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Manche Versprechen müssen gebrochen werden...
Lucy will in Brighton als Social-Media-Managerin im noblen Ellington Grande Hotel neu anfangen - fernab von ihrer manipulativen Mutter. Ihre Ideen kommen gut an, wäre da nur nicht Barkeeper Kobe, der sich nicht von ihr vor die Kamera zerren lassen will. Er hält ihre Ideen für oberflächlich, sie seine Art für verstaubt. Trotzdem kommen sich die beiden während einer Geschäftsreise nach Schottland näher. Doch Lucy holt genau dort ihr toxisches Familiendrama ein. Kobe will helfen, hat sich nach gescheiterten Beziehungen aber geschworen, niemanden mehr zu retten. Beide müssen lernen, dass Loslassen der einzige Weg ist, um das zu behalten, was man am meisten liebt.
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Ein Neuanfang – das ist alles, was Lucy sich wünscht, als sie nach Brighton zieht. Ein Job als Social-Media-Managerin im luxuriösen Ellington Grande Hotel, eine Stadt voller Licht und Leben, ein bisschen Leichtigkeit. Doch während sie tagsüber perfekte Inszenierungen für die Online-Welt erschafft, holt sie nachts die Realität ein: Die Anrufe ihrer Mutter, die immer häufiger zur Flasche greift und Lucy in alten Mustern gefangen hält.
Und dann ist da noch Kobe – der Barkeeper mit verwegenem Lächeln, unverschämt schönen Unterarmen und einem frustrierenden Unwillen, sich vor Lucys Kamera zu stellen. Trotz ihrer ständigen Wortgefechte lässt sich die surrende Spannung zwischen den beiden kaum ignorieren. Als eine Geschäftsreise nach Edinburgh sie zwingt, sich eine Suite zu teilen, verschwimmen die sorgsam gezogenen Grenzen. Doch ausgerechnet dort holt Lucys Vergangenheit sie ein – und mit ihr die Angst, alles zu verlieren. Kobe hat sich geschworen, nie wieder jemanden zu retten, der nicht bereit ist, für sich selbst einzustehen. Lucy kämpft mit der Versuchung, sich kleinzumachen, um den Frieden zu wahren. Doch was, wenn genau das bedeutet, sich selbst zu verlieren? Denn manchmal ist Loslassen der einzige Weg, um das zu behalten, was man wirklich liebt.
Zur Autorin
Katharina Katz ist Autorin, Schreibcoach und Ghostwriterin. Neben ihren eigenen Buchveröffentlichungen lektoriert sie Sachbücher und Ratgeber für Verlage wie Droemer Knaur, Gräfe und Unzer, Piper und Edel. In ihren Schreibwerkstätten unterstützt sie angehende Autor:innen bei der Ideenentwicklung, beim Plotten und beim Schreiben ihres Exposés.
Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg, liebt Franzbrötchen, Städte am Wasser – und natürlich das Schreiben.
Katharina Katz
Keep it like a Promise
Healthy Romance
GU | reverie
Originalausgabe
© 2025 GU bei reverie in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung: Ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel
Covermotivmotiv: iStockphoto
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783745705386
reverie-verlag.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Autorin und des Verlags bleiben davon unberührt.
Ramones – Sheena is a Punkrocker
Taylor Swift – Wildest Dreams
Shawn Mendes – In My Blood
Miles Davis – So What
David Bowie – Rebel Rebel
Keane – Somewhere Only We Know
Chet Baker – Let’s Get Lost
Spice Girls – If you wanna be my lover
Sexpistols – God Save the Queen
Billy Joel – Vienna
Coldplay – Christmas Lights
Ed Sheeran – Perfect
Taylor Swift – Lover
Florence + The Machine – Dog Days Are Over
Rod Stewart – Brighton Beach
The Kooks – Seaside
Liebe Leser:in,
ich freue mich von ganzem Herzen, dass du gerade dieses Buch in den Händen hältst. Die Geschichte von Lucy und Kobe ist romantisch, voller Gilmore Girls-Vibes und schneller Dialoge. Aber sie behandelt auch ernste Themen. Daher ein wichtiger Hinweis vorab: Es ist möglich, dass mein Buch Aspekte enthält, die dich belasten. Deshalb findest du auf Seite 377 eine Info zu den sensiblen Themen und passende Hilfsangebote. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Die psychologischen Ratschläge in meinem Buch, die dazu dienen, meinen Charakteren das Leben zu erleichtern, wurden von der Psychologin Pia Kabitzsch sorgfältig geprüft. Danke für deine Unterstützung!
Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen – pass gut auf dich auf!
Deine Katharina
TEIL 1
Versprechen, die wir anderen geben
Jeder Mensch gibt im Laufe eines Tages eine Vielzahl von Versprechen, sei es bewusst oder unbewusst. Diese Versprechen können von kleinen, alltäglichen Verpflichtungen bis hin zu wichtigen Zusagen reichen.
Der direkte Blickkontakt während eines Versprechens erhöht die Wahrscheinlichkeit der Einhaltung. Vielleicht ist das der Grund, warum die wichtigsten Versprechen unseres Lebens – Ehegelübde, Freundschaftsschwüre, letzte Worte – fast immer von Angesicht zu Angesicht gegeben werden.
Lucy
Fucking hell, wo bin ich hier nur gelandet?! Ich schiebe mich durch die elegante Drehtür des Ellington GrandeHotels. Aus meinen Kopfhörern dröhnt harter Punksound. In der imposanten Empfangshalle thront ein riesiger Kronleuchter über dem blank geputzten Marmorboden. Der Soundtrack auf meinen Ohren fühlt sich plötzlich fremd an, er passt nicht in diese Umgebung, wirkt so falsch wie ein Hering in einem Marmeladenglas. Ich sehe mich in der Spiegelung der Scheibe, mustere mich. Bin ich auch ein Hering? Passe ich hierher? Ich bin kurz davor, die Drehung der Tür zu vollenden und direkt wieder raus auf die Straße zu laufen. Dort verschwindet die Sonne orangerot im Meer. Ich könnte einfach wieder hinausmarschieren, die Seafront entlang zur Bushaltestelle und ab nach Hause. Aber das geht nicht. Denn wenn alles gut läuft, wird dieser Hering in Zukunft viel Zeit in diesem schicken Marmeladenglas verbringen. Zumindest wenn er sich traut, jetzt durch diese Tür zu treten.
Du wolltest doch eine Veränderung, gebe ich mir selbst einen Schubs, und im nächsten Moment landen meine schwarzen Boots auf dem edlen Marmorboden der Hotellobby. Ich blicke mich suchend um. Über mir baumelt der wahrscheinlich tonnenschwere Kronleuchter, links von mir steht eine Rezeptionistin hinter einem dunkelbraunen Mahagonitresen. Ich lächle. Bloß nicht direkt negativ auffallen. Rechts von mir sitzen zwei Anzugtypen in schweren Ledersesseln vor einem gigantischen Kamin. Direkt dahinter befindet sich eine elegante Bar. Unschlüssig bleibe ich stehen. Ich wollte mir den Ort, an dem ich morgen das wohl wichtigste Vorstellungsgespräch meines bisherigen Lebens haben werde, vorher zumindest einmal ansehen, die Atmosphäre auf mich wirken lassen. Ich hatte sogar überlegt, das Spa zu testen, aber bei den Preisen für Tagesgäste bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Ein Vibrieren in meiner Tasche kündigt eine Nachricht an. Ich greife schnell nach meinem Handy und setze die Kopfhörer ab.
VIOLET
Naaaa, wie läuft es in dem Luxusschuppen, lässt du dich im Spa schön durchkneten? Hoffe, du bist gut angekommen. Vermiss dich schon. Ohne dich ist dieses Kaff noch langweiliger. XX Vio
Ich lächle. Meine beste Freundin Violet ist nie aus Musselburgh weggegangen und wird es wahrscheinlich auch nie tun. Trotzdem war sie meine größte Supporterin, als ich mich nach dem wohl schlimmsten Jahr meines Lebens in Brighton, sieben Zugstunden entfernt von Musselburgh, beworben habe.
LUCY
Spa-my-ass! Wenn du die Preise gesehen hättest, Vio! Das ist echt mal ne ganz andere Nummer als in Musselburgh. Aber vielleicht reicht es für ein Getränk an der Bar. Ich will nur die Atmosphäre ein bisschen aufsaugen. Vermiss dich auch! XX Lucy
Ich schlendere auf die elegante Bar zu. Dort sitzt bereits ein Gast, der mich jedoch geflissentlich ignoriert. Er schaut nicht einmal auf, als ich an die Bar trete. Soll mir recht sein. Ich nehme mir eine der dicken, in Leder gebundenen Barkarten und lasse mich auf den Hocker direkt neben der kleinen Klapptür fallen, durch die Drinks und Bestellungen gebracht werden. Ich blättere die Karte auf. Allein die Whiskyauswahl umfasst schon mehrere eng beschriebene Seiten. Danach folgen Gin, Rum und Tequila. Mein Herz klopft einen Tick zu schnell, als meine Augen über die Namen der Spirituosen fliegen. Tanqueray, Hendrick’s, Gordon’s, alte Bekannte, die ich gern eine Weile nicht mehr sehen gesehen hätte. Ich blättere immer schneller. Irgendwo muss es hier doch auch einen Kaffee geben?
»Eine Spicy Margarita und einmal den Tapasteller mit Käse aus der Region, hausgemachten Cremes, Oliven aus Griechenland und einer Auswahl an spanischen Schinken für den Herrn«, höre ich in dem Moment eine dunkle Stimme. Sie gehört zu dem Barkeeper, der gerade mit einem Teller voller Käse, Wurst, Oliven und anderen Leckereien aus einer Tür aufgetaucht ist, die wahrscheinlich mit der Küche verbunden ist. Mein Magen knurrt. Aber eine Tapasplatte sprengt definitiv mein Budget. Als der Anzugträger aufblickt und mich irritiert ansieht, wende ich den Blick schnell ab. Nicht dass er mein Starren noch auf sich und nicht auf seine Bestellung bezieht. Um mich herum dudelt seichte Musik aus den Lautsprechern, das Lederpolster auf meinem hohen Barhocker knarzt, als ich mich nach vorn beuge, um einen weiteren Blick in die Karte zu werfen. Ich bin inzwischen bei den Cocktails angelangt. Auch hier erschlägt mich die Auswahl. Seiten über Seiten mit fancy Namen. Einige klingen mehr wie aufwendige Desserts als nach einem Drink. Wieder knurrt mein Magen.
Ich war lange nicht mehr in einer Bar. Seit … seit der Sache eben. Seit der Rückkehr nach Musselburgh vor einem Jahr. Seit einem sehr verregneten Freitag, der alles verändert hat. Meine lockere Flirterei mit Sam und die meisten meiner Freundschaften. Puff. Einfach verschwunden. Überraschend, wie schnell so etwas doch gehen kann.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen, Miss?«, unterbricht eine Stimme meine Gedanken. Vor mir steht der große Kerl in einem edlen weißen Hemd und eleganten Hosenträgern, der eben den Tapasteller serviert hat. Er poliert gerade ein Glas und hat offensichtlich nicht allzu viel zu tun, die Bar ist um diese Zeit ziemlich leer. Seine kurzen dunklen Locken liegen akkurat am Kopf, das weiße Hemd bildet einen schönen Kontrast zu seiner dunklen Haut.
»Was habt ihr denn so an alkoholfreien Cocktails?«, frage ich, einem plötzlichen Impuls folgend, und mustere ihn unauffällig weiter. Dunkle Augen in einem scharf geschnittenen Gesicht, in dem gerade eine Augenbraue Richtung Stirn wandert. Typisch. Ich sehe eher aus wie jemand, der drei Pints und vier Schnäpse bestellt. Herausfordernd schaue ich ihn weiter an. Er rattert seine Liste an alkoholfreien Drinks herunter und mein Blick fällt erneut auf den Cocktail des Anzugträgers. So muss ein Drink aussehen. Warum sehen alkoholfreie Drinks immer aus, als wären sie für einen Kindergeburtstag entworfen?
»… Und dann haben wir noch einen Virgin Piña colada«, beendet der Barkeeper gerade seine Aufzählung. Ich seufze. Es ist doch immer die gleiche Auswahl. Aber jetzt doch nur einen Kaffee zu bestellen, kommt mir auch komisch vor.
»Ich nehme den ersten«, sage ich, ohne mich zu erinnern, was er überhaupt als Erstes aufgezählt hat.
Mein Blick wandert durch die großzügige Lobby, in der das Kaminfeuer prasselt – ein Gasfeuer, keines mit Holz, wie wir es in Schottland in unserem Haus hatten. Gasfeuer sind Illusionen. Man meint, eine Wärme zu spüren und ein Knistern zu hören, aber eigentlich ist es einfach nur Gas, das verbrennt. Die Lobby hat hohe Decken, von denen der beeindruckende Kronleuchter herabhängt. Ab und zu treten Menschen mit wahnsinnig teuer aussehenden Koffern durch die gläserne Drehtür. Und sofort eilt einer der Pagen mit diesen lustigen kleinen Mützen herbei, um das Gepäck der Herrschaften in einen goldenen Kofferwagen zu laden. Die schwere Eichentheke vor mir ist frisch poliert. Meine Hand fährt über das Holz, das wahrscheinlich Jahrzehnte an Bargeschichten erzählen könnte. Von lauten Streiten und leisen Versöhnungen, von dunklen Geheimnissen und dem hellen Lachen unbeschwerter Abende mit Freundinnen. Noch immer dudelt irgendeine Pianomusik. Dem Klavier in der Ecke nach zu schließen, kommt die hier sonst nicht vom Band. Schade eigentlich, ich mag Livemusik, egal welche. Ich sehe, dass jemand sehr viel Zeit investiert hat, um ein Instrument zu lernen, und diese Kunst jetzt zum Besten gibt. Wie kann man dafür keine Anerkennung aufbringen? Nur, weil es vielleicht nicht dem persönlichen Geschmack entspricht.
»Ein Virgin Mojito«, ertönt die dunkle Stimme erneut und der Mann stellt ein hohes Glas mit einer trüben Flüssigkeit und einem halben Minzstrauch darin vor mir ab. Ich nippe und seufze. Zuckerwasser mit ein bisschen Limette und Minze. In solchen Momenten wünschte ich fast, doch wieder Alkohol zu trinken, aber ich weiß, was der mit einem anstellen kann, und das ist mir auch der beste Cocktail nicht wert. »Stimmt etwas nicht, Miss?«, fragt mich der Barkeeper. Ich blinzele, war in Gedanken. Der Kerl erinnert mich an jemanden. Aber an wen? Jemand Berühmten. Ich komm nicht drauf. Das wird mich jetzt den Rest des Abends beschäftigen, ich hasse es, wenn mir so etwas auf der Zunge liegt. Ich kann ihn ja schlecht fragen. Oder? Er sieht mich weiterhin auffordernd an. Wem siehst du ähnlich? Komm schon, Lucy, feuere ich mich an, während ich ihn wahrscheinlich ein wenig zu lange anstarre, als dass es noch schicklich in diesen Kreisen ist. »Ihr Drink, Miss, stimmt damit etwas nicht?« Ups.
Ich atme aus. »Danke, damit ist alles gut. Na ja, so gut wie ein Virgin Mojito eben sein kann.« Halt, stopp! Ich will die Worte aufhalten, zurück in meinen Mund stopfen. Warum? Warum kannst du nicht ein Mal die Klappe halten, Lucy?
»Möchten Sie etwas anderes probieren?«, fragt er.
»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, sind die alkoholfreien Drinks auf diesen Barkarten doch immer gleich, Virgin irgendwas, irgendeine Abwandlung eines Drinks, der am Ende aus Zuckersirup, irgendeinem Saft, Kräutern oder Sahne besteht. Aber ich habe mich schon dran gewöhnt.«
Er sieht mich an. »Wie wäre es, wenn ich noch etwas in der Hinterhand habe, das noch nicht auf der Karte steht?«
»Ich höre …«, sage ich und lächle ihn an. Lucy! Flirtest du gerade mit dem Barkeeper? Lass das sein! Sofort zwinge ich meine Mundwinkel in eine neutrale Position.
»Wenn du dir einen Drink aussuchen könntest, welcher wäre es?«, fragt er mich und hört endlich auch damit auf, mich »Miss« zu nennen.
Ich zögere kurz, dann nicke ich mit dem Kopf in Richtung des Anzugträgers. »Eine Spicy Margarita.«
»Das dachte ich mir fast, so wie du da rübergeschielt hast.«
»Vielleicht will ich mir ja den Kerl klarmachen und interessiere mich gar nicht für den Drink?«, frage ich provozierend. Ein leises Lachen rutscht ihm heraus. Das Geräusch ist auf irritierende Art sexy, fast so sehr wie der Umstand, dass er völlig aus seiner professionellen Rolle gefallen ist. Er beugt sich leicht über den Tresen.
»Natürlich, das ist genau der Vibe, den du aussendest, ich bin mir sicher, er hat es auch gespürt und wartet nur darauf, dass du dich zu ihm setzt.« Er zwinkert mir zu.
Als wir beide zu dem Anzugträger hinüberblicken, steht der gerade auf und legt einen Schein neben sein Glas. »Danke, Kobe, das war wie immer ein wundervoller Drink.«
»Mr. Baker, es ist immer eine Freude, Sie bei uns zu begrüßen«, beeilt er sich zu sagen.
Der Typ steht auf und geht zu den Fahrstühlen, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Oh ja, euch steht eine große Zukunft bevor«, murmelt der Barkeeper, der anscheinend Kobe heißt, während er das großzügige Trinkgeld in seinem Glas verschwinden lässt und mich verschmitzt angrinst. Jetzt muss auch ich lachen. »Schön, es war vielleicht doch mehr sein Drink als sein betörend offenes Wesen.«
Wieder gluckst er. Dann verschwindet sein Kopf unter der Theke und taucht Sekunden später mit einer Flasche in der Hand wieder auf. »Du hast Glück, ich habe gerade gestern eine Lieferung mit hervorragenden alkoholfreien Spirituosen bekommen. Ich habe lange gesucht, weil ich wirklich gutes Zeug haben wollte. Und ich würde diesen alkoholfreien Sunpero Tequila für dich ausprobieren und eine Spicy Margarita damit mixen.«
»So etwas Aufregendes hat lange niemand mehr zu mir gesagt«, antworte ich mit einer extra rauchigen Stimme. Das hier ist nur Spaß, ein Geplänkel. Und doch bleiben unsere Blicke kurz aneinander hängen. Eine ganz kleine, fast gar nicht zu spürende Gänsehaut überzieht meinen Nacken. Er beißt sich unbewusst leicht auf die Lippe. Seine vollen Lippen. Ich schüttle den Kopf, jetzt reicht es wirklich.
»Na dann, lass uns dein Leben mal noch ein wenig aufregender machen«, sagt dieser Barkeeper, der mich mehr aus dem Konzept bringt, als er es sollte, und sieht mich wieder mit diesem Blick an, der mir durch und durch geht. Flirtet er etwa auch mit mir?
Er gibt Ahornsirup, den alkoholfreien Tequila und klein geschnittene Jalapeños in den Shaker, darüber presst er den Saft einer halben Limette aus. Er setzt den Deckel auf den Shaker und beginnt, die Mischung seitlich von seinem Körper zu schütteln. Die Muskeln auf seinen Unterarmen treten hervor und er sieht dabei so lässig aus, dass ich schnell wegschaue. Als er mir den eiskalten Drink vorsichtig in das Margaritaglas füllt, damit der Salzrand keinen Spritzer abbekommt, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wegen des Drinks – versteht sich. Diese Margarita sieht genauso gut aus wie das alkoholische Original, nur die Optik ist etwas … schlicht. Mein Blick bleibt hängen und irgendwas setzt sich in meinem Kopf in Gang. Wenn sie ein bisschen mehr nach Instagram aussehen würde, wenn man die Zutaten, die Besonderheit dieses Drinks direkt erkennen würde, könnte das richtig gut funktionieren. Man müsste nur … Kurzerhand drücke ich mich von meinem Hocker hoch und greife über den Tresen. Dort ist eine Reihe frischer Kräuter in Töpfen aufgebaut, aber meine Hand sucht etwas anderes.
»Kannst du mir mal sagen, was das werden soll?«, fragt eine dunkle Stimme. »Du kannst doch nicht einfach …«
Zu spät, ich habe schon, was ich wollte. Eine kleine Chilischote, die ich andrücke und dann in den Drink fallen lasse, jetzt noch ein paar Tropfen von dem Ahornsirup, die dekorativ vom Rand in das Glas laufen … »Hey!«, sagt er, als meine Hand erneut über seine Bar greift, und hält meinen Arm fest. Vorsichtig. Trotzdem zucke ich zurück. Nur ganz kurz, aber es reicht, um das Glas neben mir anzustoßen. Mit einer schnellen Geste greift er über die Bar und hält den Drink davon ab, sich komplett über die Bar zu verteilen. Dabei ist sein Gesicht plötzlich ganz nah an meinem. Es ist wie in einem dieser Slow-Mo-Momente aus Filmen, das Licht ist golden, wir sehen uns in die Augen, um uns herum läuft alles im normalen Tempo weiter, nur für uns bleibt die Zeit stehen. »Das war knapp«, sagt er und lächelt. Und … der Moment ist vorbei. Auch das Licht ist nicht mehr golden, sondern maximal etwas gedimmt. Ich schlucke. Schnell nehme ich das Glas und setze es an die Lippen. Schärfe durchzieht meine Mundhöhle. Richtig viel Schärfe. Es ist, als würde ich mit voll Speed direkt in eine Chili beißen.
»Alles okay?«, höre ich eine Stimme, kann jedoch kaum etwas erkennen, so sehr tränen meine Augen. Ich versuche, das Brennen in meinem Mund zu ignorieren. Dabei ist die Kombination eigentlich genial. Wenn mein Mund nicht so brennen würde, könnte ich die Schönheit des Drinks genießen. Er ist scharf, süß, sauer und der alkoholfreie Tequila gibt dem Ganzen eine Würzigkeit, die gefälliger ist als der oft brennende Alkohol. »Scharf«, bringe ich heraus und wische mir über die Augen. Ein Lächeln zuckt um seinen Mund, ein Grübchen kommt zum Vorschein. Er kämpft mit sich, mit seiner professionellen Fassade, und ich mit mir und dem plötzlichen Feuer in meinem Mund. Blinzele die Tränen weg, die die Schärfe mir in die Augen treibt. Er schiebt mir ein Glas Milch über die Theke. »Du hast die schärfste Chilischote in den Drink geworfen, die ich dahatte. Eigentlich ist der Drink nicht so scharf. Aber hey. Ich bin ja nur der Barkeeper, was weiß ich denn schon, wie man einen Drink mixt. Da ist es viel besser, einfach über die Theke zu greifen und das reinzuschmeißen, worauf man gerade so Bock hat. Ohne den Drink überhaupt probiert zu haben.« Er schiebt das Milchglas weiter zu mir hinüber und grinst breit. »Geht aufs Haus!« Damit dreht er sich um und bedient einen neu hinzugekommenen Gast am anderen Ende der Bar.
So leicht gebe ich nicht auf. Ich hatte gerade eine Eingebung für meinen Termin morgen. Für das Bewerbungsgespräch als Social-Media-Managerin des Ellington Grande Hotels soll ich eine Kampagne präsentieren, mit der man das Hotel neu und frisch in den sozialen Medien positionieren könnte. Ich hatte eigentlich das Spa im Auge, so richtig zündend waren meine Ideen bisher jedoch nicht. Aber das hier könnte wirklich etwas sein. Ich sehe den Slide schon vor mir: »Alkoholfreie Cocktails, keine Alternative, sondern der Grund zu kommen.« Das wäre mal etwas Besonderes. Alles, was ich dafür brauche, ist ein richtig gutes Bild von einem der neuen Drinks. Am besten von der Spicy Margarita. Ein Bild und ich haue ab. Baue die Präsentation und alles wird gut. Ich atme durch, trinke die Milch in einem Zug aus und warte, bis Kobe erneut zu mir kommt.
»Geht es wieder?«, fragt er grinsend.
»Du hättest ruhig früher was sagen können«, sage ich und beiße mir auf die Zunge. Stopp, Lucy! »Egal. Sag mal, ist vielleicht noch etwas von der alkoholfreien Margarita übrig?«, frage ich und deute auf den Shaker in seiner Hand. »Ich würde sie doch gern noch mal ohne extra Schärfekick probieren«, sage ich und lächle gegen die Restschärfe in meinem Mund an.
»Sorry«, sagt er und zeigt mir den Rest einer dunklen, sahnigen Flüssigkeit in dem Gefäß. Offensichtlich von dem Drink, den er gerade für den Gast am anderen Ende der Bar gemixt hat.
»Du hast nicht zufällig Lust, noch mal eine Margarita zu machen?«
»Lässt du sie dann so, wie ich sie mache? Ohne Herumpfuschen?«, fragt er und zieht seine rechte Augenbraue hoch.
»Ich wollte sie nur ein wenig … perfektionieren«, sage ich und beiße mir auf die Zunge.
Seine rechte Augenbraue schießt erneut nach oben. »Ohne sie überhaupt zu kosten? Salzt du im Restaurant auch nach, ohne probiert zu haben?«
»Es ging ja gar nicht um den Geschmack«, erwidere ich.
»Ach nein? Und was hat dir dann nicht gepasst?«, fragt Kobe, und ich spüre, dass er seinen Ärger inzwischen nur noch mit Mühe zurückhält. »Wir haben hier keine Selbstbedienung, das ist nicht der Local Pub um die Ecke.«
Hätte er besser nicht gesagt. »Ach so, entschuldige bitte, da habe ich mich wohl in der Tür geirrt«, patze ich. »Dafür sehen die Drinks hier aber haargenau so langweilig aus.« Ach Mann, ich wollte doch nicht so schnippisch sein. Aber dieser Kommentar hat mich einfach auf dem falschen Fuß erwischt.
Seine Augenbraue wandert in Richtung Stirn. Das kam nicht gut an.
»Du meinst, hier gibt es die gleichen Drinks wie im King’s Arms? Dann hast du echt noch weniger Ahnung, als ich dachte.«
»Das habe ich nicht gesagt. Sie schmecken fantastisch, sind anscheinend echt kreativ, was die Zutaten betrifft, sie sehen aber überhaupt nicht danach aus. Auf Instagram …«, ich schwimme, versuche, die Situation noch irgendwie zu retten.
»Auf Instagram?!«, fragt er, inzwischen etwas lauter. »Das sind Drinks, keine Fotomodels, die müssen nicht auf Instagram gut aussehen, sondern hier, in der Bar, wenn die Leute sie genießen. Aber hey, wenn du meinst, dass du es besser kannst, mach du dir deine Drinks doch gern selbst. Zu Hause. Aber nicht in meiner Bar.« Er dreht sich um und räumt etwas in das Regal hinter sich.
Shit. Shit. Shit. Das läuft gar nicht gut. »So habe ich das nicht gemeint. Sorry. Ich wollte nur …«
Ja. Was wolltest du denn eigentlich nur, Lucy? War der Plan nicht, du gehst heute Abend in das Hotel, in dem du morgen ein Vorstellungsgespräch hast, damit du schon mal eine Vorstellung hast, wie es hier aussieht, damit du es fühlst, und dann gehst du nach Hause und beendest den Pitch? Du hattest doch einen Plan! How to make Ellington Grande Hotel hip again? Und was machst du? Legst dich direkt mit dem ersten Mitarbeiter an, der dir über den Weg läuft. Und dann noch mit einem, der dir unter anderen Umständen vielleicht gefallen hätte, setze ich in Gedanken hinzu. Schüttele dann aber den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
»Darf ich es dir zeigen?«, frage ich in einem letzten verzweifelten Versuch. Ich brauche einfach nur ein gutes Foto von diesem Drink. Ich atme ein und aus. Mustere ihn noch einmal. Dabei fällt mir das kleine, unauffällig angebrachte Namensschild auf. Kobe. Richtig, so hat ihn der Anzugtyp vorhin genannt.
»Kobe?«
Er zuckt zusammen, als ich ihn mit seinem Namen anspreche. »Pass auf, ich will dir nichts Böses, okay?«
»Und was willst du dann …?«, fragt er und das Lächeln in seinen Augen ist zurück. Und da fällt es mir ein. Simon Bassett! Er sieht aus wie der Duke of Hastings aus der Bridgerton-Reihe, die meine Mutter so gern gesehen hat! Das war unser Ding, bevor … Egal, nicht daran denken. Aber er sieht dem Schauspieler tatsächlich sehr ähnlich. Kurz flackert die Szene, in der Simon Bassett einen sehr durchtrainierten Oberkörper auf dem Screen präsentiert hat, durch meinen Hinterkopf. Und ganz kurz überlege ich, ob es unter diesem weißen Hemd vielleicht …
»Hey, noch da? Wie geht es denn jetzt weiter? Du wolltest mir doch etwas zeigen«, unterbricht Kobe mich genau im richtigen Moment, bevor meine Gedanken an einer Stelle abbiegen, die ich noch viel weniger gebrauchen kann.
»Würde ich ja gern. Ein neuer Drink wäre allerdings ein guter Anfang«, sage ich und lächle ihn an. »Komm schon, die Idee ist gut, lass mich einfach dieses Bild machen, danach bist du mich los. Versprochen.«
Kobe
Verstohlen mustere ich sie. Ein dunkler Bob umrandet ihr herzförmiges, blasses Gesicht. Ihre Nase ziert ein schmaler, silberner Ring und aus dem schwarzen Oberteil ranken dunkle Linien auf heller Haut. Sie trägt einen schwarzen, kurzen Rock, dazu derbe Springerstiefel. Alles an ihr schreit: Ich bin unangepasst, ich gehöre hier nicht her! Denk bloß nicht, ich stehe auf so einen Spießerscheiß! Nur noch der eine Drink und sie haut ab. Aber will ich das? Irgendwas an ihr fasziniert mich. Bevor ich sie weiter anstarre, beginne ich, meine Gläser zu polieren.
Ich verstehe ihren Punkt. Optik ist wichtig. Aber verdammt, das ist hier eben kein hipper Schuppen in den Lanes, wo das Szenepublikum in seinen coolen Klamotten trendy Drinks schlürft, und jedes Gericht, jeder Drink, sogar der verdammte Brotkorb wird danach auf Social Media geteilt. Das Ellington Grande Hotel ist ein altehrwürdiges Hotel mit einer jahrhundertealten Geschichte. Tradition wird hier großgeschrieben. Auch wenn der neue Marketingchef neulich irgendwas von instagramable gefaselt hat. Was auch immer das heißen soll. Sie sieht mich noch immer mit diesem durchdringenden Blick an.
»Und? Mischst du mir jetzt noch mal eine Spicy Margarita, damit ich dir zeigen kann, wie gut der Drink aussehen kann, wenn man ihn richtig präsentiert?« Sie legt den Kopf schief und sieht mich an. Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder. Ich bin sonst nicht um eine Antwort verlegen, aber gerade fällt mir nichts ein.
»Nicht? Dann muss ich mir den Drink wohl selbst mischen«, sagt sie, und bevor ich überhaupt realisiere, was passiert, lässt sie sich von dem Barhocker gleiten, geht durch die kleine Schwingtür in der Theke und steht plötzlich neben mir. Sie ist kleiner, als ich dachte. Die Wolke eines blumigen Duftes zieht zu mir herüber, als sie sich an mir vorbeidrängt. »Darf ich mal?«, fragt sie. Wobei die Frage eindeutig rhetorisch gemeint war. Ich habe noch immer nichts gesagt. Mein Mund ist trocken und leer und ich habe keine Ahnung, was ich von all dem halten soll und was diese Frau mit den durchdringend blauen Augen hier neben mir zu suchen hat.
Die Bar ist für einen Donnerstagabend ziemlich leer. Die lange Holztheke ist verwaist, lediglich vor dem Kamin sitzen zwei Männer in Anzügen und sind in ein intensives Gespräch vertieft.
»Kannst du mir mal verraten, was das werden soll?«, finde ich endlich meine Sprache wieder.
»Na, ich mische den Drink selbst, hast du doch gesagt! Welchen alkoholfreien Tequila hast du verwendet?«
Sie sieht mich von unten an. Sie hat unglaublich lange Wimpern. Jetzt schiebt sie ihre Ärmel hoch und tatsächlich sind beide Unterarme voller kleiner, dunkler Zeichnungen. Ich sehe eine Zitrone, Kräuter, die sich Richtung Ellenbogen ranken und … »Sind das Fischstäbchen?«, platze ich heraus, während ich noch immer ihren Arm mustere, der an MEINEM Brett mit MEINEM Messer gerade Jalapeños klein hackt.
Sie grinst mich an. »Klar, wer mag schon keine Fischstäbchen?«
Was soll ich dazu sagen? »Kannst du jetzt bitte hinter meiner Theke verschwinden? Ich mach dir den blöden Drink, aber du hast hier aus Hygienegründen nichts zu suchen. Hast du dir überhaupt die Hände gewaschen, bevor du meine Sachen angefasst hast?«
Lucy sieht mir tief in die Augen, legt das Messer zurück auf das Brett, ihre Hände nähern sich mir. Ich weiche einen Schritt zurück, was soll denn das jetzt werden? Aber da hat sie sich schon das Geschirrtuch, das in meinem Hosenbund steckt, geschnappt und wischt doch tatsächlich ihre Finger daran ab! Ein Kribbeln macht sich auf meiner Haut breit. Nah. Zu nah.
»RAUS!«, sage ich lauter als beabsichtigt, um das Rauschen in meinen Ohren zu übertönen, das von meinem Herzschlag kommt, und schiebe sie unsanft durch die Schwingtür zurück auf die andere Seite der Bar. Sie lässt sich auf ihren Barhocker plumpsen und grinst mich an.
»Danke«, sagt sie und besitzt die Frechheit, mir zufrieden zuzulächeln. Seufzend nehme ich den Jalapeño, den alkoholfreien Tequila, Ahornsirup und Limettensaft und shake das Ganze einmal ordentlich durch.
»Warte«, sagt sie, als ich mir ein Glas schnappe. »Als Erstes der Salzrand, dann lass ein kleines bisschen Ahornsirup innen herunterlaufen, dann gibst du eine ganz kleine Chili in das Glas und gießt vorsichtig die Margarita an.«
»Ich fasse nicht, dass ich das tue, aber du gibst sonst keine Ruhe, oder?«, frage ich und überreiche ihr wenig später den fertigen Drink.
Sie stellt das Glas direkt unter die Lampe, die über der Theke hängt, sodass das Licht von oben hineinscheint und den Drink erstrahlen lässt. Dann holt sie ihr Smartphone hervor, das in einer Hülle steckt, die wie eine Spiegelreflexkamera aussieht, und macht ein Bild. Sie ist konzentriert, richtet den Drink immer wieder neu aus. Ich betrachte sie fasziniert. Ihre Arbeit ist meiner gar nicht so unähnlich, bei beiden geht es darum, das Beste aus dem herauszuholen, was gegeben ist. Jetzt nickt sie und streckt mir das Handy erwartungsvoll entgegen. Und wirklich, man sieht die leicht goldene Spur des Ahornsirups, um die Chilischote haben sich kleine Luftbläschen gebildet und der Drink sieht einfach großartig aus.
»Ganz nett«, brumme ich.
»Ganz nett? Das ist ja wohl der Hammer. Glaub mir, wenn du solche Drinks auf Instagram zeigst, rennen euch die Leute die Bude ein.«
»Danke, ich finde es aber schöner, wenn Leute herkommen, weil die Drinks schmecken, und nicht, weil sie besonders fotogen sind«, antworte ich.
»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, sagt sie und nimmt einen Schluck von der Margarita. Diesmal bleibt ihre Gesichtsfarbe gleich. »Süß, sauer, genau richtig scharf, diese Kombination ist wirklich genial«, murmelt sie.
»Danke, das freut mich zu hören. Nicht nur schön anzusehen, sondern auch gut. Und ich gebe zu, die Idee mit der Chili im Glas war vielleicht nicht total blöd. Solange man die richtige Sorte erwischt«, sage ich grinsend und beuge mich runter, um die piepende Spülmaschine auszustellen.
»Fein, Gleichstand, 1:1«, sagt sie. Dann wirft sie einen Blick auf ihre Uhr auf dem Handy und zuckt zusammen. »Shit, schon so spät.« Sie steht auf, nimmt ihre Jacke und zwinkert mir noch zu. »Bye, Kobe, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
Ich habe in zwanzig Minuten Feierabend und etwas in mir würde den Schlagabtausch gern weiterführen, diese kribbelige Stimmung zwischen uns war … gut. Aber ich bin nicht der Typ Barkeeper, der seinen Arbeitsplatz nutzt, um Mädels abzuschleppen. Hier nicht und auch sonst nicht.
»Du lernst gar keine Mädels mehr kennen«, höre ich meinen Bruder sagen, der mir schon seit Ewigkeiten damit in den Ohren liegt, endlich mal auf ein Date zu gehen. »Knutsch mal, sei locker, du bist nur einmal jung. Und die Sache mit Emilie ist nun wirklich lang genug her!« Ich zögere. Meine Hand liegt auf der Bar, als wollte ich mich festhalten. Sie ist schon kurz vor der Drehtür, noch vier Schritte, und sie ist ganz verschwunden. Einem Impuls folgend, rufe ich ihr hinterher: »Hey!« Ich hebe dabei die Hand. Warum eigentlich? Um auf mich aufmerksam zu machen? Ich bin mit meinen 1,90 Meter hinter der Bar eigentlich nicht zu übersehen. »Ich weiß nicht mal, wie du heißt!«, rufe ich und nehme die Hand langsam herunter.
»Lucy. Ich heiße Lucy«, antwortet sie und schon ist sie durch die Drehtür verschwunden und mit ihr meine Chance, sie nach ihrer Nummer zu fragen.
Sie weiß, wo sie mich finden kann, denke ich. Und sie hat gesagt, sie glaubt, dass wir uns bald wiedersehen. Wenn sie will, kann sie mich jederzeit finden.
Als ich eine halbe Stunde später vor das Hotel trete, weht kalter Wind vom Meer zu mir herüber. Ich klappe den Kragen meiner dunklen Lederjacke hoch und stecke die Hände in die Taschen. Ein Windstoß wirbelt einige Blätter auf, als ich die breite Straße Richtung Seafront entlanglaufe. Über mir kreischen die Möwen, die alten Straßenlaternen werfen große Schatten. Meine Gedanken wandern zurück zu Lucy und dem Moment, als ihr klar wurde, wie scharf der Drink wirklich war. Kurz entschlossen nehme ich mein Handy in die Hand und drücke auf das kleine Mikro.
KOBE
Hey, Casper, wie ist es bei dir? Ich hatte heute den ungewöhnlichsten Abend seit Langem. Ich glaube, er hätte dir gefallen. Hast du morgen Abend Zeit für eine Runde Fish & Chips im Pub? Ich habe um 18 Uhr Feierabend.
Es dauert keine drei Sekunden, bis Caspers Nachricht bei mir eingeht.
CASPER
Du bist ein alter Geheimniskrämer, Kobe. Jetzt bin ich so gespannt, da muss ich mich ja mit dir treffen. Kann ich Amy mitbringen oder ist das so ein Männerding?
Ich muss schmunzeln. Seitdem Casper und Amy endlich offiziell ein Paar sind, ist es kaum möglich, meinen kleinen Bruder allein zu erwischen. Amy ist unter der Woche in der Uni und Casper steckt mitten in der Saisonvorbereitung. Gerade am Wochenende bedeutet das oft Fußballplatz für ihn. Und Amy ist einfach nicht der Typ, der sich jedes Spiel anschauen und ihm dabei die Hand halten möchte. Darum sind sie froh über jeden Abend, den sie gemeinsam verbringen können.
KOBE
Bring sie gern mit, vielleicht kann sie mir sagen, ob ich das weibliche Geschlecht mal wieder völlig missverstanden habe oder was da heute Abend los war. 18:30 Uhr, King’s Arms?
CASPER
Ich platze vor Neugier! Eine Frau! Es geht um eine Frau! Mein Bruder will mit mir über eine Frau sprechen. Das ist nicht mehr vorgekommen seit … never mind. Ich freu mich, dich zu sehen.
Seit Emilie, setze ich in Gedanken hinzu. Als ich Emilie in einer Buchhandlung kennengelernt habe, war ich schon beim ersten Treffen hin und weg. Wir hatten so viel gemeinsam und es lief richtig gut zwischen uns beiden. Zumindest dachte ich das. Aber ihr war das, was wir hatten, anscheinend nicht genug. Sie ging lieber zurück zu ihrer merkwürdigen Affärengeschichte mit Jake. Damals Drummer bei den B.Heights, die direkt nach seinem Ausstieg eine steile Karriere hingelegt haben, mit einem Song, den er für sie geschrieben hatte. Fair Point, das war eine dieser großen Gesten, von denen Frauen wie Emilie anscheinend träumen. Und die beiden sind noch immer zusammen. Genau wie seine Schwester Amy mit meinem Bruder Casper, was genauso kompliziert ist, wie es sich anhört. Weshalb ich weder Emilie noch Jake so ganz aus dem Weg gehen kann. Ich bin längst über die Geschichte hinweg, aber ich brauche sie jetzt auch nicht zwingend ständig zu sehen. Mein Therapeut meint, ich habe grundsätzlich ein Thema damit, andere retten zu wollen. Emilie hatte damals gerade mit ihrer Karriere in der Chocolaterie Bittersweet gestruggelt, es ging um einen Backwettbewerb und ich habe mich voll reingehängt, um ihr zu helfen. Obwohl mich eigentlich niemand darum gebeten hatte. Nicht einmal Emilie selbst. Ich helfe einfach gern, aber so selbstlos, wie ich immer dachte, ist das anscheinend gar nicht. Ich mag es, gebraucht zu werden, hat mein Therapeut mir direkt in einer unserer ersten Sitzungen erklärt. Und wahrscheinlich ist da auch wirklich etwas dran.
Eine erneute Böe vom Meer zieht mir unter die Lederjacke und den dicken Pullover. Regentropfen landen in meinem Gesicht. Ich fröstele. Schnell nach Hause, es ist dunkel, kalt und windig. Vor mir sehe ich eine kleine, dunkle Gestalt, die sich ebenfalls gegen den Wind stemmt. Allerdings deutlich weniger erfolgreich als ich. Mit großen Schritten will ich gerade an ihr vorbeigehen, als ich sie erkenne. Lucy. Sie ist am Handy. Ich werde langsamer. Als Mann im Dunkeln hinter einer Frau zu gehen, ist immer ein blöder Moment. Bleibe ich einfach hinter ihr, fühlt sie sich womöglich verfolgt. Also überholen? Sie geht inzwischen so schnell, dass ich fast rennen müsste, um sie einzuholen. Auch nicht gerade ideal, um ihr Sicherheit zu vermitteln. Normalerweise würde ich die Straßenseite wechseln, damit die Frau sich nicht von mir bedroht fühlt. Aber Lucy hier noch einmal zu sehen – ist das vielleicht meine Chance, sie doch noch nach ihrer Nummer zu fragen?
Wortfetzen dringen durch den Wind zu mir herüber. »Beruhig dich doch bitte … Schau, dass du Wasser trinkst, und leg dich dann ins Bett, morgen sieht das alles schon wieder ganz anders aus … Natürlich nehme ich deine Sorgen ernst … Wirklich, ich muss jetzt auflegen.« Sie drückt mit einer Hand das Handy an ihr Ohr, mit der anderen hält sie einen Schirm, der von einer Böe erfasst wird und sich einmal umstülpt. »Scheiße! Verdammt. Nicht das auch noch!« Sie steckt das Handy in ihre Jackentasche und stopft den Schirm mit viel Kraft und jeder Menge Wut in den nächstbesten Mülleimer. In dem Moment sieht sie mich.
»Hey. Alles okay?«, frage ich. Ihre dunklen Haare werden von dem Wind um ihr Gesicht gewirbelt. Ihre großen blauen Augen weiten sich, als sie mich erkennt.
»Der Barkeeper. So schnell sieht man sich wieder.«
»Kobe. Ist bei dir alles in Ordnung? Du sahst etwas … durch den Wind aus«, sage ich.
Sie lacht auf. Ein überraschend helles Lachen. »Wie passend. Danke. Alles okay. Da vorn fährt mein Bus und ich bin in ein paar Minuten zu Hause.«
»Gut«, nicke ich und drehe mich um, um weiterzugehen.
»Kobe?«
»Hm?«
»Danke fürs Fragen. Ich weiß, ich war heute ein ganz schöner Pain.«
»Kein Problem«, sage ich. In dem Moment biegt der rote Doppeldecker um die Ecke und Lucy steigt mit einem kurzen Heben ihrer Hand ein. Ich drehe mich um und stapfe durch den Wind nach Hause. Ich habe nicht nach ihrer Nummer gefragt.
Lucy
Durch die leicht beschlagenen Scheiben des Doppeldeckerbusses sehe ich der Gestalt nach, die mit hochgeklapptem Kragen durch den Herbststurm stapft. Dann biegt der Bus um die nächste Ecke und ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Harte Gitarrenriffs schlagen mir entgegen und ich lehne den Kopf gegen die Scheibe. Die Kühle des Glases tut mir gut. Draußen zieht die Seafront an mir vorbei, ein paar alte Straßenlaternen erhellen die Promenade, sonst ist alles dunkel.
Ich merke, wie mich das Schaukeln schläfrig macht. Es ist viel zu spät, ich hätte schon vor Stunden nach Hause gehen sollen, hätte den Pitch vorbereiten sollen, wie ich es eigentlich geplant hatte. Hätte mich ausschlafen sollen, wie es richtig gewesen wäre. Stattdessen hänge ich in der Hotelbar rum, in der ich morgen mein überzeugendstes Selbst sein soll. »Ach, Lucy-Lämmchen, jetzt mach dir mal nicht so einen Kopf«, höre ich Dads Stimme in meinen Gedanken. »Du haust sie auch so aus den Socken.« Ein Schmerz macht sich in meiner Brust breit, dehnt sich aus, zieht von der Brust bis in meine Arme. In meinem Hals wird es plötzlich eng. Genau so hätte er es gesagt. Aus den Socken hauen. Ich habe den Spruch schon so lange nicht mehr gehört, dass er sich fremd in meinen Ohren anhört. Soll er auch! Dad ist vor einem Jahr abgehauen. Von einem Tag auf den anderen. Hat mich mit meiner Mutter und dem ganzen verdammten Chaos alleingelassen.
Ganz allein mit meiner Mutter, die nicht mehr in der Lage war, mir eine Mutter zu sein, die so sehr mit sich beschäftigt war, mich so sehr brauchte, dass wir innerhalb von einem Tag die Rollen getauscht haben. Als Dad noch da war, haben wir die hellen, klaren Momente miteinander geteilt, haben zusammen Bridgerton gesehen und manchmal hat sie Pancakes für mich gemacht, wie früher mit ganz viel Sahne und Schokostreuseln. Seit Dad weg ist, gab es keine hellen Momente mehr. Und auch keine Pancakes. Eine Träne rinnt mir die Wange herunter. Wütend wische ich sie mit dem Handrücken weg.
»Hove Park. Dieser Bus fährt weiter nach Hangleton.«
Ich springe auf, raffe meine Sachen zusammen und stürme die kleine Treppe den Bus hinunter. Die Türen sind gerade dabei, sich zu schließen. »Halt, stopp! Ich muss hier noch raus!«, rufe ich und dränge mich nach vorn zum Fahrer.
»Nächstes Mal besser aufpassen, Miss«, sagt er und mit einem Schnaufen öffnen sich die Türen des Busses. Ich stehe auf der Straße und atme durch.
Als ich die Tür zu der winzig kleinen Wohnung aufschließe, ist es still. Ich lasse meine Umhängetasche auf den Boden fallen und will mir gerade meine Jacke ausziehen, da dröhnt das aufdringliche Klingeln meines Handys durch die Stille und ich wünsche mir nichts mehr, als dass es einfach aufhören würde. Ich ziehe das Handy aus der Tasche meiner Jacke und lasse sie achtlos auf einen der halb ausgepackten Kartons fallen, die überall in dem Studio verteilt stehen. Neben meinem Bett dient ein Karton als Nachttisch. Das Display blinkt hell in dem dunklen Zimmer. Ich drücke auf den Lichtschalter und die nackte Birne an der Decke leuchtet auf. Dann schlüpfe ich aus meinen Boots und schiebe den Regler auf Annehmen. Ich setze mich auf den Holzboden und lehne mich mit dem Rücken an das Bett, als ihre Stimme aus dem Hörer klingt. Dabei starre ich auf die karge Küchenzeile und die traurige Kartonlandschaft und frage mich, wie ich eigentlich hier ankommen soll, wenn meine Vergangenheit mich mit festem Griff umklammert hält. Ich schlucke und versuche, den unzusammenhängenden Sätzen zuzuhören, die aus dem Hörer zu mir dringen.
Während wir telefonieren, greife ich zu meinem Skizzenbuch. Ein altes Notizbuch mit abgenutzten Ecken. Der Bleistift gleitet fast wie von selbst über das Papier. Erst sind es nur Striche, wild und durcheinander, wie meine Gedanken. Dann werden die Linien weicher, fließender. Aus dem Chaos entstehen die Umrisse der Hotelbar, die dunkle Theke, das Feuer, die lederbezogenen Hocker. Mit dem Daumen verwische ich vorsichtig die Kanten, lasse sie weich und neblig werden, wie meine Erinnerung an den Abend. Früher habe ich oft mit Dad gezeichnet. Er brachte mir bei, wie man Schatten richtig setzt, wie man Perspektiven aufbaut. »Kunst muss nicht perfekt sein, Lucy-Lämmchen«, hat er immer gesagt. »Sie muss nur ehrlich sein.«
Nachdem sie endlich aufgelegt hat, betrachte ich die fertige Zeichnung. Sie ist dunkler geworden, als ich den Abend wahrgenommen habe. Denn eigentlich habe ich heute seit Langem mal wieder gelacht. Es hat Spaß gemacht, mit dem Barkeeper zu scherzen. Ein wenig zu flirten, kreativ zu sein, weit weg von all dem anderen. Mein Atem hat sich beruhigt, die Anspannung ist aus meinen Schultern gewichen. Etwas, das Zeichnen für mich tut, es ist, als ob ich meine Emotionen einfach auf das Papier gebe und sie so an Gewicht verlieren.
Mit dem Handrücken wische ich mir über die Augen, ich bin wirklich müde. Eigentlich sollte ich mich noch an die Präsentation setzen, aber mir fallen gleich die Augen zu. Als ich endlich mit geputzten Zähnen in meinem dicken, karierten Flanellschlafanzug im Bett liege, zeigt der Wecker auf meinem Nachttisch Mitternacht an. In sechs Stunden muss ich aufstehen, wenn ich morgen früh noch ein wenig an meinem Pitch arbeiten möchte, bevor ich zu dem Vorstellungsgespräch gehe.
***
Als der Wecker klingelt, ist es bereits hell in meinem Zimmer. Sonnenstrahlen kriechen unter den Vorhängen hindurch und ich weiß einen kurzen Moment nicht, wo ich bin. Dann fällt mein Blick auf die Anzeige meines Weckers.
Es ist genau 7:30 Uhr. In zwei Stunden ist mein Vorstellungsgespräch, und ich habe nur ein Foto und ein bekritzeltes Stück Papier vorzuweisen. »Scheiße. Scheiße, verdammte Oberkacke! Das darf doch jetzt nicht wahr sein!«, fluche ich und ärgere mich über … alles, mich selbst, darüber, dass ich zu lange an der Bar saß, weil ich nicht nach Hause wollte, weil ich diesen Barkeeper auf eine verwirrende Art anziehend fand, die ich schon sehr lange nicht mehr gespürt habe. Und weil er keine Ahnung hat, dass ich heute in genau dem Hotel ein Bewerbungsgespräch habe. Wir könnten Kollegen werden … Etwas in meinem Bauch zieht bei dem Gedanken, ihn jeden Tag zu sehen. Ein schönes Ziehen. Aber dafür musst du heute deine Präsentation rocken, Lucy!, ermahne ich mich selbst.
Ich springe mit einem Satz aus dem Bett. »Auuuuuuuuuuu, fuck. Verdammt noch mal!« Ich habe mir den kleinen Zeh an dem Holzpfosten meines Bettes gestoßen. Humpelnd springe ich durch das Zimmer auf dem Weg zum Bad. Atmen, Lucy. Das wird schon. Ich suche mir in meinem Karton mit den frisch gewaschenen Sachen meine übliche schwarze Uniform zusammen: kurzer schwarzer Rock, Strumpfhose und ein dünner schwarzer Rollkragenpulli. Auf Schmuck verzichte ich. Ich mustere mich in dem runden Spiegel, über dem die einzige Lampe in meiner Wohnung brennt. Weil der Vermieter sie dringelassen hat. Das Licht lässt mein Gesicht blass aussehen. Vielleicht liegt es auch am Schlafmangel – oder an den Anrufen, denke ich. Aber den Gedanken stecke ich ganz schnell zurück in seine Box. Ich will jetzt nicht an sie denken, nicht an das, was ich vor ein paar Wochen zurückgelassen habe. Nicht daran, dass ein Teil von mir noch immer in Schottland sein will, um sie nicht alleinzulassen.
»Es geht aber nicht!«, sage ich laut und fülle meine Hände mit einer großzügigen Ladung kaltem Wasser, das ich mir mit Schwung ins Gesicht klatsche.
Beim Surren meiner elektrischen Zahnbürste wandern meine Gedanken zu dem Konzept. Ich hatte so viele Ideen, aber heute Morgen ist mein Gehirn wie leer gefegt. Mir fällt nicht eine der smarten Social-Media-Kampagnen mehr ein, mit denen ich heute brillieren wollte.
Ich spüle den Mund aus und spritze mir noch einmal kaltes Wasser ins Gesicht. Ich rubble die Gesichtshaut trocken und greife zu dem kleinen Cremetopf. »Also gut, Ellington Grande Hotel … wie kriegen wir dich auf Instagram und TikTok?«, murmele ich und verteile die Creme großzügig in meinem Gesicht. »Luxus ist doch heute total out. Die Gen Z will Authentizität und Purpose.« Ich trage Make-up auf und lehne mich vor, um meine Augenbrauen mit einem dunklen Stift nachzuziehen. »Aber wie macht man ein traditionelles Hotel für junge Leute interessant? Genügt die Bar-Idee für das ganze Hotel?« Ich trage Mascara auf, tusche immer wieder mit der dunklen Farbe über meine Wimpern. »Die Seafront-Lage ist unschlagbar … diese Aussicht! Aber das allein reicht nicht. Jedes Hotel hier hat Meerblick …« Ich greife zum Cremerouge und setze mir zwei dicke rote Punkte auf die Wangen, die ich verwische. Schon besser, ich sehe direkt wacher aus.
»Was macht das Ellington denn eigentlich besonders? Diese unfassbare Grandezza … als würde die Zeit dort langsamer ticken …«
Gedankenverloren greife ich nach meinem Kajal und male dunkle Striche in mein inneres Augenlid. »Moment mal. Vielleicht ist es genau das? Diese … diese Zeitlosigkeit? Während draußen alle durchdrehen mit Fast Fashion und Trending Topics, ist es drinnen wie … wie eine andere Welt.« Ich halte inne, mustere mein Spiegelbild. »Nee, klingt nach Werbesprech. Zu platt.«
Ich fahre mit einem kleinen Bürstchen meine dunklen Augenbrauen nach. »Aber irgendwas ist da. Irgendwas muss mir einfallen, ich kann doch nicht mit einem Drink und einer Idee da aufkreuzen, ich soll schließlich eine Kampagne für das ganze Hotel entwickeln. Das Spa soll großartig sein. Wellness für die Seele …« Oh Mann, ich habe wirklich zu wenig geschlafen. Das klingt nach einem Werbespot aus den 90ern. »Denk weiter, Lucy!«, feuere ich mich an.
Ich fahre mit einem Labello meine Lippen nach. »Was wäre, wenn … Nein, das ist zu wild. Obwohl …« Meine Augen weiten sich kurz. Ich brauch erst mal einen Kaffee. Aber da ist was … irgendwas mit diesem Kontrast zwischen drinnen und draußen … der Hektik und der Ruhe … Während ich in der Küche die kleine Maschine mit dem Kaffeepulver befülle, denke ich weiter über die Kontraste nach. Ein Blick auf das Display meines Handys lässt mich zusammenfahren. So spät schon? Lucy, beweg dich!
Ich beeile mich und stolpere tatsächlich fünf Minuten später einigermaßen zurechtgemacht und mit ein paar Ideen im Kopf aus der Haustür. Im Bus versuche ich, meine Gedanken zu sortieren, auf Papier zu bringen. Alles läuft gut. Bis mein Handy klingelt. Schon als ich die Nummer erkenne, versteife ich mich. Bitte nicht. Ich kann das jetzt nicht. Ich atme durch und schiebe doch den Regler zur Seite. »Hey, Mom, ich bin gerade auf dem Weg zu dem Vorstellungsgespräch …« Doch sie hört mir gar nicht zu. Erzählt von dröhnenden Kopfschmerzen und davon, dass ihr so schlecht ist, dass sie nichts essen kann. Ein Virus, vermutet sie. Ein Kater, vermute ich. Aber ich sage nichts. Höre nur zu und ermutige sie, zum Arzt zu gehen. Irgendjemand muss doch sehen, was mit ihr los ist, es ihr klarmachen. Als der Bus hält, habe ich meine Notizen nicht sortiert. Ich bin aufgewühlt, aber ich reiße mich zusammen.
Noch einmal durchatmen und dann betrete ich die goldene Drehtür, durch die ich gestern Abend erst herausgegangen bin. Sofort schießt ein älterer Mann in einem sehr eleganten Anzug mit passender Krawatte auf mich zu. »Sie müssen Lucy Hays sein. Mein Name ist Mike Lawrence und ich habe Sie schon erwartet.« Ich nicke und schüttele seine Hand. »Kommen Sie, ich bin schon so gespannt auf Ihren Pitch und Ihre Ideen zu unserer Kampagne. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?« Ich nicke erneut. Er steuert mit mir die dunkle Eichenbar an, an der ich vor etwa zwölf Stunden fast an einer extrascharfen Spicy Margarita erstickt wäre. Bitte lass jetzt nicht Kobe hinter der Bar stehen, noch mehr Aufregung kann ich gerade so gar nicht vertragen. Aber die Theke ist leer. Mr. Lawrence geht selbst hinter die Bar, drückt auf einige Knöpfe des Kaffeeautomaten. »Cappuccino?«, fragt er und dreht sich zu mir um.
»Gern!« Dann werden rumpelnd die Bohnen in die Maschine gezogen und ich habe Zeit, meinen Herzschlag wieder einzufangen. Der Pitch, was mache ich mit dem Pitch? Ich habe nichts. Gar nichts. Nostalgie und stehen gebliebene Zeit, das ist doch kein Konzept!
»Ms. Hays, wollen wir dann?«, holt mich die Stimme des Managers aus meinen Gedanken.
»Sicher, danke für den Kaffee«, stottere ich und nehme die dampfende Tasse entgegen.
Mr. Lawrence führt mich an dem langen Empfangstresen vorbei, auf dem ein Blumengebinde steht, das einfach unglaublich aussieht. Dunkle Blüten, Eukalyptus, Rosen, einige Zweige, es ist herbstlich, moody und kostet wahrscheinlich ein Vermögen. Diese kleinen Details zeigen mir einmal mehr, in was für einem edlen Laden ich hier gelandet bin. Hinter dem Empfangsbereich führt eine diskrete dunkle Holztür in die hinteren Räume. Hier leitet der Manager mich in sein Büro und lässt sich hinter seinem massiven Schreibtisch auf einen wahrscheinlich sehr bequemen Schreibtischstuhl fallen. Mit einer Geste bietet er mir den Platz auf dem Holzstuhl vor seinem Schreibtisch an.
»Möchten Sie noch etwas, Wasser oder etwas anderes?«, fragt er. Ich halte noch immer meine Kaffeetasse in der Hand und traue mich nicht, sie auf dem edlen Holz seines Schreibtisches abzustellen. Ich lehne dankend ab und nehme einen Schluck von meinem Cappuccino. Stark. Das ist gut.
Während Mr. Lawrence mir einiges über das Hotel erzählt, darüber, was meine Aufgaben als Social-Media-Managerin wären, schweifen meine Gedanken immer wieder ab. Ich habe noch immer keine Idee für den Pitch. Und mir rennt die Zeit weg. Er wird gleich danach fragen und ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.
»Ms. Hays?«
Mist, er hat mich etwas gefragt. »Ja, das klingt gut«, improvisiere ich.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Wunderbar, das freut mich, dann bin ich gespannt, was Sie mir gleich präsentieren möchten.«