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Beschreibung

Katzenmusik und Katerstimmung

»Was der Teufel für die Geige, das scheint die Hauskatze für das Klavier zu sein«, schreibt Bruno Aulich in »Mondscheinsonate und Katzenfuge«. Elke Heidenreich weiß, wovon er spricht: Ihr Kater Nero lief mit Vorliebe nachts über die Tasten und weckte alle mit modernster Musik. Auch in Frühlingsnächten ertönt Katzenmusik, wenn es bei den Katern um die Liebe und die Revierverteidigung geht. Kurzum: das Feld der Katzenmusik ist ein weites. Die Autoren schreiben über schräge Musikerlebnisse, asiatische Musik, über eine verkaterte Barpianistin oder über das Katzenduett bei Donizetti … Eine Sammlung kecker, lustiger, ausgefallener und tieftrauriger Texte von: Annette Humpe, Akif Pirinçci, Herbert Rosendorfer, Jan Weiler, Wladimir Kaminer, Enoch zu Guttenberg, Bernd Schroeder, Alexa Hennig von Lange, Wolfgang Joop, Lea Singer, Keto von Waberer, Ingrid Noll, Hans Neuenfels, Frank Goosen u.v.a.

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Seitenzahl: 331

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Elke Heidenreich (Hg.)

KATZENMUSIKUND KATERSTIMMUNG

Tierisch-musikalische Geschichten

Illustriert vonRudi Hurzlmeier

Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Der Beitrag von Herbert Rosendorfer wurde in alter Rechtschreibung gesetzt.

Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinen im C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

© der Originalausgabe 2012 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08958-0V002

www.edition-elke-heidenreich.de

VORWORT

von Elke Heidenreich

»Wenn der Nachtwind diese TöneHinwirft nach dem Seegestade,Wird den Spaniern, die dort lagern,Katzenjämmerlich zumute …«

Da haben wir in Heinrich Heines »Romanzero« gleich beides: den Katzenjammer und die grausigen Töne, die Katzenmusik. Offenbar hängt beides zusammen: Wenn der Kopf gänzlich überfordert ist, ertönt darin Schauriges, das, was mitunter in den Nächten unter den Fenstern zu hören ist. Es ist Liebesgeschrei von Katzen, und wer wüsste nicht, dass Liebesgeschrei schnell umschlagen kann in Katzenjammer!

Mein Klavier steht immer offen, weil es geschlossen abweisend und wie ein großer schwarzer Sarg aussieht. Und weil es schön ist, dass jeder, der vorbeikommt, sich mal eben ans Klavier setzt und ein bisschen spielt – das geht vom »Flohwalzer« zu »Hänschen klein«, »Brüderlein fein« über kleine Mozartmelodien bis zum Bachpräludium. Und früher, nachts, wenn alles schlief und das Haus still im Dunkeln lag, dann sprang Kater Nero mit seinen zehn Kilo gewaltig auf die Tasten und lief auf und ab, und es klang nach frühem Henze oder spätem Stockhausen, und wir saßen sowohl wütend wie auch gerührt und beeindruckt senkrecht in den Betten. Katzenmusik, die ganz echte! Was gäbe ich darum, das noch einmal zu hören, keine meiner anderen Katzen hat je Klavier gespielt, aber unser Mops legt sich sofort neben die Pedale, wenn jemand in die Tasten greift und seufzt tief. Das Thema Mops & Musik wird also noch zu ergründen sein.

Die echte, wahre Katzenmusik ist der grausige Gesang rolliger Katzen bei Nacht, und das Fauchen und Kreischen verliebter Kater dazu. Wer das einmal gehört hat, vergisst es nie, und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Weil es gar so garstig ist, spielte man früher Menschen, die man nicht leiden konnte oder die etwas Unerhörtes angestellt hatten, unter den Fenstern eine Katzenmusik mit allem, was gehörig lärmt: Topfdeckel, Glocken, Pfeifen, Trommeln, Blecheimer. Verhassten Politikern wurde so die Meinung gelärmt, August Bebel musste eine Katzenmusik in der Nacht ertragen, auch Witwen, die noch vor Ablauf des Trauerjahrs wieder heirateten, und nur durch Zahlung eines Lösegelds kehrte Ruhe ein. Ich glaube nicht, dass es solche Bräuche heute noch irgendwo gibt. Aber Katzenmusiken gibt es noch.

Durch dieses Buch geistern Katzen und Musik, es geistern Jammer und enttäuschte Liebe. »Schreibt mir etwas!«, habe ich die Autoren gebeten, »über Katzenmusik, über Katzenjammer, ihr wisst schon …!«

Sie wussten nicht so recht, aber sie ahnten, und ich wusste auch nicht so recht, aber ich wollte solche Geschichten sammeln. Jeder kennt doch die schrillen Töne der Katzen, des Lebens, der Liebe und das scheußliche Gefühl, das schrille Töne in der Regel begleitet, und so kam Unterschiedlichstes zusammen: Von der Katze, die in der Oper mitsingt, bis zum Lebenskatzenjammer schlechthin ist alles dabei.

Hat das alles noch mit Musik zu tun?

O ja, mit der Musik unseres Lebens, in der es in Dur und Moll dahingeht, mal rauf, mal runter mit der Lebensmelodie, und mal klingt alles fröhlich, mal melancholisch und mal schrill und zerrissen. Katzenmusik eben.

Katzen trösten und erschrecken, wie Musik trösten und erschrecken kann. Katzen lieben Rituale und werden mürrisch, wenn Rituale nicht eingehalten werden. Musik tönt durch die Wände und stört uns, hören wir aber dieselbe Musik im eigenen Zimmer, aus dem eigenen Radio, vom eigenen Klavier – dann gefällt es uns. Wir sind gern lieber näher dran, mittendrin. Anderer Leute Musik mithören zu müssen macht so wenig Spaß, wie nachts unterm Fenster klagenden Katzen zuzuhören. Die Katze selbst hört ausgezeichnet, und in der Regel geht sie aus dem Zimmer, wenn – sagen wir: AC/DC in voller Lautstärke aufgelegt wird.

Am schlimmsten singen Katzen, wenn sie zum Arzt müssen, der ganze denkbare Katzenjammer bricht sich in entsetzlichen Tönen Bahn – einer unserer Autoren untersucht auch das und vermutet, dass die Biester auf dem Rückweg vom Arzt das gleiche scheußliche Lied singen, nur rückwärts. Wir folgen den Katzen und dem Jammer in die unlebbare westfälische Provinz und in zermürbende Großstädte. Wir lernen die Katze von San Marco kennen und einen Kater, der ein Leben und eine Partitur rettet, und eine Katze, die stellvertretend für ihren Besitzer spricht und hört. Es gibt ganz kleine, scheue Erinnerungen an Katzenmusikepisoden, und es gibt die groß daherdonnernde Katzen- und Weltraumoper, alles ist möglich, wie in der Liebe, alles kann schlecht ausgehen, wie in der Liebe. Aber auch gut!

»Lieber Harry«, schrieb ich an einen Freund, »willst du nicht …?«

»Zum Thema Katzenmusik«, schrieb er zurück, »fällt mir nur leider ein zutiefst unerheblicher Vorfall ein …« Und da war sie schon, die Geschichte, als kleiner Brief. Wer eine Anthologie plant, so wie ich diese geplant habe, wartet und liest und staunt, was da alles assoziiert wird, vom ganz Persönlichen bis zum ganz und gar Fantastischen. Und nichts, nichts ist da zutiefst unerheblich!

Der Dirigent Enoch zu Guttenberg schickte mir die Geschichte seiner fast bei der Passionsmusik sterbenden Großmutter – keine Katze weit und breit, aber der Katzenjammer des Lebens, da ist er, und dazu schrieb mir der Autor in einem Brief: »Als ich die Geschichte meiner Großmutter fertig hatte, fiel mir eine echte Katzenmusik ein«, und er erzählte mir von Proben zu Mendelssohns Elias in der Balthasar Neumann-Wallfahrtskirche, und während der Chor das heidnische »Baal, erhöre uns!« brüllte, zogen draußen fromme Pilger mit Fahnen vorbei und beteten inbrünstig: »Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn!« Das, so schreibt Enoch zu Guttenberg, gefiel ihm ungemein – der Kulturkampf zwischen den Baalpriestern und den fränkischen Wallfahrern einerseits, und der elegante, jüdisch-protestantische Mendelssohn inmitten urkatholischer mittelfränkischer Weinbauern andererseits. »Und das«, so schließt er seinen Brief, »war mit diesem Aufprall der verschiedenen Tonarten, Rhythmen, Melodien und Texte meine bisher verrückteste Katzenmusik, aber die jetzt auch noch aufzuschreiben, das schaffe ich nicht mehr!« Nun, jetzt habe ich sie ein wenig erzählt, Katzenmusik von Heiden und Christen.

Die Ideen zum Thema Katzenmusik, die für dieses Buch bei mir eintrudelten, sind so wunderbar verschieden – da ist der unmusikalische Geigerbub und eine Ehe, die nur noch durch Miauen gerettet werden kann. Ein Mensch geht unter, er hat einen Hund namens Ringo, aber einen Kater von zu viel Alkohol, um all seine Niederlagen zu ertragen, und Ringo, George, Paul und John hießen nicht nur die Beatles, sondern so hätten auch vier sehr lebenswichtige Katzen in Herdecke heißen sollen, aber ach. Überhaupt, die Namen! Martha, Tino, Ruby und Bruce, Felixxx und Klemensss, Nadu, Lydia und Georgy, Fjodor und Ivanka, Birl, Schnurrli und Katerlieschen, Johann Wolfgang (ein Tyrann!), Brutus, Minni und Hermine, und auch ein musikalischer Nero ist wieder dabei!

Komponisten haben mitunter Katzenmusik geschrieben, und eigentlich müsste diesem Buch Musik beiliegen, mit Rossinis Katzenduett, in dem zwei Sopranistinnen mal so richtig jaulen dürfen, mit Strawinskys Katzenwiegenliedern, LesBerceuses du chat, für eine Frauenstimme und drei Klarinetten, oder mit Ravels Kinderoper L’enfant et les sortilèges, in der Katzen wundervoll singen – es gibt immer wieder Katzenmusik großer Meister. Aber der größte Meister in dieser Hinsicht ist natürlich die Katze selbst. Und ihre bevorzugte Tonart, auch das lernen wir hier, könnte g-Moll sein.

Auch aus der Malerei ist die Katze nicht wegzudenken, und die skurrilen Bilder von Rudi Hurzlmeier, dessen Name selbst wie Katzenschnurren klingt, geben Einblicke in das Leben musikalischer Katzen. Unser tiefer Dank gilt ihm und allen Autoren!

Die Katze in der Literatur – ein ebenso weites Feld, von E.T.A. Hoffmanns Kater Murr bis zu Edgar Allan Poes Black Cat oder Akif Pirinçcis Felidae, dem Helden der Kriminalromane.

Alles an der Katze ist interessant, ihre Musik und ihr Jammer. Diese Geschichten erzählen davon. Es gibt ein altes Gedicht von Maria Luise Weissmann, die 1929 starb und nur 30 Jahre alt wurde, aber sie wusste, wie sich nächtliche Katzen anhören:

Die Katzen

Sie sind sehr kühl und biegsam, wenn sie schreiten,

Und ihre Leiber fließen sanft entlang.

Wenn sie die blumenhaften Füße breiten,

Schmiegt sich die Erde ihrem runden Gang.

Ihr Blick ist demuthaft und manchmal etwas irr.

Dann spinnen ihre Krallen fremde Fäden,

Aus Haar und Seide schmerzliches Gewirr,

Vor Kellerstufen und zerbrochnen Läden.

Im Abend sind sie groß und ganz entrückt,

Verzauberte auf nächtlich weißen Steinen,

In Schmerz und Wollust sehnsuchtskrank verzückt

Hörst du sie fern durch deine Nächte weinen.1

Ich schließe mit einem kräftigen Miau-Mio und gebe noch eine Warnung ab: Hüten Sie sich vor der Lullekatze!

1 Maria Luise Weissmann (1899–1929), »Die Katzen«, aus: Ich wünsche zu sein, was mich entflammt, Berlin 2004

JULIA ANDREAE

Martha hört Wagner

Der Knabe bekam den unglückseligen Namen Tristan und gab, trotz hoher Erwartungen seiner Eltern, bei der Geburt keinen Ton von sich. Der Vater des Tristan war Opernintendant, die Mutter Sängerin – Sopran und mit sehr schwachen Nerven.

Die Mutter hielt den schmächtigen Säugling im Arm und seufzte. Das Kind machte keine Anstalten, einen Laut von sich zu geben. Er muss noch üben, scherzte der Vater. Horst Nauter scherzte gern. Seine Gattin Irmhild, die sich Irma Nauter nannte, hatte eine Abneigung gegen Scherze. Ihre Vorliebe galt dem Seufzen, da dieses meist sofort Zuwendung brachte.

Im Alter von acht Tagen kam Tristan nach Hause. Aufgrund ihrer schwachen Nerven konnte die Mutter den Knaben nicht stillen. Irmhild zog es zurück auf die Bühne, und die Versorgung Tristans wurde in die breiten Hände von Agnes gelegt. Agnes hatte den Beruf der Perle gewählt und diente als solche seit 20 Jahren im Hause Nauter.

Der Säugling gab inzwischen Geräusche von sich: eine Art Quietschen, das unweigerlich die Katze des Hauses auf den Plan rief. In einem unbeobachteten Moment schlich sich Katze Martha an die Wiege, in der Tristan unkoordiniert zappelte. Martha betrachtete den Knaben und miaute. Die winzigen Finger des Säuglings griffen in das weiche Fell Marthas. Tristan gluckste wohlig. Das Band einer unzertrennlichen Freundschaft war geknüpft.

Das ungewöhnlich stille Kind bekam nur ein einziges Mal einen Tobsuchtsanfall, als die Mutter versuchte, Katze und Kind zu trennen, um Allergien vorzubeugen. Tristan reagierte auf diesen Eingriff in sein Privatleben so heftig, dass die Mutter seufzend nachgeben musste. Irmhild war die Katze oder »das Tier«, wie sie es nannte, von Anbeginn ein Dorn im Auge. Dem Tier wurde zu viel Aufmerksamkeit zuteil, »einfach lächerlich viel«, befand Irmhild. Der Versuch, durch eine vorgetäuschte Allergie die Katze zu vertreiben, prallte an Horst Nauter ab wie ein Tennisball.

Das Baby wuchs zu einem schmalen Knaben mit dunklen Locken und großen melancholischen Augen heran. Zu behaupten, er hätte das Sprechen erlernt, wäre ein Euphemismus. Sein erstes Wort war »Nein«, das zweite »Ja«, und bei diesem kärglichen, wenn auch zweckmäßigen Wortschatz blieb es. Man beschloss, dass Tristan nun alt genug für den Klavierunterricht sei. Ein Lehrer wurde bestellt, und die Eltern hatten keinen Zweifel, dass ihr Sohn binnen kürzester Zeit mit seinem Können die Musikwelt begeistern würde. Das Kind jedoch stürzte einen Tag vor Unterrichtsbeginn die Treppen hinab und brach sich den Arm. Man verschob die Pianistenkarriere.

Horst Nauter nahm seinen Sohn bereits früh mit zu den Opernproben. Tristan saß auf einem dicken Kissen und wiegte den Kopf hin und her. Offensichtlich musste man in der Oper mit dem Kopf wackeln, dies war Tristans erste Erkenntnis. Häufig nahm er heimlich Martha mit. Sie schien Musik zu mögen, denn sie verharrte oft Stunden auf Tristans Schoß, ohne sich zu rühren. Bald stellte sich heraus, dass Martha eine Schwäche für Wagner-Ouvertüren hatte. So manche weibliche Arie hingegen ließ sie offensichtlich kalt. Sie hat eben Geschmack, befand Nauter, der sich allerdings mehr zu Mozart hingezogen fühlte.

Mit den Jahren begann der Vater sich, sofern es seine Zeit zuließ, um den stillen Knaben zu sorgen. Die Mutter sorgte sich nicht. Sie seufzte nur und schritt wieder auf die Bühne, die Bretter ihres Lebens. Der Musikunterricht war bis auf Weiteres verschoben. Tristan hatte sich inzwischen zweimal den rechten, einmal den linken Arm, ein Bein und einmal die Schulter gebrochen. Daher musste der Knabe wiederholt in verschiedenen Gipskostümen das Bett hüten. Martha leistete ihm zu seinen Füßen schnurrend Gesellschaft.

Man war ratlos. Ärzte wurden konsultiert. Die Vermutung des Hausarztes: »Vielleicht ist er einfach nicht musikalisch«, führte zum sofortigen Bruch mit dem Mann. Man beschloss, das Kind sei ein musikalischer Spätzünder, und hielt an diesem dünnen Strohhalm der Hoffnung fest.

Irmhild Nauter sah ein weiteres Mal die Chance, Martha loszuwerden. Sie war sich sicher, dass Tristan an einer chronischen Halsentzündung litt, die darauf zurückzuführen sei, dass der Knabe stets bei offenem Fenster schlief. Dies wiederum beruhte auf der Katze Angewohnheit, nachts am Fenster zu sitzen, wobei sich ihr Kopf außerhalb des Hauses befand und das Hinterteil innerhalb. »Das Vieh weiß nicht, was es will«, schimpfte die Mutter. »Sie weiß sogar sehr gut, was sie will«, entgegnete Nauter, »sie will drinnen UND draußen sitzen.« Irmhild seufzte und fand, das sei purer Unsinn, und man mache einen idiotischen Zirkus um das Tier. Doch Martha blieb und wachte über das empfindsame Kind.

Tristan sprach wenig, oft ein Nein, manchmal ein Ja, und erledigte alle Pflichten gewissenhaft. Es wurde viel auf den Knaben eingeredet. Einzig Martha war ihm eine friedvolle Freundin, sie miaute nicht einmal. Tristan konnte der Katze stundenlang zusehen, wenn sie ihr schwarzes Fell auf Hochglanz putzte oder einer Fliege hinterhersprang.

Tristan war gerade neunzehn geworden, hatte sich die linke Hand gebrochen und arbeitete in der Verwaltung der Oper. Man befand sich in den letzten Proben zur Zauberflöte. Horst Nauter saß neben dem Regiepult und überlegte, ob Irmhild wirklich die richtige Besetzung für die Pamina sei. Auch wunderte er sich über das knarzende Geräusch, das er plötzlich vernahm. Er konnte es keinem Instrument zuordnen. Es kam vielmehr von dem gigantischen Lüster, der sich auf dem Weg nach unten befand. Jede Hilfe kam zu spät. Der Lüster wurde zum funkelnden Grab für Horst Nauter. Seine Gattin im bunt leuchtenden Gewand der Pamina brach bewusstlos auf der Bühne zusammen. Der herbeieilende Theaterarzt musste jedoch feststellen, dass sie nicht bewusstlos, sondern tot war.

Zwei Dinge mussten nun dem armen Knaben beigebracht werden: Er war Vollwaise und ab sofort stellvertretender Intendant der Oper. Tristan sagte zu alldem nichts. Kein Wort konnte man ihm abringen. Nur zu Martha sprach er. Überlegungen über den Geisteszustand des jungen Mannes wurden angestellt. Vielleicht sei er schwachsinnig, meinte ein Regisseur. Der Chefmaskenbildner hingegen wusste mit Sicherheit zu sagen, dass Tristan stumm sei. Da lag er jedoch falsch, denn in Wahrheit war Tristan fast vollständig taub. Er hörte nahezu nichts und hatte nie etwas anderes vernommen als eine Art Rauschen und Summen und, wenn er mit seiner Mutter zusammen war, anhaltendes Seufzen. So erschien es ihm nicht erstrebenswert, mehr zu hören, und alle Worte, alle Opern waren klang- und reizlos an Tristan vorübergegangen.

Martha freilich wusste vom ersten Tag darum und hatte deshalb ihm gegenüber das Miauen eingestellt. Und auch Perle Agnes, die nun in treuer Ergebenheit Tristan und Martha beistand, erahnte den wahren Grund für all die Knochenbrüche des heranwachsenden Knaben.

Wie es der zynische Schmied des Schicksals wollte, war die erste Aufgabe des jungen Intendanten, einem Vorsingen beizuwohnen. Er beschloss, den Exzentriker zu mimen, und setzte sich mit Martha in den Zuschauerraum. Tristan verließ sich bei den Engagements von nun an ganz auf Marthas Musikalität. Sie schnurrte oder schwieg angewidert. So wurde auch Lilith, ein elfenhafter Sopran, der Marthas kritischer Beurteilung standhielt, eingestellt. Der Anblick des weißblonden Mädchens mit der transparenten Haut berührte Tristan fast schmerzlich. Gleich einer tanzenden Feder bewegte sie sich über die Bühne. Tristan konnte sich kaum vorstellen, woher bei diesem zierlichen Flatterwesen eine Stimme kommen sollte. Von »Volumen« keine Spur. Doch vertraute er Martha, und zudem stand für ihn fest, dass dieses Wesen das Mädchen seines Lebens sein sollte. So geschah es. Lilith wurde Tristans Frau und gebar zwei Kinder. Lilith war von zerbrechlicher Gesundheit und sang nur wenige Partien, doch wurde sie frenetisch gefeiert. Tristan, der mit Martha auf dem Schoß stets den Vorstellungen beiwohnte, hatte zum ersten Mal in seinem stillen Leben den Wunsch zu hören.

Dieser an sich einfache Wunsch bescherte ihm Erlebnisse der besonderen Art. Agnes wurde von einer Bekannten eine Klangschalentherapie empfohlen. Todsicher sei die Methode. So viel Sicherheit schien Tristan zwar nicht dienlich, doch suchte er in seiner Verzweiflung die Klangschalistin Dr. Anna Lüse auf. Katze Martha nahm er als seine Vertraute mit. Tristan wurde angewiesen, zwischen zwei riesigen Schalen auf einem Tuch Platz zu nehmen. Die Klangschalistin betrat in einer Art Überwurf aus rostbraunem Sackleinen den Raum. Martha begann zu fauchen. Die Therapeutin warf zunächst unter Jaulen die Hände auf und nieder und drosch dann mit zwei Schlegeln auf die Schalen ein. Martha sträubten sich die Haare. Die durch die Schalen hervorgerufenen Misstöne veranlassten Martha zu einem Veitstanz, bei dem sie die auf dem Boden verteilten Tücher unter Einsatz ihrer Krallen in gleichmäßige Streifen schnitt. Nach der Zeremonie stand Tristan ächzend auf – das Sitzen auf dem Boden erwies sich nicht als vorteilhaft – und dankte höflich für den Versuch. Es war eine Schalentherapie ohne Klang.

Es folgten Besuche bei einer Kartenleserin, die nach dem Barnum-Prinzip ihren Text herunterleierte. Sie diagnostizierte einen unterdrückten Klumpfuß, der sich aufs Gehör geschlagen hatte, und empfahl eine sofortige Amputation. Martha verabschiedete sich von ihr mit einem lockeren Hieb, der drei blutende Striemen auf dem Arm der Unwissenden hinterließ. Ein Reiki-Meister aus Castrop-Rauxel wurde konsultiert. Er bezog sein erstaunliches Wissen über die Kunden aus dem Internet und musste nach Tristans Besuch auf die Intensivstation eingeliefert werden – er hatte eine Tierhaarallergie. Einzig ein Schamane riet Tristan, einen HNO-Arzt aufzusuchen. Nicht, dass er bei einem solchen nicht schon gewesen wäre. Doch diese hatten nur ratlos ihre Köpfe geschüttelt.

Tristan begann nicht nur grauhaarig, sondern zunehmend schwermütig zu werden. Die Ironie des Schicksals wollte es zudem, dass seine beiden Kinder außergewöhnlich musikalisch waren. Der Vater konnte ihrem Musizieren jedoch nur zusehen. Auch Martha schien der Zustand ihres Gefährten zu besorgen. »Wie alt ist die Katze eigentlich?«, fragte Lilith eines Tages. Tristan hatte niemals darüber nachgedacht. Die Katze war mit seinem Leben verwoben, seit er das erste Mal ihr seidiges schwarzes Fell unter seinen Händen gespürt hatte. Sie musste mindestens 50 Jahre alt sein. Tristan schien es nicht ungewöhnlich – wer sonst sollte sein Gehör ersetzen?

Die Karriere der gesundheitlich zart besaiteten Lilith ging unweigerlich dem Ende zu. Sie wünschte sich als letzte Rolle die Elsa. Es sollte ihr größter Triumph werden.

Tristan saß in jeder Vorstellung mit Martha auf dem Schoß. Das Spiel Liliths rührte ihn oft zu Tränen. Trotz ihrer Vorliebe für Ouvertüren schien Martha »Einsam in trüben Tagen« in ihrer Katzenseele zu erschüttern. Sie genoss die Arie stets an Liliths Seite, was den Regisseur immer wieder zu Ausbrüchen veranlasste. Doch Lilith bestand auf Marthas Anwesenheit.

Kurz vor Saisonschluss erkrankte Sohn Franz an einer schweren Bronchitis, von der er mithilfe der mütterlichen Fürsorge bald genas. Lilith jedoch steckte sich an, und man bangte um ihre Wiederherstellung. Sie verlor ihre Stimme, und schnell verbreitete sich das Gerücht, sie könne nie wieder singen. Martha wanderte zwischen dem Krankenlager der Stummen und dem niedergeschlagenen tauben Tristan hin und her.

Die Katze wurde ganz entgegen ihrer Natur unruhig. Sie sah Handlungsbedarf. Von nun an miaute sie Tristan an. Das Miauen und Maunzen erfüllte von früh bis spät das Haus. Des Nachts sank Martha völlig erschöpft in ihr Körbchen. Und nun geschah das Unglaubliche: Tristan traute im wahrsten Sinne seinen Ohren nicht: Er hörte. Doch hörte er nicht nur Martha. Er wohnte auch der letzten Vorstellung Liliths, die wieder genesen war, bei. Der Zauber der Musik bemächtigte sich seiner mit nahezu niederschmetternder Macht.

Martha indes wurde von Tag zu Tag zerbrechlicher. Leise schnurrend verbrachte sie ihre letzten Tage in Tristans Armen. Sie hatte ihre Aufgaben erfüllt.

Die Familie machte sich für Marthas Beisetzung bereit. Bei Einbruch der Dunkelheit fuhr man los. Die Sache war nicht ganz ungefährlich. Die beiden Knaben, Franz und Ludwig, standen Schmiere, und Tristan buddelte, was seine Arme an Kraft hergaben. Man sagte leise Servus und fuhr durch die Finsternis nach Hause.

Am übernächsten Tag fand sich in der Zeitung folgende Meldung: »Bayreuth: Eine seltsame Entdeckung machte Frau Elisabeth M. beim allmorgendlichen Spaziergang mit ihrem Dackel Fünferl. Als sie am Grünen Hügel auf das Festspielhaus zuging, schlug Fünferl gegen seine Gewohnheit laut an. Er zog sein Frauchen aufgeregt zur Büste Richard Wagners, wo Frau M. mit Erstaunen feststellte, dass diese am Sockel von frischen Rosen umrankt war. Die Spaziergängerin erkannte aber bald den wahren Grund für das Gebell ihres Begleiters. Zwischen den Rosen steckte eine Büttenkarte mit der Aufschrift ›Miau‹. Die informierte Festspielleitung bat die eingeschaltete Polizei, die Sache auf sich beruhen zu lassen, um Verunsicherung unter den anreisenden Festspielgästen zu vermeiden.«

Franz Nauter übernahm nach dem Tod des Vaters in dritter Generation die Intendanz des Opernhauses. Einmal im Jahr fuhr er nach Bayreuth. Dort gewöhnte man sich daran, dass am Morgen jedes 20. Juli Rosen mit einem »Miau«-Schild die Wagner-Büste schmücken.

PAOLA CAPRIOLO

Grüne Augen

Für Sibilla.

Die Lullekatze ist eine Märchenfigur, von deren Existenz die meisten Personen in den Märchen keine Ahnung haben. Wenn ihr versucht, Rotkäppchen zu fragen, werdet ihr erleben, wie es aus allen Wolken fällt; es kennt Wölfe, keine Katzen, und derjenige, dem es damals, heute, morgen, kurz, in der stillstehenden und bis in alle Ewigkeit wiederkehrenden Zeit des »Es war einmal« im Wald begegnete, hatte bekanntlich etwas ganz anderes im Sinn, als sie in den Schlaf zu lullen. Und Alice glaubt für einen Augenblick, es sei die Rede von einer ihrer alten Bekannten, der Grinsekatze, wird sich des Missverständnisses jedoch sehr rasch bewusst und entfernt sich achselzuckend. Nicht einmal Aschenputtel und Schneewittchen haben je von ihr gehört, und das gilt auch für die jeweiligen Prinzen, die ihre mitteleuropäische Herkunft mit Unwissenheit büßen. Ein russischer Prinz wüsste da schon eher Bescheid; in den fernen Nächten der Kindheit hätte die Njanja ihm zweifellos von diesem schmeichelnden, tückischen Geschöpf erzählt und ihn vor der unwiderstehlichen Wirkung gewarnt, die es auf die Herzen der Menschen ausübt. »Sei auf der Hut, Wassili (oder Iwan oder Dimitri oder wie immer unser kleiner Held heißen mag), sei auf der Hut, falls du, wenn du groß bist, das Unglück haben solltest, der Lullekatze zu begegnen. Denn auf den ersten Blick scheint sie eine ganz normale Katze zu sein, und wer fürchtet sich schon vor einer Katze? Man verscheucht sie mit einem ›Husch‹ oder krault ihren Kopf, je nach dem Grad der Sympathie, die man für diese Art Tier empfindet, und geht dann logischerweise unbeirrt seines Wegs. Doch wenn du der Lullekatze begegnest, riskierst du, für immer vom Weg abzukommen.«

Im Dunkel des Zimmers hört der Junge mit aufgerissenen Augen die Worte, welche die Njanja mit ihrer tiefen Altstimme flüstert, während draußen, wie es in dieser Gegend in allen Nächten, die des Erzählens wert sind, üblich ist, wütendes Schneetreiben mit seinem beunruhigenden Weiß die Scheibe der Fensterluke erhellt.

»Wie bringt sie dich denn vom Weg ab?«, fragt der kleine Aljoscha oder Boris, kurz, der kleine Prinz.

»Indem sie dich daran hindert weiterzugehen, das ist alles.«

»Wenn ich ein Mann bin, wird mich keiner daran hindern können weiterzugehen, es sei denn, er ist sehr groß und sehr stark. Aber du hast ja selbst gesagt, sie ist eine ganz normale Katze, und eine Katze ist entschieden zu klein und zu schwach, um einem Prinzen, der auf sich hält, den Weg versperren zu können.«

»Wer hat denn gesagt, dass sie dir den Weg versperrt? Das braucht sie gar nicht.«

»Und wie macht sie es dann?«

»Ach, es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen; die Lullekatzen sind äußerst seltene Tiere, so selten, dass du wohl kaum jemals einer begegnen wirst, nicht einmal auf dem einsamsten Pfad oder im tiefsten und dichtesten Wald. Sollte es aber unglücklicherweise doch einmal geschehen, vergiss nicht, dir fest die Ohren zu verstopfen.«

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verwandeln die kleinen Prinzen sich, wenn sie zum Mann werden, in Prinzen ohne Adjektive. Das ängstliche Würmchen, das sich unter der Decke versteckte, wenn die Njanja ihm von der Baba Jaga mit den knöchernen Beinen oder anderen, weniger eindeutigen Babas erzählte, ist jetzt ein kräftig gebauter und selbstsicherer junger Mann (doch wie sehr sehnt er sich zurück nach jenen Schrecken und nach der tiefen, in den Schlaf wiegenden Stimme, die sie ihm einflüsterte …) und fängt an, sich, wie es sein soll und wie es sich gehört, umzuschauen nach einer würdigen Unternehmung, an der er sich versuchen könnte. Die Welt erscheint ihm jetzt als große Landkarte, auf der keine Städte und Flüsse eingezeichnet sind, sondern hier ein Drache, da ein versteckter Schatz, dort ein Mädchen in Gefahr; und auf genau so eine Karte zeichnet er im Geist den ruhmreichen Weg, den er in den nächsten Jahren, in den nächsten Monaten zurücklegen muss, vielleicht sogar schon in den nächsten Tagen, nicht weil es einen Grund gäbe, sich besonders zu beeilen (in den Märchen ist die Jugend grundsätzlich eine Zeit, die ewig währt, die sich nie dem Ende zuneigt), sondern weil in diesem Alter die Verlockung des Abenteuers so groß ist, dass ein allzu langes Verharren im Müßiggang und in den gefahrlosen Zerstreuungen des Schlosslebens unerträglich wird. Wie langweilig die Treibjagden, diese ermüdende, wenig ritterliche Entfaltung kriegerischer Überlegenheit über wehrlose oder jedenfalls zum Tod verurteilte Geschöpfe; welch nützliche, aber eitle Übung diese Turniere, in denen der Tod unverbindlich umworben wird, als wäre er ein einfaches Bauernmädchen, dem der junge Herr auf dem letzten Dorffest demokratisch den Arm zum Tanz zu bieten geruht hat. Nein: Ein Prinz ist ein Prinz und kann sich nicht mit so wenig zufriedengeben. Wo ist der wirkliche Feind, den es zu töten, der Bösewicht, den es zu besiegen gilt? Wo ist die mit Füßen getretene Unschuld, das schwache, wehrlose Geschöpf, die heilige, überaus edle Sache, zu deren Beschützer er sich vor Gott und den anderen Menschen aufschwingen muss?

Wer suchet, der findet, sagt ein Sprichwort, und durch fleißiges Studieren seiner Karte wird schließlich auch unser Prinz fündig – Drache und Prinzessin, die klassischste und vielversprechendste Kombination. Die grausame, ungerechte, anmaßende Bestie, der Drache, der seit Jahren (drei oder vielleicht sieben: die einzigen in einem Märchen möglichen Zahlen) Schrecken in einem nicht fernen Königreich verbreitet und die Bewohner zwingt, ihm als Tribut, um seine alles verschlingende Gier einzudämmen, unzählige Scheffel Korn, hektoliterweise Wodka, mehr oder weniger opferbereite Jungfrauen sowie eine monatliche Anzahl von Goldmünzen zu liefern, die so groß ist, dass sie den Staatshaushalt gefährlich ins Wanken bringt. Und die wunderschöne zarte Prinzessin mit blauen Augen und langem blonden Haar, die traditionsgemäß jedem als Belohnung angeboten wird, der sich kühn dem Ungeheuer entgegenstellt und das Reich von einer so drückenden Geißel befreit.

Schön, denkt der Prinz, auf diese Weise habe ich endlich meinen Spaß und löse, wenn alles gut geht, das kleine dynastische Problem, mit dem mein Vater mir in den Ohren liegt, seit sich ein leichter Flaum auf meinen Wangen gebildet hat. Hässlich wird sie sicher nicht sein, die Prinzessin, es sei denn, all die Dichter und Miniaturmaler, die ich kenne, wären unverschämte Lügner; und mit dem Drachen zu kämpfen wird, wie immer die Sache auch ausgehen mag, doch ein bisschen aufregender sein, als auf einem dieser nicht enden wollenden Turniere mit der Lanze den Schild der Puppe zu treffen.

Sich angemessen für die Reise ausrüsten und in den Ställen das schnellste und zuverlässigste Ross wählen; sorgfältig die Länge jeder Lanze messen, die Schärfe des Schwertes und das Gewicht der Schilde prüfen, um diejenigen zu finden, die am geeignetsten sind; die Ängste der Mama besänftigen und Papa von der hartnäckigen Absicht abbringen, ihm zu seiner Sicherheit einen ganzen Trupp Knappen an die Seite zu stellen: All diese Vorbereitungen lassen sich weder innerhalb eines Tages noch innerhalb einer Woche erledigen, und er muss sowieso warten, bis der Winter sich endlich geschlagen gibt und die Erde aus der weißen Froststarre befreit wird. Doch sobald die Flüsse schäumend die dicke Eisschicht zerbrechen, die sie so lange gefangen gehalten hat, sobald die Knospen sich an den Zweigen zu zeigen beginnen, sobald die Schneeschmelze die ersten Grasflecke sichtbar werden lässt, reitet unser Prinz endlich im ersten Licht einer verheißungsvollen frühlingshaften Morgenröte im Sattel eines reinrassigen Tatarenschimmels über die Zugbrücke und wählt ganz allein, wie er es gewünscht hat, den Pfad, der durch den Wald führt.

Wie alle russischen Wälder ist auch dieser eine unendliche Weite, sodass der Pfad sich gedacht hat, da er sowieso nicht innerhalb eines vernünftigen Zeitraums an ihr Ende gelangen würde, brauche er sich auch kein Bein auszureißen und könne ebenso gut in einer Reihe von anstrengenden Kurven vom geraden Weg abschweifen. Der Prinz, ganz auf sein Ziel konzentriert, folgt mit wachsender Ungeduld diesen Windungen und ist häufig versucht, sich gewaltsam eine Abkürzung zu bahnen, indem er mit dem Schwert die tiefsten Äste und das alles überwuchernde Blattwerk des Gesträuchs durchschlägt; doch dann überlegt er sich, dass er, wenn er in diesem dichten Pflanzenlabyrinth den Pfad verließe, ernsthaft Gefahr laufen würde, sich zu verirren, und verzichtet letztlich jedes Mal darauf. Besser spät ankommen, sagt er sich immer wieder, als gar nicht; und außerdem hat man noch nie gehört, dass ein Held verpflichtet gewesen sei, an einem festgelegten Tag und zu einer bestimmten Zeit am Ort der Unternehmung zu sein; er würde ankommen, wann er ankommen solle, unerwartet und von der Vorsehung bestimmt, wie der Regen nach einer langen Trockenperiode. Der gute Prinz weiß nicht oder tut so, als wüsste er nicht, dass der Zar, sein Vater, längst einen Briefwechsel mit seinem Kollegen des anderen Königreichs geführt hat, um das bevorstehende Eintreffen seines Sohnes anzukündigen und sich sicherheitshalber über die Einzelheiten des Ehevertrags zu einigen; er zieht es vor, diese prosaischen Aspekte aus seinem Kopf zu streichen, die ihm die Freude an dem Abenteuer zu verderben drohen.

Anfangs mildern glücklicherweise ein paar angenehme Ablenkungen die Eintönigkeit der Reise: Noch begegnet er ein paar Menschen, in manchen Gegenden, in denen der Wald sich lichtet und Platz lässt für eine Jagdhütte, die Kate eines Holzfällers, ja sogar für spärliche Dörfchen, die nicht mehr als zehn Seelen zählen; und er begegnet auch Geschöpfen, die absolut keine Menschen sind, wie die alte, umgängliche Hexe, in deren Isba der Prinz am zweiten Tag seiner Reise haltmacht, um eine Kleinigkeit zu essen. Doch je länger er unterwegs ist, desto seltener werden diese Begegnungen, und bereits am dritten Tag zieht er in absoluter Einsamkeit weiter. Die Minuten verstreichen, es verstreichen die Stunden, ohne dass irgendetwas die kompakte Eintönigkeit der beiden grünen Wände durchbricht, zwischen denen Pferd und Reiter langsam und bedächtig dahinrutschen, das Herz ängstlich zusammengekrampft. Das Einzige, was sich verändert, ist das Sonnenlicht, das durch die Äste dringt und den Pfad beleckt; das Weiß des kargen Schimmers, in dem die Stämme und Blätter glänzen, verwandelt sich in ein immer sanfteres und schwermütigeres Gold, wie Schmuck, den man in einem Kästchen altern lässt; und als der Prinz sieht, wie der Tag sich in dieser sehnsuchtsvollen Apotheose dem Ende zuneigt, beginnt er sich bang nach einem Unterschlupf umzuschauen.

Natürlich gibt es keinen Unterschlupf; alles, was ihm übrig bleibt, ist, sein Pferd am Stamm eines tausendjährigen Baums (ein zufällig gewählter; hier herrscht wirklich nicht die Qual der Wahl) festzubinden, sich unweit davon auf dem moosbedeckten Boden auszustrecken und, zumindest idealiter, Trost zu suchen in der Umarmung zweier großer knotiger Wurzeln. Genau so macht es unser Prinz, indem er die bequemste Lage sucht und mit heftigen Handbewegungen die seltsamen weißen Falter verscheucht, die jetzt, in der Dämmerung, in Schwärmen wie aus dem Nichts aufgetaucht sind und ihn hartnäckig umflattern, um die Nacht anzukündigen. Dann verschwinden auch die Falter, ebenso plötzlich, wie sie gekommen sind, und mit der Dunkelheit senkt sich nicht die Stille auf den Wald herab, sondern eine Art tönender Nebel, in den sich die Schreie der Eulen und Käuzchen, das Röhren der Hirsche und das Rascheln der im Wind zitternden Blätter mischen. Je mehr die letzten schemenhaften Umrisse der Dinge in der Dunkelheit verschwinden, desto deutlicher treten diese Klänge hervor, auf welche die Welt sich nach und nach zu reduzieren scheint. Jetzt kann man nicht mehr sehen, nur noch hören; und der Prinz lauscht, wie er einst den Geschichten der Njanja lauschte, im Dunkeln, mit angehaltenem Atem, während eine angenehme Mattigkeit sich in seinen Gliedern ausbreitet und die Lider sich zum Schlaf schließen.

Grüne, schräge Augen. Zwei längliche smaragdgrüne Schlitze, die du trotz der geschlossenen Lider auf dich gerichtet fühlst; von dort, aus diesem Licht, scheint die Woge von Klängen zu kommen, die dich aus dem Schlaf weckt und dich zwingt, schutzlos ausgeliefert zu lauschen. Anfangs scheint es der Atem von etwas Warmem, Felligem zu sein, zusammengerollt um deinen Kopf, etwas, das dich umhüllt, dich besser als die knotigen Wurzeln irgendeines Baums vor dem Angriff des Nichts schützt, etwas, das dich besser als die alten Wiegenlieder der Njanja einlullt (ja, einlullt). Jetzt klingt es wie eine dunkle Altstimme, aus tiefster Tiefe kommend, die Stimme der Kindheit und des verlorenen Paradieses; jetzt nimmt es die verzehrende Klangfarbe des Cellos an, braunes Holz, Duft von Wäldern während der Schneeschmelze und unüberbrückbaren Fernen; jetzt klingt es (warum es nicht sagen?) zweifelsfrei wie das Schnurren einer Katze. Er öffnet die Augen, unser Prinz, nur um in der Dunkelheit glückselig das ruhige Leuchten dieser grünen Augen anzustarren. Vorsichtig streckt er die Hand über seinen Kopf aus. Ah, da bist du; ich wusste nicht, dass du so weich bist, nicht einmal in den bezauberndsten Märchen hätte ich dich so träumen können. Njanja, meine Njanja. Katze, meine Katze. Denn du bist doch eine Katze, nicht wahr? Wieder aufgetaucht aus jenen fernen Nächten. Ein Kater oder, wahrscheinlicher, eine weibliche Katze, wie mir die respektvollen Erkundungen bestätigen würden, die meine Hand und meine Fantasie sich im mondlosen Dunkel dieser Nacht erlauben. Eine weibliche Katze, ja: eine Musik-Katze. Ein Spalt im Licht zweier grüner Augen, ein wollüstiger Abgrund aus Alt-Musik, Cello-Musik, Kindheits-Musik und was sonst noch die Töne der Melodie, die du erklingen lässt, erzählen mögen. Die verlorenen Jahre oder das, was morgen geschehen wird; die stillstehende und mittägliche Zeit des »Es war einmal« und die nächste Stunde oder Minute oder der nächste Augenblick, wenn vielleicht andere Falter mir die Ankunft des Tages verkünden werden. Dem Prinzen fehlen aufgrund mangelnder Bildung die geeigneten Vergleiche, denn sonst würde er sich an manche Trios von Schubert, manche Adagios von Beethoven, das ermattete Sehnen eines Finales von Strauss oder Mahler erinnert fühlen. Als Russe könnte er an die schwarzen Abgründe von Skrjabin denken, schwarz, aber auch grün, das gleiche Licht im Dunkel, das jetzt für ihn strahlt, während er die Finger langsam in das lebendige, vibrierende Fell um seinen Kopf vergräbt.

Als im Morgengrauen die ersten Sonnenstrahlen den Wald in ein leuchtendes und neues Rosa tauchen, beginnt er sie zu erkennen. Ja, dem Aussehen nach ist sie wirklich eine ganz normale Katze, mit dem getigerten Fell und dem feuchten grau-violetten Näschen, das sich auf der Suche nach Liebe an seiner Wange reibt; ein kleines, einfaches Geschöpf, das man mit einem »Husch« verjagen oder das man, wie der Prinz es jetzt vorzieht, mit einem Kraulen des Kopfes liebkosen könnte, damit es in Gottes Namen nicht fortgeht. Würde sie fortgehen, wäre er verloren. Es kommt ihm vor, als müsste er sterben, wenn dieser Gesang aufhören würde. Der Tag, der sich immer aufdringlicher in der Dichte des Waldes bemerkbar macht, ist ihm unangenehm wie das Klopfen eines lästigen Besuchers an der Tür, aber er mag klopfen, so viel er will, der Prinz hat nicht die Absicht, ihm zu öffnen. Er erinnert sich undeutlich, dass irgendwo etwas auf ihn wartet, dass er wer weiß wo eine Prinzessin zu besiegen und einen Drachen zu heiraten hat, nein, umgekehrt, aber was macht das schon? Im Augenblick existiert kein Anderswo, nur ein Hier; es existiert keine andere Zeit als diese von der Musik so sinnlich artikulierte, eine angehaltene, hoffentlich ewige Zeit, die vielleicht alle Morgen in sich einschließt.

»Wer bist du? Warum lullst du mich so ein?«

»Du weißt, wer ich bin. Seit du ein kleiner Prinz warst.«

»Ja, ich habe dich sofort erkannt. Wer könntest du sonst sein? Weißt du, theoretisch sollte ich nicht allzu lange verweilen, ja, ich dürfte überhaupt nicht verweilen. Noblesse oblige, verstehst du, wir Prinzen haben Aufgaben, denen wir uns nicht entziehen dürfen.«

»Was für Aufgaben?«

»Tja … vor allem unser Leben leben.«

»Und du lebst es nicht?«

»Ach woher, das Leben ist eine ganz andere Geschichte. Eine Geschichte von Drachen und Prinzessinnen, von Aufgaben, die zu erfüllen sind, und dynastischen Problemen, die gelöst werden müssen. Aber du … deine Musik … Wenn ich dich doch mit mir nehmen könnte …«

»Wohin, in die Welt der Menschen?«

Verächtlich die Beine von sich streckend, verlässt die Katze die Position, die sie bis jetzt zusammengerollt um den Kopf des Prinzen eingenommen hatte, während ihr Gesang leiser wird, nur noch ein Murmeln, dem er mit ängstlich gespitzten Ohren lauscht.

»Weißt du, dass ich dich, wenn ich wollte, daran hindern könnte weiterzuziehen? Ja, um die Wahrheit zu sagen, bin ich genau deswegen hier.«

»Dann tu es, in Gottes Namen. Hindere mich daran, ich wünsche mir nichts anderes.«

»Bist du dir wirklich sicher?«

Plötzlich hört der Prinz deutlich die einstige Warnung der Njanja: Sei auf der Hut … Es ist, als würde sie jetzt ausgesprochen, in diesem Wald, in dem die rosigen Schimmer der Morgenröte sich in einem einheitlich weißen Tageslicht auflösen.

»Wer bist du denn eigentlich?«, fragt er, während er sich schüttelt und mühsam den Oberkörper vom Boden aufrichtet. »Was suchst du, was führt dich auf meinen Weg? Es ist sehr schön, dir zuzuhören, und glaub mir, ich bin dir zutiefst dankbar, dass du mir die ganze Nacht auf so angenehme Weise Gesellschaft geleistet hast. Doch wie du siehst, jetzt ist es Tag, und ich habe eine Prinzessin … ich meine, einen Drachen … kurz und gut, versuch mich zu verstehen.«

»Wer kann besser als ich die Nöte und die Illusionen der Menschen verstehen? Ich wäre nicht Musikerin, wenn ich sie nicht verstünde.«

»Also lässt du mich gehen?«

Ein paar Augenblicke lang blickt sie ihm unverwandt in die Augen; ein fester, ehrlicher Blick. Dann schließt sie die Augen langsam zu einem Spalt, wie die Katzen es zu tun pflegen, um Liebe oder Kapitulation auszudrücken.

»Weißt du, Prinz, die Njanjas erzählen nicht immer die Wahrheit. Die Lullekatze hat noch nie jemanden gewaltsam zurückgehalten.«

»Dann bin ich also frei?«

»Wenn du es nicht glaubst, kannst du es sofort ausprobieren.«

Zweifelnd versucht der Prinz aufzustehen: Nichts leichter als das. Dabei hat er bis vorhin noch eine solche Schwäche in seinen Gliedern gespürt, dass er gefürchtet hat, ihnen nie mehr auch nur ein Minimum an Willen einflößen zu können.

»Sieh nur, ich stehe.«

»Was habe ich dir gesagt? Die Lullekatze hält immer ihr Versprechen. Schau, dort steht dein Pferd. Sieh nur, wie es den Kopf schüttelt, wie es stampft, wie es mit den Hufen scharrt vor Ungeduld, die Reise fortzusetzen.«

Der Prinz blickt zu dem Pferd, dessen Verhalten exakt der Beschreibung entspricht, die dieses zu seinem Wort stehende Tier gegeben hat; doch als er sich wieder umdreht: Keine Spur mehr von seiner nächtlichen Gefährtin zwischen den Wurzeln des Baums. Er mustert den Pfad, die Zweige, das Laub, bückt sich sogar, um unter das Gesträuch zu spähen: Nichts, wie vom Erdboden verschluckt.