Kathrins größter Wunsch:  liebevolle Eltern - Gert Rothberg - E-Book

Kathrins größter Wunsch: liebevolle Eltern E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Kathrin Witt hockte auf den Stufen, die zu der Altwarenhandlung von Tobias Müller hinabführten. Auf ihrem Schoß hatte sie einen kleinen weißen Hund. Es war ein Hündchen zum Verlieben, obwohl es alles andere als ein Rassehund war. Zu seinen Vorfahren gehörten ein Pudel und ein Zwergschnauzer. Das war sicher. Zärtlich kraulten die kleinen Kinderhände das weiche lockige Fell. Friedhelm Becher oder Friedchen, wie er genannt wurde, Kathrins fünfjähriger Freund, kauerte bewundernd neben dem Mädchen. »Darfst du den Hund bestimmt behalten?«, fragte er ungläubig und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus. »Beißt er auch nicht?« Kathrin lachte. »Er ist ganz lieb. Onkel Tobias sagt, dass ich ihn behalten darf. Die alte Frau, bei der er bisher war, ist gestorben. Nun hat er nur noch mich. Und weil meine Oma nun auch tot ist, haben wir beide nur noch uns.« Kathrin hob den kleinen Hund hoch und drückte ihn an sich. Dem Hündchen schien das ungemein zu gefallen. Seine kleinen schwarzen Äuglein funkelten. Zärtlich rieb es sein Schnäuzchen an der Wange seiner neuen kleinen Herrin.

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Sophienlust Extra – 64 –

Kathrins größter Wunsch: liebevolle Eltern

 Ein kleines Mädchen hat Träume …

Gert Rothberg

Kathrin Witt hockte auf den Stufen, die zu der Altwarenhandlung von Tobias Müller hinabführten. Auf ihrem Schoß hatte sie einen kleinen weißen Hund. Es war ein Hündchen zum Verlieben, obwohl es alles andere als ein Rassehund war. Zu seinen Vorfahren gehörten ein Pudel und ein Zwergschnauzer. Das war sicher.

Zärtlich kraulten die kleinen Kinderhände das weiche lockige Fell. Friedhelm Becher oder Friedchen, wie er genannt wurde, Kathrins fünfjähriger Freund, kauerte bewundernd neben dem Mädchen. »Darfst du den Hund bestimmt behalten?«, fragte er ungläubig und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus. »Beißt er auch nicht?«

Kathrin lachte. »Er ist ganz lieb. Onkel Tobias sagt, dass ich ihn behalten darf. Die alte Frau, bei der er bisher war, ist gestorben. Nun hat er nur noch mich. Und weil meine Oma nun auch tot ist, haben wir beide nur noch uns.«

Kathrin hob den kleinen Hund hoch und drückte ihn an sich. Dem Hündchen schien das ungemein zu gefallen. Seine kleinen schwarzen Äuglein funkelten. Zärtlich rieb es sein Schnäuzchen an der Wange seiner neuen kleinen Herrin.

»Weißt du, Onkel Tobias war mit mir unten am Hafen, als ich Tossy fand. Er hat sich erkundigt. Der Mann am Zeitungskiosk hat gewusst, dass die alte Frau, bei der Tossy bisher war, tot ist. Und da hat Onkel Tobias gesagt, dass ich den Hund behalten darf.«

»Hast du ein Glück«, meinte Friedchen bewundernd. »Aber ich dürfte ihn ganz bestimmt nicht behalten.«

»Du hast ja Eltern und sechs Geschwister. Da brauchst du keinen Hund.«

»Warum denn nicht?«, fragte Friedchen aggressiv.

»Eltern und Geschwister sind ganz bestimmt viel, viel schöner als ein Hund.«

»Was du so denkst. Ich bekomme überhaupt nichts erlaubt. Immer, wenn ich einmal etwas haben möchte, sagt meine Mutter, bei sechs Kindern habe sie kein Geld dafür. Zeit hat sie auch nie für mich.«

Kathrin sah ihren kleinen Freund traurig an. »Meine Mutti ist aber schon sehr lange tot. Sie ist bei meiner Geburt gestorben, und meine Omi ist nun auch tot.«

Friedchen sah etwas schuldbewusst drein und legte seinen Arm tröstend um die Schulter seiner kleinen Freundin. »Weine nur nicht. Ich bringe dir auch mal Milch für deinen Hund.«

Kathrins Gesicht hellte sich sofort wieder auf.

»Du, das wäre fein. Machst du das ganz bestimmt?«

»Klar, du kannst dich darauf verlassen. Und meine kleine Schwester isst ihren Brei meist nicht auf. Den bringe ich dir dann auch.«

»Brei isst Tossy ganz bestimmt schrecklich gern. Er muss ja unten im Laden von Onkel Tobias bleiben, weil ich ihn nicht hinaufnehmen darf. Mein Onkel würde Tossy ganz bestimmt fortjagen. Vielleicht würde er ihn schlagen. Onkel Rudolf schlägt ja auch meine Tante manchmal.«

Kathrins Augen waren fast schwarz, als sie das sagte. Ihr feines zartes Gesichtchen war ernst und angespannt.

»Meine Mutter sagt, dass dein Onkel ein Trunkenbold ist und ein Ekel obendrein. Musst du denn bei ihm bleiben?«

»Ich habe doch weiter keine Verwandten«, antwortete Kathrin leise. »Tante Irma ist Muttis Schwester. Sie ist auch ganz lieb manchmal, aber sie ist immer krank und liegt im Bett. Sie sagt nur immerzu: ›Sei brav, Kathrin, geh spielen‹. Oder sie sagt: ›Ach, wenn ich nur schon tot wäre. Das Leben ist eine Qual.‹ Verstehst du das, Friedchen?«

»Nee, verstehe ich nicht. Ich möchte nicht tot sein. Jetzt ist doch bald Weihnachten. Du, auf dem Platz hinter der Kirche haben sie schon Weihnachtsbäume abgeladen. Ein großer Laster mit Tannenbäumen war da. Wollen wir mal hingehen? Überall liegen kleine Tannenzweige. Die können wir aufsammeln.«

»Richtige Tannenzweige?«, fragte Kathrin mit glänzenden Augen.

»Klar, richtige Tannenzweige. Sie riechen wie Weihnachten.«

»Tante Irma sagt, für uns gibt es kein Weihnachten. Aber das glaube ich nicht. Weihnachten ist doch für alle Menschen da, auch für Kinder, die keine Eltern haben. Aber Tante Irma sagt, dass wir kein Geld für solchen Firlefanz haben. Einen Weihnachtsbaum will sie auch nicht schmücken, weil sie doch krank ist. Aber ich meine, das braucht sie auch gar nicht tun. Das machen doch die Engel, nicht wahr?«

»Hm«, machte Friedchen zweifelnd. »Bei uns macht es Mutter. Aber vielleicht ist es bei dir anders, weil du keine Mutter hast.«

Kathrin nickte dazu. »Wird wohl so sein«, meinte sie nachdenklich.

Die beiden Kinder waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie nicht bemerkt hatten, dass der alte Tobias Müller aus seinem Laden gekommen war. Er stand nun in der Tür und hörte gerührt dem kindlichen Geplauder zu. Arme kleine Kathrin, dachte er. Wie kann man dir nur helfen? Das Kind tat ihm von ganzem Herzen leid, aber er wusste, dass er selbst nichts für Kathrin tun konnte. Er war alt, seine Tage waren gezählt. Von Tag zu Tag fiel es ihm schwerer, am Morgen aufzustehen, seine kleine Wohnung im vierten Stock des Hauses zu verlassen und hinunterzugehen in seinen Laden im Keller. Viel brachte der Altwarenhandel sowieso nicht ein. Eigentlich hatte er sein Geschäft nur deshalb noch immer geöffnet, weil er es zu Hause bei seiner ewig keifenden Frau nicht aushielt. Eine böse Frau im Haus ist das schlimmste, das einem Mann geschehen kann, dachte er bitter. Wenn meine Frau nicht gar so hartherzig und kalt wäre, dann hätte ich die kleine Kathrin ab und zu einmal eingeladen. Und zu Weihnachten hätte ich für sie ein Bäumchen geschmückt und einen kleinen Gabentisch aufgebaut. Aber daran ist nicht zu denken. Meine Frau würde mir die Hölle auf Erden bereiten.

Tobias Müller war jetzt alt und viel zu müde, um seiner Frau entschlossen entgegenzutreten. Er wollte nur noch seine Ruhe haben. Er fürchtete, dass es schon ein großer Fehler von ihm gewesen sei, dass er Kathrin erlaubt hatte, den Hund behalten zu dürfen. Aber er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihr den Hund wegzunehmen. Er hatte doch gesehen, wie glücklich das Kind mit dem Hündchen gewesen war. Herzlos und barbarisch wäre er sich vorgekommen, wenn er Kathrin diese kleine Freude genommen hätte. Das Kind hatte wirklich ein sehr hartes Los zu tragen. Das Herz wurde ihm jedes Mal schwer, wenn er daran dachte. Mitunter hatte er schon daran gedacht, bei der Fürsorge vorstellig zu werden, damit Kathrin in ein Heim kam. Bei ihrer Tante und ihrem Onkel war sie nicht gut untergebracht. Ja, wenn ihre Tante gesund gewesen wäre. Ganz sicher hätte sie sich dann auch um das Kind gekümmert. Aber Irma Bendler war schwer krank, und das Kind ihrer verstorbenen Schwester war ihr nur eine Last. Hinzu kam, dass ihr Mann arbeitsscheu war und seine Zeit in den verschiedensten Kneipen verbrachte.

Klein und verhutzelt, vom Alter krumm, stand Tobias Müller in der Tür seines kleinen Ladens und beobachtete die Kinder. Zärtlich ruhte sein Blick auf Kathrin, die jetzt wieder ihr Hündchen liebkoste. Sicher war es ein Fehler gewesen, den Hund zu behalten. Würde seine Frau davon erfahren, würde der Hund sofort aus dem Haus müssen. Gottlob kam seine Frau aber fast nie herunter in den Laden.

»Hallo, Onkel Tobias«, rief Kathrin in diesem Augenblick. »Denk dir nur, Friedchen hat gesehen, wie Weihnachtsbäume auf dem Platz hinter der Kirche abgeladen worden sind. Glaubst du, dass mein Weihnachtsbaum auch dabei ist?«

»Das ist schon möglich«, sagte der alte Mann und stieg schwerfällig die drei Stufen hinauf, die von seinem Laden auf die Straße führten. »Sieh mal, was ich hier für Tossy habe.« Er hielt ein kleines Einkaufskörbchen hoch.

Kathrin schlug entzückt die Hände zusammen. »So ein kleines Körbchen habe ich noch nie gesehen, Onkel Tobias. Da wird Tossy gerade hineinpassen.«

Der alte Mann nickte lächelnd. »Schau mal hinein. Ich habe das Körbchen weich ausgefüttert, damit der kleine Kerl nicht friert. Wenn du ihn etwas zudeckst, sieht niemand, was in deinem Körbchen ist.«

»Fein«, jubelte Kathrin, »dann kann ich Tossy überallhin mitnehmen. Darf er auch mal bei mir schlafen, Onkel Tobias? Tante Irma merkt es ganz bestimmt nicht, und Onkel Rudolf kommt immer so spät nach Hause. Dann schlafe ich schon.«

Der alte Mann seufzte etwas beklommen. Aber wenn er in Kathrins strahlende Augen sah, bekam er es einfach nicht übers Herz, ihr etwas zu verbieten. »Wir werden sehen«, sagte er deshalb ausweichend. »Wir werden sehen«, wiederholte er noch einmal. Diesmal mehr für sich.

Kathrin setzte den Hund in das Körbchen. Im ersten Augenblick sah es so aus, als wollte er wieder herausspringen. Doch dann besann er sich und kuschelte sich behaglich auf dem weichen warmen Platz zusammen.

Die beiden Kinder beobachteten ihn mit glühenden Wangen. »Du bist so gut, Onkel Tobias«, sagte Kathrin und griff nach der verkrümmten Hand des alten Mannes. »Können wir nicht immer bei dir bleiben, Tossy und ich?«

Dem alten Mann traten vor Rührung die Tränen in die Augen, aber er nahm sich zusammen und entgegnete mit einem kleinen Lachen: »Das wäre wohl was, Kathrin. Du bist gerade fünf Jahre alt, und ich bin schon zweiundachtzig. Bei mir würdest du dich ganz gewiss sehr bald langweilen«, versuchte er zu scherzen. Im Stillen aber dachte er traurig: Unser Zusammensein würde nicht lange währen, denn der liebe Gott wird mich bald von dieser Erde abberufen.

Kathrin ahnte nichts von den trüben Gedanken ihres alten Freundes. Obwohl sie bisher schon sehr viel Trauriges und Böses in ihrem jungen Leben kennengelernt hatte, war sie ein heiteres und glückliches Kind, für das die Welt trotz allem in Ordnung war und das auch noch an trüben Tagen ein Stück blauen Himmels sah. Es gab ja so vieles, worüber man sich freuen konnte. Jeder Tag hatte neue Überraschungen. Wie glücklich war Kathrin jetzt über ihren kleinen Hund. Und hatte Friedchen nicht gesagt, dass die ersten Weihnachtsbäume schon in Hamburg eingetroffen seien?

Bei diesem Gedanken sprang Kathrin wie elektrisiert auf und stieß Friedchen an. »Komm, wir gehen jetzt zu den Tannenbäumen. Tossy nehmen wir mit. Er hat ganz sicher auch noch keine Weihnachtsbäume gesehen. Wir bringen dir einen kleinen Zweig mit, Onkel Tobias. Den kannst du in eine Vase stellen.«

Tobias Müller strich Kathrin liebevoll über das lockige dunkle Haar. Er hatte Kathrins Mutter gekannt. Sie war wie Kathrin hier in dem alten Hafenviertel aufgewachsen, aber sie hatte Eltern gehabt, die ihr Verständnis und Liebe entgegengebracht hatten. Auch dann noch, als sie ein Kind erwartete und der Mann ihrer Liebe sie verlassen und verraten hatte.

Der alte Mann seufzte bekümmert. Hoffentlich hatte Kathrin einmal mehr Glück im Leben als ihre Mutter. Im Augenblick sah es nicht so aus. Ganz im Gegenteil.

Tobias Müller sah den beiden Kindern nach, bis sie um eine Häuserecke verschwunden waren. Erst dann ging er langsam und mit gesenktem Kopf die Stufen hinab zu seinem kleinen Laden.

Kathrin und Friedchen liefen lachend und schwatzend durch die schmalen dunklen Straßen. Sie kannten sich hier gut aus. Beide waren hier aufgewachsen.

Ab und zu warf Kathrin einen Blick in ihr kleines Körbchen, um festzustellen, ob Tossy auch noch gut zugedeckt war. Sie und Friedchen erzählten sich gegenseitig, was sie zu Weihnachten gern geschenkt bekämen, obwohl beide sehr genau wussten, dass für sie nicht viel auf dem Gabentisch liegen würde.

»Ich möchte eine Puppe haben«, sagte Kathrin. »Ich weiß auch schon, was für eine. Ganz genau kenne ich sie. Sie ist sehr, sehr groß, hat lange blonde Locken und trägt ein rosa Seidenkleid. Ich sehe sie mir jeden Tag an.«

»Wo siehst du sie dir denn jeden Tag an?«, fragte Friedchen neugierig.

Kathrin biss sich erschrocken auf die Lippen. Beinahe hätte sie Friedchen ihr Geheimnis verraten. Bis jetzt hatte sie zu niemandem darüber gesprochen. Sie wollte ihr Geheimnis mit keinem teilen. Aber vielleicht sollte sie es Friedchen doch erzählen? Schließlich war er ihr Freund. Außerdem wollte er Tossy auch Milch bringen.

Bevor Kathrin sich dazu durchringen konnte, ihr Geheimnis preiszugeben, hatten die beiden Kinder ihr Ziel erreicht. Sie waren bei der alten Kirche angekommen, hinter der ein großer Platz lag.

Kathrin blieb stehen und vergaß vor Staunen den Mund zu schließen. Sie hätte den sonst so öden Platz kaum wiedererkannt. »Das ist ja wie in einem Wald«, flüsterte sie bewundernd. »Und wie das riecht! Friedchen, du musst mal ganz tief Luft holen. Ist es so in einem richtigen großen Wald?«

Verträumt blickte das Kind sich um. Es war ja bisher noch nicht aus Hamburg herausgekommen. Die Großmutter war zu alt gewesen, um dem Kind die Umgebung der Großstadt zeigen zu können. Außerdem hatte es immer an Geld gemangelt. »Ob der Wald, in dem das Haus von den sieben Zwergen stand, auch so gewesen ist?«

»Was denn für’n Haus?«, fragte Friedchen. »Wo ist denn das? Unten im Hafen gibt es ein Lokal, das heißt ›Zu den sieben Räubern‹.«

Kathrin tippte verächtlich gegen ihre Stirn. »Ich meine doch die sieben Zwerge, bei denen Schneewittchen gewohnt hat.«

»Ach so«, machte Friedchen, »du meinst das Märchen. Das gibt es ja nicht richtig.«

»Schneewittchen gibt es aber richtig«, beharrte Kathrin. Und wieder überlegte sie, ob sie dem Freund ihr Geheimnis anvertrauen sollte. Aber Friedchen war schon nicht mehr an ihrer Seite. Er rannte wie ein kleiner Irrwisch über den Platz. Kathrin stellte ihr Körbchen auf die Erde und hob Tossy heraus, damit er auch die gute Luft riechen konnte. Das Hündchen schien auch genauso begeistert zu sein wie die Kinder. Es fühlte sich pudelwohl zwischen den duftenden Nadelbäumen. Laut bellend sprang er hinter Friedchen her, überschlug sich fast, hatte den Buben dann endlich eingeholt und sprang an ihm hoch.

Stolz und bewundernd zugleich hatte Kathrin ihrem kleinen vierbeinigen Freund nachgesehen. Nun setzte sie sich ebenfalls in Bewegung und rannte über den Platz zu den beiden. »Schade, dass es schon so kalt ist«, sagte sie, als sie etwas atemlos bei Friedchen ankam. »Hier könnten wir uns ein schönes Haus bauen, nicht wahr?«

»Hm«, machte Friedchen. »Wäre schon schön. Aber wahrscheinlich würden sie uns wegjagen. Du weißt ja, wie die sind. Immer jagen sie die Kinder weg, wenn sie spielen wollen. Alles ist verboten.«

Kathrin nickte bekümmert. Sie hatte da auch schon ihre Erfahrungen gesammelt. »Es gibt Kinder, die haben so einen großen Garten ganz allein zum Spielen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Nee«, machte Friedchen und begann kleine Zweige aufzuheben, die überall auf dem Boden lagen. »Die Zweige nehme ich für meine Mutter mit.«

Kathrin senkte für einen Augenblick bekümmert den Kopf. Dann erklärte sie: »Ich nehme welche für Onkel Tobias mit, und Tante Irma bekommt auch welche. Vielleicht freut sie sich ein bisschen.«

Es war ein wunderschöner Vormittag, den die beiden Kinder auf dem Platz verlebten. Mit roten Bäckchen machten sie sich auf den Heimweg, als die Kirchturmuhr zwölfmal schlug. Friedchen musste zum Essen pünktlich zu Hause sein. Auch Kathrin ging nach Hause, nachdem sie Tossy zu Onkel Tobias gebracht hatte. »Nachher hole ich ihn wieder«, erklärte sie beim Abschied. »Und nicht wahr, Onkel Tobias, deine Frau kommt ganz sicher nicht in den Laden? Wenn sie Tossy sieht, wird sie ganz sicher böse. Aber sie darf ihn mir doch nicht wegnehmen?« Kathrins Augen blickten ängstlich und waren, wie immer, wenn sie erregt war, fast schwarz.

»Ich passe schon auf Tossy auf«, beruhigte sie der alte Mann. »Meine Frau darf Tossy nichts tun. Sollte sie doch einmal herunterkommen, dann werde ich sagen, Tossy gehöre einer Kundin. Eine kleine Notlüge ist schon mal erlaubt. Du weißt ja, man soll nicht lügen. Aber es gibt Fälle, da ist es besser, wenn man nicht die Wahrheit sagt.«

Kathrin sah nachdenklich vor sich hin. »Du meinst, Tossy ist so ein Fall, Onkel Tobias?«

»Ja, das meine ich.«

Beruhigt sprang Kathrin davon. Sie freute sich nun schon auf den Nachmittag, denn am Nachmittag hatte sie sehr viel vor.

Kathrins Tante und ihr Onkel wohnten im Nachbarhaus. Es war eine Hinterhauswohnung, die im vierten Stock lag. Die Wohnung war nur klein. Sie bestand aus einer kleinen Küche und einem recht geräumigen Raum, der Schlaf- und Wohnraum zugleich war. Neben der Küche befand sich eine kleine Kammer, in der Kathrin schlief. Die Kammer wäre nicht schlecht gewesen, denn sie hatte ein Fenster, wenn es nicht jetzt im Winter so bitterkalt dort gewesen wäre.

Irma Bendler, Kathrins Tante, war eine schmächtige Frau. Ihr Gesicht war von Krankheit, Bitterkeit und Resignation gezeichnet. Die eingefallenen Wangen und die tiefen Schatten unter den Augen hatten das hübsche Gesicht frühzeitig altern lassen. Sie öffnete auf Kathrins Läuten die Tür und begrüßte das Kind mit einem schwachen Lächeln. Auch die Tannenzweige, die Kathrin ihr erwartungsvoll entgegenstreckte, schienen sie nicht zu erfreuen. Sie legte sie achtlos auf den Küchentisch. Wortlos schlurfte sie in ihren Hausschuhen zum Küchenschrank, nahm einen Teller heraus und ging damit zum Herd, wo das Essen stand.

»Ich lege mich gleich wieder hin«, sagte sie zu dem Kind. »Wenn du gegessen hast, dann geh am besten gleich wieder nach unten spielen.« Sie füllte Kartoffelsuppe auf den Teller und schnitt etwas Wurst hinein.

Kathrin, die am Küchentisch Platz genommen hatte, verfolgte jede Bewegung mit Spannung. »Gibst du mir viel Wurst?«, fragte sie und dachte dabei an Tossy, für den sie die Wurst mitnehmen wollte.

Irma Bendler lächelte. »Ja, ja, Kind, du musst kräftig essen. In deinem Alter braucht der Körper das. Ach, warum bin ich nicht gesund? Ich werde mit mir allein nicht einmal fertig, und nun soll ich auch noch für dich sorgen.«

Kathrin sah ihre Tante mitleidig an. »Ich kann schon sehr gut für mich allein sorgen, Tante Irma. Aber wenn ich richtige Eltern hätte, eine Mutter und einen Vater, dann wäre das schon schön. Könnte ich nicht richtige Eltern bekommen?«

Irma Bendler ließ für einen Augenblick die Schöpfkelle sinken und sah starr zu dem Kind hinüber. »Auf was für Sachen du kommst, Kathrin. Du weißt doch, dass deine Mutter tot ist. Und von deinem Vater wissen wir rein gar nichts. Nein, Eltern gibt es für dich nicht.«

Kathrin wandte den Kopf fort, damit ihre Tante nicht die Tränen sehen konnte. Sie verstand nicht, warum es für sie keine Eltern geben sollte. Es hatten doch fast alle Kinder Eltern. Wenn sie sich nun zu Weihnachten Eltern wünschte? Hatte die Oma nicht einmal gesagt, dass zu Weihnachten die Wünsche sehr viel leichter in Erfüllung gingen? Und bald war Weihnachten. Es konnte gar nicht mehr lange dauern, denn die Weihnachtsbäume waren schon in der Stadt eingetroffen.

»Iß jetzt«, sagte Irma Bendler. »Und wenn du gehst, dann schließ die Tür recht leise, damit du mich nicht störst. Ich will jetzt schlafen. Und komm heute Abend nicht so spät nach Hause, damit du im Bett liegst, wenn Onkel Rudolf nach Hause kommt. Hast du mich verstanden?«

Kathrin nickte und begann langsam zu essen.

Irma Bendler strich dem Kind noch einmal flüchtig über das dunkle Haar. Dann ging sie mit schlurfenden Schritten in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sofort stand Kathrin auf und suchte im Küchenschrank nach einem Stück Papier. Mit dem Löffel fischte sie die Wurstscheiben aus der Suppe und tat sie in das Papier. Tossy würde sich ganz gewiss sehr freuen.

Erst als Kathrin das Papier mit der Wurst in die Tasche ihres Anoraks gesteckt hatte, aß sie weiter. Sie aß mit Appetit, aber sie ließ sich Zeit. Obwohl sie die Uhr noch nicht richtig kannte, wusste sie, dass sie sich nicht zu beeilen brauchte. Für das, was sie nach dem Essen wie an jedem Tag vorhatte, war es noch zu früh. Der geeignete Zeitpunkt dafür war der Nachmittag. Am Nachmittag herrschte um diese Vorweihnachtszeit viel Betrieb in der Innenstadt. Vor den Geschäften drängten sich die Leute, die die Auslagen betrachteten und überlegten, was sie ihren Lieben zu Weihnachten schenken konnten. Besonders die Schaufenster der Spielzeugläden waren große Anziehungspunkte für Groß und Klein.