Drama in Villa - Gert Rothberg - E-Book

Drama in Villa E-Book

Gert Rothberg

3,0

Beschreibung

82 Seiten dramatische Handlungsverläufe, große Emotionen und der Wunsch nach Liebe und familiärer Geborgenheit bestimmen die Geschichten der ERIKA-Reihe - authentisch präsentiert, unverfälscht und ungekürzt! Frau Dora Conradi wachte durch das schrille Läuten des Weckers auf. Erschrocken hob sie den Kopf, um ihn dann abermals in die weichen Kissen zurückfallen zu lassen. Gerade jetzt hätte sie gern noch ein wenig geschlafen. Sie war nicht mehr die Jüngste, außerdem war sie ein Mensch, der von frühester Jugend an gewöhnt war, spät ins Bett zu gehen, um dafür morgens ein wenig länger zu schlafen. Sie hatte sich das auch stets leisten können. Ein kleines Vermögen sicherte ihr ein beschauliches, sorgenfreies Leben. Seitdem jedoch ihre Nichte Inge Gräfenhan zu Besuch war, mußte sie wohl oder übel zur Frühaufsteherin werden. Das Mädel schien den Aufenthalt bei seiner Tante für einen einzigen köstlichen Urlaub zu halten. Und es sollte doch nach dem Wunsch der Mutter das genaue Gegenteil sein. Frau Gräfenhan hatte ihre Tochter Inge hierher auf das flache Land geschickt, weil sie befürchtete, die Tochter könnte sich an einen Mann verlieren, der ganz und gar nicht dem entsprach, was sie sich unter ihrem zukünftigen Schwiegersohn vorstellte. Dora Conradi seufzte. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Schwester, Magdalene Gräfenhan, es am liebsten sehen würde, wenn Inge unverheiratet blieb. Diesen Standpunkt konnte sie ihrer Schwester nicht einmal übelnehmen, nachdem es in ihrer Ehe sehr bald zu einem Zerwürfnis gekommen war. Noch immer rasselte der Wecker. Langsam erstarb jetzt das Geräusch. Frau Conradi blickte mißmutig hinüber, es war genau sechs Uhr, eine Stunde, zu der sie sonst noch in tiefstem Schlummer lag. Nun erhob sie sich widerstrebend. Aus der Küche kam ihr bereits der Duft frisch aufgebrühten

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Erika Roman – 2 –

Drama in Villa

Gert Rothberg

Frau Dora Conradi wachte durch das schrille Läuten des Weckers auf. Erschrocken hob sie den Kopf, um ihn dann abermals in die weichen Kissen zurückfallen zu lassen. Gerade jetzt hätte sie gern noch ein wenig geschlafen. Sie war nicht mehr die Jüngste, außerdem war sie ein Mensch, der von frühester Jugend an gewöhnt war, spät ins Bett zu gehen, um dafür morgens ein wenig länger zu schlafen. Sie hatte sich das auch stets leisten können. Ein kleines Vermögen sicherte ihr ein beschauliches, sorgenfreies Leben.

Seitdem jedoch ihre Nichte Inge Gräfenhan zu Besuch war, mußte sie wohl oder übel zur Frühaufsteherin werden. Das Mädel schien den Aufenthalt bei seiner Tante für einen einzigen köstlichen Urlaub zu halten.

Und es sollte doch nach dem Wunsch der Mutter das genaue Gegenteil sein. Frau Gräfenhan hatte ihre Tochter Inge hierher auf das flache Land geschickt, weil sie befürchtete, die Tochter könnte sich an einen Mann verlieren, der ganz und gar nicht dem entsprach, was sie sich unter ihrem zukünftigen Schwiegersohn vorstellte.

Dora Conradi seufzte. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Schwester, Magdalene Gräfenhan, es am liebsten sehen würde, wenn Inge unverheiratet blieb.

Diesen Standpunkt konnte sie ihrer Schwester nicht einmal übelnehmen, nachdem es in ihrer Ehe sehr bald zu einem Zerwürfnis gekommen war.

Noch immer rasselte der Wecker. Langsam erstarb jetzt das Geräusch. Frau Conradi blickte mißmutig hinüber, es war genau sechs Uhr, eine Stunde, zu der sie sonst noch in tiefstem Schlummer lag. Nun erhob sie sich widerstrebend. Aus der Küche kam ihr bereits der Duft frisch aufgebrühten Kaffees entgegen. War Inge noch früher aufgestanden als gewöhnlich? Da mußte sie sich wohl beeilen, damit das Kind keinen Unfug anstellte.

Hastig zog sich Frau Conradi an. Die Morgenwäsche fiel heute recht dürftig aus. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, Inge niemals aus den Augen zu lassen, und Magdalene hatte nun mal eine Art, auf solchen Versprechungen zu bestehen, daß man sich ganz klein und gedrückt fühlte, wenn nicht alles nach Wunsch lief.

Dora Conradi steckte den Kopf durch den Türspalt.

»Inge, bist du schon munter? Guten Morgen, mein Kind!«

Vergeblich wartete Frau Conradi auf eine Antwort.

»Wo steckst du denn, Inge?« fragte sie verwundert, und fügte sich selbst beruhigend hinzu: »Sie wird draußen bei den Hühnern sein.«

Eilig lief Frau Conradi durch den dunklen Hausflur und trat in den Garten hinaus. Es war ein heller Sommermorgen, die Sonne stand bereits als glühender Ball am Himmel. Dora Conradi mußte die Hand schützend über die Augen halten, als sie sich jetzt suchend umblickte.

Ihr Häuschen lag am Rande des kleinen Ortes, man konnte von hier aus weit über die Felder sehen, auf denen bereits hier und da Menschen zu erkennen waren. Ein paar hundert Meter weiter begann der Wald.

Von dort her kam jetzt eilig eine Radfahrerin auf das Haus zu.

In der hellen Morgensonne leuchtete ihr rotes Kleid wie ein­ großer Strauß dunkelroten Mohns.

Es war Inge. Dora Conradi erkannte die Nichte sofort. Jetzt winkte ihr diese auch schon zu.

Frau Conradi blieb erstarrt stehen, ein heftiger Schreck hatte sie befallen. Sie hatte ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Wirklich, man mußte dieses Mädel anbinden, ihre Schwester hatte schon recht.

Jetzt bog die Radfahrerin in den Garten ein, dicht vor der Tante sprang Inge lachend vom Rad, ihr blondes, durch den Wind zerzaustes Haar mit der Hand zurückstreichend.

»Guten Morgen, Tantchen. Hat es dich auch nicht länger im Bett gehalten?«

Dora Conradi übersah die entgegengestreckte Hand.

»Wo kommst du her, Inge?«

Das Lachen verschwand aus dem frischen Gesicht, verwundert blickte Inge die Tante an.

»Was ist denn, Tantchen? Du siehst ja so böse aus. Hast du irgendeinen Ärger gehabt?«

Frau Conradi mußte erst einmal schlucken, Inges Naivität entwaffnete sie. Dann jedoch erinnerte sie sich an die Warnungen ihrer Schwester. Nein, sie durfte sich von diesem jungen Ding hier nicht zum Narren halten lassen. Mochte Inge noch so unschuldig dreinschauen. Sie war ohne ein Wort davongelaufen, womöglich hatte sie sich die halbe Nacht im Wald herumgetrieben.

»Ich will endlich wissen, woher du kommst, Inge. Versuche es nicht mit einer Ausrede, antworte mir klar und offen!«

Inge hielt das Gesicht gesenkt. Gerade noch war sie so froh gewesen, nun schien plötzlich alles grau und farblos um sie her zu sein. Es war wie zu Hause in dem großen muffigen Haus, das jedes fröhliche Lachen erdrückte. Was hatte die Tante nur? Die wenigen Tage, die sie bereits auf diesem kleinen Anwesen verbringen durfte, waren so schön gewesen. Tante Dora war so lieb und herzlich zu ihr wie nie ein Mensch zuvor. Sollte das nun zu Ende sein?

Inge hatte die Frage der Tante längst vergessen, sie war viel zu sehr mit ihren eigenen traurigen Gedanken beschäftigt.

Abermals war sie also allein, ganz allein!

So war es bisher stets in ihrem Leben gewesen. Sie durfte sich eben nicht freuen. Stets kam dann etwas Böses auf sie zu. Ja wirklich, sie hatte es schon oft genug erfahren.

Sie schob ihr Fahrrad zu dem kleinen Schuppen hinüber. Als sie nach einer Weile wieder zurückkam, stand die Tante ­immer noch auf demselben Fleck.

»Du willst mir also nicht antworten, Inge? Du willst mir nicht sagen, wo du gewesen bist?«

Erwachend blickte Inge ihre Tante Dora an.

»Aber natürlich will ich dir das sagen, Tante, es ist kein ­Geheimnis dabei. Als ich den Frühstückstisch gedeckt hatte und du noch so schön fest schliefst, bekam ich große Lust, schnell zum Waldsee zu fahren, du weißt doch, wie gern ich schwimme, und morgens ist es dort am schönsten. Man ist ganz allein. Ich bin weit hinausgeschwommen, es war herrlich!«

Frau Conradi atmete befreit auf. So also war das gewesen. Ja, sie glaubte ihr. Inge hatte doch bereits den Kaffee gebrüht, also konnte sie wirklich nicht lange weg gewesen sein.

»Dann gehen wir also hinein«, sagte sie und legte behutsam den Arm um die Nichte. »Du darfst mich jedoch niemals so erschrecken, hörst du? Wie schrecklich wäre es, wenn dir etwas passieren würde. Du weißt, wie ängstlich deine Mutter ist.«

Inge war schnell versöhnt. Plötzlich hörte sie wieder das Zwitschern der Vögel, bemerkte den Duft der Blumen. Ja, es war wieder so wie in den ersten Tagen, die Tante hatte sie lieb. Am liebsten würde sie immer hierbleiben und nicht in das düstere Haus zurückkehren, in dem man sich trotz der Weiträumigkeit der Zimmer so seltsam eingeengt fühlte.

»Meine Mutter hat Angst um mich?« fragte Inge zweifelnd, »davon habe ich bisher nie etwas bemerkt, Tantchen. Lange Jahre hatte ich ein Kinderfräulein, da habe ich die Mutter kaum gesehen. Dann war ich im Pensionat, und jetzt ist alles falsch, was ich tue.«

Es war ein bitterer Ton in Inges Stimme. Dora Conradi überhörte ihn geflissentlich.

Sie wußte ja, daß ihre Schwester Magdalene ein eigentümlicher Mensch war. Es war ihr wohl zuzutrauen, daß sie die Ablehnung, die sie ihrem verschollenen Mann gegenüber empfunden hatte, jetzt auf die Tochter übertrug.

»Nun setz dich, Inge! Das Baden wird dich hungrig gemacht haben. Schmeckt es dir denn bei mir? Darüber hast du noch gar nichts gesagt.«

»Aber Tantchen, natürlich, es schmeckt mir wunderbar, bisher habe ich noch nie so viel gegessen.«

»Hast auch frische Farbe bekommen, mein Kind«, klopfte die Tante ihr liebevoll auf die Schulter.

Dann goß Inge den Kaffee ein, und sie saßen sich schweigend gegenüber, jeder mit dem Genuß des Frühstückens beschäftigt.

»Gehen wir heute wieder aufs Feld hinaus?« fragte Inge später, als sie das Geschirr abräumte.

Dora Conradi unterdrückte einen Seufzer.

»Wird es dir nicht zuviel, Inge? Schließlich bist du diese Feldarbeit nicht gewohnt.«

»Mir macht sie großen Spaß. Natürlich habe ich einen gehörigen Muskelkater, aber man weiß am Abend wenigstens, daß man etwas Nützliches getan hat. Außerdem kann ich zu jeder Zeit wieder aufhören, das ist zumindest beruhigend, nicht wahr?«

Die Tante nickte. Es würde also nichts weiter übrigbleiben, als die ihr ebenfalls so ungewohnte Arbeit wiederaufzunehmen. Und alles nur, weil Inge auf Wunsch der Schwester scharf herangenommen werden sollte. Magdalene wußte wirklich nicht, welche Opfer sie damit verlangte.

Dora ging in ihr Zimmer hinüber und band sich Kopftuch und Schürze um. Inge wirtschaftete inzwischen in der Küche. Es ging bei ihr alles so schnell, ehe die Tante sich umsah, war die Arbeit erledigt.

»An der Seite dieses Wildfangs werde ich wirklich noch einmal jung«, brummte Dora Conradi, »schon heute möchte ich das Mädel am liebsten nicht mehr hergeben.«

Sie suchte nach dem Frühstückskorb, um dann festzustellen, daß Inge ihn bereits fertig gemacht hatte.

»Gehen wir also, Inge.«

Langsam wanderten sie am Feldrain entlang. Mit glücklichen Augen sah Inge über die Kornfelder.

»Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, daß ich bei dir sein kann«, sagte sie und hakte sich bei ihrer Tante ein.

»Das verstehe ich wirklich nicht, Mädel, ich möchte meinen, daß du viel lieber Tennis spielst und euer vieles Dienstpersonal zu Hause durcheinanderwirbelst.«

»Hat sich was, wirbeln tut nur meine Mutter«, lachte Inge. »Ich weiß auch nicht, warum es mir hier draußen so gut gefällt. Bisher habe ich immer nur lernen müssen, und der Tag war genau eingeteilt. Gewiß, das ist er hier auch, aber man ist draußen an der frischen Luft. Zu Hause bin ich eher wie ein Stück Inventar, stets kommen fremde Menschen, die steif und vornehm tun, ich muß sie begrüßen und darf eine Weile ihrem Gespräch zuhören, um dann für den Rest des Abends in mein Zimmer hinaufgeschickt zu werden.«

»Du sprichst recht respektlos von dem Haus deiner Eltern, finde ich.«

Inge machte ein schuldbewußtes Gesicht.

»Nimm es nicht so ernst, Tantchen, das ist ja gerade das Schöne hier, ich kann sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen ist, ohne gleich die bittersten Vorwürfe zu hören.«

Dora Conradi wußte darauf nichts zu antworten, sie kam mehr und mehr zu der Überzeugung, daß es von ihrer Schwester vielleicht doch nicht richtig gewesen war, Inge ihrer Obhut anzuvertrauen. Sie brachte es einfach nicht fertig, die Respektsperson herauszukehren, und gerade das sollte sie doch.

»Warum bist du eigentlich nicht so reich wie wir?« fragte Inge, als wäre es die belangloseste Frage der Welt.

»Fragen hast du!« schüttelte Dora Conradi den Kopf.

»Es ist nicht so wichtig, du brauchst mir nicht zu antworten, Tantchen. Es fiel mir nur so ein, weil Mama doch immer so stolz auf ihren Besitz ist.«

Die Tante machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Du meinst, weil wir Schwestern sind, und weil ich genauso viel geerbt haben müßte wie deine Mutter? Das stimmt schon, nur habe ich mein Geld sehr ungeschickt angelegt. Alles bei einer einzigen Bank, weißt du? Und diese Bank ist dann in Konkurs gegangen.«

»Pech«, sagte Inge und pflückte einige Kornblumen, die dicht am Wegrand standen. »Jedenfalls bist du glücklicher als Mama, glaube ich.«

Frau Conradi sagte nichts dazu. Das Gespräch näherte sich einem gefährlichen Gebiet. Wenn sie nicht schnell auf ein anderes Thema übergingen, mußten sie sehr bald über den verschollenen Vater sprechen. Wahrscheinlich würde Inge sie dann nach ihrer, Doras, Meinung fragen. Was aber sollte sie dann sagen? Sie mußte eine Notlüge gebrauchen, denn ihre wirkliche Meinung mußte sie um Inges und auch um Magdalenes willen für sich behalten.

Dora Conradi war froh, daß sich gerade in diesem Augenblick ein rumpelnder Leiterwagen näherte. Er gehörte zum Gut Birkenhöhe. Mägde und Knechte wurden auf die Felder hinausgefahren. Der Verwalter Brettschneider war mit auf dem Wagen. Jetzt grüßte er höflich und warf einen erstaunten und verwunderten Blick auf die junge Dame, die dort neben der von allen sehr geschätzten Frau Conradi einherging.

Die Tante sah diesen Blick. Eine Sekunde lang war ihr zumute, als wäre sie bei einer bösen Tat ertappt worden. Brettschneider war ja nicht dumm, er hatte sich sicher seine Gedanken gemacht, als sie vor einer Woche in seinem Büro erschienen war, um ihn zu bitten, ihr die Wartung eines der großen Zwiebelfelder zu übertragen. Das machte man hier so, wenn man billig zu eigenen Zwiebeln kommen wollte, und die Gutsverwaltung war froh, wenn sie für ihre großen Felder Leute fand, die sie betreuten.

Natürlich hatte Brettschneider sich gefragt, was sie, Frau Conradi, wohl mit soviel Zwiebeln wollte. Sie besaß genug Geld, um sie sich kaufen zu können. Da hatte sie ihm dann erklärt, daß sie eine Nichte erwarte, die sich ein wenig in der Landwirtschaft betätigen sollte.

Er mochte ahnen, daß es eine Art Strafe war.

Dora Conradi ärgerte sich, Brettschneider brauchte wirklich nicht so offen zu zeigen, was er dachte. Inge ging ihn nichts an. Aber es passierte hier so wenig, daß man sich nur zu gern mit den anderen beschäftigte, immer in der Hoffnung, irgendeine aufregende Geschichte zu erleben.

Endlich hatten die beiden Frauen ihr Feld erreicht. Inge ging mit Feuereifer an die Arbeit.

Die Stunden verrannen. Frau Conradi war bald so erschöpft, daß sie sich an den Wegrand setzen und erst einmal einen Schluck Kaffee trinken mußte. Sie nahm sich vor, diese Arbeit hier sehr bald einzustellen. Es war wirklich eine dumme Überlegung ihrer Schwester, Inge durch schwere körperliche Arbeit jenes Erlebnis vergessen zu lassen, das den Zorn ihrer Mutter heraufbeschworen hatte.

Dabei hatte Magdalene es nicht einmal für nötig befunden, Dora genauer über die Hintergründe zu informieren. Und Inge selbst konnte man wohl nicht fragen, sicher würde sie alles abstreiten. Wer weiß, was man ihr alles nachsagte! Magdalene war leider viel zu schnell geneigt, dem Gerede anderer Leute zu glauben.

»So, Tantchen, der Streifen ist nun auch sauber. Was machen wir jetzt?«

»Nach Hause gehen«, entschied Dora Conradi, Inge war zufrieden. Die Tante fand, daß sie anordnen konnte, was sie wollte, stets gehorchte Inge sofort. Das Mädel war wirklich leicht zu leiten. Sie verstand ihre Schwester nicht. Wenn Inge zu Hause störrisch war, dann mußte es doch irgendwelche Gründe haben.

»Tantchen«, fragte Inge unterwegs, »wirst du mir wohl eine kleine Bitte erfüllen?«

»Wenn es möglich ist, warum nicht?« Tante Dora sah ihre Nichte fragend an.

»Wenn ich dich recht verstehe, willst du also irgendwohin gehen, und ich soll mein Einverständnis dazu geben?«

»Richtig! Ich habe nämlich noch nie eine Bauernhochzeit mitgemacht, und wir sind doch auch eingeladen.«

»Jetzt begreife ich«, nickte Dora Conradi. »Die Tochter von Bauer Mertens heiratet, und das ganze Dorf ist eingeladen.«

»Wir gehen also hin?« freute sich Inge.

»Ich weiß nicht recht. So eine Einladung darf man hier nicht allzu ernst nehmen, obwohl man uns natürlich nicht hinauswerfen würde.«

»Ich freue mich so sehr darauf«, beteuerte Inge.

»Kind, erwarte nicht zuviel. Es geht dort sicher sehr laut zu. Es sind alles nette Leute, aber eben ein bißchen derb. Für dich ist das bestimmt nichts.«

»Aber Tantchen, bin ich denn aus Porzellan? Und du bist doch auch immer dabei. Wir können ja gehen, wenn es uns nicht mehr gefällt.«

»Ich will es mir überlegen.«

»Nein, du mußt es mir gleich versprechen. Bitte, Tantchen!«

»Also schön, Inge. Deine Mutter wird über meine Nachgiebigkeit jedoch sehr böse sein.«

Inge war mit ihren Gedanken schon weiter. »Was aber ziehen wir an, Tante? Ein Abendkleid? Ich habe doch nichts von meinen Sachen mitnehmen dürfen.«

»Hier gehen die Leute bei Festlichkeiten noch in Tracht, Inge.«

»In Tracht? Das muß ein wunderhübsches Bild geben. Oh, Tantchen, ich habe in dem alten Schrank auf dem Boden gestöbert, das habe ich dir noch gar nicht gesagt, bist du mir deswegen böse?«

»Wenn du nur nicht solche Gedankensprünge machen wür­dest«, stöhnte Dora Conradi, »was hat der alte Schrank mit der Hochzeit bei Bauer Mertens zu tun?«

»Weil ich darin ein altes Trachtengewand gefunden ha­be. Es paßt mir bestimmt.«

»Du bist schrecklich, Inge. Ich glaube wirklich, man muß dich anbinden. Also gut, wir wollen sehen, wie du darin aussiehst.«

Sie hatten inzwischen das Haus erreicht. Während Dora Conradi nach dem Federvieh sah und dann in der Küche das Essen zubereitet, stieg Inge behende die Bodentreppe hinauf und öffnete den alten Schrank. Ein schwarzer Tuchrock mit bunter Bordüre hing dort, darüber ein Samtmieder mit herrlicher Perlenstickerei. Inge nahm beides heraus und brachte es der Tante. »Eine passende weiße Bluse habe ich noch«, sagte die Tante.

»Ich ziehe es gleich einmal an, ja?«

Frau Conradi kam nicht zur Ruhe, nun mußte sie auch noch nach der Bluse suchen, aber es war ihr nichts zuviel, wenn sie in Inges glückliches Gesicht sah, wurde ihr warm ums Herz. Zärtlich strich sie ihr über das blonde Haar.

»Wenn etwas nicht paßt, können wir es schnell ändern«, sagte sie. »Notfalls tut es auch die alte Schonerten, sie kommt immer zum Wäscheflicken, ist aber auch sonst sehr geschickt.«

Sie half ihrer Nichte beim Ankleiden. Wirklich, es waren kaum Änderungen nötig. Kritisch besah Inge sich im Spiegel. »Ich kenne mich gar nicht wieder, Tante.«

Dora Conradi freute sich, wie gut Inge das Trachtenkleid stand! Donnerwetter, die Männer würden Augen machen!

Doch da erschrak die Tante heftig. Inge würde in Gefahr sein. Die Männer packten hier derb zu! Man war nicht zimperlich. Wie hatte sie nur ihr Einverständnis geben können!

»Du sagst ja gar nichts, Tantchen, gefalle ich dir nicht? Das offene Haar paßt nicht recht dazu.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, suchte Inge nach einem Samtband. Bald lag das Haar fest am Kopf an, ein großer, offener Knoten, vom schwarzen Samtband durchzogen, ließ das blonde Haar noch heller und leuchtender erscheinen.

»So werde ich gehen, Tantchen. Du darfst nicht sagen, wer ich bin, hörst du? Wir wollen daraus ein Geheimnis machen. Die Leute werden herumrätseln. Das gibt einen Spaß.«

*

Am Nachmittag fuhr Inge wieder zum Baden. Diesmal hatte sie die Tante vorher gefragt.

Dora Conradi begann zu resignieren. Verbat sie das eine, mußte sie das andere erlauben. Aber hatte sie überhaupt schon etwas verboten?

Nein, das eben brachte sie nicht fertig, sie hoffte nur, daß Inge wirklich der Mensch war, dem man trauen konnte.

Inge Gräfenhan fuhr durch den Wald, die Bäume warfen schon lange Schatten, es duftete nach Harz und Kiefernadeln. Nach wenigen Minuten glitzerte vor ihr bereits der dunkelblaue See. Als sie das Ufer erreicht hatte, sprang sie vom Rad und zog sich übermütig das Kleid über den Kopf. Den Badeanzug hatte sie schon zu Hause angezogen. Mit einem mutigen Kopfsprung tauchte sie in das klare Wasser. Es war herrlich erfrischend nach dem heißen Tag.

Es war nicht nur die Freude am Baden selbst, die sie immer wieder hierher zog. Wenn sie hier draußen allein war, mußte sie an den Mann denken, der ihr vor Wochen begegnet war. An einem kleinen Flußlauf war es gewesen, nicht weit von ihrem elterlichen Haus entfernt.

Niemals würde sie dieses Erlebnis vergessen. Sie ertappte sich immer wieder dabei, daß sie an den hochgewachsenen braungebrannten Mann dachte, der da plötzlich vor ihr aufgetaucht war und sich mit der größten Selbstverständlichkeit in ihrer Nähe niedergelassen hatte. Zuerst war sie darüber empört gewesen. Der Fluß bot so viele Badestellen, warum mußte er sich gerade zu ihr setzen? Anfangs war sie drauf und dran gewesen, sofort nach Hause zu gehen, dann jedoch hatte sich der Trotz gemeldet. Mußte sie es unbedingt sein, die das Feld räumte? Sie hatte also getan, als wenn sie ihn gar nicht bemerkte. Schließlich hatte er ihr zugelächelt, und durch einen Zufall waren sie dann ins Gespräch gekommen. Ja, und dann hatte sie den Mann nicht vergessen können, bis heute nicht.

Dabei wußten sie voneinander nichts, nicht einmal vorgestellt hatten sie sich. Die Begegnung war ohne Besonderheiten verlaufen. Und doch, je länger sie zurücklag, desto öfter mußte sie daran denken. Es war beinahe, als hoffte sie, der Fremde könnte auch hier auftauchen, sich genauso still und selbstverständlich zu ihr setzen.

Es wäre schön gewesen, sehr schön!

Aber diesen Zufall konnte es nicht geben. Nur daß sie sich eben danach sehnte, und daß diese Sehnsucht so schön war.

*

In der Villa Gräfenhan war ein eiliges Kommen und Gehen. Die Hausherrin erwartete für den Abend Gäste, und das Personal wußte, daß an diesen Tagen, entgegen der sonstigen Gepflogenheit, nicht gespart wurde.

In der Empfangshalle standen die herrlichsten Rosen, fast sah es so aus, als hätten die Gäste ihre Aufmerksamkeiten bereits im voraus der Gastgeberin dargebracht. Eingeweihte wußten jedoch, daß Frau Gräfenhan unter anderem Teile ihres Vermögens auch in einer großen Gärtnerei investiert hatte, und die täglichen Blumensendungen von dort als eine selbstverständliche Zugabe zu ihren Zinsen betrachtete. Sonst hätte sie wohl kaum eine so üppige Blumenfülle in ihren Räumen geduldet. Im Grunde machte sie sich nämlich nicht viel aus Blumen. Sie erschienen ihr als ein sinnloser Luxus.

Während Frau Gräfenhan noch überall nach dem Rechten sah, kam bereits der erste Besucher. Sie fuhr ärgerlich herum, als sie das anhaltende Läuten der Hausklingel hörte. Wer war so unhöflich, vor der Zeit zu erscheinen? Sie war ja noch nicht einmal umgezogen.

Ihre Hoffnung, daß es sich vielleicht nur um einen Boten handeln könnte, zerschlug sich sehr schnell. Es klopfte, und auf ihr Herein trat ein blasser junger Mann ein, der nervös seine Brille zurechtrückte.

»Was gibt es denn, Herr Kallweit?« fragte sie ungehalten.

»Gnädige Frau, Herr Oberregierungsrat von Kammermaier ist soeben eingetroffen.«

»Na und?«

»Ich bin beauftragt, Ihnen das zu melden.«

»Schon gut! Haben Sie die Post noch erledigt, die ich Ihnen vorhin diktierte?«

»Sehr wohl, gnädige Frau. Wenn es Ihnen möglich wäre, sofort…, ich meine, die Unterschrift…«

Dienstbeflissen öffnete Antonius Kallweit die Unterschriftenmappe.

»Geben Sie her«, befahl Frau Gräfenhan.

Eilig breitete Kallweit die einzelnen Briefe vor ihr aus. Er war dabei so ungeschickt, daß ein Teil davon zur Erde flatterte.

Magdalene Gräfenhan schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie so nervös sind, Kallweit. Wenn sich das nicht sehr bald ändert, werde ich mich nach einem anderen Sekretär umsehen müssen.«

In Kallweits Gesicht schoß jähe Röte.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, es wird nicht wieder vorkommen.«

»Das haben Sie mir schon sehr oft versprochen. Gehen Sie jetzt und sagen Sie meinem Vetter, dem Herrn Oberregierungsrat, daß ich ihn im Augenblick noch nicht empfangen kann, er möchte sich gedulden. Führen Sie ihn in die Bibliothek.«

»Sehr wohl, gnädige Frau!«

»Sie bringen die Briefe eigenhändig zur Post, es sind wichtige Schreiben dabei«, rief sie ihrem Sekretär noch nach.

»Sehr wohl, gnädige Frau!«

Als Antonius Kallweit das Zimmer verlassen hatte, klingelte Magdalene nach dem Mädchen.

»Machen Sie das hier weiter, Lisbeth. Ich hatte angeordnet, daß heute ausschließlich Rosenthal-Prozellan genommen wird, und dann mag ich dieses stumpfe Silber nicht. Hier haben Sie den Schlüssel für den Silberkasten, wechseln Sie aus.«

»Sehr wohl, gnädige Frau!«

Magdalene Gräfenhan zog die Stirn kraus.