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Staub E-Book

Svenja Leiber

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Beschreibung

Als Kind verbringt Jonas Blaum ein Jahr in Saudi-Arabien – der Vater, ein Mediziner, verfolgt in Riad seine eigenwilligen Vorstellungen von Heilung. Den Deutschen fällt es nicht leicht, sich den ungewohnten Landessitten anzupassen, und als eines Tages das jüngste Kind der Blaums spurlos verschwindet und wenig später verstört und sprachlos wiederauftaucht, kehrt die Familie überstürzt nach Deutschland zurück.

Im Sommer 2014 reist Jonas Blaum, mittlerweile selbst Arzt, suchtkrank und von Zweifeln geplagt, erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Amman. Dort wird ihm ein Junge in die Obhut gegeben, der ihn an den größten Verlust seines Lebens erinnert. Blaum kann dem Kind nicht helfen, und als er den Jungen bei einem Aufenthalt in Jerusalem verliert, ergibt sich für den Arzt ein beängstigender Verdacht.

In bedrängenden Bildern erzählt Svenja Leiber von einer individuellen Katastrophe und der einer ganzen Region. Der Wettlauf um das Leben eines Kindes wird dabei zum Sinnbild für einen doppelten Kampf: gegen die Erstarrung des Einzelnen im Korsett gesellschaftlicher Zuschreibungen, gegen die Macht symbolischer Ordnungen und überalterter Systeme.

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Seitenzahl: 267

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Svenja Leiber

Staub

Roman

Suhrkamp

STAUB

Für Egon

Kapitel 1

Berlin/Amman, 2014

Ich weiß nicht, was mich so viele Jahre später wieder in diese Gegenden treibt, von denen ich mir geschworen hatte, sie nicht mehr zu betreten. Aber was habe ich mir nicht alles schon geschworen. Hand aufs Herz, Schwur oder Vorsatz, kaum ausgesprochen, schon klimpert das Leben dazwischen.

Die weitere Umgebung ist in schlechtem Zustand. In gar keinem Zustand. Allerhöchstens noch Verbeugung vor dem Untergang. Erosionen. Wie überall. Dabei hatte doch alles mit Hoffnung begonnen. Mit dem Aufstand des Lebendigen. Aber was denkt man nicht alles. Oder was hält man nicht alles schon für Denken. Und was hält man nicht alles schon für Aufstand. Oder für Hoffnung. Aus dem Ruder gelaufen ist diese Hoffnung. Aus der Art geschlagen.

Vielleicht will ich einfach nur weg.

Vielleicht ist es gleichgültig, wo genau ich allein bin.

Ich war in ungesunde Betrachtungen verfallen. Mich füllte Ekel aus, sodass ich in mir selbst zu ertrinken drohte, wie der Bergsteiger auf sechstausend Metern in seiner sich krankhaft mit Wasser anfüllenden Lunge.

Ich hatte das ganze Haben satt. Dieses imperativische Glück. Ein alles überwucherndes Spektakel. Überdreht hier, erstarrt dort. Und ich? Fasele. Beschämend. Offen gestanden bin ich sogar gewaltbereit. Ein Held. Wenigstens in Gedanken. Hochmütig und einsam also. Müde von Unversehrtheit. Trotzdem ganz kaputt. Fast schon ein am Cotard-Syndrom Leidender, einer, der sich im Leben bereits tot glaubt.

Vielleicht folge ich aber auch Spuren, Meridianen.

Wie der Druck auf eine beliebige Körperstelle an ganz anderer Stelle ein Stechen auslösen kann, so tritt in beliebigen Momenten rasender Schmerz in mir auf, dessen Auslöser nicht in der Gegenwart liegt. Vielleicht hat sich ein alter, abgerissener Faden doch unter dem Teppich meines Lebens entlanggezogen, um nun wieder aufzutauchen. Lange habe ich versucht, mich in fremden Geschichten zu verstecken. Bin beinahe am offenen Buch verhungert. Jetzt also meine Geschichte: Ich habe tatsächlich, auch wenn das lächerlich klingt und obwohl ich etwas anderes werden wollte, den Beruf meines Vaters gelernt, bin Arzt, wenn auch momentan ohne Job, und auf dem Weg zu meinem Freund Bassan nach Amman. Es gab Gründe, vor wenigen Tagen meine Wohnung aufzulösen, dabei fielen mir Fotos in die Hände. Eine Mischung, wie sie nur über Jahre entsteht. Es waren Fotos von Bassan dabei, die in mir das dringende Bedürfnis weckten, ihn wiederzusehen. Es waren andere Fotos dabei, auch belanglose. Zuletzt fand sich noch ein Bild, auf dem David und ich zu sehen sind. Halb zu sehen jedenfalls. Gesehen hat uns Semjon.

Ich fliege im Juli. Die Maschine bemalt vermutlich die Luftschicht hinter sich mit einem schaumigen Streifen. Diese stark geschminkten Flugbegleiterinnen mit den Wägelchen. Vorwärts. Dann rückwärts. Sie fragen fünfzigmal das Gleiche. Schrecklich. Ich nehme ein Wasser und schlucke zwei Tabletten. Gegen die Kopfschmerzen. Gegen alles.

Über die Welt aus mittlerer Höhe gesehen wurde schon viel und Uninteressantes erzählt. Der Traum vom Fliegen, ach, wie menschlich. Aber vielleicht ist die Welt von oben einfach nicht interessant. Die abstrakten Muster hungriger Geschäftigkeit. Auch jetzt nur hellbraune Flächen, gepfeffert von Gebüsch und kleineren und größeren Ortschaften.

Es findet sich Zeit nachzudenken, hier oben, fernab. Über das ausgeblichene Landstück. Durch den ehrgeizigen Bau der osmanischen Hedschasbahn seit hundert Jahren abgeholzt. Über die Weihrauchstraße. Erst Weihrauchstraße, dann Hedschasbahn. Erst heilige Fracht, dann Fahrgäste, Toiletten, Bistro. Genug Zeit, sich die bedächtig schreitenden Kamele und Dromedare vorzustellen, benebelt vom Geruch ihrer Last und von der Hitze. Zeit, alle inneren Bilder und alles Angelesene mit diesem Namen zusammenzufügen, der sich, wie das Land selbst, den Fluss entlangschlängelt: Jordanien. Von Nabatäern, Römern und arabischen Stämmen überrannt und beherrscht und in den zwanziger Jahren zum haschemitischen Königreich geronnen. Ein kantiger Kristall. Jordanien. Heute, soviel ich weiß, parlamentarisch regiert. Jedenfalls offiziell. Ein Umschlagplatz, ein Sammelbecken, Bollwerk, Camp. Seit den Kriegsenden 45 und 67 von Hunderttausenden belastet, vor allem aus der Westbank, aber auch Iraker und Afghanen, und nun wieder eine riesige Anzahl an Menschen. Und es drohen immer mehr zu kommen. Denn es gehen Geister um. Es gehen bekanntlich einige Geister um. Immer schon. Jeder hat seinen Namen. Viel mehr ist einem Geist auch nicht zu eigen. Aber der Name verhilft ihm ins Dasein. Und wer ihn nennt, hilft, dass er ist. Über diesen Umstand scheinen sich die Angehörigen der vierten Gewalt immer weniger im Klaren. Zaubern nun diesen größer und größer, bis er ganz besoffen ist von sich selbst. Bis er weiter reicht, als er das je für möglich gehalten hätte. Und alle Welt nur noch im Katastrophenmaß. Keine philosophischen Fragen. Auch keine Liebesfragen. Sondern nur noch Katastrophen. Und Geister. Hier also dieser. Wie ein böser Dschinnī. Und doch erstaunlich real. Was habt ihr da wieder hinbekommen? Einen Geist mit dem Namen einer ägyptischen Göttin, meint man. Jedenfalls in meiner Sprache zunächst. Dabei erzählt Daesh viel mehr. Daesh war schon eine Haltung, während wir noch im verwirrenden Goldstaub der Wörter stocherten. Schließlich handelt es sich bei Isis nicht nur um die Göttin der Geburt, sondern auch um die des Todes. Und Jahrhunderte politischer und kirchlicher Jonglage haben das Theaterstück der tödlichen Sarazenen ja von A bis Z auf die Bühne gebracht. In Ewigkeit, Amen. Das kriegen wir nicht mehr los. Dieses ängstliche und vulgäre Einscheißen vor dem ewigen Sarazenenstück. Wie man bei Tumoren von invasiver Verbreitung spricht, so erscheinen auch diese neuen Schauspieler als lebensgefährliche Krankheit, übernatürliche Seuche. Womit man weder einem Tumor noch menschlichem Verhalten erkenntnismäßig näher kommt. Aber vielleicht will das auch niemand. Es geht nämlich der Tod um, in schwarzen Hosen, wie eh und je. Und wie eh und je weiß angeblich keiner, wie man ihm beikommen kann.

Keine Ahnung, warum ich plötzlich zu summen anfange. Deine Töne, Mutter. Deinen zerlegten Tristan-Akkord im Garten. Das alte Erkennungszeichen, der fatale Familienpfiff, den schon Großmutter nicht richtig pfeifen konnte. Wie auch? Mit zwei Lippen Celli und Holzbläser bringen, f-h-dis-a, das ist unmöglich. Aber die Sippe wollte es so, wollte wohl aussterben, schon vor dem großen Krieg, und dann mittendrin: immer Tristan, Tristan, Tristan. Der Mensch, der schließlich in den Westen segelt, um zu sterben. Und jetzt das hier. Zum Sterben. Und alle ganz überrascht, obwohl doch so durchgewagnert, dass der Tod vertraut ist. Vertraut wie ein Frühstücksei ist der doch. Auch dieser Tod, nichts Neues.

Ich bestelle einen Weißwein. Nach drei Schlucken schon nicht mehr glaubhaft.

Hatte jemand mit dem I gerechnet? Diesem Zeichen, das der neueste Tod mit dem Zeigefinger macht? Eine lehrerhafte, kleine, obszöne Geste. Ein dürres armes I, winzig und bedrohlich — eine Idee. Und Ideen sind immer gefährlich. Wie Meteoriten. Dürfen nicht an der falschen Stelle einschlagen. Auch ganz kleine nicht. Denn diese Männer eint das I. Vielleicht auch Not und womöglich ein tiefgreifendes genitales Problem. Wer weiß das schon. Aber etwas Gefährlicheres gibt es nicht. Das ist gerade uns Deutschen aus bekannten Gründen sehr vertraut.

An all das denke ich. Nationen, Tode, Mütter. An dich, Alim, denke ich noch nicht.

Das Flugzeug berührt die Erde mit dem üblichen Aufruhr. Meine lärmende Wiedergeburt also auf dem Queen Alia International Airport. Benannt nach einer abgestürzten Königin. Ich bin wie jedes Mal überrascht, dass die Flügel nicht abbrechen. Und schon wieder bei dir, Mutter. Auch du hast meine erste Landung unter Zucken und Schreien schließlich überstanden. Wie die meisten Frauen. Wie oft hast du davon erzählt. Angeblich war ich es, der im Angesicht kotelettenbewachsener Arztgesichter beinahe seinen Geist aufgab. Erschrocken wäre ich wohl am liebsten gleich wieder gegangen. Zurück in deinen Stimmraum, Mutter, in das Instrument deines Körpers, in dein ewiges Wort oder ewiges Gerede, wie auch immer. Aber nun hatte ich einmal dein Geschlecht mit meiner Schädeldecke gesprengt. Es gab kein Zurück. Ich musste mich den kalten Waschungen und Schlägen auf mein Gesäß stellen, wie ich auch jetzt gleich die Treppe am Ausgang nehmen muss.

Vielleicht gehöre ich tatsächlich zu den Menschen, die an den harmloseren Stellen der Welt Gefahr vermuten, während die wirklichen Gefahren eine Art Wind in den Segeln ihres Lebens sind.

Bas holt mich ab. Eigentlich Bassan. Ich sage lieber Bas.

Im Anzug, jordanische Herkunft, niederländischer Akzent, die Augenbrauen zwei perfekte romanische Rundbögen, viele laute Gedanken.

Als wir uns vor zwei Jahren am Flughafen in Tegel zum Abschied umarmten, hatte ihn die Schwere seiner Gedanken zu Tränen gerührt.

Er ist mein bester Freund.

Bas, der sich eigentlich für nichts anderes als Kunst interessiert, arbeitet als Ingenieur für Bewässerung im vertrocknenden Land seiner Vorfahren. Sein Vater, hochgelehrter Geschichtsprofessor, lebt in Den Haag. Sein Großvater, hochgelehrter Teetrinker, ist noch hier.

Wenn man es am Besitz von Wasser messe, dann sei es beinahe das ärmste Land der Welt, sagt Bas.

Ich habe mich oft gefragt, warum er ausgerechnet hier nach Wasser sucht. Er betreibt diese Suche wie eine irgendwie aussichtslose Wissenschaft. Ein komplizierter Mensch. Das mag ich an ihm. Etwas zu entwirren bringt ihm halb so viel Spaß, wie es ein- und zusammenzuwickeln bis zur Unkenntlichkeit.

Da fahren wir schon in die Stadt hinein. Eine Menge Betonhäuser. Fragmente. Oberes Stockwerk im Rohzustand, bis zur Vermählung der Kinder. Nie endende Bauwerke also.

»Unsere Großstadt«, sagt Bas, als hätte er meine Gedanken gehört. »Architektur der Freiheit.« Er lacht. »Herrlich, wie uninspiriert, nicht? Langweilig wie ein Büroschrank. Wenn du was erleben willst, musst du schon nach Beirut oder Tel Aviv.«

»Ich will nichts erleben«, sage ich. Bas lacht wieder. Sehr gut. Denn das Interessanteste hier seien ungefähr acht Straßenkreisel. Aber es sei trotzdem eine gute Stadt. Er fährt schnell und hupt gern. Der Unterschied zwischen Stadt und Provinz entspreche ungefähr der Größe von Jahrhunderten, sagt er. Wolle man frei sein, müsse man sich nicht von seiner Religion befreien, sondern von seinem Stamm. Das habe sein Großvater seinem Vater geraten und ihn zum Studium nach Europa geschickt, erzählt er, obwohl ich das längst weiß. Wieder hupt er, schimpft auf unseren Vordermann. »Der Imperativ der Stämme ist dazu geeignet, dass jeder sich dahinter versteckt oder darunter leidet. Und ein Stamm ist nicht einfach eine Familie. Ein Stamm ist ein Stamm. In der Stadt verliert der Stamm einen Teil seiner Macht.«

Bas biegt scharf nach links ab, dann fährt er einen steilen Berg hinauf, locker bebaut, sogar ein wenig grün.

»Jabal al-Weibdeh«, sagt er so sympathisch kauend, dass es auch eine niederländische Speise sein könnte, »einer der schönsten Hügel hier.«

Er hält vor einem weißen Haus und blickt kurz aus dem Wagenfenster.

»Nimm ihm seine Ramponiertheit nicht übel.«

So schlimm sieht es gar nicht aus. Ein Haus eben. Etwas gebrechlich vielleicht. Bis auf zwei halb herabgelassene Jalousien sind alle geschlossen. Es wirkt, als blinzele die Fassade. Daneben eine fast begeistert blühende Bougainvillea. Aber aus dem Haus dringt ein furchtbares Geräusch.

»Wir wissen nicht, was das ist«, sagt Bas, als hätte ich schon gefragt. »Es klagt auch nicht immer. Vor allem nicht schon immer. Muss am Wind liegen.«

»Aber es klingt nicht wie Wind«, sage ich.

»Tut es nicht?«

»Eher wie ein Tier.«

»Was soll das für ein Tier sein?«

Bas geht geschmeidig vor mir die Treppe bis zum Dach hinauf, wo sich ein aufgesetzter Würfel befindet. Ich versuche, seine Bewegungen zu imitieren, seine volle Stimme. Vergeblich. Ich trage ihm mein eckiges, verschwitztes Deutschtum hinterher, mein Formulartum, mein Pefferkuchentum.

Die Wohnung hat drei Schlafzimmer (was brauchst du drei Schlafzimmer, Bas?), ein Esszimmer, eine Küche und eine drei Seiten umlaufende Terrasse, auf der in Bottichen Palmen, Feigen, Mimosen und Rosmarin wachsen. Eine Zypresse steht so nah am Haus, dass man ihr von hier oben in den Schopf fassen kann. Ein Betonminarett ragt wenige Meter von meinem Schlafzimmerfenster entfernt empor. Es fängt im selben Moment an zu rufen. Reichlich übersteuert schmettert sich da ein Zeugnis des Himmels an unsere Hauswand.

Ich werfe mich erschöpft auf den nächsten Stuhl. Mein Kopf schreit. Der Turm schreit. Das Haus. In kurzen Stößen. Dann ist es wieder still. Dann wieder ein langes Klagen. In meiner Hosentasche noch zwei Tabletten.

Kapitel 2

Wenden, 1984

Ich erinnere mich an Semjons Schweigen. Mit dreieinhalb sein erstes Wort: Weiz. Ohne »en«. Dann wieder wochenlang nichts.

In meiner Erinnerung hat er einen großen Kopf, beinahe um die Breite eines Heiligenscheins größer als andere Köpfe, und dieser Kopf neigt mitsamt dem restlichen Kind dazu, andauernd in den Schlaf zu sinken. Es ist eine tiefe Müdigkeit um ihn, die sich womöglich erklären lässt. Denn eigentlich handelt es sich bei meinem kleinen Bruder um eine kleine Schwester, die sich selbst zum König ernannte, Name: Semjon, gleiche Rechte beim Friseur verlangte, wie wir Brüder sie genossen, ohnehin schon unsere alte Kleidung trug, und also früh mit dem Werk der Kreation beginnen musste, welches bekanntlich erschöpfend sein kann. Denn die Außenwelt ist, vor allem wenn es um Kreation geht, eher uneinsichtig und streng als förderlich. Wenigstens die Familie hatte sich, nach Fangfragen und tiefen Atemzügen, endlich gefügt. Und für mich war es längst vollkommen natürlich, Semjon als das, was er sein wollte, anzuerkennen. Kann sein, dass die anderen auf die Möglichkeit setzten, dass es sich um eine kindliche Phase des Rollenspiels handelte, wie Mutter es nannte, und dass Rolle und Spiel eines Morgens vergessen sein würden — ich persönlich glaubte nicht daran. Ich hielt den Zustand auch nicht für bedauernswert, im Gegenteil.

An jenem Tag, an dem vielleicht alles seinen Anfang nahm, sitzt Semjon neben mir auf der Rückbank des Wagens, einem alten Mazda, dunkelbraun, mit Polstern, die so weich sind, dass wir kaum aus den Fenstern sehen können.

Es ist nicht einfach, sich auf dieser Rückbank richtig zu verhalten, denn sie beherbergt neben Semjon und mir noch eine Herde Schafe, die Semjon beim Einsteigen in den Wagen, aber auch überall sonst, um sich schart oder vor sich hertreibt. Jedes hat irgendwo seinen Platz, und wehe dem, der sich auf eines der Tiere setzt oder es auch nur anstößt. Er erntet einen von großem Ernst umstellten Blick, in welchem Wachheit, Traum und Tiefschlaf beieinanderliegen wie drei Brüder unter einer Decke.

Auch die Armlehne zwischen uns überlasse ich ihm, nachdem er mich einmal flehentlich darum gebeten hat. Sie wiederum ist sein Acker, sein Ewigkeitsfeld. Auf ihr wächst die Wintersaat. Semjon streicht, wenn die Herde versorgt ist, mit dem Zeigefinger langsam in einer Richtung über den goldbraunen Samt, sein Finger gehorcht dem Brummen seiner Stimme, und wenn er schaltet, dann ändert der Finger den Druck und ein wenig das Tempo. Ist er am Ende des Samtfeldes angelangt, fährt er langsam wieder zurück.

Semjon pflügt mit Abelsgeduld, bis der Acker für seine Herde fertig ist. Dann streicht er mit dem Unterarm über die Lehne und fängt von vorn an.

Meinem größeren Bruder, David, mangelt es ganz an solcher Ruhe. Kaum geboren, sei er schon alt gewesen, heißt es. Ein Mensch im Laufschritt. Statt Sanftmut eher Wut. Damit stürmt er voran, die Faust wie einen Rammbock vor dem Körper geballt. Über Semjon sagt er nur — wobei man die Wärme in seiner Stimme nie überhören kann —, es sei einfach verrutscht. Das sagt er vielleicht, weil er selbst bald ein Mann ist. Mehr Ja und mehr Nein, mehr Eins und mehr Null — in diese Richtung geht seine Philosophie. Eine wertvolle, wenn auch einsam machende Geistesart, die den zweiten Pol meiner Kindheit ausmacht.

Ich wachse also zwischen Kain und Abel auf.

An diesem Mittag, der sein Septemberlicht über den Zimtwäldern verteilt, der letzte alte Mittag, an den ich mich erinnere, sitzt David vorn und zählt die Städte zu den Autokennzeichen auf. Viele sind es nicht, wir fahren über Land. Aber ohne etwas zu lesen, würde er ersticken. Ohne etwas zu erkennen und einzuordnen, könnte er nicht existieren. Ihn hat fast noch nie einer schlafend gesehen. Selbst wenn man nachts mit einer Kerze in sein Zimmer tritt, sieht man ihn mit weit offenen Augen im Bett liegen und grübeln.

Mein Magen knurrt. Es ist zwei Uhr, als Vater langsam in die Allee zum Herrenhaus einbiegt. Er wird der krummen Bari die Lungen abhorchen. Die Bari ist keine Frau, sondern ein ganzes Zeitalter, und so krumm, dass sie mit den Händen den Boden berühren könnte. Sie hat die Besitzer des Herrenhauses längst überlebt, aber bedient und bekocht sie noch immer. Vor dem Haus stehen melancholische Rotbuchen mit ineinander gewachsenen Kronen in ernsthaftem Gespräch, es riecht durch die offenen Fenster nach Moder und alten Blättern, vielleicht auch nach alter Bari, und man kann sich in Gedanken über das Leben in einem solchen Haus ergehen.

Vater bremst sehr behutsam vor der Freitreppe. Dann holt er tief Luft, wobei er konzentriert durch die Windschutzscheibe starrt. Leise erzählt er ihr seinen Plan. Er sagt viele Dinge, die ich nicht verstehe. Alles Zeug, was nichts mit uns zu tun hat, höchstens mit dem Wagen vielleicht. Und vielleicht erzählt er es deswegen auch der Windschutzscheibe. Doch zuletzt kommt ein Satz, der nur mit uns zu tun hat. Eigentlich ein schöner Satz, denke ich. Obwohl es die Ankündigung von etwas nicht recht Vorstellbarem ist.

Dann sieht er sich nach uns um.

»Was sagt ihr dazu?«

Wir? Ich spüre, wie ein Lachen in mir aufsteigt. So ein unpassendes, überfordertes Beerdigungslachen. Wir? Frag doch David! Warum sagt David nichts? Truppenführer David Blaum. Irgendwas, um das hier zu regeln. Befehl zum Rückzug zum Beispiel.

Aber David schweigt zum ersten Mal. Obwohl er gefragt ist. Er kapituliert zu meiner Überraschung vollkommen kampflos.

Stattdessen ergreift Semjon das Wort. Semjon, der Stumme, malt jetzt Laute in die Luft. Nicht sehr viele. Seinen ersten eigenen Reim könnte man es aber nennen. Sagt ihn, ohne aufzublicken.

Ich starre auf den plötzlich führerlosen Trecker, der immer noch weiter pflügt. Etwas gerät da zwischen die Ackerfurchen. Erschrocken blicke ich Semjon an. Er lässt seine Tränen einfach aus dem Gesicht fallen.

Vater hat den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen und einen Moment lang gewartet.

»Und wenn du ein Hündchen bekommst? Später?«

Ein Hündchen! Ich neige zur Gelassenheit des mittleren Kindes, das Übergangenwerden ist mein natürlichster Zustand, aber hier komme ich an Grenzen. Ich habe eine Mappe voll mit Gedichten unterm Bett, ich habe über zweiunddreißig Gedichte auswendig im Kopf, falls ich mal ins Gefängnis komme, aber nie bot man mir dafür etwas an.

Eine Weile schweigen wir.

Ich frage mich, ob das jetzt etwas mit George Orwell zu tun hat, denn David sagt, wir sind im George-Orwell-Jahr, das dürfe man nie vergessen. Lange habe ich das Kommen dieses Jahres gefürchtet. Nun ist es Herbst, und ich hatte längst die Hoffnung, es sei glimpflich abgegangen.

Vater ist an seinen zuckenden Fingern anzusehen, dass er jetzt sehr gern eine rauchen würde. Aber er ist ein kluger Mann, der sich auf mehreren Ebenen zu beherrschen weiß.

»Jetzt weine doch nicht. Es ist nicht mehr zu ändern, ich habe schon unterschrieben, allein wegen des Geldes.« Das Letzte sagt er nur, weil Mutter nicht dabei ist. Sie verbietet ihm strikt, in unserer Gegenwart über Geld zu sprechen.

»Du machst ihnen Angst«, sagt sie, als hätten wir je wegen Geld Angst. Ich habe Angst, versehentlich mit Hausschuhen in die Schule zu gehen, ich habe Angst, adoptiert zu sein, ich habe Angst vor Eulen. Die Tatsache, dass Vater aus Überzeugung eine winzige Praxis im Arbeiterviertel der nahen Stadt betreibt und dass diese ewigen Besuchstouren über Land der hoffnungslose Versuch sind, einen beträchtlichen Schuldenberg abzutragen, ist uns Kindern nicht bewusst. Nur einmal hatte Mutter sich vergessen und ihr Portemonnaie herbeigeholt, es mit ungewohnter Ungeduld aufgesperrt, einen Fünfzigmarkschein herausgenommen und in bebendem Ernst gesagt, das sei für diesen Monat — er hatte leider gerade erst begonnen — das letzte Geld, was die Bank ihr noch ausgezahlt habe.

»Ich fahre schon in Kürze los«, sagt die Stimme meines Vaters, »und das Hündchen ist ein Versprechen.«

Aber Semjon weint nur weiter auf den Acker.

Es gab nichts Schlimmeres, als wenn Semjon weinte.

Dabei weinten ja eigentlich alle dauernd. Aber wenn er weinte, dann weinte auch alle Treue, alle Sanftmut, alle Ehrlichkeit. Wenn er weinte, dann zog sich die Welt ein wenig zusammen. Dann krümmten sich Schnecken und Käfer und Zaunpfähle in der Nähe ein bisschen.

Eines Nachmittags waren wir von den Balken eines Speichers in die schwarzen Rapshaufen des Nachbarn gesprungen. Wir hatten gespielt, das Ganze seien Berge seidenglatten Dynamits, aus denen man sich, so schnell es ging, herausretten musste, bevor sie in die Luft flogen. Dass ich dreimal so oft sprang wie Semjon und dass wir mit jedem erneuten Sprung unnötig unser Leben riskierten, störte uns nicht. Wir waren sehr laut. Also ich war laut. Meine Kehle und Zunge gaben das Knattern von Maschinengewehren, während unsere Körper unter dem Beschuss zuckten.

Wir waren so vertieft in unser Kämpfen und Sterben, dass wir gar nicht bemerkten, wie sich zwei spuckende und rotzende Dorfjugendliche auf unserem Schlachtfeld postierten.

»He, Tunte!«, sagte der eine plötzlich und boxte Semjon in den Bauch. Der andere lachte.

»Schwuchtel«, sagte der erste und schubste Semjon um. Dann packte er seine Gummistiefel, zog sie ihm aus und wedelte sie über ihm durch die Luft.

»Schwuchtel! Aufstehen, tanzen!«

Das war sehr schnell gegangen. Die beiden standen da und dachten über den nächsten Spruch nach, der irgendwie nicht kam, vielleicht, weil die Reaktion ausfiel. Denn Semjon blieb einfach liegen. Mit dem Gesicht nach unten blieb er liegen und wehrte oder bewegte sich nicht. Er war eben ein Kind von jener freundlichen Natur, die sich widerstandslos erschlagen ließe, käme ihm keiner zu Hilfe.

Im ersten Moment hatte ich gestutzt. Aus dem Gerede der beiden ließ sich immerhin eine überraschende Tatsache heraushören: Wenn ich mich nicht ganz irrte, dann hielten sie Semjon tatsächlich für einen Jungen. Wenn auch für ein Weichei. Immerhin Junge. Das Mädchenhafte an ihm begründeten sie offenbar mit mangelnder Männlichkeit, womit sie im Grunde ja recht hatten. Ihm fehlte genau so viel Männlichkeit wie den beiden ein paar junge Titten. Gern hätte ich Semjon auf diese interessante Verwechslung aufmerksam gemacht, aber Semjon rührte sich nicht, und eine furchtbare Ahnung stieg in mir auf. Dann sah ich dieses leichte Zittern. Ich sah den kleinen Rücken beben und verlor die Herrschaft über meine Stimme. Ich brüllte die Jungen an, brüllte, als ergriffe eine Explosion meinen Körper. Wie sehr man brüllen kann. Dann versagte die Stimme so plötzlich, wie sie angehoben hatte.

»Wir hauen ab!«, zischte ich Semjon zu und schob ihm meine Stiefel an die Füße.

Auf dem Heimweg heulte ich.

»Weinst du?«, hatte Semjon hinter mir leise gefragt.

Glaubst du denn, es ist einfach, dich da draußen zu verteidigen? Hattest du gedacht, dein Holzschwert und der Papphelm reichten dafür aus? Eine Stimme bräuchte man, verstehst du? Eine richtige Stimme. Für immer.

Ich lief ihm auf Strümpfen davon.

Und Vater? Zieht seine Arzttasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes. Eine dicke schwarze Rolle mit Griff. Wenn man sie öffnet, steigt herrlicher Desinfektionsgeruch aus ihr empor. Man blickt in ein Maul voller Halsstäbchen, Kanülen, Gummihandschuhen und Spritzen. Es ist das beruhigendste Maul, das sich denken lässt, und sein interessantester Bewohner ist das graue Stethoskop, mit dem ich schon die halbe Welt abgehorcht habe, vor allem aber mein eigenes, wild schlagendes Herz.

»Bis gleich«, sagt Vater und steigt aus.

Im dunklen Geäst der Buchen meine ich die alten Lungenflügel schwerfällig flattern zu sehen, die rechtzeitig zum Abhorchen ins Haus und in die Bari schlüpfen müssen. Ich frage mich, ob es dort, wo mein Vater mit uns hinwill, etwas wie Moos, Rotbuchen oder Bronchien gibt. Überhaupt etwas mit O.

Endlich öffnet sich die hohe Eingangstür wieder, durch die man leicht ein Kamel führen könnte, und die Bari verabschiedet Vater, der sehr ernst, fast unfreundlich guckt.

»Wie du immer guckst!«, sagt Mutter häufig. Aber er besteht darauf, in seinem Beruf und auch sonst so gucken zu dürfen, wie es ihm gefällt. Die Berge an Schokolade, Schnapsflaschen und mit Schornsteinfegern und glotzäugigen Holzschmetterlingen vollgestopften Blumentöpfen, die er immer wieder mit nach Hause bringt, beweisen wenigstens mir, dass kranken Menschen das ernste Gesicht ihres Arztes nichts ausmacht, falls die Geschenke nicht doch Bitten um ein Lächeln waren.

Vater steigt zu uns in den Wagen. Semjon hält den Kopf immer noch gesenkt. Er hat sich eigentlich die ganze Zeit über kein bisschen bewegt. Hörbar atmet Vater ein und aus.

»Hast du es dir überlegt?«

Da wiederholt Semjon seinen schmucklosen Reim. Leise und deutlich spricht er in unser wartendes Schweigen hinein, sagt leise und deutlich: »Saudi, ie.«

Am Abend sitzen wir am Tisch in der Küche. Semjon ist wieder verstummt. Mutter redet in Hochgeschwindigkeit auf ihn ein und erschafft über Wurst und Käse eine glitzernde Welt aus Gewürzen und farbigen Teppichen.

Wir leben erst seit einem Jahr in dem winzigen, schlecht geheizten Haus, umgeben von einem Garten, in dem unsere mit Gartenbüchern bewaffnete Mutter ein neues Leben nach dem Vorbild Tolstois für sich und uns zu finden gedenkt.

Wir mussten die Großstadt jedoch vor allem verlassen, weil David sich einen Umzugskarton ins Zimmer gestellt hatte und auf winzigen Zetteln Nummernschilder notierte, womit er, wie er verkündete, erst aufhören werde, wenn der Karton voll sei.

»Er verliert den Verstand«, hatte Mutter gesagt und war eine Woche lang durchs Umland gefahren, bis sie das Haus mit Garten gefunden hatte.

Vater gießt sich sein Glas bis an den Rand voll. Als wäre es die letzte kalte Milch und der letzte Entschluss in seinem Leben, sagt er fast dramatisch: »Wir werden nach Saudi gehen. Und wenn es nur für die Sache ist.«

Für den Rest des Abends diskutiert er mit Mutter, die nicht einsehen will, dass sie sich, nur damit er seiner Sache nachgehen kann, unter einen Schleier, und sei er noch so symbolisch, begeben soll.

Diese Sachen meines Vaters sind seit jeher Anlass für ihr Lautwerden. Meistens geht es um Geld. Allerdings geht es selten darum, wie man es bekommt, sondern eher, wie man es zu verstehen habe. Diesmal hat Vater die Vorstellung, eine der Hauptquellen des Geldes sprudle in der Arabischen Wüste, weshalb man versuchen müsse, vor Ort Einfluss zu nehmen und das Verhältnis der Menschen zum Geld, wenn möglich, zurechtzurücken.

»Zurechtrücken!« Mutter fängt fast an zu schreien. »Was willst du denn da zurechtrücken?! Als Arzt?!«

Wenn man den Fluss des Geldes heilen wolle, müsse man an seinen Ursprung gehen, meint er. Mutter schnalzt verächtlich. »Heilen!«

»Ja, heilen«, sagt er, und man hört, wie sehr er versucht, einen beleidigten Ton zu unterdrücken. Denn es handele sich immerhin um ein feudales, im Grunde vorkapitalistisches System, wenn auch unentwirrbar mit dem Kapitalismus verstrickt. Darin sehe er einen Ansatz.

»Ah ja? Und deswegen müssen wir alle umziehen, weil du einen Ansatz siehst?!« Sie beginnt gefährlich nach den Tellern zu greifen und sie wütend aufeinanderzustapeln.

Man müsse auch zu Opfern bereit sein, sagt Vater seelenruhig, und das Öl, und hier verlässt er wohl das Feld kommunistischer Bestellung, sei nur eine andere Erscheinungsform des Geldes. Das Öl sei ein Saft, sozusagen schwarzer Gallensaft, der die Verdauungsprozesse der Erde in Gang halte. Es sei eine Art Blut. Alle gesellschaftlichen Prozesse würden durch dieses Blut ins Fließen gebracht, und so weiter, solange das Blut selbst im Fluss sei. Es dürfe nicht unterschätzt werden, dass die arabische Kultur von ebendiesem Saft eine Schubkraft erhalte, die die Zukunft der Welt entscheiden werde. Es sei der lang gelagerte Saft der Erde, aus dem hier ganze Städte wie überdüngte Saat in den Himmel wüchsen. Städte, die an Größe und avantgardistischem Potenzial bald alle Maßstäbe sprengen würden. Und dann spricht er von den vier Kardinalsäften der alten Griechen, bis Mutter die Küche verlässt.

Kapitel 3

Wenden, 1984

Vater reist im Herbst mit einer Melancholie ab, die noch lange wie Nebel im Haus umherzuziehen scheint. Mit zitternden Lippen sitzt er am letzten Abend am Kopfende des Tisches und rezitiert sein liebstes Gedicht, wie er es jedes Jahr um diese Zeit tut, oft auch bewegt, aber nie so wie dieses Mal: »Herr: Es ist Zeit …«

Immer scheint er sich einer Sache vergewissern zu wollen, die ihm im Alltag leicht auseinanderweht: der wahrhaftigen Größe des Lebens. Meist wird sie von Mutters Urteilslust schnell wieder auf ein handliches Maß zerkleinert. Heute dagegen sieht Mutter hilflos einem wachsenden Problem zu.

David nennt diese jährliche Rezitation das väterliche Memento mori. Ich denke im Stillen: Er fährt aber doch in den ewigen Sommer, es ist also gerade in diesem Jahr nicht so schlimm. Ich habe in meinem jungen Körper noch keine Ahnung davon, was der Herbst mit Menschen anrichten kann.

»Wer jetzt allein ist …«, sagt Vater eben, da greift Mutter nach der Kelle und sieht uns flehend an: »Seid ihr schon satt?«

»Saudi, ie«, sagt Semjon nur und schiebt den Teller weg.

Es war nicht so, dass der Familie die Ferne nicht im Blut gelegen hätte. Schon dass beide Eltern an Flussufern aufwuchsen, hat ihnen das Fernweh von klein auf mit so beharrlichem Strom eingekerbt, dass es sich ohne Zweifel in die Gene gerieben haben muss. Auch fanden sich eine Reihe Weltreisender in der älteren Familie, verschiedene rastlose Großonkels, deren nutzlose Botschaften seit einem gefühlten Jahrhundert aus Übersee oder von anderswo eintrafen. Das ganze Haus quasi mit Onkelheimweh dekoriert. So hing über der Küchentür wie auch über der Kellertür jeweils eine bunt bemalte mexikanische Holzschale von einem Onkel Kalli, im engen Flur fanden sich verschiedene Ikonen von Onkel Richard, in der Diele afrikanische Onkel-Hans-Leuchter und im Wohnzimmer chinesisches Porzellan eines mir unbekannten Absenders. Die Großonkels selbst haben wir nie zu Gesicht bekommen. Es hieß nur, Großmutter habe mit einem Bettlaken am Ufer gestanden und den Dampfern hinterhergewinkt, die ihre hutschwenkenden Brüder mit Tausenden PS aus ihrem Leben trugen. Kurz: Nicht alles sprach gegen die Auswanderungspläne, einzig das Ziel hätte man überdenken können.

Vater nimmt einen frühen Zug. Mutter fährt noch hochtouriger als sonst mit uns vom Bahnhof nach Haus, und es vergehen drei Wochen, bis wir die erste Luftpost erhalten. Ein erschöpft aussehender Briefumschlag mit vier beidseitig beschriebenen Blättern darin, die so durchscheinend sind, dass die Schrift kaum lesbar ist. Mutter entziffert den Brief, richtet uns nur Grüße aus und geht für den Rest des Tages nachdenklich im Haus herum.

Am nächsten Vormittag fährt sie mit uns in die Stadt und lässt Passbilder anfertigen. Zwei Wochen später besitze ich meinen ersten, eigenen grünen Reisepass, aus dem ich mir skeptisch entgegengucke, als habe man meinen kleineren, zweidimensionalen Wesensteil in dieses flache Buch gesperrt.

»Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen …«, liest Mutter am Abend, sie ist erst bei der siebzehnten Nacht, und es bleibt zu hoffen, dass wir noch vor Beendigung des merkwürdigen Buches unserem Vater hinterherreisen werden.

Am Morgen nach der dreiundzwanzigsten Nacht — eine Frau hatte sich mit einem lumpigen Sklaven getroffen, und Mutter hatte offensichtlich einige Stellen beim Lesen umgedichtet, weshalb ich David später bei heimlichen hochroten Nachforschungen erwischte — stellt Mutter einen Koffer auf den Küchentisch.

»Mach auf«, sagt sie zu David. Spöttisch und verlegen öffnet er den Kunstlederkoffer, der zwei Rollen an der unteren Seitenkante aufweist, also hochmodern ist. In seinem Innern steckt ein weiterer, etwas kleinerer Koffer, nach dem ich sofort greife, als mir die Sache klar ist. Natürlich enthält er einen dritten Koffer, aber bevor der sichtbar wird, dreht sich Semjon mit dem Gesicht zur Wand. So bleibt er auch stehen, als ich den kleinsten Koffer neben ihn stelle und David vergeblich versucht, ihm den Vorteil der kleinen Rollen zu erklären. Schließlich beginnt er sogar, leise zu knurren und dann zu bellen, bis Semjon aus der Küche rennt.

In den nächsten Tagen schreibe ich mehrere Packlisten.

»Zu viele Bücher«, sagt David nur. Dabei hat er selbst mindestens zwanzig Bücher bereitgelegt. Das Recht des Erstgeborenen vielleicht. Sein Lesen und mein Lesen sind zwei verschiedene Dinge. Sein Lesen führt in die Welt. Meins aus ihr heraus. Das unterscheidet uns und unsere Rechte.

Ich verbringe den Nachmittag damit, mich nicht entscheiden zu können, welches Buch zu Haus bleibt.

Auf Semjons Packzettel sieht man nichts weiter als einen Hund, den er selbst gemalt hat.

Einige Tage später geht uns Mutter durch die Frankfurter Flughafenhalle voran, während wir ratternd, eine mehrgliedrige Klapperschlange, unsere Koffer hinter uns herziehen und ständig auf Semjon warten müssen, der mit seiner Herde immer wieder weit zurückfällt. Man sieht, wie er, obwohl er den Kopf tief gesenkt hält, nach uns schielt, um uns ja nicht zu verlieren. Mutter zischt Befehle. Beisammenbleiben. Rasten. Weiter. Wir fliegen alle zum ersten Mal, auch General Mama. Sie hat uns eingebläut, mehr als sonst auf Semjon Acht zu geben, schließlich sei er, trotz allem ein … Und dann diese hilflose Handbewegung, als wollte sie etwas in die Luft zaubern, was seinen Auftritt so beharrlich verweigert.