Kein anderes Meer - Edwidge Danticat - E-Book

Kein anderes Meer E-Book

Edwidge Danticat

0,0

Beschreibung

Am Morgen hatte sie noch wie jedes Jahr mit ihrem Vater Nozias das Grab der Mutter besucht. Jetzt ist die siebenjährige Claire spurlos verschwunden, am Strand von Ville Rose auf Haiti. Nozias, der Fischer, träumte von einer besseren Zukunft für seine Tochter, frei von Armut und Gewalt. Sie sollte ihr Heimatdorf verlassen, von einer reichen Tuchhändlerin adoptiert werden. Ist Claire deshalb geflohen? Die haitianisch-amerikanische Autorin Danticat erzählt märchenhaft und doch realistisch von Ville Rose, ein Ort, wo Bäume in den Himmel fliegen und Frösche in der Hitze explodieren, und einem Mädchen, das sich nach Familie und Geborgenheit sehnt

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wie eine tropische Blume erstreckt Ville Rose auf Haiti sich zwischen moosbedecktem Sumpfl and und kegelförmigen Bergen zum Meer. Doch die kleine karibische Stadt ist neben aller Schönheit vor allem ein Ort von unbeschreiblicher Armut und unterschwelliger wie offener Gewalt. Ein jeder hier hat eine besondere Geschichte zu erzählen – der enttäuschte Rückkehrer, der idealistische Radiojournalist, der selbstgerechte Direktor einer angeblich gewaltfreien Schule. Und wie viele träumt auch Fischer Nozias von einem besseren Leben. Er will der Insel den Rücken kehren und dabei die Zukunft seiner Tochter nicht dem Zufall überlassen. Claire soll von Gaëlle Lavaud adoptiert werden. Die reiche Tuchhändlerin hatte dem Mädchen nach dem Tod von Claires Mutter bei der Geburt die erste Milch gegeben. Doch am Abend ihres siebten Geburtstags, als Nozias’ Plan aufgehen soll, beschließt Claire, ihrer inneren Stimme zu folgen, und verschwindet spurlos.

Hanser E-Book

Edwidge Danticat

KEIN ANDERES MEER

Roman

Aus dem Englischen von

Kathrin Razum

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Claire of the Sea Light bei Knopf in New York.

ISBN 978-3-446-24998-1

© Edwidge Danticat 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Carl Juste/Iris PhotoCollective

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Wangen

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für meine Mutter Rose

und meine Töchter Mira und Leila

Sag mir, Schöne der Dämmerstunde,

Wenn Bänder purpurn zier’n den Berg,

Wird wahr dein Wunsch durch Traumes Werk?

Entschlüpft Gebet wohl deinem Munde

Wie’s Korn dem Hüllblatt? Sag mir, ob,

Wenn nachts der Berg dräut, Schatten blass

Und riesenhaft erblühn wie Gras

Und ob der Nachtwind sie darob

Zu mir hinneigt …

Jean Toomer, »Sag mir«

INHALT

Erster Teil

Claire vom Meereslicht

Die Frösche

Geister

Heimat

Zweiter Teil

Seestern

Jahrestag

Di Mwen, Sag’s mir

Claire de Lune

ERSTER TEIL

CLAIRE VOM MEERESLICHT

Am Morgen des Tages, an dem Claire Limyè Lanmè Faustin sieben wurde, konnte man auf dem Meer vor Ville Rose eine drei oder vier Meter hohe Monsterwelle sehen. Claires Vater Nozias, ein Fischer, der gerade zu seiner Schaluppe lief, war einer von vielen, die sie in der Ferne erblickten. Erst hörte er ein tiefes Grollen wie von fernem Donner, dann sah er, wie sich aus den Tiefen des Meers eine Wand aus Wasser erhob, eine riesige blaugrüne Zunge, so schien es, die am rosa Himmel zu lecken versuchte.

Genauso schnell, wie sie sich aufgetürmt hatte, fiel die Welle in sich zusammen. Die Wassermassen stürzten herab, krachten auf einen Kutter mit Namen Fifine und versenkten ihn mitsamt Caleb, dem einen Fischer an Bord.

Nozias rannte ans Wasser und watete bis zu den Knien hinein. Einen guten Freund hatte er soeben verloren, einen, den er viele Jahre lang gegrüßt hatte, wenn sie einander vor Tagesanbruch auf dem Weg zum Meer begegnet waren.

Rund ein Dutzend andere Fischer standen neben Nozias. Er schaute den Strand entlang zu Calebs Hütte, wo Fifine – Josephine –, Calebs Frau, vermutlich wieder ins Bett gegangen war, nachdem sie ihn verabschiedet hatte. Nozias wusste aus Erfahrung und spürte instinktiv, dass sowohl Caleb als auch das Boot verloren waren. Vielleicht würden sie in ein, zwei Tagen angespült werden, wahrscheinlich aber nie.

Es war ein schwüler Samstagvormittag Anfang Mai. Nozias war länger als sonst im Bett liegen geblieben und hatte über die unmögliche Entscheidung nachgedacht, die er, wie er schon immer wusste, eines Tages würde treffen müssen: wem er schließlich und endlich seine Tochter geben sollte.

»Früher aufgewacht, und ich wäre dort gewesen.« Er war nach Hause gerannt und hatte es seiner kleinen Tochter unter Tränen erzählt.

Claire lag noch auf einer Liege in der Hütte, die aus einem Raum bestand. Die Rückseite ihres dünnen Nachthemds war schweißnass. Sie schlang ihre langen, melassefarbenen Arme um Nozias’ Hals, so wie früher, als sie noch kleiner gewesen war, und drückte ihre Nase an seine Wange. Ein paar Jahre zuvor hatte Nozias ihr erzählt, was an ihrem ersten Tag auf Erden geschehen war: dass bei ihrer Geburt ihre Mutter gestorben war. Ihr Geburtstag war also zugleich ein Todestag, und die Monsterwelle und der tote Fischer bewiesen, dass sich daran nichts geändert hatte.​

*

Der Tag, an dem Claire Limyè Lanmè sechs wurde, war auch der Tag, an dem der Leichenbestatter von Ville Rose, Albert Vincent, als neuer Bürgermeister in sein Amt eingesetzt wurde. Er behielt seine alte Position bei, was zu allen möglichen Scherzen der Art führte, dass er wohl einen einzigen großen Friedhof aus der Stadt machen werde, um seinen Kundenkreis zu erweitern.

Albert war ein Mann von unvergleichlicher Eleganz, auch wenn er zittrige Hände hatte. Er trug jeden Tag einen beigefarbenen Zweiteiler, so auch am Tag seiner Amtseinführung. Seine Augen, hieß es, seien nicht immer so lavendelblau gewesen wie jetzt. Ihre Trübung, traurig, aber wunderschön, war eine Folge der Sonne und seines frühmanifesten Grauen Stars. Am Tag seiner Vereidigung hielt Albert, zitternde Hände hin oder her, aus dem Gedächtnis eine Rede über die Geschichte der Stadt. Er stand dabei auf der obersten Treppenstufe des Rathauses, eines weißen Zuckerbäckerbaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, mit Blick auf eine farbenprächtig bevölkerte Piazza, auf der Hunderte Einwohner dichtgedrängt in der Nachmittagssonne standen.

In Ville Rose wohnten rund elftausend Menschen, von denen fünf Prozent reich oder einigermaßen wohlhabend waren. Die übrigen waren arm, einige auch bettelarm. Viele waren arbeitslos, einige waren Fischer oder Bauern (manche auch beides) oder arbeiteten als Saisonarbeiter bei der Zuckerrohrernte. Dreißig Kilometer südlich der Hauptstadt auf engstem Raum zwischen einem besonders unberechenbaren Teil der Karibik und einem erodierten haitianischen Gebirgszug gelegen, hatte die Stadt den Umriss einer Blume, erinnerte von den Bergen aus betrachtet an die sich entfaltende Blüte einer riesigen tropischen Rose, sodass die Hauptstraße, die den Ort mit dem Meer verband, zum Stiel dieser Rose wurde und dementsprechend Pied Rose Avenue oder Stem Rose Avenue hieß und die vielen Nebensträßchen und schmalen Wege als épines oder Dornen bezeichnet wurden.

Albert Vincents Siegeskundgebung wurde im Stadtzentrum – dem Ovulum der Rose – abgehalten, gegenüber der Kathedrale Sainte Rose de Lima, die man zur Feier der Amtseinführung in einem dunkleren Lila gestrichen hatte. Während Albert seine Antrittsrede hielt, verdeckte er seine Hände mit einem schwarzen Fedora, den kaum jemand je auf seinem Kopf gesehen hatte. Am Rand der Menge hockte Claire Limyè Lanmè in ihrem Geburtstagskleid aus rosa Musselin auf Nozias’ Schultern, ihr geflochtenes Haar voll winziger schleifenförmiger Haarspangen. Irgendwann bemerkte Claire, dass sie und ihr Vater neben einer molligen Frau mit engelhaftem Gesicht und einem langen glatten Haarteil standen. Die Frau trug eine schwarze Hose mit schwarzer Bluse und hatte sich eine weiße Hibiskusblüte hinters Ohr gesteckt. Sie war die Besitzerin des einzigen Stoffladens von Ville Rose.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, schmetterte Albert Vincent jetzt in die Menge. Er kam endlich zum Schluss, fast eine halbe Stunde nachdem er seine Rede begonnen hatte.

Nozias hielt die gewölbte Hand an seinen Mund, während er der Stoffhändlerin etwas ins Ohr flüsterte. Für Claire war es offensichtlich, dass ihr Vater in Wirklichkeit nicht gekommen war, um dem Bürgermeister zuzuhören, sondern um die Stoffhändlerin zu treffen.

Später am Abend erschien die Stoffhändlerin in der Hütte am Ende der Pied Rose Avenue. Claire rechnete damit, zu den Nachbarn geschickt zu werden, damit die Stoffhändlerin und ihr Vater allein sein konnten, aber Nozias hatte darauf bestanden, dass Claire ihr Haar mit einer alten Bürste bändigte und das zerknitterte Rüschenkleid glattstrich, das sie trotz der Hitze und der Sonne den ganzen Tag getragen hatte.

Die Stoffhändlerin stand in der Mitte der Hütte zwischen den Liegen von Claire und ihrem Vater und forderte Claire auf, sich vor ihr zu drehen, im Licht der Petroleumlampe, die wie üblich auf dem kleinen Tisch stand, an dem Claire und Nozias manchmal zusammen aßen. Die Wände der Hütte waren mit abblätterndem Zeitungspapier bedeckt, vergilbten Exemplaren der Stadtzeitung La Rosette, die Claires Mutter vor langer Zeit mit Maniokpaste auf das Holz geklebt hatte. Claire sah, wie ihr langgestreckter Schatten neben den anderen über die verblassten Zeilen huschte. Während sie sich für die Dame drehte, hörte Claire ihren Vater sagen: »Ich bin dafür, Kinder zu bestrafen, aber dagegen, sie zu schlagen.« Er schaute zu Claire hinunter und hielt inne. Er stieß den Daumen der einen Hand in die Handfläche der anderen, und ihm versagte fast die Stimme, als er fortfuhr: »Ich bin dafür, sie sauber zu halten, das sehen Sie ja. Sie sollte natürlich weiter zur Schule gehen, und wenn sie krank wird, sollte sie so schnell wie möglich zum Arzt gebracht werden.« Dann stieß er den anderen Daumen in die andere Handfläche und fügte hinzu: »Dafür würde sie beim Putzen helfen, sowohl zu Hause als auch im Laden.« Erst jetzt begriff Claire, wer diese »sie« war, von der da geredet wurde, und dass ihr Vater gerade versuchte, sie wegzugeben.

Ihre Beine fühlten sich plötzlich an wie Blei, und sie hörte auf, sich zu drehen, und sobald sie aufgehört hatte, wandte sich die Stoffhändlerin ihrem Vater zu, wobei ihr künstliches Haar ihr Gesicht halb verdeckte. Nozias senkte die Augen, von dem modischen Haarteil der Stoffhändlerin zu ihren teuren offenen Sandalen und den roten Fußnägeln.

»Nicht heute Abend«, sagte die Stoffhändlerin und ging zu der schmalen Tür.

Nozias wirkte benommen, er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus, ehe er der Stoffhändlerin an die Tür folgte. Die beiden glaubten zu flüstern, doch Claire konnte sie auf ihrer Seite des Raums gut verstehen.

»Ich gehe weg«, sagte Nozias. »Pou chèche lavi, auf die Suche nach einem besseren Leben.«

»Oammm.« Die Stoffhändlerin stöhnte eine Warnung, wie ein unmögliches Wort, ein Wort, das sie nicht auszusprechen wusste. »Warum wollen Sie Ihr Kind zu meiner Dienerin machen, zu einer restavèk?«

»Ich weiß, dass sie das bei Ihnen nicht wäre«, sagte Nozias. »Aber wenn ich sterben würde, dann wäre sie das bei weniger gütigen Menschen als Ihnen tatsächlich. Ich habe hier in der Stadt keine Verwandtschaft mehr.«

Nozias schob weiteren Fragen der Stoffhändlerin einen Riegel vor, indem er eine scherzhafte Bemerkung über das neue Amt des Leichenbestatters und die vielen inhaltslosen Reden machte, die er sich würde anhören müssen, wenn er in Ville Rose blieb. Das perlende Gelächter der Stoffhändlerin klang, als käme es durch ihre Nase. Die gute Nachricht, dachte Claire, war, dass ihr Vater nicht jeden Tag versuchte, sie wegzugeben. Die meiste Zeit verhielt er sich so, als würde er sie immer bei sich behalten. Unter der Woche besuchte Claire die École Ardin, für die sie vom Schuldirektor höchstpersönlich, Msye Ardin, ein Armenstipendium erhielt. Und abends saß sie dann an dem kleinen Tisch mit der Petroleumlampe und sagte die neuen Wörter auf, die sie gerade lernte. Nozias freute sich an dem Singsang und an ihrem Fleiß, und sie fehlten ihm, wenn Claire Ferien hatte. Ansonsten fuhr er im Morgengrauen aufs Meer hinaus und kam immer mit Maismehl oder Eiern zurück, die er gegen einen Teil seines frühmorgendlichen Fangs eingetauscht hatte. Er redete öfter davon, in der benachbarten Dominikanischen Republik auf dem Bau oder im Fischfang zu arbeiten, aber es klang immer so, als könnten Claire und er das zusammen machen, nicht als müsste er sie dafür zurücklassen. Doch sobald ihr Geburtstag kam, fing er wieder davon an: chèche lavi, die Suche nach einem besseren Leben.

Lapèch, die Fischerei, war nicht mehr so einträglich wie früher, das hörte sie ihn jedem erzählen, der bereit war zuzuhören. Es war nicht mehr wie in den alten Zeiten, als seine Freunde und er für eine Stunde ein Netz auswarfen und es dann voll mit großen, ausgewachsenen Fischen wieder einholten. Jetzt mussten sie ihre Netze einen halben Tag oder länger im Wasser lassen, und dann zogen sie Fische heraus, die so klein waren, dass man sie früher wieder ins Wasser geworfen hätte. Aber jetzt musste man nehmen, was man kriegte; selbst wenn man in seinem tiefsten Innern wusste, dass es falsch war, Baby-Meeresschnecken oder eiertragende Hummer zu behalten, hatte man keine andere Wahl. Man konnte es sich nicht mehr leisten, saisongemäß zu fischen, damit die Bestände sich erholen konnten. Man musste fast jeden Tag ausfahren, selbst freitags, obwohl der Meeresgrund allmählich verschwand und das Seegras, das früher die Fische ernährt hatte, unter Schlick und Abfällen begraben wurde.

Doch an diesem Abend sprach er mit der Stoffhändlerin nicht über die Fischerei. Sie sprachen über Claire. Seine Verwandten und die seiner verstorbenen Frau, die alle in den umliegenden Bergen wohnten, wo er geboren sei, sagte er, seien noch ärmer als er. Falls er starb, würden sie Claire sicher aufnehmen, aber nur, weil sie keine andere Wahl hätten, weil Familien so etwas eben täten, denn egal, was geschehe, fòk nou voye je youn sou lòt. Wir müssen uns alle umeinander kümmern. Aber er sei einfach vorsichtig. Er wolle etwas so Wichtiges wie die Zukunft seiner Tochter nicht dem Zufall überlassen.

Nachdem die Stoffhändlerin gegangen war, stiegen bunte Funken von den Hügeln auf und erfüllten den Himmel über den Wohnhäusern beim Leuchtturm, im Stadtteil Anthère Hill, der nach den Staubbeuteln der Rose benannt war. Hinter dem Leuchtturm gingen die Hügel in einen Berg über, wild und grün und größtenteils unerforscht, weil die Farne, die dort wuchsen, keine Früchte trugen. Und das Holz war zu nass für Holzkohle und zu unstabil zum Verbauen. Die Leute nannten diesen Berg Mòn Initil, den Nutzlosen Berg, weil es dort kaum etwas gab, was sie gebrauchen konnten. Außerdem glaubten sie, dass es dort spukte.

Das Feuerwerk beleuchtete die pilzförmigen Farnwedel auf Mòn Initil genauso wie die ummauerten zweistöckigen Villen von Anthère Hill. Und es beleuchtete die Bretterbuden am Meer mit ihren Stroh- und Blechdächern.

Sobald die Stoffhändlerin weg war, rannten Claire und ihr Vater auf die Straße, um die Lichter zu betrachten, die am Himmel explodierten. In den Gässchen zwischen den Hütten drängten sich die Nachbarn. Mit kanonenschlagartigen Explosionen feierte Albert Vincent, der zum Bürgermeister gewordene Leichenbestatter, seinen Wahlsieg. Doch während ihre Nachbarn freudig in die Hände klatschten, konnte Claire nicht umhin zu denken, dass eigentlich sie diejenige war, die gesiegt hatte. Die Stoffhändlerin hatte Nein gesagt, und sie durfte ein weiteres Jahr bei ihrem Vater bleiben.

*

Der Tag, an dem Claire Limyè Lanmè fünf wurde, war ein Mittwoch, Markttag, also weckte ihr Vater sie schon bei Tagesanbruch. Sie gingen an einem sandigen Tümpel vorbei, der sich in der Nähe ihrer Hütte gebildet hatte und an dem eine Gruppe von Kindern, deren Eltern sich die Schule nicht leisten konnten, ihre Vormittage damit verbrachte, den Fischern zu helfen oder im Brackwasser zu plantschen und dann ins Meer zu springen, um sich abzuwaschen. Claire trug wieder das rosa Musselinkleid, das Nozias von einer Schneiderin in der Stadt hatte nähen lassen, auch dieses Jahr wieder in einer etwas größeren Ausgabe als im Jahr zuvor. Der Stoff stammte aus dem Laden der Stoffhändlerin.

In seinem steifen weißen Hemd, das er bis zum Adamsapfel zugeknöpft hatte, spürte Nozias, wie die schwüle Luft seine Haut kitzelte, als wäre er in einer der Blasen feuchter Luft eingeschlossen, die dort entstanden, wo der Seewind auf die Bruthitze der Stadt traf. Noch ehe sie dem Meer den Rücken kehrten, wusste Claire, dass sie an diesem Vormittag wie schon im Jahr zuvor das Grab ihrer Mutter besuchen würden.

Die Pied Rose Avenue war bereits voller Fußgänger, die moto taxis und tap taps herbeiwinkten oder ihnen auswichen. Nozias streckte die Nase hoch und schnupperte, sog den Duft des Morgenkaffees aus den Häusern an der Straße ein, deren Giebeldächer an den Rändern reich beschnitzt waren und ihn an die Lieblingsspitze seiner Frau erinnerten. Nozias ging mit flottem Schritt, als wollte er Claire auf die Probe stellen. Sie kamen an einem Voodoo-Tempel vorbei, dessen Außenwände mit Bildern von katholischen Heiligen geschmückt waren, die zugleich als Loa fungierten, und Nozias wies Claire, wie schon so oft, auf das leuchtend blasse Gesicht einer Schmerzensmutter hin, auf deren Herz ein Schwert gerichtet war.

»Die Liebesgöttin«, sagte er, »Ezili Freda. Die hat deine Mutter gemocht.«

Claire hatte noch nie ein Bild von ihrer Mutter gesehen. Es gab keins. Und wäre da nicht das Gruppenfoto im Kindergartenflügel der École Ardin, von dem sich ihr Vater aber keinen eigenen Abzug leisten konnte, gäbe es auch von ihr kein Bild.

Sie umgingen das Stadtzentrum, indem sie von der Hauptstraße auf eine der épines abbogen, einen schmalen, unbefestigten Weg nahmen, an dem die Häuser von Kaktuszäunen umgeben waren. Claire trottete hinter ihrem Vater her, der dem Geruch verbrannten Zuckers folgte. Ein Mann in Gummistiefeln, der mit einem zuckerrohrbeladenen Muli vom Feld kam, rief ihnen zu: »Ein Besuch bei den Toten, Msye Nozias und Manzè Claire?«

Nozias nickte.

Der Friedhof war von einer Mauer aus hellem Meeresgestein umschlossen. Unter den leuchtend orangenen Trauerweiden gleich am Friedhofstor standen die ältesten Grabsteine, zumeist ausgewaschen und von der Sonne gebleicht. Die marmornen Gräber stammten aus den frühen 1800er Jahren und gehörten den prominentesten Familien der Stadt, darunter die Ardins, die Boncys, die Cadets, die Lavauds, die Marignans, die Moulins und die Vincents. Bald hatten Claire und Nozias im neueren Teil des Friedhofs die hausartigen pastellfarbenen Mausoleen und die einfachen Zementkreuze erreicht, die sich aus der terrakottafarbenen Erde erhoben. Claire konnte sich erst nicht erinnern, welches Kreuz das ihrer Mutter war, aber Nozias nahm sie bei der Hand und führte sie hin. Er bückte sich und wischte mit seinem Hemdzipfel die dünne rote Lehmschicht aus den gemeißelten Buchstaben. Claire konnte dieses Jahr zum ersten Mal den Namen ihrer Mutter buchstabieren. Der Name ihrer Mutter war ebenfalls Claire gewesen, Claire Narcis. Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater sie Claire Limyè Lanmè genannt, Claire vom Meereslicht.

Nozias’ auffälligstes körperliches Merkmal war, dass er bis auf Augenbrauen, Wimpern und Nasenhaar mehr oder weniger haarlos war. Aus Gründen, die er nie in Erfahrung gebracht hatte, war ihm an seinem restlichen Körper niemals Haar gewachsen. Ein kahler Mann mit tiefschwarzer, von Sonne und Seeluft gegerbter Haut, so kauerte Nozias am Grab, das eine Knie in die feuchte Erde gestemmt, und spuckte auf seinen Hemdzipfel, den er aber nicht nass genug bekam, um die rote Erde ganz vom Namen seiner Frau zu entfernen.

Unweit des Kreuzes von Claires Mutter, am indigoblauen Mausoleum der Lavauds, hing ein rosa Metallkranz, über den sich eine goldene Namensschärpe zog. Neben dem Kranz stand ein kleiner Strauß weißer Rosen. Wie so oft wünschte sich Claire auch jetzt wieder, sie könnte mehr als nur ihren eigenen Namen lesen und schreiben. Ihr Vater vermochte nicht mal das, sie konnte ihn also nicht bitten, ihr den Namen vorzulesen, ihr zu sagen, wer das Kind war, dem man einen so hübschen Kinderkranz und die weißen Blumen hinterlassen hatte.

Die ganze Vorderseite von Nozias’ Hemd war jetzt mit roter Erde verschmiert. Er hatte das Kreuz seiner Frau, so gut es ging, gesäubert. Nun setzte er sich auf die Zementplatte unterhalb des Kreuzes und schien sich bei den Toten durchaus wohl zu fühlen. Doch als er aufblickte, entdeckte er die Stoffhändlerin, die auf sie zukam, mit weißem Spitzenkleid und einem getupften Tuch um den Kopf.

»Ich wusste, dass sie heute kommen würde«, sagte Nozias und stand auf. Er schaute auf sein verschmutztes Hemd hinunter und schien sich zu schämen. Er ergriff Claire Limyè Lanmès Hand und zog sie sanft der Frau in den Weg.

»Erinnern Sie sich an meine Tochter?«, fragte Nozias, während er nervös Claires Schulter tätschelte.

»Bitte«, sagte die Frau. »Erlauben Sie, dass ich mich an meine erinnere.«

*

An dem Tag, als Claire Limyè Lanmè Faustin vier wurde, war Rose, die siebenjährige Tochter der Stoffhändlerin – eines von Hunderten Mädchen, die tokays, Namensschwestern, der Stadt waren – mit ihrer jugendlichen Aufpasserin auf einem moto taxi unterwegs, als ein Auto von hinten in sie hineinfuhr, sodass Rose in die Luft geschleudert wurde. Sie landete kopfüber auf dem Boden.

Rose war mollig und honighäutig wie ihre Mutter, und ihr Haar war immer perfekt frisiert. Ihre Mutter übernahm das selbst, flocht verspielte, abwechslungsreiche Muster auf die Kopfhaut des Mädchens, einfache Blumen oder geometrische Formen. Diejenigen, die wie Nozias den Unfall gesehen hatten, schworen, dass Rose, als sie vom Motorradsitz in den Himmel aufstieg, aus ihrer Grundschuluniform zu fliegen schien, ein Engel in marineblauem Faltenrock und weißer Bluse, und mit ihren erhobenen Armen schlug wie mit Flügeln, ehe sie auf dem Boden aufprallte.

Es war nicht der erste derartige Unfall, den Nozias miterlebte. Diese Stadt war klein und glücklos, so schien ihm, und auf der schmalen, größtenteils unbefestigten Pied Rose Avenue drängten sich zu viele Motorräder, öffentliche Verkehrsmittel und Privatwagen. Aber keiner der vorherigen Unfälle war so bestürzend gewesen wie dieser. Nozias hatte – genau wie die Mütter und sonstigen Augenzeugen, die sofort herbeigerannt kamen – erwartet, dass die kleine Rose schreien würde, doch das Mädchen gab keinen Mucks von sich. Das moto taxi hatte den Stoffladen der Mutter schon fast erreicht, als der Unfall sich ereignete, sodass es nicht lang dauerte, bis die Stoffhändlerin davon erfuhr und, gekrümmt und würgend, noch ehe man ihr die Einzelheiten berichtet hatte, durch den ins Stocken geratenen Verkehr zu der Stelle eilte, wo ihr Kind reglos und blutig im Staub lag. Eine solche Verzweiflung hatte Nozias zum letzten Mal miterlebt, als einige Jahre zuvor das Gymnasium der Stadt eingestürzt war und 112 der 216 Schülerinnen und Schüler ums Leben gekommen waren. Am Tag des moto taxi-Unfalls allerdings traf die Tragödie allein die Stoffhändlerin. Der Autofahrer, der Motorradfahrer und Roses Aufpasserin waren wie durch ein Wunder alle unversehrt geblieben, so wie jene Schüler und Lehrer, die damals aus dem Schutt des zusammengebrochenen Schulgebäudes gekrochen waren. Nozias war dankbar, dass Claire, seit er am Morgen mit ihr das Grab ihrer Mutter besucht hatte, sicher aufgehoben bei einer Nachbarin war, fern von Autos und Motorrädern. Trotzdem vermisste er seine Kleine in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Er vermisste sie so sehr, dass er sogar Eifersucht empfand, als er sah, wie die Stoffhändlerin ihr Kind in den Armen hielt. Wenigstens hatte sie sich während des ganzen kurzen Lebens ihrer Tochter durchweg um sie kümmern können. Aber er war ein Mann. Was wusste er schon darüber, wie man ein kleines Mädchen aufzog? Wäre sie ein Junge, könnte er es vielleicht versuchen. Aber bei einem Mädchen konnte so viel schiefgehen, konnte man so viele hoffnungslose Fehler machen. Er würde immer Kindermädchen brauchen, die er sich nicht leisten konnte, Nachbarinnen, von denen er Gefälligkeiten erbitten musste, oder Frauen, die er entweder bezahlte oder mit denen er schlief, damit sie seine Tochter bemutterten. Und selbst die mütterlichsten Akte wie sie zu baden, sie anzuziehen, ihr das Haar zu flechten, beinhalteten keine Umarmungen, wie sie die Stoffhändlerin jetzt einer blutüberströmten Leiche angedeihen ließ. Er musste mitansehen, wie ein anderes Kind in den Armen seiner Mutter starb, um sich wieder dessen bewusst zu werden, wie sehr er Claire vermissen würde, wenn er sie für immer weggäbe.

*

An dem Tag, als Claire Limyè Lanmè drei wurde, brachte man sie Nozias aus dem Bergdorf zurück, wo sie seit dem dritten Tag ihres Lebens bei der Verwandtschaft ihrer Mutter gelebt hatte. Der Tod seiner Frau war so plötzlich gekommen, dass der Anblick des winzigen Kindergesichtchens Nozias nicht nur traurig gemacht, sondern auch furchtbar geängstigt hatte. Für die meisten Menschen war Claire Limyè Lanmè ein revenan, ein Kind, das genau in dem Moment auf die Welt gekommen war, als seine Mutter die Welt verlassen hatte. Und wenn man diese Kinder nicht sehr genau im Auge behält, kann es leicht passieren, dass sie ihrer Mutter ins Jenseits folgen. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, besteht darin, sie sofort vom Ort ihrer Geburt zu entfernen, und sei es nur kurz. Sonst verbringen sie zu viel Zeit damit, einem Schatten nachzujagen, den sie doch nie erreichen können. Dass Kinder während oder kurz nach ihrer Geburt starben, kam häufig vor. Auch dass Kind und Mutter starben, war nicht ungewöhnlich. Aber wenn die Mutter starb und das Kind überlebte und die Mutter zuvor keinerlei Anzeichen einer Krankheit gezeigt hatte, nahmen die Leute an, dass ein Kampf stattgefunden und derjenige mit dem stärkeren Willen gesiegt hatte. Nozias allerdings stellte es sich eher als eine Art liebevolles Aufgeben vor. Nur einer von beiden war es bestimmt zu leben, und die Mutter hatte ihren Platz aufgegeben.

Doch kaum war der Leichnam seiner Frau aus der Hütte geschafft worden, stellte sich das nächste drängende Problem – das Baby musste gefüttert werden. Die Hebamme hatte der kleinen Claire einen bestickten gelben Strampler aus der umfangreichen Babyausstattung angezogen, die Nozias’ Frau in monatelanger Arbeit genäht hatte. Nozias hatte das Baby hochgehoben und in die dazugehörige gelbe Decke gehüllt, die seine Frau ebenfalls genäht hatte. Nachdem die Hebamme dem Baby etwas Zuckerwasser aus einem Fläschchen gegeben hatte, das ein gekaufter Teil der Babyausstattung war, hatte sie das Kind bei ihm gelassen und war in die Stadt geeilt, um Muttermilchersatz oder eine Amme aufzutreiben. Schon in diesen ersten Stunden war Claire ein einfaches, ruhiges Kind gewesen. Es war, als wüsste sie bereits, dass sie es sich nicht leisten konnte, wählerisch oder fordernd zu sein.

Während jenes ersten Abends mit der kleinen Claire hatte Nozias Visionen, für die er sich selbst verabscheute, Phantasien darüber, sie verhungern zu lassen. Er hatte sich sogar vorgestellt, sie ins Meer zu werfen. Aber er dachte nur deshalb daran, ihr das anzutun, weil er es sich nicht selbst antun konnte. Er konnte sich nicht vergiften, wie er es so sehnlich wollte, denn er konnte sie nicht ganz ohne Eltern zurücklassen und in Kauf nehmen, dass sie irgendwann im Bordell oder auf der Straße endete. Schon jetzt sorgte er sich, dass Moskitos oder Sandfliegen sie stechen könnten, dass sie Malaria oder Denguefieber bekommen würde. Auch um sich selbst hatte er Angst. Er hatte Angst, er könnte auf See bleiben oder von einem Auto überfahren oder von einer schrecklichen Krankheit ereilt werden, die sie für immer voneinander trennen würde.

Eine Stunde verstrich, nachdem der Leichnam seiner Frau weggeschafft worden war, dann eine weitere, und als die Hebamme nicht zurückkehrte, wickelte er die kleine Claire fester in ihre gelbe Decke und ging mit ihr in die Stadt.

Es war schnell Abend geworden, und als er nun durch die Stadt lief, sah er sie mit neuen Augen. Der Himmel war wolkig, und es grollte in der Ferne, obwohl nichts auf Regen hindeutete. Das Meer war angestiegen und unruhig geworden, trieb höhere Wellen ans Ufer. Ein paar Stadtbewohner schlichen geduckt herum, die meisten mit dem Rücken zum Wind, auf dem Heimweg von der Arbeit oder den Feldern. Andere räumten Schaukelstühle und Blumentöpfe von ihren filigran verzierten Veranden, alles, was hochgehoben und hineingetragen werden konnte. Der Wind verlangsamte Nozias, der ab und zu herangewehte Zweige von der Babydecke klaubte. Er spürte, wie sich das Baby an seiner Brust krümmte, und um nicht daran zu denken, wie hungrig die Kleine sein musste, dachte er an seine Frau, die manchmal, auch an Tagen, an denen sie nicht in Albert Vincents Bestattungsinstitut Leichen waschen und ankleiden oder etwas einkaufen gehen musste, durch die Stadt geschlendert war, nicht um irgendetwas Bestimmtes zu tun, sondern einfach um Leute anzuschauen, Gesichter, sich auf den Märkten und in den feinen Geschäften umzusehen und Sachen in die Hand zu nehmen, die sie allesamt, wie sie und die Verkäuferinnen wussten, wieder zurücklegen würde.

Er und seine Frau hatten sich kennengelernt, als sie gekommen war, um für einen der Essensverkäufer aus der Markthalle in der Innenstadt Fisch zu kaufen. Sie drehte an drei Tagen in der Woche ihre Runde und begutachtete den Fang jedes einzelnen Fischers, bevor sie einen kleinen Korb mit Schnappern und Dorschen füllte. Bald begann er seine besten und größten Fische für sie aufzuheben. An Tagen, an denen er mit ihr rechnete, aber nicht ausfahren konnte, oder an denen er einen schlechten Fang gemacht hatte, war er doppelt traurig.

Er nannte sie madanm mwen, Ehefrau, obwohl es eigentlich »fanm mwen« hätte heißen müssen, einfach nur Frau, was soviel hieß wie Geliebte, aber diesen Ausdruck mochte er nicht. Für Nozias klang er irgendwie anzüglich, nach einem heimlichen Verhältnis. Sie hatten nie amtlich geheiratet. Aber sie hatte sich leicht überreden lassen, bei ihm einzuziehen. Sie schlief in einem der Schuppen am Markt und ging jeden Tag zum Bestattungsinstitut, um zu fragen, ob sie aushelfen könne – die Toten waschen und ankleiden, so wie sie es auch schon in den Bergen gemacht hatte, bevor sie in die Stadt gezogen war. Wenn er seinen Fischerfreunden die Geschichte ihres Kennenlernens erzählte, fügte er oft hinzu, er sei der einzige Mann, den sie möge, der nicht tot sei. Also fragte er sie eines Tages, ob sie mit ihm zusammenleben wolle, und sie sagte Ja.

Am Tag vor ihrem Einzug räumte er ein bisschen auf, besserte die Wände der Hütte aus, ersetzte ein paar verrottende Bretter und stopfte einige kleine Löcher im Blechdach. Er kaufte sogar eine nagelneue Schaumstoffmatratze und eine Liege. Er änderte den Namen seines Boots, das bis dahin nach einer verflossenen Liebe geheißen hatte, in ihren Namen um. Von da an hießen all seine Boote Claire.

Alles lief gut, bis sie versuchten, ein Kind zu bekommen.

Nozias spürte wieder, wie die kleine Claire sich regte, während er an dem weißen Eckgebäude vorbeieilte, in dem das Krankenhaus der Stadt untergebracht war, L’hôpital Sainte Thérèse. Nach ihrem Einzug nahm Claire Narcis, Tochter einer Familie von Bestattern und Klageweibern aus den Bergen, monatelang in Rum getränkte Kräuter und Blätter zu sich, die eine Schwangerschaft befördern sollten. Stattdessen wurde sie davon betrunken, was zwar zu häufigerem Sex führte, der aber ergebnislos blieb. Ein Jahr lang wünschte er, er hätte schon vor ihrem Einzug gewusst, wie wichtig es ihr war, ein Kind zu bekommen. Dann hätte er ihr zumindest von seiner Fast-Operation erzählt.

Voller Angst, eine Handvoll Kinder am Hals zu haben, die er nicht würde ernähren können, hatte er seinen Wunsch, erst gar keine zu kriegen, immer wie ein schreckliches Geheimnis mit sich herumgetragen, etwas, durch das er sich weniger als Mann fühlte. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er am L’hôpital Sainte Thérèse vorbeikam, so wie eben gerade, und dort nicht die übliche frühmorgendliche Schar Kranker und Sterbender warten sah, sondern eine lange Schlange gesunder junger Männer. Neugierig sprach er sie an und erfuhr, dass es einen einfachen Weg gab zu verhindern, dass er Kinder bekam, etwas, wonach er zwar immer noch Vorsichtsmaßnahmen ergreifen musste, um nicht krank zu werden, aber nicht mehr Vater werden konnte.

Nach einer ziemlich langen Einführung im Hof des Krankenhauses und einem kurzen Film mit den Erfahrungsberichten dankbarer Männer sagte ein weißer Arzt, offenbar selbst in seinen Zwanzigern, die Männer sollten nach Hause gehen und noch einmal darüber schlafen. Nozias war der einzige, der erklärte, er wolle noch am selben Tag operiert werden.

Der Arzt hatte erst Blutuntersuchungen machen wollen, aber Nozias hatte das mit Hilfe einer dolmetschenden haitianischen Krankenschwester abgelehnt. Er wolle die Operation und sonst gar nichts. Der Arzt hatte nachgegeben.

Man sagte ihm, er werde die ganze Zeit wach sein. Er bekam ein Laken über die Körpermitte gelegt, damit er nicht sah, was der Arzt tat. Doch als er das Pieksen einer Nadel an einem seiner Hoden spürte, stieß er einen gellenden Schrei aus und brüllte, er habe es sich anders überlegt. Nozias sprang vom Operationstisch auf, zog sich die Hose an und stürmte mit dem sicheren Gefühl aus dem Krankenhaus, dass er irgendwann Vater werden wollte.

Er wünschte, er könnte sich seiner Sache auch jetzt so sicher sein, als er, die neugeborene Claire an die Brust gepresst, Richtung Kathedrale hastete. Die Glocken begannen sieben Uhr zu läuten, als schlügen sie Alarm, und die Leute strömten in die Kirche, zur Abendmesse und um Schutz vor dem Wind zu suchen. Durch einen Spalt in der massiven Holztür erhaschte Nozias einen Blick auf das Kruzifix, das bunte Glas der Kirchenfenster und die Kerzenflammen. Angesichts der Umstände ihrer Geburt und der Einstellung, die manche Leute zu Kindern wie ihr hatten, überlegte er, ob er Halt machen und Claire segnen lassen sollte. Aber dann dachte er daran, wie lange sie schon nicht mehr gefüttert worden war und entschied sich dagegen. Im Weitereilen sah er, dass ein weißhaariger Priester die Kirchentür für ihn aufhielt. Es war Pè Marignan, der Dekan von Sainte Rose de Lima. Der Priester hob die Hand und segnete sie beide rasch von der Tür aus. Nozias dankte ihm mit einem Nicken und hastete weiter zu Chez Lavaud, dem Stoffladen der Stadt. Dort sah er die Stoffhändlerin neben ihrem uniformierten, bewaffneten, stämmigen Wachmann stehen, der gerade das Metalltor des Ladens mit Kette und Vorhängeschloss sicherte. Neben ihr stand ihre dreijährige Tochter und zupfte an ihrem Rock. Claire begann zu weinen, und die Stoffhändlerin wandte den Kopf, um zu schauen, wo das Weinen herkam.

»Madame«, sagte Nozias und ging auf sie zu.

Er sah der Stoffhändlerin an, dass sie bereits wusste, was passiert war. Wie auch nicht? Neuigkeiten verbreiten sich nirgendwo schneller als in Ville Rose. Die meisten Frauen der Stadt hatten vermutlich davon gehört, dass das Herz seiner Frau am Ende der Geburt plötzlich stehengeblieben war, aber weil sie Angst hatten, dass die Seele der Mutter zurückkommen würde, um das Kind zu holen, war bisher niemand außer der Hebamme, die solche Dinge gewohnt war, ihm und dem Kind zu Hilfe gekommen.

Nozias für sein Teil hatte davon gehört, dass die Stoffhändlerin ihre pummelige dreijährige Tochter immer noch stillte. Ein Kind dieses Alters – Rose hieß das Mädchen – noch nicht entwöhnt zu haben war für eine angesehene Frau wie sie so ungewöhnlich, dass alle es wussten. Und jetzt erwies sie sich als freundlicher und mutiger, als er erwartet hatte, denn sie bat ihren Wachmann, das Tor wieder aufzuschließen, bedeutete ihm, er möge draußen warten, und Nozias, er solle ihr folgen. Sie öffnete eine weitere Tür und betätigte einen Lichtschalter, worauf mehrere Glühbirnen aufleuchteten, die über den Stoffregalen und den hoch aufragenden Tuchrollen baumelten. Nozias, die Stoffhändlerin und ihre schläfrig aussehende Tochter setzten sich alle auf eine lange Holzbank im Wartebereich. Die Stoffhändlerin knöpfte ihre Seidenbluse auf und versuchte gar nicht erst, ihre großen Brüste zu verbergen, die ein par Nuancen heller waren als ihr Gesicht.

Claire ließ sich gut anlegen und trank erst die linke, dann die rechte Brust der Stoffhändlerin leer, während Rose ehrfürchtig und todtraurig zuschaute, als wäre ihr bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, dass ihre Mutter das nicht nur für sie tun konnte.

Nozias dachte, er könnte Claire vielleicht jeden Tag zur Stoffhändlerin bringen, doch nachdem diese das Baby angelächelt und angegurrt hatte, verhärteten sich ihre Züge, und sie gab Nozias seine Tochter mit einer finsteren Miene zurück, von der man hätte meinen können, sie sei Kredit erbittenden Kunden vorbehalten. Die Stoffhändlerin zeigte auf die schläfrige Dreijährige, die neben ihr saß, und sagte: »Sie braucht meine Milch.«

Er sagte es nicht, aber er dachte, dass ihre und seine Tochter jetzt Milchschwestern waren. Die Stoffhändlerin hatte Claire die Brust gegeben. Könnte er sie nicht fragen, ob sie Claires Patin werden wollte? Die Mittel dazu hatte sie zweifellos. Und ihre Familiengeschichte in der Stadt reichte weit zurück. Ihr einer Großvater war Ingenieur gewesen. Er hatte den Leuchtturm auf Anthère Hill erbaut und mehrmals nach Hurrikanen beim Wiederaufbau der Stadt geholfen. Der andere Großvater war Apotheker und Laien-Medizinmann gewesen. Die eine Großmutter hatte ihren eigenen Zuckerrohrbetrieb gehabt, die andere war Lehrerin am Gymnasium gewesen. Ihr Vater war Friedensrichter gewesen, und ihre Mutter töpferte Vasen, die sie in einem eigenen Laden in Port-au-Prince verkaufte.

Das einzige, was Nozias an der Stoffhändlerin nicht gefiel, war der lockere Lebenswandel, den man ihr nachsagte, ihr angeblich verzweifeltes Verlangen nach männlicher Gesellschaft. Nozias wusste, dass seine Frau oft in den Stoffladen gegangen war, um ihre handgestickten Babydecken gegen anderes zu tauschen. Jetzt fragte er sich, ob sich die beiden Frauen jemals länger unterhalten hatten. Hatten sie je anders als geschäftlich miteinander gesprochen? Als potentielle junge Mütter?

Während er neben der Eingangstür des Ladens stand und das warme, zufriedene Baby in den Armen wiegte, dachte er, dass die Stoffhändlerin es sich vielleicht noch anders überlegen würde, wenn er nur lang genug wartete. Würde sie sein Kind so hübsch oder bedauernswert finden, dass sie es noch einmal zum Trinken kommen lassen würde? Doch sie griff in ihre Rocktasche, fischte ein paar Scheine heraus und schob sie ihm hin.

»Haben Sie irgendwelche Verwandte?«, fragte sie und strich dabei ihrer Tochter über das perfekte Haar. »Eine Schwester?« Ehe er antworten konnte, sagte sie: »Wenn Sie keine Schwester haben, sollten Sie sie zur Familie Ihrer Geliebten schicken.

Haben Sie eine Grabstelle für Ihre Geliebte?«, setzte sie hinzu. »Wenn Sie möchten, können Sie einen Teil unserer Grabstelle auf dem Friedhof nutzen.«

Der Wind hatte sich gelegt. Er dankte ihr und eilte mit dem schlafenden Kind in den Armen nach Hause. Die Hebamme erwartete ihn vor der Tür.

»Sie sind mit diesem Kind nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs gewesen?«, fragte sie tadelnd.

Die Hebamme hatte Fläschchen und Pulver und aufbereitetes Wasser mitgebracht und wollte das schlafende Baby unbedingt füttern. Diese Fläschchen und das Pulver und das aufbereitete Wasser würden zusammen mit den Begräbniskosten fast das gesamte Geld aufzehren, das seine Frau und er für ein Häuschen fern vom Meer gespart hatten.