Abendbrot nicht.« Birgit lachte. »Nimmst ihn wohl besser mit, er ist auch schon reichlich müde.«

»Mach ich.« Käthe hob ihren Jüngsten hoch. Er kuschelte sich an ihre Brust, seine Hand riss schon am Ausschnitt ihrer Bluse. »Ich seh schon, wonach dir ist. Aber erst mache ich dich bettfertig, du kleiner Rabauke.«

So kehrte Ruhe im Haus ein. Während Käthe das Baby für die Nacht fertigmachte und mit ihm ins Schlafzimmer ging, machten die Mädchen sich selbständig fertig; Birgit half Hanni. Käthe lag im Elternschlafzimmer im Bett, Michel vor ihrem Bauch; er nuckelte sich langsam in den Schlaf. Sobald er eingeschlafen war, stieg sie aus dem Bett, knöpfte die Bluse zu und schlich zu den Mädchen, die geduldig auf ihre Mama warteten. Jeden Abend las Käthe ihnen noch ein Märchen vor, während die drei Mädchen mit ihren Puppen kuschelten und sich Hanni im großen Bett an Mimerle schmiegte. Im Hause Kruse hatte wohl jeder ein eigenes Bett, doch ihren Kindern war’s so lieber, und manchmal fand Käthe am nächsten Morgen niemanden im eigenen Bett vor, ein wildes Wechselspiel gab’s in der Nacht. Nur das Jüngste schlief drüben bei Max und ihr, und das auch nur, solange sie Michel noch stillte; sie wusste, Max würde drauf bestehen, dass der Kleine auszog, sobald er sie nachts nicht mehr brauchte.

Noch war’s aber nicht so weit.

»Gute Nacht«, wünschte Käthe den Mädchen, jede bekam einen Kuss, wurde ins Bett gekuschelt. Dann schloss sie leise die Tür und ging zurück in die Wohnstube, wo Max immer noch im Sessel saß wie eine seiner Statuen, ein älterer Mann, stark wie ein Baum, den die Zeit langsam beugte. Sie sah ihn an, sagte aber nichts, hob das Tablett hoch und trug es in die Küche. Wortlos drückte sie ihm bei ihrer Rückkehr einen Puppenkopf in die Hand.

»Was soll ich damit?«

»Schau halt. Die kam so aus der Presse. Meinst du, wir müssen da noch was ändern?«

Er brummte, hob den Kopf hoch und betrachtete ihn von allen Seiten. Käthe setzte sich an den kleinen Sekretär in der Ecke, auf dem sich Paketaufkleber, Bestellzettel, Rechnungen und dergleichen mehr zu kleinen Häufchen türmten, sie begann mit den Rechnungen und arbeitete sich so durch diesen Papierwust, der ihr so verhasst war. Max ließ sie dabei aus den Augen; sie wusste, wie ungern er beobachtet wurde, wenn er schuf.

Ohne ihn ginge es nicht. Das durfte sie nie vergessen.

2

Geh schlafen, Käthe.« Max beugte sich über sie, gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dünn war sie geworden, seit sie sich nur noch um die Puppen kümmerte. Keine Zeit zum Essen blieb. Keine Zeit für ihn blieb, er fand in ihrem Alltag ja gar nicht mehr statt.

»Gehst du runter?«, fragte sie.

Er zögerte. Unten im Atelier auf der Chaiselongue, auf der sie einst ganze Liebesnächte mit allem verbracht hatten, nur nicht mit Schlaf – ja, da wäre er nun gerne, weil ungestört, doch mit bald neunundfünfzig Jahren waren seine Knochen dafür doch zu alt. »Ich warte auf dich.«

»Weck Michel nicht auf. Ich schreib das hier noch fertig.«

»Würde ich nie wagen.«

Eher weckte ihn der Jüngste auf mit seinem nächtlichen Weinen, dem genüsslichen Schmatzen, wenn er den Hunger an der Brust seiner Mutter stillte. Oder wenn er leise plapperte, bis er wieder in den Schlaf fand. Manchmal wurde Max davon wach und konnte nicht wieder einschlafen. Dann lag er wach, lauschte im Dunkeln Käthes ruhigen Atemzügen und fragte sich, wie das passiert war. Wann sein Leben diese Kehrtwende genommen hatte.

Nach erster Ehe und ersten Kindern hatte für ihn festgestanden, das wollte er kein zweites Mal. Unabhängig sein! Wenn er sich schon verliebte, dann in eine, die genauso frei war wie er. Käthe, die damals als Hedda Somin auf den Berliner Bühnen brillierte, zarte achtzehn Jahre alt. Die hatte ihn gereizt und verführt mit ihrer Unabhängigkeit, mit ihrem Freiheitswunsch. Hatte sie sich doch nie abhängig machen wollen von einem Mann. Und was war passiert?

Die Liebe. Die war über sie beide gekommen wie ein Gewittersturm, und ehe sie sich versahen, waren sie ein Paar, das einander nichts abverlangte. Was für ihn damals angenehm war, denn als Käthe schwanger wurde, wollte sie sich nicht von ihm aushalten lassen. Und brauchte ihn ja doch, denn die Bühnen standen ihr nicht länger offen, und es stellte sich bald das zweite Baby ein. Und weil sie immer noch nicht verheiratet waren, konnte sie nicht länger in Berlin bleiben. Ein uneheliches Kind verzieh man einer Mutter wohl, beim zweiten ging man von Absicht aus und davon, dass der lockere Lebenswandel sich negativ auf die Kinder auswirkte. Dabei gab es keine Mutter, die sich liebevoller um ihre Kleinen kümmerte als Käthe.

Die Jahre, in denen Käthe im Tessin lebte, während er zwischen Berlin und der Schweiz pendelte – das waren nicht die leichtesten ihrer gemeinsamen Zeit, musste er rückblickend einräumen. Vielleicht hatte er es sich zu einfach gemacht, als er Käthe fortschickte, statt sie zur Frau zu nehmen. Wäre ja nur eine Formalie gewesen, später hatte er sich schließlich dazu durchgerungen – vielleicht zu spät, nachdem Käthe auf dem Monte Verità einen kleinen Jungen tot geboren hatte und sie gemeinsam nach München zogen, wo Hanni geboren wurde und sie kurz vor der Geburt ganz unspektakulär heirateten. Doch das Gefühl wurde er nicht los, dass die erzwungene Unabhängigkeit, die Tatsache, dass sie sich in den frühen Jahren nie auf ihn hatte verlassen dürfen, Käthe geprägt hatte. So sehr geprägt, dass sie sich gar nicht mehr auf ihn verlassen wollte. Er wusste von der Zigarrenkiste, die sie hinten im Vertiko aufbewahrte; darin sammelte sie jede Mark, die sie mit dem Puppenmachen verdiente. Sich nie wieder so sehr in die Abhängigkeit von ihm begeben, das wollte sie damit. Und er? Statt stolz darauf zu sein, dass sie sich weiterhin nicht abhängig machen wollte, war er beinahe beleidigt. Er konnte doch für die Familie sorgen!

Ach, es war kompliziert, und er bekam Kopfschmerzen davon, wenn er länger darüber nachdachte.

Mitten in der Nacht wurde er wach, weil sich Michel neben ihm regte. Das Baby suchte nach der mütterlichen Brust, nach Nähe, Wärme, Nahrung. Max legte dem Säugling eine Hand auf den Rücken. Im Flur hörte er schon Käthe; sie schien ein Gespür dafür zu haben, wann das Baby sie brauchte.

Sie löschte das Licht im Flur und schlüpfte ins Schlafzimmer. Legte sich zu Max und Michel; den Rücken hatte sie Max zugewandt, sie wollte ihn nicht stören. Aber dass sie sich von ihm abwandte, das gefiel ihm auch nicht so gut.

»Alles geschafft?«, flüsterte er.

Sie lachte leise in der Dunkelheit. »Als würde man je alles schaffen«, erwiderte sie leise. Wohl wahr. Dieses Puppengeschäft drohte, sie ganz für sich einzunehmen.

Er fand nicht zurück in den Schlaf, während sie schon, mit Michel vor ihrem Bauch und unter ihrer Decke, eingeschlafen war. So schnell ging das bei ihr; selbst nach so vielen Jahren wunderte er sich darüber. Und doch wieder nicht, wusste er doch, dass Müdigkeit ihr ständiger Begleiter war. Vier Kinder und nun dieser große Auftrag.

Den hätte es doch nicht gebraucht, wäre es nach ihm gegangen. Vor gut einem Jahr, als Kämmer & Reinhardt auf Käthe zugekommen waren und mit ihr einen Lizenzvertrag über die Puppen abschließen wollten, hatte er auch einen Vertrag mit ihnen abgeschlossen, denn die Puppenkopfpresse, mit der Käthes Puppenköpfe geformt wurden, war seine Erfindung. Das Geld hatte er gut angelegt, hatte sich damit und mit den bald fließenden Lizenzeinnahmen gerüstet gefühlt für ein sorgenfreies Leben. Käthe hätte nicht so viel arbeiten müssen, und er, nun ja, er hätte sich auch Gedanken über den Ruhestand machen können, zumindest hätte er nicht mehr ständig dem Geld nachjagen müssen, als Künstler ging man ja nicht in den Ruhestand, man machte immer weiter, weil im Kopf so viele Ideen waren. Aber leichter wäre es geworden, für alle.

Das hatte er sich gewünscht. Vor allem für Käthe, die so viel Energie in ihr Unternehmen steckte. Und dann war alles anders gekommen. Er hatte nicht wie erhofft seine Frau zurückbekommen, sondern einen ganzen Packen Sorgen obendrauf. Käthe war mit dem, was Kämmer & Reinhardt produzierte, überhaupt nicht einverstanden, und sie löste ihren Teil des Vertrags mit dem Spielzeughersteller auf. Unberührt davon blieb sein Patent für die Puppenkopfpresse. Glück im Unglück, ihnen blieb ein Großteil der ausgehandelten Summe. Aber die Lizenzgebühren, auf die er als stetes Einkommen gehofft hatte – die blieben aus.

Und während Käthe wütend war – niemand wollte sich seiner Frau in den Weg stellen, wenn sie wütend war, wirklich niemand! –, weil sie davon ausgehen musste, dass Kämmer & Reinhardt mit ihrer minderwertigen Ware, die sie landauf landab als »die berühmte Käthe-Kruse-Puppe« in den Musterkoffern der Vertreter zu den Spielzeugläden getragen hatten, Käthes Ruf als Puppenmacherin nachhaltig beschädigt hatten, geschah das, was sie ein Wunder nannte.

Er nannte es die Konsequenz aus ihrem unnachgiebigen Einstehen für die Qualität ihrer Puppen, aber er war bereit, ihr ein Quäntchen Glück zuzugestehen. Denn der Auftrag von F. A. O. Schwarz war nicht vom Himmel gefallen, zu verdanken war er Käthes Arbeit, der Teilnahme an internationalen Ausstellungen. Mit diesem prestigeträchtigen Auftrag konnte sie das wieder wettmachen, was Kämmer & Reinhardt mit ihren seelenlosen Puppen kaputtgeschlagen hatten. Trotzdem sorgte Käthe sich, dieser Erfolg könne einmalig sein.

Max raubte etwas ganz anderes den Schlaf. Was, wenn sie neue Aufträge erhielt? Größere Aufträge? Schon jetzt war die Wohnsituation beengt, und er bevorzugte das Atelier als Wohnung. Wie sollte Käthe weitere Aufträge von der Wohnstube aus bewältigen? Sie bräuchte eine Werkstatt, damit das ganze Puppenzeug aus der Wohnung herauskam … Max hatte eine Idee. Ja, so müsste es gehen.

Endlich konnte er beruhigt einschlafen, denn er hatte nun eine Vorstellung davon, wie er Käthe aus diesem Chaos befreien und seine Wohnung zurückerobern konnte.

»Nicht jetzt!«

Käthe atmete tief durch. Heute ging wirklich alles schief! Gerade noch hatte sie mit den Kindern am Küchentisch gesessen, alle mümmelten still ihre Stullen, während Käthe für Mimerle und Fifi die Brote schmierte und Äpfel heraussuchte, einhändig nur, denn Michel hatte schlecht geschlafen heute Nacht und wollte an ihrer Brust nuckeln. Sie hatte ihn sich im Tuch vor den Oberkörper gebunden, stützte aber mit der zweiten Hand immer seinen Po, wiegte sich bei jedem Schritt, bis er einschlief. Max war schon unten ins Atelier gegangen, Birgit verspätete sich, und nun klingelte auch noch der Lieferfahrer, der die Überseekiste mit hundertfünfzig Puppen abholen wollte. Das passte ihr gar nicht.

»Sie sollten doch erst um zwei kommen!«, rief Käthe durchs Treppenhaus. Der junge, schmächtige Kerl stand zwei Absätze drunter vor der Tür von Max’ Atelier und kratzte sich am Kopf.

»Ja nun, Frau Professor Kruse, mein Chef hat mich jetzt losgeschickt.«

»Da müssen Sie warten, ich bin noch nicht so weit.«

So ein Glück, dass sie gestern alle Puppen fertig gemacht hatte. Aber nun sollte es schnell gehen. Sie scheuchte Mimerle und Fifi los, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Jedes der Mädchen klemmte sich drei Puppenkartons unter den Arm und lieferte diese beim Papa im Atelier ab. Blieben noch einhundertvierundvierzig, die Käthe unmöglich allein tragen konnte, solange sie das Baby vor der Brust trug. Hanni lärmte in der Kinderstube; sie suchte ihre Puppe, wollte sichergehen, dass keiner ihre Schnuti einpackte und nach Amerika verschiffte. Zum Glück kam just in diesem Moment Birgit, sie übernahm Hanni, und Käthe konnte den schlafenden Michel im Schlafzimmer auf dem Bett ablegen. Sie klemmte sich die ersten Kartons unter die Arme und eilte die Stufen herab.

Die große Überseekiste stand direkt im Eingangsbereich von Max’ Atelier, bei dem man die Türen ausklinken konnte. Von hier musste der Lieferfahrer die Kiste gleich nur noch eine Treppe hinunterwuchten. Käthe packte die Schachteln in die Holzkiste. »Max?«, rief sie.

Keine Antwort. Sie lief in den hinteren Teil des Ateliers. Hinter dem Kachelofen, wo früher die kleine Küche gewesen war, standen verschiedene Büsten. Und da saß ihr Mann auf einem Hocker, den Skizzenblock auf den Knien und die Stirn in Falten gelegt, so starrte er eine Nietzsche-Bronze an, die er seit Längerem dort stehen hatte.

»Kannst du uns helfen?«, fragte sie. »Der Rollfuhrmann ist da, es sind keine Puppen hier unten, ich dachte, ich hab noch Zeit, und Suse kommt erst um zehn …«

Er grummelte, sie merkte wohl: Auf seine Hilfe konnte sie nicht zählen.

Käthe lief nach oben, sie nahm so viele Schachteln, wie sie tragen konnte, und balancierte sie wieder nach unten. Der junge Fuhrmann stand nun vor der großen Kiste, er kratzte sich wieder am Kopf. Na, hoffentlich keine Läuse, dachte Käthe, das wär’s noch, wenn ihre Puppen verlaust in Amerika ankamen. Sie beeilte sich, eine Leiter zu holen. Das Ölpapier für die Kiste lag schon bereit. Die nächste Stunde ging rum, weil sie die Kiste mit dem schützenden Ölpapier auslegte und die ersten Schachteln hineinstapelte, die der junge Fuhrmann ihr über die Holzwand reichte. Immer wieder musste Käthe aus der Kiste klettern und nach oben rennen, um die nächsten Schachteln zu holen. Birgit versuchte zu helfen, indem sie für Hanni ein Spiel daraus machte, die Schachteln von der Wohnstube bis vor die Wohnungstür zu tragen. Max aber blieb hinterm Ofen hocken, er verströmte seine schlechte Laune über weiß Gott was, während alle anderen ackerten.

Kurz vor zehn kam Suse, und Suse machte, was sie immer machte, wenn sie sah, dass sie gebraucht wurde – sie packte mit an. Zusammen ging es schneller, und keine Stunde später legte Käthe die letzte Schicht Ölpapier auf die Schachteln, die fein säuberlich gestapelt in der Kiste lagen. Der Fuhrmann machte sich nun daran, den Deckel draufzuwuchten, er stieg auf die Leiter, und seine Hammerschläge hallten durchs Atelier. Käthe hätte am liebsten geweint vor Erleichterung, und stattdessen lachte sie. Nun war’s geschafft!

Sie ging zu Max, der immer noch so böse seinen Nietzsche anstarrte.

»So, jetzt kannst du wieder aus der Ecke kommen, die Kiste ist gepackt. Mehr können wir grad nicht tun.«

Er starrte sie an.

»Redest du jetzt nicht mal mehr mit mir?«

Max schüttelte den Kopf.

»Dann eben nicht.« Die gute Laune war verflogen; sie hatte schon überlegt, wie sie diesen Triumph mit ihm gemeinsam hätte feiern können. Jawohl, Triumph! Vielleicht wusste sie nicht, was die Zukunft ihr bringen würde, doch für den Augenblick hatte sie diesen Auftrag abgewickelt. In wenigen Tagen würde der Scheck mit der zweiten Rate eingehen, und wenn sie die Löhne ihrer Arbeiterinnen bezahlt hatte, blieb immer noch ein ordentlicher Batzen … Durfte sie sich denn nicht freuen? Mit ihm? Sie war erfolgreich, war es nicht das, was er sich immer für sie gewünscht hatte?

»So können wir nicht weitermachen!«, rief er ihr nach.

Käthe, schon auf dem Weg zurück zur offenen Ateliertür, blieb stehen. Sie musste sich kurz am Kaminofen abstützen, der seine Wärme durch die Kacheln verströmte. »Wie meinst du das?« Sie atmete tief durch.

»Na so. Dass deine Puppen überall rumfliegen.«

»Meine Puppen fliegen nicht.« Käthe straffte die Schultern. »Können wir heute Abend darüber reden? Ich möchte mit Suse und Birgit aufräumen und …«

Ein ohrenbetäubendes Krachen riss sie aus ihrer Diskussion. Käthe eilte zur Treppe. Der Fuhrmann hatte die Kiste vernagelt und sie nun auf einem Rollbrett zur Treppe geschafft. Dort war sie ihm bei dem Versuch, die Kiste die Treppe hinabzuschieben, aus den Händen geglitten und alle siebzehn Steinstufen bis ins Erdgeschoss hinabgestürzt.

»Det is mir ja mein Lebtag nicht passiert!«, rief der junge Bursche und kratzte sich die Stirn. »So ’ne leichte Kiste, wer hätt das gedacht!«

»Um Himmels willen«, murmelte Käthe. Sie folgte dem Fuhrmann die Treppe hinunter, der nun die Kiste begutachtete.

»Alles heil geblieben«, meinte er lapidar und lud die Kiste wieder auf.

»Aber die Puppen!«, rief Käthe. Sie rang die Hände. Was wenn die Puppen aus den Schachteln gepurzelt waren, wenn alles durcheinanderflog, ein schreckliches Chaos … Sie stellte sich vor, wie in wenigen Wochen bei F. A. O. Schwarz die Holzkiste aufgehebelt wurde, wie die Puppen herausfielen … nein, nein, das durfte nicht sein! So viel Sorgfalt, und wenige Meter, bevor die Puppen aus ihrem Wirkungskreis verschwanden, passierte so eine Unvorsichtigkeit!

Käthe wollte dem Fuhrmann nach, doch Max trat zu ihr. Er berührte ihren Arm. »Lass gut sein, Käthe. Geh hoch, leg dich hin. Du bist nicht mehr du selbst.«

Sie wollte ihn abschütteln, doch Max’ Griff war erstaunlich fest. Unnachgiebig. »Käthe. Du hast alles gemacht. Hab doch gesehen, wie hübsch du die Schachteln verschnürt hast. Und hab ich dich nicht verlacht deswegen?«

Sie atmete zitternd aus. »Das stimmt.«

»Ich wette mit dir, keine hat sich aus der Schachtel gewagt. Du hast eh keine Zeit mehr, irgendwas zu richten. Heute müssen sie vom Hof rollen, sonst wird’s nichts mit Bremen in drei Tagen.«

Seine Hand auf ihrem Arm. Tröstend, beruhigend. Sie atmete tief ein und aus, drückte sich leicht gegen seine Hand. Da spürte sie das Frösteln, das immer mit großer Müdigkeit einherging. Von oben hörte sie Michel weinen, und Birgit sang den Kindern ein Lied. Jemand haute auf einen Topf, ein paar andere Bewohner des Künstlerhauses schauten aus ihren Wohnungen und Ateliers. »Was ist passiert?«, fragte der junge Mann, der gegenüber von Max sein Atelier hatte. Fritz hieß er. Malte wunderschöne Landschaften von Rügen und der mecklenburgischen Weite in Pastell.

»Nichts, nichts. Nur die Puppen meiner Frau.«

Käthe wollte aufbegehren, nur! Aber da legte er schon den Arm um ihre Schultern und führte sie nach oben. Sie hörte Michel »Mama, Mama!« rufen.

»Leg dich mit ihm hin«, schlug Max vor. »Birgit kümmert sich, und morgen kannst du aufräumen und dir überlegen, wie’s weitergehen soll.«

Käthe gab nach. Pausen sind wichtig, sagte sie sich. Da hatte Max schon recht. Und Michel begrüßte sie mit einem verzweifelten Heulen; er hatte es heute nicht leicht, vermutlich die Zähne. Es waren so oft die Zähne bei ihm, jeder einzelne quälte sich nur langsam aus dem Kiefer. Käthe nahm ihn von Birgit entgegen, da riss das Baby schon am Ausschnitt ihrer Bluse.

Es war nicht ihre Art, sich tagsüber ins Bett zu legen. Aber Max hatte recht, merkte Käthe. Die letzten Wochen hatten Spuren hinterlassen. Trotz der Müdigkeit fiel es ihr schwer abzuschalten. Hatte sie etwas vergessen? Waren auch wirklich alle Puppen in der Kiste? Nichts vergessen? Ihre Gedanken ratterten, und während sie noch in den Schlaf abglitt, fuhr ihr als letzter Gedanke durch den Kopf: Hoffentlich bezahlen sie mich, wenn sie kaputt ankommen.

3

Berlin, Dezember 1911

Die Puppen kamen heil in New York an, Herr Schwarz persönlich kabelte, alles sei bestens, und die ersten Puppen seien schon verkauft. Ob er der werten Frau Kruse bei Gelegenheit seinen Einkäufer vorbeischicken dürfe, um weitere Geschäfte zu besprechen. Käthe machte einen Luftsprung. Natürlich durfte er.

Doch zunächst musste sie sich um die Aufträge kümmern, die in der Zwischenzeit aufgelaufen waren. Jede Familie wünschte, die Bestellung möge bis zum Weihnachtsabend ausgeführt sein, und Käthe packte der Ehrgeiz. Das wäre doch gelacht, wenn sie das nicht hinbekam!

Max’ Warnungen schlug sie in den Wind. Er war der Auffassung, sie müsse sich nun wirklich mal erholen, vor allem aber sollte sie, wenn es nach ihm ging, endlich mal die Wohnung wieder wohnlich machen.

»Wie soll das gehen?«, fragte sie ihn herausfordernd. »Dein Atelier gibst du ja wohl kaum dafür her, dass ich dort die Puppenwerkstatt einrichte.«

»Auf keinen Fall! Du kommst auf Ideen, Weib.«

Sie führten diese Diskussion am Abendessenstisch. Morgen war Mimerles Geburtstag, Käthe hatte alles vorbereitet und setzte sich zum ersten Mal an diesem Tag hin, sie hielt Michel auf dem Schoß, der an einem Kanten Brot lutschte. Mimerle und Fifi löffelten ihre Suppe, ein Rest vom Mittag. Max legte sich die Wurst wieder fingerdick aufs Brot, doch Käthe sagte nichts dazu. In ihrer Rocktasche raschelte der Scheck, der heute mit der Post gekommen war; die zweite Rate aus Amerika. Sie würde das Geld zur Bank bringen und auf ihr Konto einzahlen. Einen Teil jedoch würde sie bar abheben und mit nach Hause bringen. Für die Zigarrenkiste. Dieses zusätzliche Sicherheitsnetz brauchte sie nach wie vor.

»Aber du könntest fragen, ob sie dir ein Atelier vermieten«, fügte er listig hinzu.

»Mir?«, echote Käthe. Sie runzelte die Stirn. Sicher, es wäre reizvoll, wenn sie nicht auf Schritt und Tritt ihrer Arbeit begegnen würde. Überhaupt, sie hatten so großes Glück gehabt, dass Max nicht nur sein Atelier im Künstlerhaus St. Lukas nutzte, sondern ihnen der Eigentümer zusätzlich die Familienwohnung im dritten Stock angeboten hatte. Das machte vieles leichter – vor allem gab es Käthe das Gefühl, wirklich mit Max zusammenzuleben. Die ersten gemeinsamen Jahre hatte sie eine eigene Wohnung gehabt – oder hatte mit ihrer Mutter in Ascona auf dem Monte Verità gelebt, wo Max nur gelegentlich Gast war. Das hier, es fühlte sich nach einem richtigen Familienleben an. Das war etwas, das beide damals nicht so geplant hatten, als sie sich vor zehn Jahren kennenlernten. Das sie aber inzwischen als etwas angenommen hatte, das zu ihnen gehörte.

»Ja, dir! Du bist Künstlerin!«

»Ach. Ich male doch kaum mehr.« Sie meinte die Aquarelle. Im Tessin hatte sie einiges gemalt, das immerhin hübsch war. In ihren Augen. Für eine Vernissage hatte es aber nie gereicht, obwohl sie die Frau vom Herrn Professor Kruse war, das hätte ihr mit etwas mehr Mühe einige Türen öffnen können.

»Na, das meine ich nicht.« Er griff noch eine Scheibe Brot aus dem Korb. Hanni rutschte von ihrem Stuhl und tapste nach nebenan. Michel war auf Käthes Arm schon fast eingeschlafen.

»Ich meine deine Puppen. Das ist Kunst!«

»Kunsthandwerk höchstens«, wandte sie ein.

»Das Handwerk beherrschste wohl.« Er runzelte die Stirn. »Gibt genug, die das nicht auf die Reihe kriegen. Diese jungen Kerle mit ihren Ölfarben oder Tempera, wie sie damit herumschmieren …«

»Auf Herrn Beyer lass ich nichts kommen«, widersprach Käthe. »Der leistet wundervolle Arbeit für uns!«

»Den meine ich gar nicht.« Max machte eine wegwerfende Handbewegung. Einer dieser jungen Künstler, wie es sie gerade reihenweise ins Künstlerhaus zog – ambitionierte, arme Kirchenmäuse, die sich mit Gelegenheitsmalereien über Wasser hielten. In den letzten Wochen war Hans Beyer Käthes Rettung gewesen war, denn zu ihm trug sie die Puppenköpfe, die er dann mit Ölfarben bemalte. Drei Schichten mussten es sein. Dadurch wurden die Stoffköpfe abwaschbar, denn waren die Farben erst getrocknet, verlief da nichts mehr. So hatte Käthe es auch auf den Schildchen vermerkt, die sie für die Puppen hatte drucken lassen.

»Aber wieso sollen diese jungen Burschen ein Atelier bekommen, die noch nichts vorzuweisen haben – und du nicht?«

»Weil jeder weiß, dass ich dann eine Manufaktur dort aufziehen würde.«

Max war mit ihrer Antwort und der ablehnenden Haltung nicht zufrieden, das merkte Käthe. Ihre Überlegungen gingen in eine ähnliche Richtung; sie hätte eben auch gern einen Ort, zu dem sie morgens ging, wo die Puppen gefertigt wurden. Eine eigene Puppenmanufaktur, ja! Das wäre ihr Traum. Ein Dutzend Frauen, denen sie Arbeit geben konnte, denen sie mit einem fairen Lohn ermöglichte, ihre Familie über die Runden zu bringen. Sie wollte eine Arbeitgeberin sein, wie ihre Mutter sie damals wohl gebraucht hätte, als sie sich mit der kleinen Katharina am Rockzipfel in Breslau als Näherin durchgeschlagen hatte.

Sie wusste, nun war sie an dem Punkt, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Entweder sie pröttelte weiter in der Wohnstubenwerkstatt vor sich hin, bei größeren Aufträgen unterstützt von ihren Heimarbeiterinnen wie Suse. Oder sie richtete eine Manufaktur ein, die permanent produzierte und sowohl an Privatpersonen als auch an Warenhäuser und Spielzeugläden verkaufte. Welcher Weg wäre der richtige? Sie wusste es nicht. Und mit Max konnte sie darüber nicht reden, der wollte nur schneller, höher, weiter, mehr. Ihm ging es um das Geld. Und sie verstand ihn ja, sie hatten eine große Familie, in den vergangenen Jahren war Max kein großer kommerzieller Erfolg vergönnt gewesen wie der Marathonläufer, der als Bronzereplik in so vielen Berliner Salons seinen festen Platz gefunden hatte.

Sie musste nachdenken. Aber im steten Lärmen der Kinder konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.

»Alles Liebe zum Geburtstag, mein Schatz.« Mimerle ließ sich die Umarmung von Käthe gern gefallen, ihr Blick glitt über den Geburtstagstisch, den ihre Eltern mit einem kleinen Sträußchen Rosen gedeckt hatten. Rosen wie damals, als Max zur Geburt von Käthes erstem Kind zu ihr gefahren war. Da hatte sie noch mit ihrer Mutter zusammengewohnt.

Neun Jahre war das nun her. Heute schneite es nicht, es war ein kalter Tag mit tiefhängenden Wolken. Käthe setzte sich zu Mimerle und beobachtete, wie ihre Tochter die Geschenke auswickelte. Du hast mich zur Mutter gemacht, dachte sie.

Mimerle durfte sich außerdem aus den Puppen, die in der Wohnstube verpackt lagen, eine aussuchen. Darunter waren auch Exemplare, die als Überproduktion für Amerika bei ihnen verblieben waren. Ohne Zögern griff Mimerle nach einer Puppe mit dunklen Haaren und einem hübsch aufgemalten Gesicht. Sie drückte die Puppe an sich und war ganz selig. Mit neun war sie auf keinen Fall zu alt, noch mit Puppen zu spielen.

Max hatte noch eine Verabredung mit Künstlerfreunden, er zog gegen Mittag los. Weil Samstag war, hatten die Mädchen schulfrei, und sie spielten ganz wunderbar mit Mimerles neuer Puppe. Gegen Mittag kochte Käthe ihnen eine Kanne heiße Schokolade und zog sich zu einem Mittagsschlaf mit Michel zurück. Der war bitter nötig. Seitdem die Kiste nach Amerika unterwegs war, merkte sie, wie sich ihr Körper holte, was sie ihm in den Wochen davor vorenthalten hatte.

Sollte er. Mit den Weihnachtsaufträgen lag sie gut in der Zeit.

»Mama?«

Käthe richtete sich auf. Mimerle stand in der offenen Schlafzimmertür, ihre neue Puppe an die Brust gepresst. Seltsam bedrückt war sie. »Mama, ich hab sie kaputtgemacht.«

»Kaputt?« Das konnte nicht sein, ihre Puppen waren so stabil, da ging nichts kaputt; statt eines Kopfs aus doppelt gebranntem Biskuitporzellan hatten Käthes Puppen einen aus Stoff, fest gestopft und in Max’ patentierter Presse in Form gebracht. Die Arme und Beine eingenäht, der Zwirn war ein besonderer. Da ging doch nichts kaputt, schon gar nicht nach einem halben Tag behutsamen Spielens, wie sie es von ihren Töchtern kannte.

Käthe stand vorsichtig auf, sie gab ihrer Ältesten ein Zeichen – ich bin gleich bei dir. Sorgfältig umfriedete sie das Baby mit den Decken. Wenn es herausfiel, musste es sich schon dafür anstrengen und fiel hoffentlich mit der Daunendecke etwas weicher. Sie folgte Mimerle in die Wohnstube, wo Fifi und Hanni auf dem Boden mit ihren eigenen Puppen spielten.

»Wir haben der Rika nur etwas Kakao gegeben.« Rika, so hatte Mimerle die neue Puppe genannt. »Nur ist dabei dann das Gesicht schmutzig geworden, und ich hab versucht, es zu säubern.« Dicke Tränen liefen über Mimerles Wangen. Es war nicht nur der Schreck, weil sie der Puppe das Wangenrot und die fein gezeichneten Lippen allzu leicht hatte abwaschen können. Sie fürchtete auch, ihre Mama könnte böse werden, weil sie die Puppe zerstört hatte. Sie hielt Käthe die Puppe hin und drehte sich halb von ihr weg.

Käthe nahm Rika in die Hand. Tatsächlich, beim Abwaschen war nicht nur der Kakao abgegangen, sondern auch die Gesichtszüge wirkten seltsam verwischt. Mit ein bisschen mehr Rubbeln konnte man sie problemlos komplett abwischen, vermutete sie.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte Käthe. Und dann fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Himmel, das war eine der Puppen, die für Amerika bestimmt gewesen waren. Was, wenn die anderen auch fehlerhaft waren?

Sie musste Hans Beyer fragen, was er da gemacht hatte. »Wartet hier.« Sie streichelte Mimerles Wange. »Ich bin dir nicht böse, aber ich muss das klären.« Käthe schlüpfte in ihre Schuhe und lief mit der Puppe in der Hand die Treppe hoch. Im fünften Stock unterm Dach, bei den Tauben und in einem der kleinsten Ateliers, wohnte der junge Aquarellmaler, der sich mit den Puppengesichtern etwas dazuverdiente. Käthe hämmerte an die Tür. »Beyer, sind Sie da?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Frau Käthe, so eine Überraschung.«

Der junge Bursche öffnete die Tür. Er war gerade mal zwanzig Jahre alt, erst letzten Winter hatte er sein Atelier bezogen. Sein Blick war verwirrt, die Haare waren zerwühlt, er trug nur eine lange Unterhose und einen löchrigen Pullover darüber. Käthe streckte ihm anklagend die Puppe entgegen. »Was haben Sie denn da gemacht?«

»Was soll ich denn gemacht haben, Frau Kruse?«

Sie holte tief Luft. Offenbar hatte sie ihn aus dem Schlaf gerissen, und sie war auch noch ganz benommen von ihrem Nickerchen, aus dem sie so unsanft geweckt worden war. »Die Puppengesichter. Das hier lässt sich abwaschen.« Sie spähte an ihm vorbei in das Atelier. »Kann ich reinkommen?« Denn kein Künstler mochte es, wenn seine Arbeit halb öffentlich auf dem Flur des Hauses verhandelt wurde, das wusste sie wohl. Hans Beyer öffnete die Tür, er ließ sie eintreten und lehnte die Tür nur an. »Wollen Sie ’nen Tee?«

»Nein, ich will über die Puppengesichter reden.«

»Ja, weiß auch nicht, wie das passieren konnte.« Er sank auf einen Stuhl.

Käthe blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Haben Sie eine andere Ölfarbe verwendet? Hören Sie, für mich steht hier der gute Ruf auf dem Spiel, ich bewerbe die Puppen schließlich als abwaschbar. Das ist eines der Qualitätsmerkmale meiner Puppen. Und nun wischt meine Tochter der neuen Puppe etwas Schokolade aus dem Gesicht, und danach sieht sie so aus?«

»Ahhhh.« Hans Beyer schlug die Hand vor die Augen. »Frau Kruse, ich … Herrje.« Er wirkte ehrlich betreten. »Sie haben recht, da habe ich wohl was verbockt. Mir ist die Ölfarbe ausgegangen. Ich wollte Geld sparen, verstehen Sie? Dachte, das macht doch keinen Unterschied, ob ich Ölfarbe nehme oder Tempera. Davon hatte ich noch reichlich da. Darum habe ich für die letzten Puppenaufträge Tempera benutzt.«

Jetzt musste Käthe sich doch setzen, die Knie wurden ihr weich. »Tempera?«, flüsterte sie. Daran war im Grunde nichts auszusetzen; Tempera hatte ähnliche Eigenschaften wie Ölfarbe. Beide Farben brauchten länger zum Trocknen, waren dann aber nicht mehr abwaschbar.

»Dachte, das wär ’ne gute Idee. Auf Papier kann man beide nur übermalen, sobald sie trocken sind.«

Auf Stoff aber schien es sich anders zu verhalten. Zumindest auf dem dicht gestrickten Trikotstoff, den Käthe für ihre Puppen verwendete. Hans Beyer stand auf und wühlte in einer Kiste; er zog mehrere Stoffstücke hervor, die Käthe ihm zum Ausprobieren überlassen hatte, wenn er neue Farben anmischte. »Hier, Ölfarbe. Und das – Tempera.« Er breitete beide Stoffstücke aus. Blickte sich suchend um und holte dann einen nassen Lappen aus der Küche. Erst rieb er auf dem Stoff mit Ölfarbe herum – nichts passierte. Die Farbe hielt, wie sie sollte. Wie Käthe es den Kundinnen versprach. Bei der Temperafarbe jedoch …

»Oje«, sagte Käthe leise.

Hans Beyer ließ die Arme hängen. »Das … habe ich nicht erwartet.«

Abwaschbar, von wegen! Käthe spürte, wie ihr ganz schwummrig wurde, denn erst jetzt begriff sie, was das für sie hieß.

»Welche haben Sie mit der Tempera bemalt?«

»Na, die der letzten Wochen eben.« Hans Beyer wirkte nun ernsthaft besorgt. »Dann sind die alle … Oh.«

Alle hundertfünfzig Amerikaner waren mit Tempera bemalt worden. Für Käthe war es, als hätte er ihr soeben mitgeteilt, die Puppen würden sich nach wenigen Stunden auflösen. Eine Katastrophe. Ihr erster Großauftrag. Sie hatte wirklich jedes noch so kleine Detail hundertmal überprüft. Aber bei ihrem Maler, da war sie davon ausgegangen, dass er wusste, was er tat. Und wenn sie sich ganz ehrlich machte, war sie ohnehin davon ausgegangen, dass die Farbe keine Rolle spielte.

»Was mache ich denn jetzt?«, flüsterte sie. Die Puppen waren unterwegs, die Schachteln standen inzwischen im Lager von F. A. O. Schwarz, die ersten wären verkauft. Stets begleitet von der Zusicherung, dass die Kinder damit spielen konnten, ohne zu fürchten, dass die Puppen kaputt gingen …

»Also, so schlimm wird das doch nicht sein?«, meinte Herr Beyer. »Zukünftig weiß ich Bescheid, also … Wenn Sie mit mir weiter zusammenarbeiten wollen, heißt das wohl.« Er wirkte so verwirrt und traurig, wie Käthe sich gerade fühlte. Doch hatte sie keine Kraft, ihn zu trösten. Sie musste jetzt allein sein.

»Das werden wir sehen«, erwiderte sie und drückte sich vom Stuhl hoch. All ihr Streben, die Überlegungen zu einer neuen Puppe, zu Vertriebswegen, einer Manufaktur unter ihrer Ägide – nein, das musste warten. Sie war zurückgeworfen worden auf das Gefühl, unfähig zu sein, nichts zu können, nicht mal ein paar Puppen anfertigen lassen gelang ihr. Wer war sie denn, dass sie glaubte, sie wäre besser als Kämmer & Reinhardt? Ihre Puppen mochten besser aussehen, aber die Qualität blieb auch in diesem Fall hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Wie sollte sie da ein Unternehmen führen, das ihren Anforderungen genügte? Wenn sie selbst sich nicht mal genügte?

Die schöne Geburtstagsstimmung war verflogen, als sie zu ihren Kindern zurückkam. Wenigstens die Kinder sollten nichts von ihrem Kummer bemerken. Sie schlug Mimerle vor, sich eine neue Puppe auszusuchen; die war allerdings fest entschlossen, nur Rika in ihr Herz schließen zu können. Das bisschen verwischte Lippenrot schien sie nicht zu stören.

An Käthe aber nagte es für den Rest des Nachmittags.

So fand Max sie bei seiner Rückkehr vor. Käthe saß mit den Mädchen im Kinderzimmer auf dem Fußboden, sie hatten eine Decke ausgebreitet und spielten Picknick; die Puppen wurden mit heißer Schokolade gefüttert, und dazu gab es reichlich Kekse. Keine Ermahnung von Käthe, es sei nun langsam genug; dabei wusste sie, dass zumindest die zweitälteste Sophie nach zu viel Keksen und Naschereien abends noch mal aufdrehte. Aber irgendwie musste sie den Tag heil rumbekommen – und für sie gab es selbstredend auch mehr als einen Keks, und sie kochte noch mehr Schokolade, weil sie auch einen Becher wollte.

Max’ Schritte dröhnten schwer im Flur. »Käthchen?« Seine Stimme ein Krächzen. Sie hob den Kopf. Er klang so schwer, so trüb und dunkel, dass sie fürchtete, er habe die Nachricht von den mangelhaften Puppen bereits erhalten, ganz Berlin lachte bereits über sie, die Puppenmacherin, der nichts gelang.

Sie trat in den Flur.

»Was gibt es denn?«, fragte sie leise.

»Ach«, sagte er. »Johannes Vahlen. Er ist nun gestorben, vorgestern schon.« Max seufzte. Er hängte seinen Mantel auf, blieb im Halbdunkel des Flurs stehen. »Einundachtzig ist er geworden. Und ich dachte, als ich davon hörte – was für ein gesegnetes Alter. Wem ist’s schon vergönnt, so alt zu werden.«

»Ach, Max.« Käthe trat zu ihm. Ihre eigenen Sorgen wirkten nun viel kleiner, da sich ihr Liebster mit der Sterblichkeit seiner Weggefährten konfrontiert sah. Mit Johannes Vahlen hatte ihn all die Jahre eine tiefe Freundschaft verbunden, die vor allem deshalb so hervorragend funktionierte, weil der Künstler Max nie mit dem Altphilologen Johannes in Konkurrenz hatte treten müssen. Ihm hatte es gefallen, wie wenig sich Johannes für das künstlerische Berlin interessierte; Johannes Vahlen hingegen hatte einst einen der ersten Marathonläufer erworben, die aus der Gießerei kamen und hatte damit zur Popularität jener Plastik maßgeblich beigetragen.

Sie legte die Hand auf Max’ Schulter. In ihm war ein Beben, das sie wohl verstand; Johannes’ Tod machte Max wieder seine eigene Sterblichkeit bewusst. Käthe spürte, wie es an ihm nagte. Beiden war bewusst, dass er aller Voraussicht nach vor ihr von dieser Welt gehen würde. Dreißig Jahre trennten sie, und mit jedem Tag spürte sie die Last dieses Altersabstands wachsen.

»Aber du bist noch hier«, sagte sie leise. »Hier bei uns.«

»Ich habe vor, noch lange bei euch zu sein.« Er seufzte. Nichts könnte ihn jetzt aufmuntern, und Käthe hätte ihm gern erzählt, was mit ihren Puppen geschehen war. Wie aussichtslos auch für sie auf einmal alles schien.

»Wie war dein Tag?«, fragte er.