Kein Erbarmen - Ulrike Gerold - E-Book

Kein Erbarmen E-Book

Ulrike Gerold

4,8

Beschreibung

Ex-Kommissar Tabori war bei seinen Kollegen in Hannover einst bekannt für seine unorthodoxen, aber erfolgreichen Ermittlungsmethoden. Ein ungelöster Fall lässt ihn den Dienst bei der Mordkommission kurzerhand quittieren. Nun lebt er als Privatier in einer Wohngemeinschaft mit der ebenso attraktiven wie resoluten Hundetrainerin Lisa. Noch während Tabori mit seinem überstürzten Entschluss hadert, erfährt er, dass man eine Hundeführerin der Polizei tot aufgefunden hat. Anfangs deutet alles auf einen Selbstmord hin. Doch wenig später wird ein Ausbilder ihrer Abteilung zu Tode gefoltert, und ein weiterer Beamter verschwindet spurlos. Aufgrund eines anonymen Briefes gerät Tabori selbst in den Kreis der Verdächtigen und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt ihn zunächst von Hannover nach Nord-Jütland in Dänemark. Kaum hat Tabori einen ersten Ansatzpunkt gefunden, stolpert er unerwartet über eine mögliche Verbindung dieser Taten zu den Aktivitäten eines Geheimzirkels, dessen Mitglieder hochrangige Posten in Politik und Wirtschaft bekleiden. Auch der neue Polizeipräsident, den Tabori noch aus der gemeinsamen Schulzeit kennt, scheint involviert zu sein.

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www.zuklampen.de

Informationen zum Buch

Das Autorenpaar Gerold/Hänel schickt Tabori, einen wortkargen Ex-Kommissar, und seine unkonventionelle Mitbewohnerin Lisa als Ermittlerduo ins Rennen.

Informationen zu den Autoren

Die Dramaturgin Ulrike Gerold und der Schriftsteller Wolfram Hänel, beide Jahrgang 1956, leben und schreiben zusammen in Hannover und einem kleinen Ort an der Jammerbucht in Nord-Dänemark. Neben Reiseführern und Theaterstücken umfassen ihre Arbeiten zahlreiche Buchpublikationen, die in insgesamt 22 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet wurden.

Ulrike Gerold / Wolfram Hänel

Kein Erbarmen

Kriminalroman

Impressum

Herausgegeben von Susanne Mischke

©2012 zu Klampen Verlag • Röse 21 • D-31832 Springe

[email protected] • www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, München

www.hildendesign.de

Umschlagabbildung: © HildenDesign unter Verwendung

eines Motives von Shutterstock.com

Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-192-8

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de›

Somme tider

hænger livet

i en tynd tråd.

Og så alligevel er fuglene der,

havet,

børnene.

Ulrik Skeel

Vorspiel

Er ist nackt, er friert, er blutet. Er keucht mit weit geöffnetem Mund, seine Zunge fühlt sich an wie ein pelziger Klumpen. Der Juckreiz unter der Augenbinde ist unerträglich. Seine Arme sind auf den Rücken gefesselt, die Kabelbinder schneiden tief in die Haut der Handgelenke. Es riecht nach Schweiß und Urin. Nach seinem eigenen Erbrochenen.

Er weiß nicht mehr, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, wie lange er schon auf den Knien über den Zementboden rutscht. Raum und Zeit haben jede Bedeutung verloren. Er ist wie ein Anfänger in eine Falle getappt und niedergeschlagen worden, als er wieder zu sich kommt, ist er bereits gefesselt. Zu Anfang versucht er noch, irgendetwas zu begreifen. Er glaubt, dass seine Peiniger zu zweit sind, aber er ist sich nicht sicher. Wenigstens einer von ihnen hat getrunken, als er ihm irgendeine Schweinerei ins Ohr flüstert, ist da eine deutliche Alkoholfahne. Die Stimme klingt nach einem Mann. Oder nach einer Frau, die genau das will: Dass er glaubt, sie wäre ein Mann.

Aber jede Frage, die er zu stellen versucht, wird mit einem harten Schlag ins Gesicht beantwortet, bis er es verstanden hat und die Fragen nicht mehr ausspricht, die jeden anderen Gedanken blockieren: Warum? Warum er? Was wollen sie von ihm? Was kann er tun, damit sie aufhören, ihn zu quälen?

Als ihn ein Stiefeltritt zu Boden wirft, als der nächste Tritt ihm eine Rippe bricht und er sich hilflos wimmernd in seiner eigenen Kotze wälzt, als ihm das Stachelhalsband unerbittlich die Luft abschnürt, als ihm dann der Leuchtstab in den After gerammt wird, da begreift er plötzlich mit erschreckender Klarheit, dass alles, was mit ihm geschieht, sich wie ein Puzzlespiel zusammenfügt. Und dass es kein Erbarmen für ihn geben wird, kein plötzliches Erwachen aus einem bösen Traum, dass niemand ihn erlösen wird.

Jetzt will er nur noch, dass endlich die dumpfe Stimme verstummt, die ihn ohne Pause zwingt, immer wieder die gleichen Befehle auszuführen: Sitz! Platz! Bleib! – Komm! In einer neuen Welle von Panik spürt er deutlich, wie die Hand, die ihn eben noch zur Bestrafung in seine Pissepfütze gedrückt und gleich darauf wieder zur Belohnung mit Fleischresten gefüttert hat, sich um seinen Hodensack schließt. Er schreit vor Angst und Schmerz, sein Herz rast, der Schweiß rinnt in Strömen über seinen Körper. Gleichzeitig ist ihm kalt, er zittert, die Zähne schlagen aufeinander, sein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren, plötzlich hat er Durst – und weiß im selben Moment nur zu genau, was das bedeutet! Er macht noch einen letzten verzweifelten Versuch, etwas zu sagen, aber es ist zu spät. Ihm wird schwarz vor Augen, er spürt schon nicht mehr, wie er mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlägt.

1

Eine kaputte Neonröhre flackerte grelle Lichtblitze. Es war kalt im Raum. Tabori zog unwillkürlich die Schultern hoch und schob die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. Gleichzeitig verfluchte er die hirnrissige Idee, ausgerechnet die Segeltuchturnschuhe angezogen zu haben, durch deren dünne Sohlen ihm jetzt die Kälte des Fliesenbodens die Beine hochkroch. Tabori fühlte eine leichte Übelkeit, der Geruch nach Formaldehyd, Bleichstoffen und Desinfektionsmitteln erwischte ihn jedes Mal aufs Neue. Hinzu kam die ohnehin beklemmende Atmosphäre im Obduktionssaal, jeder Schritt, den er machte, jede Bewegung hallte von den weißen Kacheln der Wände zurück, es gab nichts, was den Eindruck von steriler Leere gebrochen hätte, es fehlte jeder Hinweis auf irgendetwas Persönliches, ganz bewusst schien sogar jede Farbe aus dem Raum verbannt.

Auf zwei Tischen lagen Leichen, die hintere noch mit einem Tuch abgedeckt, die vordere vollständig entblößt, ein gut trainierter Männerkörper mit einer Tätowierung auf dem linken Oberarm, ein einziges Wort nur in gotischen Lettern: RESPEKT. Brust und Bauch fleckig von Hämatomen, über der Niere tiefe Hautabschürfungen, die Vorhaut des Penis gerissen, die Schamhaare von getrocknetem Blut und Sperma verkrustet. Hämatome auch auf den Schienbeinen, beide Knie stark geschwollen, Hautabschürfungen an den Handgelenken. Brandwunden unter den Fußsohlen, wahrscheinlich von ausgedrückten Zigarettenkippen. Nur das Gesicht wirkte seltsam unberührt, trotz des zugeschwollenen linken Auges und der Platzwunde direkt darüber. Das rechte Auge war starr zur Decke gerichtet und blutunterlaufen. Der ganze Körper dünstete einen vagen Geruch nach Alkohol aus.

Tabori schätzte den Mann auf ungefähr Fünfzig, vielleicht drei oder vier Jahre älter als er selber. Aber nicht schlecht in Form, zumindest bevor ihm jemand das hier angetan hatte.

»Ich kann noch nichts Konkretes sagen«, meldete sich der Gerichtsmediziner zu Wort, Dr. Ulrich C. Bohnenkamp, gerade mal Mitte dreißig, stellvertretender Leiter der Pathologie am Gerichtsmedizinischen Institut und Lehrbeauftragter der Universität mit eindeutigen und erschreckenderweise nicht mal unrealistischen Ambitionen auf eine Professur. »Ich bin noch nicht so weit. Ich hab ihn erst heute Vormittag auf den Tisch gekriegt.«

Tabori brauchte nur die näselnd-arrogante Stimme zu hören, um augenblicklich wieder die alten Aversionen gegen den Pathologen zu spüren. Jeder Satz von Bohnenkamp klang, als wäre es eine Zumutung, dass er überhaupt etwas sagen sollte, als wüsste er weiß Gott Besseres mit seiner Zeit anzufangen. Genau diese Typen sind es immer wieder, die mich mit ihrer Selbstherrlichkeit zur Weißglut treiben, dachte Tabori, eine Generation von Zynikern, die nur ihre Karriere im Kopf haben und jeden, der nicht in ihrem Golfclub ist, für einen Penner halten.

Bohnenkamp warf Tabori einen Blick zu, der deutlich die Frage beinhaltete: Was willst du hier überhaupt? Du hast hier nichts zu suchen!

Tabori zuckte mit den Achseln: Ich weiß es selber nicht, aber selbst wenn, wärst du der Letzte, dem ich’s verraten würde.

Im gleichen Moment wurde das stumme Zwischenspiel von Lepcke unterbrochen: »Das sind keine Verletzungen, die er sich bei einer Kneipenschlägerei zugezogen hat, oder?«

»Wohl kaum«, bestätigte Bohnenkamp. »Er ist gefoltert worden, so viel ist sicher. Und das wahrscheinlich über viele Stunden. Anhand der äußeren Verletzungen sollte das selbst für Leute wie euch sichtbar sein …«

Ich hab’s gehört, dachte Tabori, für Leute wie euch! Das Fußvolk, bei dem jeder Satz bedeutet, Perlen vor die Säue zu werfen, das meinst du doch, du aufgeblasener Burschenschaftler! Bohnenkamp verlor sich in einem bewusst mit medizinischen Fachausdrücken gespickten Vortrag über die verschiedenen Verletzungen. Lepcke hatte wie üblich eine Hand lässig in die Hosentasche seines maßgeschneiderten Anzugs geschoben und den Blick auf die flackernde Neonröhre gerichtet.

»Ich dreh ihn jetzt nicht extra auch noch um für euch«, sagte Bohnenkamp abschließend, »von hinten sieht er kaum besser aus, das könnt ihr euch ja vielleicht vorstellen. Nur zur Information noch: Ich habe deutliche Verletzungsspuren am After gefunden, mutmaßlich hervorgerufen durch einen Besenstiel oder auch eine Flasche. Das könnte im Übrigen auch die Ejakulation erklären, die er zweifellos gehabt hat.«

Er zeigte nacheinander auf die eingetrockneten Flecken am Penis, an der Innenseite des linken Oberschenkels, im Schamhaar.

Lepcke blickte fragend.

»Ihr wisst schon, dass jemand, der auf Analverkehr steht, natürlich auch zum Höhepunkt kommen kann, wenn nicht er selber sein Ding irgendwo reinsteckt, sondern jemand anders es ihm sozusagen besorgt …«

»Du willst andeuten, dass er möglicherweise schwul war?«, unterbrach ihn Lepcke.

»Nicht zwangsläufig. Ich könnte euch ein paar Geschichten erzählen, was brave Ehemänner sich von ihren biederen Muttis alles in den …«

»Ist schon gut«, sagte Tabori. »Wir wissen, was du meinst.«

»Und die eingerissene Vorhaut?«, fragte Lepcke.

Bohnenkamp zog die Augenbrauen hoch und holte tief Luft.

»Okay, irgendeinen Grund wird es schon haben, dass du bei der Kripo gelandet bist – akzeptiert, das war mir durchgerutscht. Also dann vielleicht Handarbeit, ein bisschen zu brutal ausgeführt, das wäre vorstellbar, passiert nicht oft, aber doch öfter, als man denkt.« Er kicherte unterdrückt. »Vielleicht das Ergebnis einer versuchten Vergewaltigung, bei der jemand bemüht war, unsere Leiche hier in einen Zustand zu kriegen, der es überhaupt erst möglich machte, dass er …«

»Also könnte es auch eine Frau gewesen sein?«, kam es von Lepcke.

»Oder mehrere!« Bohnenkamp kicherte jetzt ganz offen. »Auch da gibt es ja verschiedene Szenarien, die man sich vorstellen kann. Vielleicht hatte er vorher schon mehrmals abgespritzt, und als dann nichts mehr ging …« Er zuckte mit den Schultern. »Frauen können ja unerbittlich sein, wenn sie nicht das kriegen, was sie wollen.«

»Ist gut«, mischte sich Tabori wieder ein. »Schön, ein bisschen was über deine Phantasien zu hören, aber es reicht dann damit auch. Die Schlussfolgerungen überlass doch bitte besser …« Fast hätte er »uns« gesagt, kriegte den Bogen aber noch. »Lepcke und den anderen Kollegen, die an dem Fall dran sind.« Er drehte sich zu Lepcke. »Wisst ihr schon, wer …«

»Gleich«, unterbrach ihn Lepcke. »Warte einen Moment. – Todesursache?«, wendete er sich wieder an den Pathologen.

»Wahrscheinlich innere Blutungen, aber wie gesagt, ich muss erstmal …«

»Gut. Kommen wir zu unserer zweiten Leiche«, erklärte Lepcke. Er winkte Tabori, dass er ihm zu dem anderen Tisch folgen sollte. »Aber ich warne dich«, setzte er noch hinzu, bevor er das Tuch von dem Körper zog.

Tabori schluckte schwer. Die Warnung war nicht unberechtigt gewesen. Er hatte während seiner Jahre bei der Mordkommission viel gesehen, aber noch kaum einen so bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Körper. Er musste sich zwingen, den Blick nicht einfach abzuwenden. Ein Frauenkörper. Oder vielmehr einzelne Teile eines Frauenkörpers, ein Fuß fehlte, der Unterleib war nur noch eine undefinierbare Masse aus Hautfetzen und inneren Organen. Das Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber er wusste nicht, woher.

»Extrem«, meldete sich der Gerichtsmediziner zu Wort. »Nicht mehr viel übrig, woraus sich irgendwelche Schlüsse ziehen ließen.«

»Die Kollegen von der Spurensicherung haben geschlampt«, kam es von Lepcke. »Aber eigentlich spielt es auch keine Rolle, dass sie den Fuß bisher nicht gefunden haben.«

»Eine Scheißidee, sich von einer Brücke vor einen Zug zu stürzen«, sagte Bohnenkamp, als wäre die Tat gegen ihn persönlich gerichtet gewesen. »Aber als Endlösung durchaus wirkungsvoll.«

Die Kälte ist es, dachte Tabori, dieser andauernde Zynismus, der mich so wütend macht. »Selbstmord?«, fragte er, nur um endlich den Blick abwenden zu können.

Bohnenkamp wendete sich demonstrativ zu Lepcke, bevor er antwortete. »Wie gesagt, schwierig bei dem Zustand. Ich muss da noch mal genauer ran, sie weist ein paar Hämatome an Brust und Schenkeln auf, ebenso am Hals und im Nackenbereich, die schon länger zurückliegen. Genauso wie die Brandnarben unter ihrer Fußsohle.«

»Die nicht von Zigarettenkippen stammen«, erklärte Lepcke.

»Exakt. Die Verbrennung ist zu großflächig. Ich würde auf ein heißes Stück Eisen tippen. Eine Herdplatte vielleicht. Die Ränder deuten darauf hin. Als hätte sie jemand vor einiger Zeit auf eine heiße Herdplatte gestellt. Aber ich bräuchte leider den zweiten Fuß, um das konkret sagen zu können. Und es hat nichts mit den Verletzungen zu tun, die zum Tode geführt haben, das ist sicher.«

»Gibt es Spuren von Geschlechtsverkehr? Vergewaltigung?«

»Der Abstrich hat nichts ergeben. Allerdings gibt es auch hier Anzeichen von Verletzungen im Analbereich, muss ich mir auch noch genauer vornehmen.«

»Und die Kopfwunde da?«, fragte jetzt Tabori. »An der Schläfe, meine ich. Der Bluterguss unterhalb der Wunde, die Färbung ist ähnlich wie bei den Stellen am Hals. Könnte es sein, dass die Wunde ebenfalls nicht von dem Sturz von der Brücke stammt. Oder von dem Zug, der sie überrollt hat?«

»Danke, dass du mich extra noch mal darauf hinweist«, knurrte Bohnenkamp unwillig. »Aber ist mir auch schon aufgefallen, stell dir mal vor! Ich brauche nur mehr Zeit, das ist es. Ihr seid nicht die Einzigen, die ständig was von mir wollen. Und wenn ihr jetzt auch noch anfangt, mir hier jeden Tag neue Leichen anzuschleppen, dann …«

»Sie ist also entweder freiwillig gesprungen«, führte Lepcke weiter aus, ohne auf Bohnenkamps Beschwerde einzugehen, »oder sie ist gestoßen worden, es hat vorher einen Kampf gegeben, es existiert da irgendeine Vorgeschichte …«

»Habt ihr die Brücke schon auf irgendwelche Spuren untersucht?«, fragte Tabori. »Was ist das überhaupt für eine Brücke? Gibt es irgendwelche Zeugen, die etwas gesehen haben könnten?«

»Wir sind noch dabei«, erklärte Lepcke und zuckte mit den Schultern. »Eine Treckerbrücke übrigens, das nächste Kaff besteht aus einem verfallenen Bahnhofsschuppen und zwei einsamen Häusern an einer hoffnungslos von Unkraut überwucherten Sackgasse. Kein schlechter Platz, wenn du nicht gesehen werden willst! Wenn überhaupt kommt über die Brücke vielleicht alle paar Tage mal ein Bauer, das heißt nur leider, dass es auch für uns schwierig wird, irgendeinen Zeugen aufzutreiben. Offiziell läuft es jetzt erstmal unter Selbstmord. Und nein, wir haben keinen Abschiedsbrief gefunden, bisher jedenfalls nicht, aber das muss nichts bedeuten, das weißt du selber, wir haben genug Beispiele, in denen es ebenfalls keinen Brief gab.«

»Aber du hast trotzdem Zweifel, dass es wirklich Selbstmord war?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe auch nicht wirklich irgendeinen Hinweis, der etwas anderes nahe legen würde. Deshalb brauche ich möglichst schnell genaue Angaben, welche Wunden zu welchem Zeitpunkt …«

Bohnenkamp hob genervt die Hände, sparte sich aber die erneute Erwiderung, dass er hoffnungslos überlastet war.

»Ich sehe noch nicht die Verbindung zwischen den beiden«, sagte Tabori. »Habt ihr wenigstens einen Namen, wisst ihr, wer die beiden sind, hatten sie etwas miteinander zu tun, gibt es doch irgendwo einen Abschiedsbrief von der jungen Frau? Aber du weißt selber, wonach du suchen musst, also was soll ich überhaupt bei der ganzen Sache?«

»Das würde mich allerdings auch interessieren«, kam es prompt von Bohnenkamp.

»Okay, dann fasse ich mal zusammen …«

Lepcke zeigte auf die männliche Leiche.

»Oberkommissar Ingo Joschonick, 52 Jahre, Ausbilder in der Abteilung Spür- und Schutzhunde. Im letzten Monat gab es eine Untersuchung aufgrund anonymer Anschuldigungen, die sich aber als haltlos erwiesen. Allgemein galt Joschonick als beliebt und guter Kumpel, der auch mal alle Fünfe gerade lassen sein konnte …«

»Allerdings nur, solange man ihm den verlangten Respekt zollte, nehme ich an.«

Tabori zeigte auf die Tätowierung am Oberarm.

»Hör auf«, sagte Lepcke. »Du weißt doch, wie die Hundeleute sind, interpretier da nicht gleich wieder irgendwas rein. Er war Hundeführer, Mann, Respekt vorm Rudelchef, ganz einfach. Mehr hat das nicht zu bedeuten.«

»Und weil der Schutzhund als solcher durchaus zu faschistoiden Tendenzen neigt, macht es Sinn, wenn man dann für die Tätowierung altgotische Buchstaben benutzt, logisch.«

»Spar dir deine Ironie! Ich weiß schon, warum ich manchmal dankbar bin, dass ich dich nicht mehr am Hacken habe …«

»Ich auch«, erklärte Bohnenkamp ungefragt mit deutlich hämischem Unterton.

»Du hast mich hierher bestellt, vergiss das nicht«, erinnerte Tabori.

Lepcke hob die Hände.

»Okay, okay, stimmt. Also weiter!« Er wendete sich wieder zu dem Leichnam. »Gestern Nachmittag vom Hausmeister tot aufgefunden in einem Kellerraum, der unter den Hundezwingern liegt. Und jetzt im Sommer normalerweise von niemandem betreten wird. Eine Art Heizungskeller, wenn ich die Kollegen richtig verstanden habe. – Und jetzt die junge Frau hier …« Lepcke drehte sich wieder zu dem zweiten Leichnam. »Anna Koschinski, 26 Jahre, vor zwei Tagen um 22:07 Uhr auf der Strecke nach Hamburg vom ICE Jacob Fugger zwischen Isernhagen und Celle überrollt. Um genau zu sein, an einer Treckerbrücke bei einer Ansiedlung namens Dasselsbruch, die ich dir ja gerade schon beschrieben habe.«

Tabori blickte hoch. Er hatte bisher unwillkürlich angenommen, dass erst der Hauptkommissar und danach dann die junge Frau zu Tode gekommen wären. Es irritierte ihn, dass Lepcke sich eben bei der Präsentation der Leichen nicht an die Abfolge der Todeszeitpunkte gehalten hatte. Aber Lepcke redete schon weiter. Und seine nächste Information war dann tatsächlich erst die Überraschung, die er sich offensichtlich bewusst bis zum Schluss aufgehoben hatte.

»Sie war übrigens eine Kollegin. Im zweiten Ausbildungsjahr zur Hundeführerin. Bei …«

»Dem allseits beliebten Hauptkommissar mit der Respekt-Macke«, reagierte Tabori prompt, indem er die einzige logische Schlussfolgerung zog, die sich aus dem Zusammenhang ergab.

»Und, klingelt da irgendwas bei dir?«

Tabori zögerte keine Sekunde.

»Nein. Wieso?«

»Ist dir der Hauptkommissar schon mal irgendwo über den Weg gelaufen?«

»Auf keinen Fall.«

»Und die Anwärterin?«, schoss Lepcke sofort seine nächste Frage ab.

»Nein, auch nicht. Nicht dass ich wüsste, jedenfalls.«

»Komisch eigentlich.«

»Wieso?«

»Ich dachte, du würdest sie kennen.«

Bohnenkamp hob ruckartig den Kopf und grinste Tabori an, als wäre endlich der Zeitpunkt gekommen, um Tabori den längst überfälligen Todesstoß zu versetzen.

»Was soll das?«, wiederholte Tabori, »ich kenne die Frau nicht. Nie gesehen.«

»Und ihr Name sagt dir auch nichts? Anna Koschinski …?«

»Nie gehört.«

»Bist du dir sicher?«, hakte Lepcke nach.

Tabori holte tief Luft.

»Gut. Wie kommst du darauf, dass ich sie kennen würde?«

Lepcke drehte sich zu Bohnenkamp.

»Lass uns mal einen Augenblick allein, ja? Das muss dich jetzt nicht interessieren.«

Der Pathologe warf ihm einen spöttischen Blick zu.

»Fünf Minuten«, sagte er. »Und auch nur, weil ich sowieso aufs Klo muss.«

Unerwartet zog er plötzlich ein Skalpell aus seinem Kittelhemd, neu und noch in Plastikfolie verschweißt, und hielt es Lepcke hin.

»Hier, ein kurzer Schnitt genügt.« Er fuhr sich demonstrativ mit dem Daumen über die Kehle. »Und glaub mir, Lepcke, du würdest nicht nur dir einen großen Gefallen tun.« Mit einem provozierenden Grinsen nickte er Tabori zu.

»Deine Witze waren noch nie besonders gut«, knurrte Lepcke. »Hau bloß ab, bevor ich dir das Ding an die eigene Kehle setze.«

»Ich hab’s gewusst«, meinte Bohnenkamp schulterzuckend, »ihr steckt immer noch unter einer Decke.«

Lepcke und Tabori warteten, bis er den Raum verlassen hatte.

»Was war das jetzt?«, fragte Tabori. »Der tickt doch nicht mehr richtig.«

»Wie man in den Wald reinruft, so schallt es heraus«, erwiderte Lepcke. »Vergiss nicht, du hast noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, ihn als den kleinen Pisser hinzustellen, der er auch ist. Und kaum hat er mal für ein paar Monate gedacht, er wäre dich endlich los, tauchst du plötzlich wieder auf und erinnerst ihn daran, dass seine kleine Welt immer noch von solchen unverbesserlichen Spinnern wie dir bedroht wird. – Ist das T-Shirt eigentlich neu?«, setzte er mit einem Blick auf Taboris Shirt hinzu, auf dem zwei Panzer abgebildet waren, die sich mit ausgerichteten Mündungsrohren gegenüberstanden: BIS EINER HEULT erklärte der dazugehörige Schriftzug unter dem Bild.

»Ist von Lisa. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, meine Sachen auszupacken, da standest du schon vor der Tür.«

»Stichwort!«, nickte Lepcke. »Also wieder zu uns.« Er zeigte mit dem Kopf zu der Frauenleiche hinüber. Als er weiterredete, war jede freundschaftliche Sympathie aus seiner Stimme verschwunden. »Entweder bist du hoffnungslos eingerostet oder du versuchst, mich zu verarschen. Du musst nicht denken, ich wäre inzwischen verblödet, nur weil du nicht mehr dabei bist! Dänemark. Dein Urlaub in diesem Hotel da. Und ich hab dich angerufen, erinnerst du dich?«

2

Eine Woche vorher.

Es war später Vormittag. Tabori hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen. An dem Fahnenmast neben ihm knatterte der Danebro rotweiß gekreuzt vor einem unwirklich blauen Himmel. Halblaut drang ab und an ein Gesprächsfetzen von den anderen Tischen auf der Kaffeeterrasse herüber. Irgendwo weiter weg bellte ein Hund. Kein Autolärm, keine Flugzeuge, kein Radiogeplärre. Das unablässige Geräusch der Wellen, die gegen den Strand anrannten, verstärkte den Eindruck von … Frieden! Das war das einzige Wort, das die Stimmung treffend zu beschreiben schien.

Tabori war nicht zum ersten Mal hier. Schon seit mehreren Jahren hatte er es sich zur Regel gemacht, wenigstens ein paar Tage gegen Ende des Sommers im »Lerup Strandhotel« zu verbringen, nachdem die meist deutschen Ferienhaus-Touristen bereits fast alle wieder abgezogen waren und weit und breit kein nackter Studienrat mehr mit rotverbrannten Schultern beim Family-Tennis das Engagement zeigte, das ihm im Unterricht wahrscheinlich schon lange abhanden gekommen war.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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