Kazimira - Svenja Leiber - E-Book
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Kazimira E-Book

Svenja Leiber

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Beschreibung

Svenja Leiber erzählt vom größten Bernsteinabbau der Geschichte und von Frauen, die sich gegen Hass und Gewalt stellen – im Mittelpunkt: Kazimira und ihr Ringen um Selbstbestimmung.

Ein abgelegener Ort am Baltischen Meer, Ende des 19. Jahrhunderts. Kazimira muss sich um Haus und Kind kümmern, obwohl sie lieber arbeiten will wie ihr Mann. Der ist Vorarbeiter in der »Annagrube«, dem gewaltigen Bernsteinwerk von Moritz Hirschberg. Doch als sich das Wagnis des Untertagebaus endlich auszahlt und die Grube zum Erfolg wird, werden auch Neid und Missgunst laut. Antisemitismus und Nationalismus greifen um sich, die Hirschbergs werden vertrieben. Kazimiras Sohn zerbricht am Ersten Weltkrieg. Und Kazimira erfährt, dass sie ihren langen Weg, der erst drei Jahrzehnte später, am Ende des Zweiten Weltkriegs enden wird, allein zu gehen hat …

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Titel

Svenja Leiber

Kazimira

Roman

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Teil 

I

Blaue Erde

Teil 

II

Wilde Erde

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

»Lebewesen sind in energetischer und entropischer Hinsicht sehr unwahrscheinliche Gebilde.«

Strasburger Lehrbuch der Botanik

Sie steht am Ufer, die Wellen lecken ihr die Füße, der müde gewordene Sturm zerrt noch an ihr. Sie ist jung, siebzehn, achtzehn Horizonte. Ihr Haar ist nass, schwer wie Tang. Die See rollt. Das ist nicht das Meer, das sind, so weit das Auge reicht, Gewalten. Sie weiß es, und sie wartet. Wartet. Wartet. Denn dieser Trog voll Zeit, gespeist vom Leben des Festlandes, lässt seine Wasser im Gedächtnis graben. Dann und wann schwemmen sie einen Fund ans Ufer, und sie greift nach ihm und tut ihn in ihren Beutel.

Teil IBlaue Erde

Jantarnyj, 2012

Es wird heißen, eine Grube ist stumm, eine Grube spricht nicht, eine Grube ist eine Grube. Wenn du Stimmen hörst, lass das Trinken sein.

Aber Nadja Wladimirowna Semjonowa hat nicht getrunken. Sie hat, auf dem Weg zur Arbeit, oberhalb des Tagebaus, wo der Boden ohne Übergang steil abfällt, etwas gehört. Als habe die Landschaft die Stille für einen Moment durchbrochen, das Schweigen einen Spalt breit geöffnet. Und ist nicht irgendeine Landschaft. Seit Jahrzehnten herrscht Frieden, aber diese Landschaft sieht aus, als sei der Krieg dort erfunden worden: umgeben von zitterndem Jungwald eine riesige Wunde, klaffend, in Stufen und Wege gegliedert, ausgeschabt, ein unglaubwürdiges Nebeneinander von Staub und Schlamm, wie es nur die Verlassenheit der toten Welt zustande bringt. Auf dem letzten Absatz vor der Grubensohle steht, zwischen rostigen Rohren und nachlässig verlegten Laufplanken, ein Seilbagger, früher einmal ihr Arbeitsplatz. Aber das ist Jahre her.

Nadja Semjonowa hält die Hand ihrer Tochter und lässt den Blick über den Tagebau schweifen.

»Hast du es gehört?« Sie flüstert. Das Mädchen schaut zu ihr hoch. Es sieht aus wie sie, nur kleiner, eine rote Haarwolke ums Gesicht. Es schüttelt den Kopf. Es hat nichts gehört. Es hat auch keine Angst. Nur die Mamutschka hat manchmal Angst.

Nadja blickt sich noch einmal um. Würde sie rufen, würde sie hier niemand hören. Kein Mensch da unten, keiner im Hinterland. Schnell geht sie weiter, läuft den Trampelpfad Richtung Straße und zieht das Kind mit sich.

Sie befinden sich im Gebiet Kaliningrad, einige hundert Meter östlich des Ortes Jantarnyj. Bernstein heißt das oder bernsteinern. Als wäre dort alles aus dem einen Stoff. Dabei ist das meiste aus Beton und wohl, was man woanders gottverlassen nennt.

Es ist ein Samstag im Herbst. Grau und regenschwer hängt der Himmel über der erschöpften Gegend. Nadja hält mit der Linken den Mantelkragen zusammen.

Die Leute haben viel von diesen Dingen geredet. Sie hat es nie wissen wollen. Jetzt legt es sich ihr um den Nacken. Wie ein Raunen, wird sie später sagen. Man müsste das Wort Raunen nur durch ein anderes ersetzen, eins, das noch zu finden wäre. Aber es war etwas.

Das ehemalige Bernsteinkombinat von Jantarnyj läuft schlecht. Früher haben sie mal achthundert Tonnen Rohbernstein jährlich da rausgeholt. Vor einigen Jahren dann Insolvenz. Man schmiss die Hälfte der Arbeiter raus, und den Rest sortierte man nach Geschlecht: Die Männer blieben im Tagebau, an den großen Maschinen, wie Nadjas Kollege Anatolij Michailowitsch, die Frauen sollten in die Verarbeitung oder in den Vertrieb. Nadja wäre lieber bei den Maschinen geblieben. Auf dem alten Seilbagger, der ihr gehorchte wie ein Hündchen. Aber es hieß, sie habe Glück, dass sie im sauberen Pavillon Schmuck verkaufen dürfe. Glück, hatte sie gespottet und hätte dabei fast geweint. Anatolij übernahm den Seilbagger. Das Kombinat wurde ein Unternehmen, wurde umbenannt, mit ein paar Millionen Rubel geflickt, modernisiert, wird jetzt mit Kameras überwacht, hat aber das alte Problem: Es liegen Unmengen Rohbernstein eingelagert, es fehlt die Nachfrage, das Zeug ist aus der Mode. So ist das mit Moden, hatte Nadja gedacht. Hoffentlich kommt nicht irgendwann der Mensch aus der Mode.

Im Gehen sucht sie nach den Zigaretten in der Tasche. Sie muss nur wissen, dass dort welche sind. Sie wendet den Blick kurz zu ihrer Tochter. Dann raucht sie doch. Verzeih, Ika, denkt sie. Der Kragen weht ihr auf, der feuchte Wind dringt in den Mantel ein. Vor ihnen werden die ersten Häuser sichtbar, marode Plattenbauten, eine Tankstelle, das zum Bordell umfunktionierte Werkstattgebäude, bei dem ein paar Soldaten herumstehen.

Die Frauen sind kaum wach, da sollen sie schon, denkt Nadja und läuft, die kleine Ika jetzt auf dem Arm, am Rand der Straße entlang, die Betonnixe im Blick, die, in steinernen Wellen gefangen, als Wahrzeichen am Ortseingang thront. Ein besserer Gott wird einst alle Frauen als Nixen zur Erde schicken, mit zusammengewachsenen Beinen. Nadja nimmt einen tiefen Zug, hustet. Der Rauch weht Ika ins Gesicht. Sie wedelt mit der Hand, als würde sie winken. Die Soldaten sehen herüber, einer pfeift, Nadja starrt geradeaus, ihr ist schlecht, sie drückt das Kind fester an sich, wirft die Kippe in den Straßengraben.

Es hält sie nicht viel an diesem Ort, auch wenn sie hier geboren ist. Ihre Vorfahren kamen erst nach dem Großen Vaterländischen Krieg, die Mutter, eine hungrige Halbwaise, mit einem Umsiedlerzug Witwen, Plan der Politabteilung. Sie erhielten ein verlassenes Haus, ein Stück Land, etwas Geld, Steuererlass – die Gegend bedeutete ihnen nichts. Weder Kaliningrad noch Jantarnyj noch das deutsche Backsteinhaus am Rand des Tagebaus, in dem Nadja und Ika noch immer leben, bis das Haus weg ist. Und das wird bald sein, es wird abrutschen, von der Grube verschluckt werden.

Auch Nadja bewohnt die Landschaft also eher provisorisch, und obwohl sie noch nicht alt ist, hat sie das Gefühl, wie das Haus, am Ende von etwas zu stehen, nicht am Anfang. Letztlich, denkt sie, läuft alles in Jantarnyj auf die Grube hinaus, auf ein Loch.

*

Weststrand, 1871

Das erste Loch sticht hunderteinundvierzig Jahre früher der Instmann Roganzky. Er hat eine Ahnung, schleppt eine Leiter aufs Feld, gräbt und hofft auf etwas in der Tiefe des Ackers.

Die Leiter hat fünfzehn Sprossen. Sie führt nicht rauf, nur runter. Steckt im Gutsacker am Weststrand, oberhalb des Steilufers, 54 ‌° nördliche Breite, 19 ‌° östliche Länge, beinahe Baltikum und an die vierzig Meter über dem Meer. Die Holme ragen etwas aus dem Boden, im Morgenlicht gerade erst sichtbar.

Da hat Roganzky vielleicht was gefunden, oder ihn hat was abgeschreckt. Etwas zu eilig läuft er plötzlich übers Feld. Am Feldrand, in einigem Abstand, läuft ein Zweiter, ein Gendarm, nicht ganz sicher auf den Beinen, aber geübt im Gebrauch eines Zündnadelgewehres. Ruft den Mann an diesem Märzmorgen 1871, zivile Kontrolle, will die üblichen Fragen stellen, und aus Angst kehrt sich Roganzky auch zu ihm um und lässt ihn näher kommen. Aber anstatt sich auszuweisen oder auch nur seinen Namen zu nennen, wird er gleich grob. Die Verzweiflung. Einmal was gefunden. Da muss ihn der Gendarm also disziplinieren, worauf Roganzky eine Kehrtwende macht und über den Acker davonrennt. Der Gendarm folgt, jetzt sogar fast behände auf dem unebenen Boden. Hat den Mann im Blick, denn es ist inzwischen hell, und die Landschaft da oben ist übersichtlich wie ein Richtertisch. Hat ihn also fest im Blick, bis dieser Roganzky plötzlich, ohne Vorwarnung, von einem Moment auf den anderen, weg ist.

Der Gendarm steht still wie einer, der sich sammeln muss. Er spuckt aus, geht vorsichtig weiter. Seenebel und anderes will ihn dort anwehen – er ist erst seit kurzem in die Gegend versetzt. Er fasst sich nach der fliegenden Brust, wo sich im Mantel, einmal gefaltet, ein Blatt befindet. Ein Militärehrenblatt, mit Adlern, Totenköpfen, Siegesengeln und einem von Bajonetten, Messern und Kanonen umkränzten Kaiser bemalt, ein Gewaltporträt in Taschenformat. Er hätte nicht stehen bleiben sollen. Da schlägt der eigene Lärm plötzlich in Stille um oder umgekehrt. Überall vermutet man was, die Sinne scheinen einen Sprung zu tun.

Dabei ist nur dieser Roganzky gesprungen, und zwar das Steilufer runter zum Strand, unter Lebensgefahr, aber das ist vom einsamen Standpunkt des Gendarmen aus nicht zu sehen. Das Ende des Ackers erscheint ihm wie der Horizont. Nichts deutet darauf hin, dass dahinter die Welt weitergeht, nur eben eine gewaltige Stufe tiefer. Der verwirrte Gendarm stolpert quer übers Land und fällt schließlich, ein Stück weiter links, beinahe über die Leiterholme.

»So ein Moldworm«, sagt er leise, denn nun findet er gleich das ganze Vergehen: unerlaubte Grabung nach Bernstein. Und unerlaubt heißt: verboten. Das hier ist Preußen, da wird nicht einfach gebuddelt. Schon steht er auf der Leiter, dienstlich, und steigt Sprosse um Sprosse hinab.

Es reicht kein Licht in das Loch, darum sieht er nicht, wie die Wände, am Grund längst unterspült, schon über sich hinaustreten. Der nasse Flugsand, darunter Diluvium, dann Glimmersand. Vollgesogen mit eisigem Wasser, hält das Ganze nur noch gerade so, um dann, mit wenig Geräusch, einzubrechen. Der Gendarm hat kaum Zeit, sein Gesicht zu schützen. Er bleibt dort unten, das Militärehrenblatt von Muttererde ans Herz gedrückt. Ein menschlicher Einschluss, nur nicht in Harz, sondern in Schlamm.

Roganzky läuft indes unversehrt am Strand entlang, dann wieder hoch aufs Land und einen Weg bis zu den Gebäuden des Gutes, wo er eine Unterredung mit seinem Herrn hat.

Spät am Abend verlässt er auf einem Pferd das Gut und nimmt den Weg in Richtung Osten zum Haff und auf die Nehrung.

Er wird zwei Tage reiten.

*

Nehrung, 1871

Die Hütte auf der Nehrung hat keinen Schornstein. Sie ist außen grau und innen schwarz vom Rauch. Es ist fast dunkel darin. Im Gebälk hängen Aale, wie schwere Zöpfe, schimmern ölig im Dämmerlicht. Darunter Tisch und Bank, ein paar Dinge, die gebraucht werden, ein Topf, eine Schlafstatt. Ein bewohntes Rauchhaus also, in schlechtem Zustand.

Kazimira, geborene Morautene, mit der schmalhüftigen Statur eines großen Jungen, zieht die Hüttentür zu. Nach einer Sturmnacht war sie am Morgen zuerst am Meer, drüben an der Westseite. Sie hat den angeschwemmten Strandsegen aus dem Sand gesammelt und eingesteckt, obwohl das verboten ist. Zwischen Rock und Schürze trägt sie ein halbes Kilo Bernstein bei sich, geht zum Tisch, legt den Beutel ab und setzt sich breitbeinig auf die Bank an der Wand. Sie nimmt das vom Salzwasser klebrige Haar über die Schulter, bindet es neu und wendet erst jetzt den Blick dem Mann zu, mit dem sie hier wohnt.

Antas sitzt beim Fenster und schnitzt. Drei Schnitte, Pause, drei Schnitte, wie ein Walzer, nur langsamer. Wenn er nicht schnitzt, sitzt er an der Drehbank, treibt mit dem wippenden Fußbrett das Rad und den Riemen an und dreht Perlen. Er ist dreißig Jahre alt, sein Rücken ist schon krumm, die Beine waren es immer.

Kazimira wartet. Hat es nicht eilig, zählt Fliegen, wartet. Aber er sieht und sieht nicht auf, versunken, wie meistens. Ein schweigsamer Mensch, wie ein Baum, dem das Rauschen seiner Krone schon genügt.

»Antas«, sagt sie schließlich, ihre Stimme ist rau, und sie betont das zweite A. »Hab einen Guten.« Sie beugt sich vor, greift in den Beutel, in dem es noch dunkler ist als in der Hütte, ihre Hände, wie mit Augen zwischen den Steinen. Sie hält noch einmal inne, sieht dabei wieder Antas an, der tatsächlich aus dem Takt kommt, und fragt: »Was gibt dafür?«

Antas hustet: »Was wünschst dir denn?«

»Kein Kind«, sagt sie.

»Ein Kind?« Wieder hustet Antas.

»Kein Kind.«

Jetzt schaut er auf. »Jede Frau mecht ein Kind.«

»Ich nich.«

Das Frühjahr beginnt gerade erst. Antas schnitzt aus Bernstein einen Bauern. Neben ihm auf dem Schachbrett, auf das Kazimira jetzt ihren Fund legt, größer als ihre Hand, stehen schon die übrigen Figuren. Nur der letzte Bauer fehlt noch. Er wandert Antas durch die Finger wie ein paar Gedanken durch seinen Kopf. Warum will sie denn kein Kind?

Wenn er vom Nachtfang zurück ist, den er für ein zusätzliches Geld betreibt, freut er sich auf Kazimira. Die Mittage da draußen – nirgendwo sonst ein Mensch, nur er und die Kaz, aufgezogen von ihrer Ahne Morautene, einer verwitterten alten Prußin, wie diese nicht getauft, in kein Kirchenbuch eingetragen, als gäbe es sie gar nicht, von den Dorfkindern mit Dreck beworfen (zu eigenartig), von den Dorffrauen verjagt (zu schön), war bei der Familie Hirschberg in Schwarzort im Dienst, als er sie fand und mitnahm. Geht seitdem mit ihm durch jedes Wetter, mit einer eigentümlichen Treue, findet ihm die besten Steine, hilft ihm beim Lichten der Netze, und irgendwann gehen sie ins Haus, raus aus dem Wind, der Geruch von warmem Holz und Rauchfisch, Kazimiras Blick, jetzt nichts sagen, nicht stören.

Oder im Herbst, wenn die Unwetter kommen, die Wolken, knapp überm Haff, und die Zugvögel mit ihrem Rufen, und nur zwei Menschen zwischen all dem Element –

Aber ein Kind will sie nicht?

Was genau Kazimira will, weiß sie noch nicht. Sie hat allerdings auch keine große Wahl. Denn obwohl Antas Damerau der beste Dreher in der Gegend ist, besitzen sie nur den kleinen Kahn und die Hütte, abseits vom nächsten Fischerdorf, überhaupt so weit abseits, dass nicht nur der Weg zu ihnen, sondern schon die Beschreibung dieses Weges müde macht. Mehr hat der alte Damerau seinem Sohn nicht hinterlassen, als er starb. Bernstein durfte der Alte auch schon nicht sammeln, so wenig wie Antas und Kazimira, denn sie zahlen keine Pacht. Wenigstens müssen sie keinen Strandeid mehr an die Grundherren schwören, um überhaupt über den Sand und mit dem Kahn aufs Wasser zu dürfen. Und wer also über den Sand läuft, seinen Kahn über den Ufersaum und durch die Brandung schiebt oder bei Nacht draußen bleibt, den Zugsack für die Aale im Schlepp, fernab der Flottille der Keitelkähne, und wer dabei ins flache Wasser sieht, mit einer Laterne vielleicht – der findet. Und weil sie nicht geschworen haben und weil sie fernab sind, tun sie das Gefundene beiseite. Und wenn der Winter kommt und der Kahn ruht, dann werden aus dem Gefundenen Figuren, durchscheinend, leicht und warm in der Hand, als trügen sie in sich die Reste uralter Sommer. Und diese Figuren wandern, wenn Antas und die Kaz ein paar Partien gespielt haben, in einer Kiste mit Räucheraalen zum Herrn Hirschberg, Bernsteinhändler in Schwarzort, der sie mitsamt den Aalen ankauft.

Eigentlich lässt Hirschberg selbst den Bernstein seit Jahren aus dem Haff holen. Am Anfang war er nur ein armer Mensch aus Danzig, der nichts weiter bei sich trug als einen Bauchladen und Ideen. Er half für eine Weile beim Gastwirt in Schwarzort aus, stand jeden Morgen vor den anderen auf, beschwerte sich nie, überhörte jeden Spott, begann im flachen Haff, nach Bernstein zu suchen, und war so über die Jahre ein bisschen was geworden. Jeden Tag kann man jetzt seine schwimmenden dampfbetriebenen Kettenbagger sehen, die den Grund des Haffs ausschaufeln. Hirschberg hält dabei auf private Kosten die Fahrrinne frei und ist, auf eigenes Risiko, der offizielle Pächter der Bernsteingewinnung beim Staat. Antas müsste also alle Steine, die Kazimira sammelt und er selbst findet, bei ihm abgeben. Aber die Schnitzereien gefallen Hirschberg so gut, dass er es hingehen lässt und sogar Geld für seinen eigenen Bernstein bezahlt.

*

Schwarzort, 1871

»Am Weststrand haben sie einen vermissten Gendarmen im Acker gefunden«, sagt Hirschberg, als er Tage später Antas das Geld für Fisch und Figuren in die Hand zählt. »Weißt du davon?«

»Wie Gendarm in Acker gelangt?« Antas tut ahnungslos. Aber Hirschberg lässt nicht locker: »Erst finden die einen Gendarmen im Boden, und dann graben die den Acker um, als gäbe es da noch mehr als nur verschüttete Gendarmerie.« Er sieht Antas aufmerksam an. Aber der legt nur den Finger an die Mütze: »Von einem Gendarmen weiß ich nich«, und Kazimira und er brechen auf.

Sie fahren im Windschatten des Kiefernwaldes heim. Pferd und Wagen sind geliehen. Zu Haus in der Hütte ist es warm. Antas setzt sich und raucht. Dann hält er Kazimira die Pfeife hin. Sie tut einen Zug, setzt sich auf seinen Schoß, lehnt den Kopf zurück und bläst den Rauch zum Dachstuhl hinauf.

»Und warum kein Kind?« Antas hat ihre helle Kehle vor sich.

»Bin keine Mutter.«

»Bisher wohl nich.«

»Werde auch keine sein.«

»Wirst es lernen.«

»Ich will es gar nich lernen.«

Antas nimmt ihr die Pfeife ab und tut selbst noch einen Zug. »Und was willst du dann?«

»Drehen lernen, wie du.«

»Das sind schon zwei Wünsche.« Antas fasst sie beim Zopf.

»Ich zahl auch.« Sie zieht den Kopf zurück, dass der Zopf sich spannt, und sieht ihn an.

»Aber wie kann das gehen?«

»Was?«

»Dass nich doch ein Kindchen kommt.«

»Die Ahne hat gesagt, man muss nur richtig zählen.«

»Und wo ist deine Zählung jetzt?« Antas legt die Pfeife auf den Tisch.

»Jetzt«, Kazimira zieht den Rock hoch, »ist die Zahl nich gefährlich.«

Und so beginnt diese merkwürdigste und älteste aller Tätigkeiten der belebten Welt, und Kazimira lacht und ist doch ernst, und auch wenn sie es sich anders vorgestellt hatte, weil man sich dies immer anders vorstellt, und jeder Mensch stellt es sich vor, bedeutet das in diesem Moment nichts. Sie suchen und finden und finden kein Ende, sie verfügen über Kräfte, wo ihnen die Worte fehlen oder nur für hastige Bitten reichen.

Als sie noch beieinanderliegen, unter den fettigen Aalen, und den großen und kleinen Bewegungen nachspüren, sagt Antas leise, man solle darüber nachdenken, sich den Weststrand anzusehen.

Wo der sei, will Kazimira wissen.

Siebzehn Meilen weit.

»Sehr weit«, flüstert sie und legt ihren Kopf auf seinen Arm. Sie hängen beide ihren Gedanken nach. Nein, sie will nicht weg, jedenfalls nicht so weit. Man gehört wo hin. Außerdem, und hier hält sie einen Gedanken fest, den es nicht geben sollte, außerdem –

Kazimiras Kopf drückt hart und immer schwerer auf Antas' Arm. Er zieht ihn zurück, bevor er ganz taub wird. Draußen frischt der Wind auf, fährt in Schüben in das mürbe Reetdach und pfeift auf den Halmenden immer zwei Töne. Nordöstlich tobt er sich am Brackwasser aus und fegt es in Fetzenschleiern vom Haff auf.

Antas denkt jetzt laut: »Vor Tagen kam ein Pole, ein Roganzky, vom Weststrand hier durch, wollte zum Hirschberg, mit einem Haufen Bodensteine in der Tasche, die ich ansehen sollte, wollte Rat. Ob es sich lohnt zu graben oder nich. Ob es Wert hat, was er da vorzeigt, oder nich. Wert, Wert. Was will er da hören? Das kommt ja doch immer drauf an. Auf was kommt es an, fragt er mich. Und ich sag, auf vieles. Und genauer?, fragt er und wird schon ungemütlich. Nichts genauer, sage ich. Kommt eben drauf an.«

»Was hat er für Steine gezeigt?« Kazimira ist schläfrig.

»Welche mit grober Rinde. Aber große und weit im Inland gefunden. Schon interessant.« Das hat Antas dem Roganzky aber verschwiegen. Hat nur mehrdeutig genickt, so dass dieser Roganzky ratlos weiterreiten musste.

Seitdem denkt Antas nach. Jetzt wieder nur für sich, um Kazimira nicht zu wecken, die eingeschlafen ist: Wenn im Acker am Weststrand ein Gendarm gesteckt hat, denkt er, dann klingt das nicht gut. Gendarmerie und Bernstein vertragen sich nicht. Muss man es ordentlich und bei Licht tun. Aber bei Licht geht es nur übers Offizielle, also nicht am Amt vorbei. Hat das Amt die Finger drin, wird es wiederum kein Geschäft, jedenfalls kein gutes. Muss man also dem Hirschberg einen Wink geben, was dieser Roganzky, im Auftrag seines Herrn oder nicht, ja wohl auch getan hat. Soll er sich einen Acker besorgen und graben. Vielleicht nicht gleich den, in dem der Gendarm gesteckt hat, aber Grundstücke rundherum, nicht zu knapp. Es ist zu vermuten, dass sich das Bernsteinlager irgendwo unterirdisch über ein großes Gebiet erstreckt. »Warum soll es nur unter dem einen Acker schlummern? Liegt doch auch überall im Meer, ganze Küste lang«, sagt Antas leise, stützt sich auf den Ellenbogen und sieht Kazimira an. Aber die hat die Augen geschlossen und atmet gleichmäßig, also legt er sich auch wieder hin und murmelt nur noch: »Der Hirschberg muss sich beeilen, bevor ihm einer …«

Ob Antas träumt, weiß man nicht, er liegt ganz still. Aber Kazimira wälzt sich. Sie wandert über ein weites Feld, wird immer schwerer und sinkt bei jedem Schritt tiefer in den Boden, bis sie ganz in der Erde verschwindet. Sie gelangt in eine Höhle voller Kröten, die wiegen jede ein Kind und summen einen dunklen Ton.

Als Kazimira erwacht, pfeift der Wind noch immer am Dach. Sie steht auf, wäscht sich, über den Eimer gehockt, tritt aus der Hütte und blickt lang und nachdenklich zum dunklen Haff.

*

Es ist also der Beginn der so genannten Kaiserzeit. Man hatte geglaubt, durch einen Krieg sei man auch zu einem Sieg befähigt. Und zu einem Reich. Von Anfang an ein soldatisches und hohles Gebilde, wie eine leere Rüstung, zusammengesetzt aus eisernen Vorstellungen, aber ohne Idee von sich selbst. Solche Hohlheit erzeugt Lärm, je hohler, desto lauter. Auch im waldigen, sumpfigen, dünn besiedelten Osten, in der Pferdeprovinz, wo die Bedingungen seit langem schlecht sind, erwacht mit dem Anschluss ans Reich ein beflissener, alberner und lauter Patriotismus. Es bietet sich ansonsten zu wenig, womit man etwas her- oder sogar Geld machen könnte, außer mit Holz, Korn und Pferden. Von Industrie ist noch nichts zu spüren, von republikanischem Geist auch nicht. Zu viele Gegenkräfte in den Jagdrevieren der Junker, zu dunkle Seen, zu sumpfige Hauländereien.

Nur in Königsberg – mit seiner Universität, den wissenschaftlichen Gesellschaften, der Kunstakademie, den Theatern und Museen –, nur hier etwas mehr Esprit, eine größere Ansammlung von sehr unterschiedlichen und sehr passablen Köpfen, insbesondere jüdischen, den Mendelsohns, den Radoks, den Lewalds, den Simons, den Hulischs, Bambergers, Samuels, Cohns, Jacobsons, Wolffsohns, Hermanns, Birnbaums, Liebreichs, Jaffés, Minkowskis, Lichtheims und so weiter. Eine gebildete Gemeinschaft, gläubig, konvertiert oder säkular, mit den verschiedenen Religionen in Nachbarschaft, vielleicht besorgt oder unentschieden auf den Zuzug aus Russland-Polen blickend, der, bis zum Großen Krieg, zahlreiche Synagogengemeinden neben denen der Hugenotten, Baptisten, Katholiken und Protestanten in den Landkreisen der Provinz entstehen lässt. Besorgt, weil man, wie jede Minderheit, von der Gnade der Majorität lebt. Und die ist launisch. Obwohl sie in der Region auch mit Polen, Masuren, Russen und Litauern einiges Leben teilt, durch Reise- und Handelswege, Ehen und Patenschaften verflochten und verwoben ist und also umspült von Sprachen und Dialekten, von Niederpreußisch, Jiddisch, Polnisch, Romani, Russisch, Litauisch und Nehrungskurisch. Auch auf der schmalen Sandspur, die sich, wie eine ausgerissene Rippe, vor dem Festlandskörper durchs Wasser des Baltischen Meeres streckt, mischt es sich. Polnische Handwerker, kurische Fischer, litauische, russische und jüdische Händler. Moritz Hirschberg ist einer von ihnen.

*

Vor Sonnenaufgang gehen Kazimira und Antas wieder nach Schwarzort. Sie gehen zu Fuß über die große Düne. Die Düne hat schon den halben Kiefernwald verschluckt, Jahr um Jahr verschlingt sie die Landschaft. Irgendwann wird es auch Schwarzort nicht mehr geben, jedenfalls nicht so. Aber das hat andere Gründe. Obwohl man nicht weiß, ob es nicht auch dieselben Gründe sind. Kazimira und Antas laufen schweigend über den gefräßigen Sand.

In Schwarzort klopfen sie an Hirschbergs Tür. Kazimira wird für seine Frau Henriette die Näharbeiten machen. So wurde es neben anderem verabredet, als Antas sie vor einem Jahr von hier mitnahm.

Noch während sie den Mantel ablegt, hört sie Antas zu Hirschberg sagen: »Im Acker am Weststrand ham se nich nur Gendarmerie gefunden. Vorher hat einer auch guten Bodenstein gefunden. Hat gesacht, den habe er über zweihundert Meter weit im Inland gefunden. Und das heißt, wenn Se mich fragen, Herr«, da unterbricht sich Antas, sucht eine gute Formulierung und sagt dann einfach: »Da is noch mehr im Boden. Der Stein kommt nich nur aus dem Meer. Er kommt auch aus dem Boden. Da unten schläft was, mein ich. Se sollten graben, Herr, nich nur im Wasser fischen«, rät Antas dem Hirschberg, »bevor es ein anderer beginnt.«

Hirschberg trinkt seinen Kaffee und liest in der Zeitung. In seinem Rücken steht ein Kachelofen. Die Wärme, die er verbreitet, weckt den Duft in der Orchideenblüte auf der Fensterbank und andere Gerüche, die sich in so einem Zimmer sammeln. Keiner beachtet sie sonderlich. Die Gerüche entsprechen der Zeit. Niemand weiß später, wie die Zimmer der Vergangenheit rochen, aber sie taten es. Sie rochen nach ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, nach Schweiß, nach dem schmutzigen Saum der Damengarderobe, die durch Pferde- und Kuhmist geschleift worden war, nach flüchtigem Parfüm, Seife, Holzgeist, Tabak, nach Schlaf und Staub, Puder und frischem Brot.

Hirschberg riecht nach kalter Pfeifenasche, nach Rasierwasser und Maschinenöl. Er war heute schon am Haff und auf einem der Schwimmbagger. Jetzt ist es bald Mittag, und er liest seiner Frau die Nachrichten vor. Vom Reichstag, vom Kaiserstuhl aus Goslar, Hirschberg hustet amüsiert. Ein Kaiserstuhl aus Goslar in Berlin sei schon beinahe eine tragische Kulisse, meint er, wenn man bedenke, dass sich die Revolutionäre einmal gegen die Monarchen erhoben hätten. Er schüttelt das aufgeschlagene Zeitungsblatt, um es in Form zu bringen, und blättert vor. Ihn interessieren andere Dinge, er vergisst das Vorlesen, überlässt der Standuhr die Unterhaltung. Ihr Ticken mischt sich mit den leisen Geräuschen, die von draußen zu hören sind: Hundegebell, ein klappernder Wagen, Möwenschreie.

»Und alle Welt spekuliert jetzt«, sagt Hirschberg plötzlich. »Als wären ein paar Milliarden Francs aus Paris schon gleich auf Dauer ein Kapital. Viel zu riskant.« Er zieht die Mundwinkel herab. Hirschberg ist dreiundvierzig Jahre alt. Er ist ein ungeduldiger, aber kein nervöser Mensch. Über den Geschäften vergisst er nicht zu leben. Eher sind seine Kindheitsspiele in sein Arbeitsleben übergegangen. Sein Unternehmergeist dient vor allem den Unternehmungen selbst, keinem Drang, viel Geld zu besitzen. Das Spekulieren scheint ihm zu fiebrig, Dividenden zu irreal. Er setzt auf echte Unternehmungen mit greifbaren Erträgen.

Abwesend tastet er nach seiner Pfeife. Ihr gelber Bernsteinhals ist von einer Figur geschmückt, einem jungen nackten Engel, dessen Hände hinter seinem Rücken um den Pfeifenhals gelegt und dort mit einem Band gefesselt sind. Ein Geschenk eines Handelspartners, über dessen Humor sich Hirschberg etwas gewundert hatte. Aber weil sie so sorgfältig gearbeitet war, ging die Pfeife dennoch in seinen täglichen Gebrauch über.

Kazimira, die zum Nähen etwas abseits beim Fenster sitzt, hat die Pfeife oft betrachtet. Schön und verstörend ist dieses gefesselte Ding. Ebenso wie Henriette Hirschberg, nur ganz anders. Kazimira beißt den Nähfaden ab. Sie betrachtet auch Henriette oft. Aber so, dass es aussieht, als wolle sie eigentlich nach der Uhr oder nach dem Ofen blicken, nicht nach der Frau des Hausherrn, nicht nach ihrem schmalen Körper, nicht nach diesen zwei Jettperlen, die man Augen nennt, nicht nach dem Haar, das so sauber gescheitelt die Ohren verdeckt und im Nacken aufgesteckt ist, nicht nach ihrem Hals und ihren Fingern. Wenn Frauen schön sind, denkt Kazimira, kann man es eh riechen. Sie weiß genau, wie Henriette riecht. Nach warmer Haut, nach Vanille, süßem Schweiß, nach dem herben Tee, den sie morgens trinkt. Über ihre Näharbeit gebeugt, beim Ankleiden oder sonstigen Verrichtungen im Haus hat Kazimira all das in Erfahrung gebracht. Jetzt hebt sie, gegen ihren Willen, den Kopf und blickt zu Henriette, die ihrem Mann gegenübersitzt und häkelt. Ihr Kleid ist aus dickem Samt, denn das Jahr ist noch kalt, die Krinoline unter ihren Röcken ist ihr beim Sitzen im Weg. Kazimira sieht es, senkt den Blick wieder auf die Arbeit und stellt sich die Abdrücke der harten Ringe in der weichen Haut der Frauenbeine vor.

Wenn sie am Morgen das Gestell umschnüre, hat Henriette ihr einmal erzählt, dann müsse sie an die Frau des Memeler Arztes denken. Der äußere Rock der Frau des Memeler Arztes hatte sich beim Tanzfest entzündet. Es war ihr nicht gelungen, aus dem Gestell zu entkommen. Die Krinoline wurde der Frau zum Feuerofen, drei Tage nach dem Tanzfest starb sie. Schon viele Frauen, hatte Henriette hinzugefügt, seien auf diese Weise in ihrem Kleid verbrannt.

Trotzdem trägt sie diesen Käfig aus Paris. Er lässt sie im Stehen wie einen Kegel aussehen, mit einer halben Henriette Hirschberg darüber. Es sieht aus, denkt Kazimira, als habe jemand versucht, Frau Hirschberg in der Mitte durchzuschneiden.

Henriette ist in Memel geboren. Seit dem Krimkrieg 1853, als die russischen Seezugänge blockiert waren und man den Hafen von Memel nutzen musste, war die Stadt zu Reichtum gekommen. Auch Henriettes Familie war reich geworden, mit Seidenhandel. Ein Lager voll glänzender und schimmernder Stoffballen, unendlicher Raupenfleiß, hatte die Hälfte ihres Hauses gefüllt. Henriette wuchs im Glanz des Ostens auf, gekleidet in Seidenreste, welche die Mutter zu bunten Blusen und Röcken zusammensetzte. Ihr Vater, Benjamin Memeler, wirtschaftete klug und verschaffte ihnen ein unabhängiges Leben. Er hatte dabei alle ererbte Glaubenskraft in die Hoffnung auf Bildung verlegt und eine Familie nach neuster Weltanschauung gegründet. So eine blitzblanke, rechtwinklige, deutsche Familie hatte er sich vorgestellt. Aber was stellt man sich nicht alles vor. Und woher weiß man, wie weit sich Gott mit seinem eigenen Ratschluss in die winkligen Gassen und Höfe zurückdrängen lässt – am Ende ist es eine blitzblanke, gemütliche, jüdische Familie geblieben. Zu den alten heiligen Büchern kamen die neuen einfach dazu, gewissermaßen in doppelter Buchführung und mit doppelter Verehrung für das Wort der Propheten, Dichter und Denker. Henriette spricht vier Sprachen, nutzt, je nach Anlass, die lateinische oder die hebräische Schrift, liebt die Mathematik, sitzt aber doch und häkelt und sagt: »Auch das ändert sich noch.« Und dann sieht sie Kazimira so an, fast bittend, als könnte die darauf etwas erwidern, es nach Möglichkeit bestätigen. Aber die sagt lange nichts. Und dann nur: »Die eine sitzt eben in Kurenhütte, die andere in Krinoline.«

Hirschberg legt die Pfeife weg. Kazimira schaut zum Bernsteinengel, der jetzt seitwärts auf dem Tischtuch liegt und sich nicht rühren kann.

»Ich werde wohl einen Acker kaufen, falls der Gutsmann verkauft«, sagt Hirschberg.

Henriette angelt mit der Nadel nach dem Faden und antwortet nicht. Sie kennt die vielen Pläne ihres Mannes. Sie wartet ab.

Hirschberg trinkt den Kaffee aus. »Ich weiß nur noch nicht, wie.« Er stellt die Tasse zurück. »Einen Acker haben wollen und einen Acker bekommen sind zwei verschiedene Geschichten. Und selbst wenn man mir einen verkaufen wird, dann sicher für einen Preis, aus dem man dann noch eine dritte Geschichte machen könnte.«

»Lass ihn kaufen.« Henriette legt ihre Arbeit hin. »Frag Onkel Karl, den kennt dort keiner.«

Onkel Karl hat sich für die Taufe entschieden und heißt jetzt Karl Waldner.

»Ich wusste gar nicht, dass du auch geschäftstüchtig bist.«

»Jetzt weißt du es.« Henriette greift wieder nach der Häkelarbeit und hält sie hoch: »Nur Tarnung.«

Hirschberg nickt. Er verehrt diese Frau, die ihm wie eine unbekannte Gegend erscheint, die zu betreten er sich mitunter kaum getraut, weil er fürchtet, sie in etwas zu stören, was ihn nichts angeht.

Es würde ihn aber doch interessieren, sagt er jetzt leise, wer genau sich hinter dem Seidenvisier verberge.

»Viele.« Henriette blickt ihn höflich an, dann sieht sie zu Kazimira, und zwar so, dass die sehr rot wird und einen Fehler an ihrer Näharbeit entdeckt, der genau zu untersuchen ist.

Wie viele?, fragt sie die winzigen Nadelstiche.

Hirschberg sieht nicht, wie Kazimira rot wird. Er betrachtet seine Frau, steht auf, gibt ihr einen Kuss auf den Scheitel und geht, endlich wirklich die Engelpfeife stopfend, nach nebenan in die Stube, an sein Pult. Er prüft und rechnet und zählt und qualmt bis zum frühen Abend. Zweimal schickt er Kazimira mit einem Brief zur Poststation.

»Man bräuchte einen, der von der Sache Ahnung hat«, sagt er am Abend zu Henriette. »Mir wurde neulich ein Erwin Kowak empfohlen, junger Geologe in Königsberg.«

Ein drittes Mal muss Kazimira zur Post laufen. Sie geht durch die Dämmerung, um Pfützen und Pferdemist herum. Das Postamt in Schwarzort ist einfach ein Holzhaus, um diese Jahreszeit halb versunken im Modder. Nur der Postbeamte macht das Holzhaus zum Postamt. Er sitzt, umgeben von Paketen, träumt von einem Mädchen und riecht seinen eigenen Schnurrbart, welchen er, für etwas mehr Glanz, morgens mit Öl einreibt. Wenn Kazimira sein Postamt betritt, muss der Postbeamte sich jedes Mal beherrschen. Er würde gern mit dieser jungen Frau vom Damerau schlafen. Er weiß, dass das unmöglich ist, aber er versucht trotzdem, sie aufzuhalten. Er sagt: »So allein an so einem schummrigen Abend.« Mehr fällt ihm nicht ein. Und Kazimira mustert ihn und sagt nur: »Draußen ist nich so schummrig wie hier bei Ihnen darin«, und geht.

Eine Woche später ist sie wieder bei den Hirschbergs, wo es überhaupt nicht schummrig ist, und hilft beim Ausbessern von Annas Kleidern.

Singvogel nennt Hirschberg seine Tochter. Denn Anna singt und trillert und flattert, und ihre Kleider sind immer zerzaust. Hirschberg zieht das Kind an sein Herz, wann immer er es zu fassen bekommt, er nimmt Anna mit auf Ausfahrten, er beschenkt sie mit den schönsten Steinen.

»Verwöhnst sie«, sagt Henriette.

Darauf lächelt Hirschberg entschuldigend, und Henriette lässt es geschehen.

Und Kazimira flüstert: »Komm her, komm, du Vogel!« Und wenn Anna sich traut, denn Kazimira hat diese hervorstehenden Eckzähne, vor denen sich das Mädchen fürchtet, dann darf sie in Kazimiras Schürzentasche greifen, wo sich immer etwas findet, was einem Kind gefallen kann. Etwas Kleines, ein Seestern oder eine Blume aus gebogenen und verschnürten Fischgräten, ein besonders klarer Bernstein oder wilder Lavendel, oben von der Düne.

Die Hirschbergs haben außerdem zwei Söhne, Gustav und Siegfried, beide beinahe in Kazimiras Alter, wild und in Schweißwolken, eben erst durch den Stimmbruch, heimlich und verwirrt nach dem eigenartigen Dienstmädchen blickend. Aber mit ihnen hat sie nie ein Wort gesprochen und auch nichts für sie jemals in der Schürzentasche. Der Ältere, Gustav, trägt schon einen Flaum über der Oberlippe. Noch kümmerlich, aber auch die Männlichkeit beginnt kümmerlich, denkt Kazimira, ebenso wie die Schnurrbärte, bevor man sich ihrer eines Tages kaum erwehren kann. Auch ihrem Antas wächst und wuchert es überall. Und dem Hirschberg erst.

Während Kazimira den letzten Riss an Annas Kleid vernäht und es der Standuhr im Mechanismus surrt, bevor sie neunmal schlägt, stellt sich dieser Erwin Kowak den Hirschbergs vor. Er ist extra von Königsberg angereist, hat im Kurischen Hof übernachtet und steht nun, Leder-, Zwiebel- und Mottenpulvergerüche ausdünstend, in der Eingangsdiele. Er ist noch nicht alt, aber wohl bereits der beste Kenner der Unterseite des Samlandes, Student der Geologie und Pharmazie und schon Mitglied der Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg. Neugierig blinzelt er durch die halb offene Tür in die Stube, wo er Henriette und Kazimira sofort entdeckt hat. Aber Hirschberg stellt sich höflich in seine Blickachse.

»Wissen Sie, wie tief Sie gehen müssten, um an die Blaue Erde zu kommen?« Erwin Kowak scheint sich zwischen Spott und Unglauben nicht entscheiden zu können, nachdem er in Hirschbergs Arbeitszimmer dessen Pläne für einen möglichen Bernsteinabbau gehört hat. Er ist ein ununterbrochen gekränkter und kränkender Mensch, der nur mit Mühe den richtigen Ton trifft. Aber die Sache regt ihn auf und zieht ihn noch mehr an.

»Das Steilufer ist dort wohl vierzig Stab hoch«, sagt er mit verhaltenem Atem. »Gehen Sie da mal am Wasser entlang, Sie können die Abbruchkante wie ein Buch lesen. Die Blaue Erde, mitsamt dem Bernstein, liegt aber beinahe acht Stab unter dem Meeresspiegel, landeinwärts wahrscheinlich noch tiefer. Das hieße, oberhalb der Steilküste mindestens fünfzig oder sechzig Stab in den Boden zu müssen. Wissen Sie, was das bedeutet?«

»Das wollte ich ja von Ihnen erfahren«, sagt Hirschberg höflich.

»Wasser«, verkündet Kowak düster, als ginge es um ein grauenhaftes Element. Es sei aber nicht einfach nur Wasser, sondern unterirdisches Wasser, Grundwasser. Mit dem gewöhnlichen Tagebau komme man da nicht ran. Man müsse so viel Boden abtragen, dass man drei Leben dafür bräuchte. Man müsse ein Bergwerk graben, aber unter Treibsand, unter ein schwimmendes Gebirge.

»Eine Untertagegrube?«

»Anders wird es nicht gehen.«

»Man könnte es versuchen«, sagt Hirschberg leise. Aber Henriette und Kazimira haben es nebenan trotzdem gehört und ihre Arbeit ganz vergessen.

»Wir könnten es versuchen«, sagt Hirschberg, worauf Henriette sich erhebt und lautlos zur angelehnten Tür geht.

»Wir?« Etwas in Kowaks Stimme klingt jetzt herablassend. »Ich habe ein Auskommen.« Er ist Protestant und Sohn eines Herrenhofbesitzers.

»Ich werde darüber nachdenken«, fügt er dann, einen überraschten Blick Hirschbergs auffangend, etwas freundlicher an. »Sie wissen, ich bin werdender Pharmazeut, kein Bergmann. Trotzdem reizt mich eine solche Unternehmung. Es ist wie mit Frauen: Man muss es in den Griff bekommen, obwohl es eigentlich nicht in den Griff zu bekommen ist.«

Das sagt er so, als gehöre es dazu und als kenne er sich da aus. Henriette, die immer noch bei der Tür steht, dreht sich zu Kazimira um und kneift ein Auge zu. Kazimira presst die Lippen aufeinander, um nicht nach Luft zu schnappen. Nicht wegen Kowaks Frauensorgen, sondern wegen dieses einäugigen Blicks. Außerdem wird ihr plötzlich schlecht.

»Überlegen Sie es sich«, sagt Hirschberg nebenan, ohne auf die Frauen einzugehen. »Und jetzt begleite ich Sie in den Kurischen Hof. Um elf Uhr werden dort die Kurse bekannt gegeben.«

»Was tust du denn?« Henriette sieht Kazimiras Näharbeit an und schüttelt den Kopf. »Wo hast du denn deine Gedanken?«

Kazimira ist noch immer schlecht.

»Was ist?« Henriette steht hinter ihr und legt ihr die Hand auf die Schulter, aber Kazimira antwortet nicht, ist mit Besserem beschäftigt, mit Gewichtigerem, mit dem Gewicht dieser Hand, welches sich auf ihre Schulter legt. Von weit her hört sie Henriettes Stimme: »Du bist müde, geh nach Hause. Du hast genug gearbeitet.«

»Ja«, antwortet sie leise und hat die Augen dabei geschlossen. Dann erhebt sie sich abrupt, verabschiedet sich und geht.

Draußen übergibt sie sich in ein Holundergebüsch, wischt sich die bitteren Lippen mit dem Rock ab, steht da noch, den Kopf leicht seitlich geneigt, saugt die frische Luft ein und schöpft Bild um Bild aus dem Hinterkopf, immer wieder diesen Blick, diesen Blick, bis sie wieder ausspuckt und den weiten Heimweg antritt.

Henriette hat sich zum Essen umgezogen. Sie hat für jeden Tag ein Kleid. Sie hat sogar eine Hose. Eine pluderige Reithose, über die Hirschberg gelacht hat, als er sie zum ersten Mal sah. »Und wo willst du damit reiten?«, hatte er gefragt.

Kazimira hat nicht über die Hose gelacht. Sie hat eher gehofft, eines Tages Stoff von Henriette erfragen zu können, um sich selbst so ein Ding zu nähen.

Jetzt lacht Hirschberg auch nicht. Jetzt setzt er sich, isst und trinkt und starrt auf die goldgrüne Farbe der Suppe. Die Fettaugen schwimmen wie winziger Bernstein auf der Brühe.

»Expansion«, sagt er plötzlich. »Jetzt geht es bald wirklich bergauf.«

»Mit Haschems Willen.«

»Mit unserem Willen. Oder mit dem der Preußen. Vielleicht hat sich die Mühe ja mal gelohnt.«

Henriette bleibt ernst: »Oder das Fallen von Juden in Metz und Sedan hat sich gelohnt.«

»Wie zynisch. Aber sicher, wenn einer so frei ist und seinen Tod anbietet, ist es für die Preußen immer ein Grund, ihm Achtung zu zollen. Mehr sogar, als wenn einer mit seinem Esprit zu Diensten ist.«

»Beunruhigende Erkenntnis, wenn du mich fragst.«

*

Jantarnyj, 2012

Im Zentrum von Jantarnyj, am Eingang zum so genannten Park, stehen die gläsernen Pavillons. Durch die Scheiben lädt das Farbenspiel von Honig- und Brauntönen zum Kauf der lokalen Produkte ein.

In einem dieser Pavillons sitzt Nadja hinter der gläsernen Ladentheke und sortiert Ketten und Armbänder. Die Arbeit ist einfach, aber sie ist ein komplizierter Mensch. Eine Unsicherheit, ihr eigenes Leben betreffend, lässt sie nicht los. Ein Gefühl der Fremdheit bewohnt sie, während alle anderen sich in die Tatsachen der Welt gefügt zu haben scheinen: russisch, weiblich, hinter dem Mann. Nadja Semjonowa ist zwar gern russisch und zur Not auch weiblich, aber hinter einem Mann wollte sie nie sein. Sie will etwas anderes. Und bis das gefunden ist, lebt sie mit Ika allein in dem alten Haus ihrer Mutter.

Den Vater des Kindes verschweigt sie. Es könnten viele sein, sagt man. Manchmal treiben sich welche, abseits im Wald, bei dem Haus herum. In Wahrheit stehen sie nur im Schutz der Bäume und starren zu den erleuchteten Fenstern, hinter denen dieses Weib mit der roten Haarwolke wohnt. Weib denken sie. Denn der leere Platz neben ihr macht sie fertig. Diese leere Stelle lockt sie an.

Im Laden sitzt Nadja mit unbewegter Miene und lauscht auf die Stimmen der Touristinnen, die in dem kleinen Raum reden und lachen, als wären sie allein. Die meisten sprechen deutsch. Nadja spricht nur russisch. Aus Prinzip. Sie weiß trotzdem, was die Deutschen wollen. Liest in ihren Gesichtern. Die Alten wollen ihre Kindheit, die Jüngeren wollen irgendein deutsches Gefühl zurück. Nur wenige scheinen ihr wirklich einfache Reisende zu sein. Nadja richtet sich unmerklich auf.

Es ist der 6. Oktober 2012, ein düsterer, unangenehmer Samstag, an dem man das Fallen und Altern der Dinge allzu deutlich spürt. Nadja hat heute, bis auf einen Kettenanhänger, noch nichts verkauft. Dabei betreten immer neue Touristinnen den Laden, lassen die Blicke durch den Raum gleiten und verharren schließlich, als käme ihnen etwas in den Sinn, was sie festhalten wollten. Manche ihrer Blicke bleiben auch an Nadja hängen, die sie reglos erwidert, bis die deutschen Augen kapitulieren. Ein Spiel. Und schon fressen sich diese besiegten Augen durch das Sortiment, von Schmuckstück zu Schmuckstück, beinahe so, als gehöre ihnen das Ganze eben doch. Nadja Semjonowa folgt allen Bewegungen fast belustigt, manchmal mitleidig. Sie benehmen sich ganz anders, als man sich die Deutschen vorgestellt hat, hatte sie an einem ihrer ersten Tage hier gedacht. Statt mit kalter Disziplin, wie man sie aus den Filmen zu kennen meint, wirken sie unbeholfen. Ihnen misslingen Gesten. Ein verhaltener Groll spiegelt sich in ihren Körpern, die wohlhabend aussehen oder jedenfalls nicht arm. Auch nicht mehr jung, auch nicht schön oder das nur selten. Lippenstift, oft zu dunkel, blondiertes Haar, oft zu hell, Make-up, zu dick, Chanel N°5, manchmal so viel Chanel N°5, dass einem schwindlig wird.

Nadja parfümiert sich nur leicht. Süße russische Marke, die nach Biskuit oder nach zuckrigen Suschkis riecht. Sie stellt das Radio an. Der Präsident betont, es gelte, eine Wiederholung der Tragödie von 1941 zu verhindern. Nadja kann ihm aus Ladenperspektive nur zustimmen. Sie hat gehört, die Deutschen kaufen Grundstücke, um sich wieder anzusiedeln. Sie gründen deutsche Siedlungen. Die Agnes-Miegel-Siedlung war so eine. Schon vor Jahren tauchten Reisende auf, schlichen um verfallene Gutshäuser, gingen auf Wildschweinjagd, tanzten Volkstänze und saßen um Lagerfeuer. Eine Zeit lang kamen auch Hilfskonvois mit Spinnrädern und Spaten oder anderen ausrangierten Werkzeugen, zur Unterstützung des heimischen Handwerks. Die Hilfsgüter gingen an deutschsprachige Bewohner der Gegend. Mit großer Geste. Nadja hatte laut gelacht, als sie davon hörte. Sie war damals noch jung und hatte gerade im Tagebau angefangen, begeistert von den großen Maschinen. Niemand hatte ihre Fähigkeiten auf dem Bagger in Frage gestellt, spätestens die Technik hatte alle gleichgemacht. Sie sah das als Gewinn. Auf ein Spinnrad aus Deutschland konnte sie gut verzichten.

Zwei Kundinnen winken sie heran. Sie können sich nicht entscheiden und schicken sich an, irgendwas zu nehmen. Sie sprechen sehr laut.

»Was sagen sie?« Nadja legt den Frauen ein paar Ketten und Armbänder zur Begutachtung auf den Ladentisch, während sie, mit dem unbeweglichen Gesicht einer Bauchrednerin, ihre Kollegin Manja um Übersetzung bittet.

»Sie beschweren sich«, flüstert die und bückt sich nach der Schublade mit den Folientütchen, in eine verpackt sie umständlich ein kleines Segelboot aus zusammengeklebtem wertlosem Bruchbernstein. »Sie finden, der Schmuck sei hässlich und der ganze Ort auch nicht mehr so besonders.«

Manja richtet sich auf. »Als hätten sie uns blühende Gärten zurückgelassen«, flüstert sie. »Seht euch mal um.«

Nadja bekommt Kopfschmerzen, wenn die Leute von Jantarnyj so reden. Sie deuten immer irgendwas an, sie umgehen bestimmte Stellen im Ort, sie brechen plötzlich Gespräche ab. Und bis jetzt hätte Nadja gesagt, sie spielen sich auf. Aber dann war da dieser Laut bei der Grube.

»Was meinst du mit umsehen?«

»Ich meine, dass hier nichts besser war, bevor unsere Leute kamen. Und hätten sie gewusst, was für ein Land sie übernehmen sollen, wären sie nie gekommen …« Manja bricht ab, kassiert, wispert: »Auf Wiedersehen.« Dann sieht sie Nadja einen Moment lang an. »Ist nicht wichtig«, sagt sie leise. »Lass uns aufräumen.«

Die Dämmerung sinkt aus dem Hinterland in Richtung Steilküste und Strand. Das Branden hallt herauf, die Kälte der Landschaft und die Kälte des Meeres verschwimmen zu einem blauen Abendlicht, das den Platz zwischen den Pavillons einhüllt. Manja nimmt Mantel und Schirm und verabschiedet sich: »Pass auf dich auf«, sagt sie beinahe zärtlich.

Kurze Zeit später schließt Nadja den Laden ab und hält nach einem Wagen Ausschau. Sie will mit Anatolij einen kleinen Ausflug machen. Er wirbt seit Jahren um sie, obwohl sie ein Kind hat, dessen Vater sie verschweigt. Und irgendwie rührt sie sein Werben. Auch wenn sie nicht weiß, ob das schon reicht. Es ist immerhin ein Gefühl. Ika hat sie bei der Tante gelassen. Tante Warja liebt das Kind. Nadja raucht. Ich liebe dich auch, Ika, denkt sie, und ich passe auf dich auf.

Die Straße ist ohne Reiz. Gegenüber quietscht eine alte Eisenpforte im Abendwind, dahinter verfällt lautlos ein Haus. Man könnte auch weggehen, denkt Nadja, aber wohin? Sie stellt sich mit dem Rücken zum Laden, sucht Deckung.

Eine halbe Stunde zu spät taucht Anatolij auf. Nadja erkennt ihn erst gar nicht, wie er da in seinem qualmenden Wagen die Straße entlangkommt. Ist das sein Ernst? Sie meint kurz, einen Fehler zu begehen, als sie, den kleinen Kreis aus Zigarettenkippen verlassend und sich verstohlen umblickend, zu ihm in den Wagen steigt.

»Russische Produktion«, sagt Anatolij halb stolz, halb entschuldigend, »gerade gekauft.« Nadja klappt wortlos den Blendschutz herunter und besieht sich im Halbdunkel im Spiegel. Sie greift in die Handtasche, malt die Lippen nach, presst sie aufeinander, verreibt die fettige Farbe. »Einen Lada«, sagt sie nur.

Anatolij zuckt mit den Schultern und gibt Gas. Selbstverständlich hat er Nadjas Enttäuschung bemerkt und ist jetzt selbst etwas enttäuscht. Außerdem ist er aufgeregt. Er weiß nicht viel über Nadja, das wird ihm gerade bewusst. Er hätte, statt über den Wagen, mehr über sie nachdenken sollen.

Sie verlassen Jantarnyj in Richtung Süden. Das Gaspedal gibt nicht viel her, aber die Alleebäume mit ihrem gelben Laub fliegen, im Zwielicht grell aufleuchtend, vorbei. Das ist immerhin irgendein Argument, auch wenn es nur ein Lada ist. Nadja kurbelt die Scheibe runter, legt den Arm in die Fensterhöhlung, trommelt mit den Fingern auf das Plastik der Türverschalung, der Galopp einer ungeduldigen Hand, eine Frau, ein Rennpferd, viel zu viel PS bei zu wenig Idee von der Richtung. Sie hat den ganzen Tag gewartet, das wird ihr plötzlich klar. Darum schreit sie ohne Vorwarnung laut aus dem Fenster. Anatolij erschrickt so sehr, dass er einen Schlenker fährt. Sie sieht ihn spöttisch an. So macht man das doch, wenn man so schnell fährt, so verscheucht man Gedanken, so entfernt man sich von Jantarnyj.

Sie fahren eine Weile stumm weiter. Anatolij greift in seine Hemdtasche, angelt sich Zigaretten, hält Nadja die Schachtel hin, sie lehnt ab, er zündet sich irgendwie eine an. Draußen Bäume, Felder, Russland – man kann das mögen. Man kann sich sagen: So ist es schön. Auch diese Dämmerung, schön. Man kann die Zigarette mal kurz im Mundwinkel sich selbst überlassen und mit der freien Hand nach Nadjas Fingern greifen, kann sich vornehmen, ihr nicht zu sagen, dass man den Job im Tagebau ausgerechnet heute verloren hat, dass man ausgerechnet heute vielleicht den Seilbagger ruiniert hat, ihren Seilbagger, und dass dieser alte Wagen alles ist, was man gerade noch besitzt. Man kann Geschichten ruhen lassen und versuchen, ab jetzt und mit dieser Frau alles richtig zu machen.

*

Weststrand, 1871

Die Kutsche quält sich, auf demselben Weg, nur hunderteinundvierzig Jahre früher und weiter nördlich, durch den Sand. Sie schaukelt hinter zwei Braunen her. In der Kutsche schaukelt Karl Waldner, mit einer in Leder geschlagenen Mappe auf dem Schoß, Karten, Papiere vom Katasteramt, solche Dinge.

Onkel Karl kauft, in Hirschbergs Auftrag, ein paar Wiesen von einem der Güter am Weststrand. Es ist wertloser Sandboden, jeder weiß das, und Karl Waldner verhandelt eigentlich gut. Trotzdem muss er das Doppelte des Wertes bezahlen, Waldner hin oder her. Wer soll denn das sein? Keiner kennt dort einen Waldner. Man hatte sich das Lachen über diesen Möchtegern kaum verkneifen können. Auch, weil gar nicht sicher war, ob ihm die Abbaurechte vom Ministerium erteilt werden würden, falls es überhaupt was abzubauen gäbe.

Auch Onkel Karl hatte es sich immer weniger verkneifen können, bei ihm eher ein Lächeln, über Jahre eingeübt, warm und weich und stabiler als ein Schild. Ja, hatte er bei sich gedacht, so seid ihr halt.

Auch mit einem zweiten Gut verhandelt er, und zwar mit jenem, in dessen Acker der Gendarm gefunden wurde. Die wollen aber nur verpachten.

»Und Gewinnbeteiligung – Sie wissen schon«, murmelt der Gutsmann, der sein halbes Ackerland durchsucht hat, ohne weitere Funde zu machen.

Onkel Karl tut ahnungslos, dabei ist er kein guter Schauspieler. Der Gutsmann meine, falls das Land andere Erträge bringe? Tatsächlich, er habe bereits an ein Hotel gedacht, eines Tages vielleicht.

»Ein Hotel?!« Der Gutsmann scheint wirklich erstaunt. Oder ist der bessere Schauspieler. Für wen denn der Herr Waldner hier draußen ein Hotel bauen wolle? Für Nixen?

Auf dem Heimweg baut Onkel Karl in der Kutsche tatsächlich ein Hotel mit Terrassen, Treppen und Fahnenstangen in die Luft. Gut und zuvorkommend würde man dort bedient werden. Es gäbe, ohne dass es groß hervorgekehrt werden müsste, zwei Varianten der Küche. Eine Gelegenheit, die Leute miteinander bekannt zu machen. Eine kluge Tischordnung könnte hier schon Effekte haben.

Hungrig trifft Onkel Karl auf halbem Weg in der Herberge ein. Klamm und mit jaulenden Katzen im Hof vergeht die Nacht. Im Aufwachen beschließt er, sich von Hirschberg Geld zu leihen.

»Und welche Art von Aktien soll das sein?« Hirschberg ist nicht begeistert, zumal der Onkel seinen eigentlichen Plan nicht preisgibt.

»Kunstdünger? Energie?« Onkel Karl ist sich selbst noch nicht sicher. »Der Eisenbahnbau könnte interessant sein.«

»Am besten bei Strousberg einsteigen? Nein! Oder wenn, dann schon lieber bei Baron de Hirsch. Wie ich höre, baut er eine Strecke von Wien nach Konstantinopel.«

Über solchen Plänen wird es Sommer. Heiß und trocken zieht der August durch. Die Dörfer brüten zwischen zirpenden Sümpfen und schlangenreichen, schwarzen Seen. Über den Ziegeldächern zittert die Luft.

Kazimira brütet auch, aber anders. Die Haut spannt sich über ihrem gewölbten Bauch. Sie hatte sich im März wohl doch verzählt. Hat viele Mittel versucht, um die Sache noch abzuwenden, aber der Bauch wächst, als wäre er jetzt der Herr, und das Gefühl der Ohnmacht raubt ihr fast die Sinne. Schwitzend und atemlos läuft sie tagelang am Meer entlang, als könnte sie so ihrem eigenen Körper davonlaufen. Verzweifelt kommt sie heim, in Angst, sogar die kleine Hütte sei für ihren aufgedunsenen Leib jetzt zu eng.

»Ich will es nich«, flüstert sie. »Hilf mir, Antas.«

Antas betrachtet sie.

»Es ist aber schön«, sagt er leise. »Und so was darf man nich sagen.«

Kazimira wendet sich ab.

»Verstehst es nich.«

»Es ist deine Bestimmung.« Antas geht aus der Hütte, geht zum Kahn, holt eine Flasche aus dem Bug und trinkt.

»Sag ja, du verstehst es nich«, sagt Kazimira zur leeren Hütte. Dann tut sie ihre Arbeit. Sie flickt, kocht, setzt sich mit der Spindel vor die Tür. Aber sie mag weder flicken noch kochen noch spindeln. Und sie will kein Muttruschchen werden. Sie denkt, das kommt, weil sie selbst kein Muttruschchen hatte, sondern nur die alte vertrocknete Ahne. Sie denkt es und denkt es auch nicht, und die Spindel springt am Faden herum, als würde sie lachen.

Am Weststrand lässt Hirschberg die erste Holzbaracke bauen und eine Bohrung in den Untergrund vornehmen. Er sitzt persönlich neben dem Bohrloch und will ein Ergebnis. Wenn sie nichts finden, wird er trotzdem bis zum Jahresende Pacht zahlen. Ihm läuft der Schweiß übers Gesicht. In seinem Rücken liegt das Dorf, sandig und ärmlich, ohne Idee, was aus alldem werden könnte. Darüber wölbt sich der gleißende Dorfhimmel, eine Kuppel aus Silber, an die man nicht reicht.

Erwin Kowak begutachtet mit Hirschberg die Proben, eine Viertelmeile im Inland, eine halbe Meile im Inland, eine Meile im Inland. Das Bernsteinlager scheint riesig. Und liegt tatsächlich an die fünfzig Stab tief.

Hirschberg kauft nun selbst noch Land dazu.

Onkel Karl setzt ganz auf Energie. Legt das Geld in Aktien an.

Die Aktien brüten aus dem Geld noch ein bisschen mehr Geld, während aus Kazimiras Körper noch ein bisschen mehr Körper wird und aus dem Sommer längst Herbst geworden ist.

*

Nehrung, 1871-72

Als Kazimira, nach Wochen, in denen sie schließlich gar nicht mehr gesprochen hatte, ihr Kind zur Welt bringt, ist der Winter am dunkelsten Punkt. Das Haff ist zugefroren. Eine Hebamme ist nicht zu haben. Antas hält ihre Hand, auch, damit sie nicht nach ihm schlagen kann. Also schlägt sie nicht, aber sie schreit. Kazimira schreit zu den Aalen hinauf. Sie presst die Lippen aufeinander, schreit nach innen, bettelt, winselt. Das Kind muss heraus? Aber wie, Antas!? Kazimira ertastet unter Flüchen den Kopf. Er ist viel zu groß. So viele Flüche gibt es gar nicht, wie dieser Kopf zu groß ist. Sie flucht trotzdem. Und sie hasst Antas. Sie hasst die Mutterschaft, die Geburt, die Vermehrung. Fluch darüber! Fluch über alle Schürzen und Zöpfe und Brautsträuße! Fluch über alle leisen Begegnungen, über die abendliche Sommerluft, über alle Männer und alle Schnurrbärte und alle Schwänze! Fluch über Antas! Nur dieser Schmerz ist wahr, diese verschissene Bettstatt, nur dieses elende Blut! Sie wollte kein Kind! Dann reißt sie.

Antas nabelt mit zitternden Fingern einen Jungen ab: Ake. Er küsst den nassen Kinderkopf. Auch sein Gesicht ist nass. Kazimira schließt die Augen, bewegt sich nicht. Antas legt ihr das Kind auf die nackte Brust, wirft neues Holz in den Ofen, die Zapfen pfeifen in den Flammen. Er kocht Suppe. In der Ecke der Hütte gackern die Hühner. Im Eimer liegt die Nachgeburt.

»Nun, meine lieben Hühnerchen«, sagt Antas leise, als sich seine Finger und sein Atem beruhigt haben, »hab ich eins von euch im Topf, soll das Kindchen stark werden. Und stark wird nur, wessen Muttruschchen stark ist.«

Kazimira muss plötzlich weinen. Sie ist nicht stark, sie hat Schmerzen, sie ist wund und leer und kaputt, und zum ersten Mal stören sie der Rauch und der Gestank in der Hütte. Vielleicht müssen sie doch hier weggehen, denkt sie, als könnte sie mit dem Ort auch dieses Leben verlassen.

Antas hatte sie im Spätsommer zur Grube gefahren. Mit dem kugelrunden Bauch, wie mit einer Melone auf dem Schoß, hatte sie neben ihm auf dem Kutschbock gesessen. So waren sie die Nehrung hinab, durch modderigen Elchwald, durch trockenen Sand, quer durchs Samland gefahren. Eine große Reise, bis zur Grube am Weststrand. Eine Reise, damit Kazimira abgelenkt wäre und damit sie auf den Geschmack käme. Aber auf nichts war sie gekommen beim Anblick der aufgerissenen Erde, nur auf üble Gedanken. Überall Holzstapel und Holzhallen, dazwischen dieser Krater, der ihr wie ein riesiges weibliches Geschlecht vorkam, an dessen Grund sich die Arbeiter zu schaffen machten. Und über allem das Stampfen der Dampfmaschinen und Pumpen, verwirrende Konstruktionen, eiserne Schienen und Gitter und Türme, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Schrecklich und wunderschön, abstoßend und anziehend zugleich.

Kazimira hatte eine halbe Stunde lang in den Abgrund gestarrt wie in eine unverständliche Zukunft, von zwei heftig streitenden Stimmen innerlich entzweit, und hatte sich endlich mit einem Schütteln abgewandt. Hatte Antas zurück zur Kutsche getrieben und dem Pferd was gerufen, dass es sich beeilen solle. Es kam ihr nun doch nur noch schaurig vor bei der Grube, das Unterste lag zuoberst, die Welt war aufgerissen und entblößt.