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Wenn die Nacht am kürzesten ist, kommen finstere Geheimnisse ans Licht Ein kleiner Ort in den Alpen. Jeden Sommer wird hier die Sonnenwende mit Feuerbildern in den Bergen und Flammenketten entlang der Bergkämme gefeiert. Das zieht Touristen, Alt-Hippies und Esoteriker an, und auch die Tatsache, dass vor Jahrzehnten ein Mensch im Feuer ums Leben gekommen ist, schreckt niemanden ab. Die Dorfbewohner jedoch fragen sich noch immer, ob dieser Tod wirklich ein Unfall war. Kurz vor der diesjährigen Sommersonnenwende geht eine anonyme Warnung bei der Polizei ein: Es wird wieder jemand brennen. In einem Wettlauf gegen die Zeit ermittelt die Polizistin Hannah am Mittsommertag, was es mit der Drohung auf sich hat – und stößt auf einen abgelegenen Hof, verschwundene Frauen und ein dunkles Familiengeheimnis. Ein atmosphärischer Thriller des erfolgreichen Autorenduos Ulrike Gerold und Wolfram Hänel
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ulrike Gerold | Wolfram Hänel
Die hellste Nacht. Deine dunkelste Stunde.
Thriller
Wildbrunn, ein kleiner Ort in den Alpen. Jeden Sommer wird hier die Sommersonnenwende mit Feuerbildern in den Bergen und Flammenketten entlang der Bergkämme gefeiert. Das zieht Touristen, Alt-Hippies und Esoteriker an, und auch die Tatsache, dass vor zwei Jahren eine junge Frau in den Flammen ums Leben gekommen ist, schreckt niemanden ab. Kurz vor der diesjährigen Sommersonnenwende geht eine anonyme Warnung bei der Polizei ein: Es wird wieder jemand brennen. In einem Wettlauf gegen die Zeit ermitteln die beiden Polizistinnen Hannah und Toni, was es mit der Drohung auf sich hat – und stoßen auf einen abgelegenen Hof und ein dunkles Geheimnis.
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Ulrike Gerold und Wolfram Hänel waren lange am Theater, bevor sie zu schreiben begannen. Inzwischen haben sie über 150 Romane, Erzählungen und Bilderbücher veröffentlicht, die in insgesamt 35 Sprachen übersetzt wurden. Bei den S. Fischer Verlagen erschienen zuletzt die Thriller »Rauhnächte«, »Fastenzeit« und »Wallfahrt«. Beide Autoren leben und arbeiten zusammen in Hannover und Berlin und sind Mitglieder im PEN Berlin.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Redaktion: Carlos Westerkamp
Das Werk wurde durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: mauritius images / WESTEND61 und Shutterstock
ISBN 978-3-10-492158-7
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[Motto]
[Hinweistext]
Die Hauptpersonen
Vorspiel
1. Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
Neumetzler-Hof, Wildbrunn 1970
3. Kapitel
Mittsommer, 14.32 Uhr
Neumetzler-Hof, Wildbrunn 1995
4. Kapitel
5. Kapitel
Burning Valley Festival, Wildbrunn 2022
6. Kapitel
Mittsommer, 15.20 Uhr
Neumetzler-Hof, Wildbrunn 2002
7. Kapitel
2. Buch
Mittsommer, 16.30 Uhr
1. Kapitel
2. Kapitel
Neumetzler-Hof, Wildbrunn 2023
3. Kapitel
Mittsommer, 17.00 Uhr
4. Kapitel
5. Kapitel
Mittsommer, 17.12 Uhr
6. Kapitel
7. Kapitel
Mittsommer, 17.25 Uhr
8. Kapitel
9. Kapitel
Mittsommer, 18.10 Uhr
10. Kapitel
11. Kapitel
Mittsommer, 20.30 Uhr
3. Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
Epilog
Nachwort
Danksagung
Bist du dir sicher, dass wir wach sind?
Mir scheint, wir würden noch schlafen.
Und wir träumen bloß.
William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum
Orte, Namen und Personen
sowie viele Details dieser Geschichte
sind frei erfunden.
Dennoch erzählen wir nichts als die Wahrheit.
Und gerade das, was erfunden zu sein scheint,
beruht auf Tatsachen.
Hannah Meyer, Polizistin, hat keine Angst vor Feuer.
Antonia (Toni) Martin, Polizistin, spielt mit dem Feuer.
Sepp Huber, Polizist, sieht vor lauter Rauch das Feuer nicht.
Heiner Brink, alias Heiner Schulz alias Carlos Garcia, hat zu viele Eisen im Feuer.
Jennifer Hoyes, genannt Jenny, verbrennt sich die Finger.
Alois Neumetzler, Bauer, wird kurz vorm großen Feuer als vermisst gemeldet.
Mizzie Neumetzler, seine Schwester,
Maria Neumetzler, die Mutter,
Johann Neumetzler, der Onkel, sind alle im Feuer gestorben.
Xaver Neumetzler hat das Feuer entfacht.
Klaus-Peter Fischbauer, Wirt vom Braunen Hirschen, und seine Gefolgsleute würden gerne alles abbrennen, was ihnen nicht passt.
Mittsommer, 14.20 Uhr
Unter der Tür hindurch dringt ein dünner Lichtstreifen in den Raum. Aber auch als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann sie nicht richtig sehen, alles wirkt unscharf und verzerrt. Das muss von der Spritze kommen, mit der sie betäubt worden ist.
Sie zwingt sich, jeden einzelnen Gegenstand im Raum so lange zu fixieren, bis sie ihn erkennt. Ein Tisch. Ein Stuhl, der umgestürzt ist. Eine leere Bierflasche auf dem Boden.
Daneben liegt noch etwas. Für eine Sekunde stockt ihr der Atem. Das sieht aus wie ein zusammengekrümmter Körper! Sie braucht einen Moment, bis sie begreift, dass es nur eine alte Decke ist, vielleicht auch ein Sack.
An der Wand neben der Tür steht ein Paar Gummistiefel. Als sie den Kopf dreht, sieht sie einen eisernen Ofen. Einen Korb mit Brennholz und ein Beil.
Der hintere Teil des Raumes liegt völlig im Dunkeln. Es scheint kein Fenster zu geben. Oder das Fenster ist mit Brettern vernagelt. Ohne eine einzige Ritze.
Erst jetzt wird ihr klar, dass sie mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt ist. Mit groben Stricken, wie man sie auf einem Bauernhof benutzt, um Strohballen zu binden. Als hätte jemand absolut sichergehen wollen, dass sie aus dieser verdammten Hütte nicht fliehen kann.
Sie weiß nicht, wie lange sie schon hier ist. Als sie vor der Tür der Hütte überrascht worden ist, war es kurz vor elf. Sie erinnert sich, dass sie gerade erst noch auf ihre Uhr geblickt hatte. Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist.
Eine Betäubung kann bis zu sechs Stunden anhalten, das weiß sie von einer befreundeten Anästhesistin. Aber sie glaubt nicht, dass sie so lange ohne Bewusstsein war.
Sie kann die Hitze der Sonne auf dem Dach spüren, und sie hört, wie die Holzbalken knacken. Es muss Mittag sein, früher Nachmittag, ganz sicher nicht später.
Ihr Mund ist trocken. Sie hat Durst. Ihr ist übel. Ihr Kopf schmerzt. Auch das kommt von der Spritze. Außerdem muss sie dringend pinkeln.
Von draußen dringt der Ruf eines Bergvogels in den Raum. Vielleicht ist es eine Dohle. Das heisere Krächzen klingt wie eine Warnung.
Sie hat keine Angst. Noch nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Es war dumm, dass sie den anderen nicht gesagt hat, wo sie hinwollte. Aber sie ist sich sicher, dass sie in dieser Hütte am Waldrand ist. Und die Hütte ist nicht weit entfernt vom Hof. Von dem verdammten »Spukhof«. Über den sie so vieles weiß, was sie lieber nie erfahren hätte.
Sie werden sich denken können, wo sie hinwollte. Wenn sie jetzt nicht zurückkommt, werden sie nach ihr suchen. Und sie werden sie finden! Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie kommen.
Sie muss immer noch pinkeln. Der Druck auf ihre Blase ist jetzt so stark, dass sie unwillkürlich die Beine zusammenpresst.
Die Dohle krächzt wieder und flattert davon. Sie kann ganz deutlich das Schlagen der Flügel hören. Für einen Augenblick ist es still. Dann nähern sich Schritte auf den Steinplatten vor der Hütte.
Es kann ja nicht immer möglich sein,
dass alles sich glücklich ende.
Und wenn die Sonne am höchsten steht,
kommt doch immer die Sonnenwende.
Ferdinande von Brackel (1835–1905)
Zwei Tage vorher
Hannah hatte keine Ahnung, was sie in Wildbrunn erwarten würde. Im Netz hatte sie über den Ort selbst nicht viel erfahren können, nahezu alle Einträge bezogen sich auf das »Burning Valley Festival« – »Das Treffen der letzten Hippies, Tramper und Landfahrer«, wie das alljährliche Fest zur Mittsommernacht angekündigt wurde. Mit entsprechender Musik aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Nacktbaden im Fluss und freier Liebe unterm Sternenhimmel, vor allem aber mit genügend bewusstseinserweiternden Substanzen, um die Berge des Voralpenlandes unversehens auf Himalaya-Höhe anwachsen zu lassen. Und als Höhepunkt schließlich das große Feuerspektakel auf dem langgezogenen Bergkamm zum Gipfel des Katzenkopfs hinauf, des Hausbergs von Wildbrunn. Eine Vielzahl lodernder Feuer, aufgereiht wie an einer Perlenschnur, die zusammen mit den Feuern auf der Festivalwiese das ganze Tal in ein einziges Flammenmeer zu verwandeln schienen.
Das große Feuerspektakel, bei dem wieder jemand »brennen« würde, wie es in dem anonymen Schreiben hieß, das bei der Polizei eingegangen und zeitgleich auch auf den verschiedenen Festival-Accounts bei Facebook, Instagram und X aufgetaucht war:
ES WIRD WIEDER JEMAND BRENNEN.
Die Kombination aus der eindeutigen Morddrohung und dem spirituellen Hintergrund des Hippie-Treffens hatte Hannahs Abteilung ins Spiel gebracht, die Sondereinheit für Sekten, Psycho-Organisationen und okkulte Gruppierungen, auch kurz SPOG genannt.
Laut der Informationen, die Hannah bekommen hatte, waren der Ort und das Festival aufgrund der »Feuertoten« zu einiger Berühmtheit gelangt, es gab da in der Vergangenheit eine auffällige Häufung von Selbstmorden und Unglücksfällen, immer zur Zeit der Sommersonnenwende bei den traditionellen Feiern in der Mittsommernacht. Tatsächlich hatte es auch schon mal einen möglichen Mordfall gegeben, zwei Jahre zuvor war eine junge Frau während des Hippie-Treffens zu Tode gekommen, der Fall war mit dem Verdacht auf ein Tötungsdelikt untersucht, dann aber als ungeklärt zu den Akten gelegt worden. Der Kommissar aus der nahegelegenen Kreisstadt, der damals die Ermittlungen geleitet hatte, war kurz darauf verstorben, die jetzige Hauptkommissarin war seine Nachfolgerin.
In Wildbrunn selbst gab es nur eine kleine Polizeistation, die für die Zeit des Festivals immerhin auf drei Beamte aufgestockt wurde – von denen sich allerdings einer gerade krankgemeldet hatte, wie die neue Hauptkommissarin Hannah mitteilte. Hannah hatte die Kollegin, mit der sie zusammenarbeiten sollte, am Vormittag kennengelernt, gleich nachdem sie in der Stadt angekommen war und im Hotel eingecheckt hatte.
Antonia Martin war ein paar Jahre jünger als Hannah, Hannah schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig. Groß gewachsen, sportlich, durchtrainiert, ein Twiggy-Typ mit hochstehenden Wangenknochen und leicht schrägen, fast grünen Augen. Zusammen mit den halblangen und fast schwarzen Haaren erinnerte sie Hannah an die irische Schauspielerin in einem Film, dessen Titel sie ebenso wie den Namen der Irin längst wieder vergessen hatte.
Auf jeden Fall gefiel Hannah die Frau, sie fand Antonia Martin auf Anhieb sympathisch. Die Sympathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, »nenn mich Toni«, sagte die Kollegin, als sie mit Hannah über den Parkplatz zu ihrem Auto gingen. Einem feuerwehrroten Alfa Cabrio, »war nicht so teuer, wie er aussieht«, erklärte Toni, als sie den Motor startete. »Ist auch schon fast zwanzig Jahre alt, aber ich stehe nun mal auf Autos, die auch noch aussehen wie Autos und ein bisschen was hermachen, vor allem an der Ampel, wenn die Typen in ihren Möchtegern-Panzern links und rechts von mir ordentlich nervös werden.«
Spätestens jetzt hatte Toni alle Dämme gebrochen und Hannah vollständig für sich eingenommen. Was sich auch nicht änderte, als sie Hannah über die Situation ins Bild setzte, die die besagte Morddrohung so durchaus realistisch erscheinen ließ: »Meinen ersten Toten hier hatte ich letztes Jahr, ebenfalls während des Festivals, quasi als Einstieg in den Job, da war ich gerade erst ein paar Monate in der Stadt. Aber ich glaube, wir sollten uns auf die Tote im Jahr davor konzentrieren, das Hippie-Mädchen! Der Fall ist nie aufgeklärt worden, ich bin mir aber sicher, dass es ein Mord war, anders als der Tote im letzten Jahr.«
Natürlich wusste Hannah auch von dem Toten im vorigen Sommer, da war es eindeutig ein Unfall gewesen, nach dem kurzen Vermerk in den Akten war der Mann zum Opfer der Flammen geworden, als er heillos betrunken in eins der Feuer am Berg gestolpert war.
»Okay«, sagte Hannah, »erzähl mir mehr von dem Hippie-Mädchen vor zwei Jahren. Die Frau ist ebenfalls im Feuer umgekommen, stimmt das?«
»Als Puppe verkleidet ins Feuer geworfen und verbrannt«, bestätigte Toni, während sie unter gleichzeitigem Einsatz von Hupe und Gaspedal einen Lieferwagen überholte, um dann gerade noch vor dem Gegenverkehr wieder auf die rechte Fahrbahn zu wechseln. »Eine Hexenverbrennung, nichts anderes«, setzte sie mit zusammengekniffenen Lippen hinzu. »Eine Frau, die ihnen aus irgendeinem Grund nicht gefiel. Vielleicht weil sie sich nicht an die Regeln gehalten hatte, was auch immer für Regeln das sein mögen. Oder sie war … auserwählt, als Opfergabe! Um die Welt zur retten, Love and Peace!«
Tonis Stimme triefte nur so vor Hohn, gleich darauf schüttelte sie den Kopf, als wollte sie sagen, dass selbst das Unmögliche durchaus vorstellbar war. »Nach dem wenigen, was die Spusi noch von ihr gefunden hat, war sie als Peterl-Puppe verkleidet, so wie sie das hier seit Ewigkeiten machen. Nur dass es da tatsächlich Puppen sind und keine Menschen. – Was weißt du über Hippies?«, fragte sie so unvermittelt, dass Hannah einen Moment brauchte, um die passende Antwort zu finden.
»Mein Vater war einer – und ist dann trotzdem Bulle geworden.«
Sie ließ den Satz ohne weitere Erklärung in der Luft hängen, als wollte sie sehen, was Toni damit anfangen würde.
Toni reagierte, ohne zu zögern, als wäre die Schlussfolgerung vollkommen logisch: »Du willst sagen: Nicht einschätzbar? Es können ganz normale Typen sein genauso wie … echte Spinner?«
»Nicht einschätzbar«, bestätigte Hannah. »Passen nicht unbedingt in irgendeine Schublade. Mein Vater selbst hat es mal so formuliert: ›Nicht jeder, der lange Haare hat und wie ein Hippie aussieht, ist deshalb gleich ein netter oder friedliebender Mensch.‹ – Oder in meinen Worten: Der größte Hippie kann sich als der größte Spießer entpuppen, ist nun mal leider so. Trau nie dem ersten Eindruck.«
Unwillkürlich musste Hannah an die Reiterferien in Irland denken, als sie auf dem Markt in Bantry zum ersten Mal eine Gruppe von Convoy-Hippies gesehen hatte. Lkw-Hippies. New Age Travellers. Oder auch einfach »Crusties«, wie einer der Iren an den Marktständen sie nach der angeblichen Dreckkruste unter den bunten Klamotten nannte. Sie waren bei den Leuten im Ort nicht beliebt, so viel wurde schnell klar, es hieß, sie würden in kleineren Dörfern auch ohne Skrupel den Laden plündern und alles mitgehen lassen, was nicht niet- und nagelfest war. Jedenfalls sah man sie lieber wieder fahren als kommen.
Hannah wollte die Schauermärchen nicht glauben, sie dachte bei Hippies an Woodstock, an kiffende Typen, die zu lauter Musik in ekstatischen Verrenkungen tanzten. So wie ihr Vater auf den Fotos aus seiner Jugend. Bis sie dann dort in Bantry mit ansehen musste, wie einer der Rastazopf-Typen seine vier kleinen Kinder der Reihe nach mit Stiefeltritten bedachte und sie unflätigst beschimpfte, bevor dann auch noch der jaulende Hütehund eine Tracht Prügel abbekam …
Tonis Stimme riss sie aus ihrer wenig schönen Erinnerung.
»Das mit deinem Vater habe ich nicht ganz verstanden. Er war echt ein Hippie?«
»Haare bis zum Arsch, Wohngemeinschaft und immer genug Dope, um glücklich zu sein, so ganz nach dem Motto: Hast du Haschisch in den Taschen, hast du immer was zu naschen!« Hannah lachte kurz auf. Wie um die Idiotie des Reims zu unterstreichen.
»Und dann?«, fragte Toni. »Ich meine, wieso …«
»Wieso er zur Polizei gegangen ist? Er behauptet, weil er etwas dazu beitragen wollte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ein ›guter Bulle‹ zu sein, tatsächlich ein Freund und Helfer. Ich glaube ihm! Und im tiefsten Inneren ist er immer noch der alte Hippie, der einen Streit lieber mit Worten als mit der Waffe löst und überzeugt davon ist, dass Kriminelle nur das Resultat einer kapitalistischen Gesellschaft sind.«
Toni zog die Augenbrauen zusammen. »Klingt schräg, überzeugt mich auch nicht. Und du, was sagst du dazu?«
»Ich mag weder Jimi Hendrix noch den Geruch von Patschuli«, wich Hannah einer konkreten Antwort aus. Sie mochte diese Toni, dennoch hatte sie plötzlich das Gefühl, viel zu viel Persönliches von sich zu erzählen. Sie kannten sich ja gerade erst seit einer knappen Stunde, und umgekehrt wusste sie von der Kollegin noch gar nichts. Im Übrigen war sie hier, um zu klären, was es mit dieser anonymen Morddrohung auf sich hatte. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Ortsschild von Wildbrunn war mit schwarzer Farbe übersprüht, statt »Wildbrunn« stand da jetzt »Burning Valley«. Weder Hannah noch Toni kommentierte das Graffito.
Toni bog in eine der schmalen Kopfsteinpflastergassen ab und quetschte den Alfa mit lässiger Eleganz in eine Parklücke, die nach Hannahs Einschätzung kaum passen konnte. Vielleicht für einen Fiat 500, ja, aber nicht für einen deutlich größeren Sportwagen wie das Alfa Cabrio. Tatsächlich waren dann vorne und hinten nur noch Zentimeter zwischen dem Alfa und den Stoßstangen der anderen Wagen, einem alten Volvo mit niederländischem Kennzeichen und einem mattschwarzen Range Rover aus München.
»Respekt«, murmelte Hannah.
»Kein Ding«, erklärte Toni. »Ich hab mal ein paar Monate in Paris gelebt, da lernt man so was. Oder auch nicht«, setzte sie lachend hinzu, »aber dann bist du echt am Arsch.«
Was hast du in Paris gemacht?, wollte Hannah fragen, kam aber gar nicht dazu, weil Toni schon weiterredete: »Los, komm, mischen wir uns unters Volk, damit du einen Eindruck kriegst, was hier abgeht. Dabei kann ich dir gleich noch ein bisschen was über das Spektakel hier erzählen. Ich schätze, du weißt auch nicht viel über die Tradition der Johannisfeuer, die zur Sonnenwendfeier überall am Berg angezündet werden, oder?«
»Ich weiß, dass es die Feuer gibt und dass da Strohpuppen verbrannt werden, aber das war’s auch schon«, gestand Hannah. »Es geht um die Vertreibung von bösen Geistern, richtig?«
»Um ihre Abwehr, ja, dass die Dämonen gar nicht erst kommen. Außerdem sollen die Feuer auch vor den Hagelstürmen bei Sommergewittern schützen. – Die Sache mit den Strohpuppen nennen sie hier ›Peterl-Verbrennen‹, hat etwas mit den Heiligen Peter und Paul zu tun, damit der Hof nicht abbrennt, was ja früher oft genug passiert ist. In Andalusien verbrennen sie auch eine Puppe, aber da ist es die Judas-Puppe, du weißt schon, Judas, der Jesus verraten hat! Die Puppe stellt immer jemanden dar, der sich unbeliebt gemacht hat, mit Geiz oder Korruption oder irgendwas anderem. Sie wird auf einen angespitzten Holzpfahl gesteckt und so lange übers Feuer gehalten, bis der Judas lichterloh brennt.«
Hannah nickte. Beides hatte sie bereits ebenfalls im Netz gefunden. Und natürlich war der 21. Juni der längste Tag des Jahres, von nun an würden die Tage wieder kürzer werden, daher ja auch der Name: Sonnenwende.
»Und das Feuer selbst ist … ein Symbol für die Sonne?«
»Richtig. Außerdem feiern wir da die Geburt Johannes des Täufers, der im Christentum als der wichtigste Prophet vor Jesus Christus verehrt wird. Und noch jede Menge mehr.« Toni winkte ab, als wäre es müßig, alles aufzuzählen, was mit dem Fest zur Sommersonnenwende zu tun hatte. »Ich hab eine Liste mit ein paar Stichwörtern ausgedruckt, liegt auf dem Revier, kannst du dir nachher gleich ansehen. Ich glaube allerdings nicht, dass es uns wirklich weiterhelfen wird, wenn wir wissen, dass der Johannistag auch das Ende der Spargelsaison ist oder dass um diese Zeit bei Buche und Ahorn der zweite Blattaustrieb beginnt und es sinnvoll ist, jetzt die Hecken zurückzuschneiden.«
»Bleiben uns also diese Puppen, die ins Feuer geworfen werden, als Ansatzpunkt für eine Arbeitshypothese«, überlegte Hannah laut.
»Bleiben uns die Puppen«, bestätigte Toni. »Nur dass hier offenbar irgendjemand die fatale Idee hat, Menschen statt Puppen ins Feuer zu werfen. Und vor genau diesem Hintergrund würde ich auch die anonyme Morddrohung sehen! Viel Zeit haben wir nicht, wenn wir verhindern wollen, dass übermorgen wieder jemand in den Flammen umkommt.«
Hannah stieß die Luft aus, als könnte sie so die gespenstischen Bilder in ihrem Kopf vertreiben. Aber die Bilder blieben. Zum Schrei verzerrte Münder, Augen wie schwarze Löcher im fahlen Bleich der Gesichter, Haare, die lichterloh brannten, in der Hitze der Flammen zu grotesken Formen erstarrte Glieder.
Wenn Tonis Mutmaßung stimmte, dass dieser ungeklärte Fall mit dem Hippie-Mädchen ein Mord gewesen war, ein Ritual-Mord, was auch immer, dann unterschied sich der Fall tatsächlich von den anderen Feuertoten, zumal das Hippie-Mädchen als Einzige nicht aus dem Dorf gestammt hatte. Toni hatte recht, sie mussten unbedingt mehr über diese Sache erfahren, das hatte zunächst Priorität.
Sie waren mittlerweile am Marktplatz mit dem Brunnen angelangt. Die Geschichte mit den Feuertoten wollte so gar nicht zu diesem Ort passen, der wie aus dem Bilderbuch wirkte. Die Häuser mit ihren Lüftlmalereien kauerten wie hingeduckt unter den mit Steinen beschwerten Schindeldächern, die Geranienkästen vor den Fenstern waren grellrote Farbtupfer im hellen Licht der Sonne.
Fehlt eigentlich nur noch ein Bauer mit seinem Ochsenkarren, dachte Hannah, oder wenigstens ein Pferdefuhrwerk mit dem Paar aus dem Wetterhäuschen auf dem Kutschbock, er im karierten Hemd und Lederhosen, sie im geblümten Dirndl …
Im selben Moment bog tatsächlich ein Pferdefuhrwerk auf den Platz ein, das Klappern der Hufe hallte laut von den Hauswänden zurück, das heisere »Hüh!« des Kutschers klang wie ein Ruf aus längst vergessenen Zeiten. Das Pferd war ein Shire Horse, ein wahres Ungetüm von Tier, mehr Schlachtross als Kutschpferd, schwarz-weiß gefleckt und mit buschigem Behang an den Fesseln.
Drei Leute saßen auf dem Wagen, der rotbärtige Mann, der die Zügel hielt, trug Lederhosen, allein seine Rastazöpfe machten deutlich, dass er sicher nicht das Regenmännchen aus dem geschnitzten Wetterhäuschen war. Ebenso wenig wie die beiden blutjungen Frauen links und rechts von ihm, beide mit glatten langen Haaren, Madonnenscheiteln und bunten Batik-Shirts, die eine mit einem Säugling im Arm, dem sie die Brust gab.
Der Wagen hatte einen Zeltaufbau und war mit allen möglichen Gerätschaften beladen. Die Plane war über die ganze Fläche mit einem Bild aus der Zeit des Vietnamkriegs bemalt – ein Gewehr, das mit einem Knoten im Lauf unbrauchbar gemacht worden war.
Neben dem Fuhrwerk her lief ein Border Collie.
»Darf ich vorstellen?«, sagte Toni und deutete auf den Mann, der kurz die Hand zum Gruß hob. »Da hast du Lennart aus Geismar in Hessen. Er kommt jedes Jahr hierher, den ganzen Weg mit Pferd und Wagen über irgendwelche Nebenstraßen. Ich hab gestern schon kurz mit ihm gesprochen, da waren auch noch die beiden größeren Jungen dabei, die er mit der Frau links hat, mit der anderen hat er jetzt das Baby, siehst du ja.«
Es war nicht ganz klar, was Toni von dem selbsternannten Pascha auf dem Kutschbock hielt, Hannah meinte, neben dem offensichtlichen Sarkasmus auch eine leichte Verachtung aus ihren Worten zu hören.
»Und du brauchst gar nicht erst zu fragen«, redete Toni weiter, »die Antwort ist nein, der Typ hat nichts zu sagen, jedenfalls nichts, was uns helfen würde. Nur Geschwätz, dass es alles mit den Sternen zu tun hätte und so …«
»Wie jetzt? Das verstehe ich nicht.«
»Die Toten. Der Mann aus dem Dorf im letzten Jahr und davor die Hippie-Frau. Und noch weiter zurück die anderen Unfälle und Selbstmorde, die es hier gegeben hat. Die Sterne standen ungünstig, deshalb ist das passiert, alles klar?«
Jetzt war ihre Ablehnung ganz deutlich, Hannah sah keinen Anlass, ihr zu widersprechen.
Dicht hinter dem Fuhrwerk bog ein bunt bemalter, ausrangierter Linienbus mit französischem Kennzeichen auf den Platz ein, MAGIC BUS war in Spiegelschrift quer über die Kühlerhaube gemalt, der Hippie hinter dem Lenkrad sah Lennart zum Verwechseln ähnlich. Auf dem Dach war ein Lautsprecher montiert, Hannah meinte, eben noch die letzten Töne eines alten Beatles-Songs zu erkennen, den sie schon ewig nicht mehr gehört hatte: All You Need is Love. Gleich darauf ging es weiter mit Magical Mystery Tour.
Ein alter Mann aus dem Dorf hob drohend die Faust, als der Bus im Schritttempo an ihm vorüberfuhr. Ein paar Kinder kamen aus der Gasse gestürmt und folgten dem knatternden Gefährt, das sie in eine bläuliche Abgaswolke hüllte.
»Wo wollen die hin?«, fragte Hannah. »Geht es da zum Festivalgelände?«
»Die Straße hoch und über die Brücke an der Kirche«, bestätigte Toni. »Dahinter ist die Wiese mit den Zelten und Campingbussen und der Bühne. Du wirst es gleich mit eigenen Augen sehen. Ein bisschen wie Woodstock, nur halt kleiner. Mach dich auf was gefasst!«
Aber dann waren sie gerade erst an der Ecke mit der Metzgerei und dem dazugehörigen Gasthaus, als Tonis Handy klingelte.
»Die Dienststelle hier im Dorf«, sagte sie mit einem Blick aufs Display, »da muss ich rangehen.«
Kaum hatte sie das Gespräch angenommen, zog sie auch schon irritiert die Augenbrauen zusammen, um kurz darauf zu fragen: »Was? Wer? Der Neumetzler Alois? Vom Spukhof? – Jaja, natürlich will ich mit ihr reden. Ich bin hier gerade mit der Kollegin von der Sondereinheit, wir kommen sofort rüber. Haltet seine Frau so lange auf! Fünf Minuten, dann sind wir da.«
Sie unterbrach die Verbindung.
»Die Frau vom Neumetzler-Hof hat gerade ihren Mann als vermisst gemeldet. Seit gestern ist er verschwunden und auch in der Nacht nicht nach Haus gekommen.«
»Könnte das … mit der anonymen Drohung zusammenhängen?«
»Es würde passen, oder?« Toni schüttelte unwillig den Kopf. »Ich kenne ihn, er ist der Neffe des Mannes, der letztes Jahr … verbrannt ist. Er hat zwei kleine Mädchen, soweit ich mich erinnere. Hoffen wir mal, dass er nur in der Stadt versackt ist und von ganz alleine wieder auftaucht.«
Den beiden Polizisten auf dem Revier in Wildbrunn war es nicht gelungen, die Frau von Alois Neumetzler zu bewegen, auf Toni und Hannah zu warten. Als Hannah mit ihrer Kollegin keine zehn Minuten nach dem Anruf auf dem Revier erschien, war Alois’ Ehefrau bereits wieder gefahren: »Als hätte sie plötzlich Angst gehabt, dass die Anzeige ein Fehler war«, erklärte der ältere Polizeihauptmeister, der sich als Huber Sepp vorgestellt hatte. »Sie ist regelrecht geflohen, als sie gehört hat, dass eine Kommissarin aus der Stadt und noch eine andere mit ihr sprechen wollen. Mit quietschenden Reifen vom Parkplatz, wie bei einer Flucht«, wiederholte er. »Keine Ahnung, wo sie hin ist. Aber sie war ohnehin völlig durch den Wind.«
»Okay«, sagte Toni. »Versuchen wir es erst mal auf dem Hof. Vielleicht wollte sie so schnell wie möglich wieder nach Hause. Ich erinnere mich, dass sie kaum etwas gesagt hat, als ich letztes Jahr bei den Neumetzlers war, bei der Ermittlung wegen des Unfalls mit dem Onkel. Der Alois hat die meiste Zeit geredet, die Frau hat ganz still danebengehockt und nur genickt oder den Kopf geschüttelt, wenn ich sie was gefragt habe. Als hätte sie vor irgendetwas Angst gehabt. Vielleicht auch vor mir. Vor der Polizei! Das wäre eine Erklärung dafür, dass sie sich erst jetzt gemeldet hat.«
»Aber wieso ist sie dann persönlich hergekommen?«, fragte Hannah. »Sie hätte auch anrufen können.«
»Hat sie ja getan«, erklärte Huber. »Aber ich hab sie herbestellt, wegen dem Formular, was sie unterschreiben muss und so. Entweder Formular im Internet ausfüllen oder persönlich kommen. Kann ja nicht einfach jeder anrufen und irgendwas behaupten! Es muss schon alles seine Richtigkeit haben, sonst können wir gleich einpacken. Wenn sich keiner mehr an die Regeln hält, geht alles den Bach runter. Sieht man ja bei den Irren da draußen!«
Er zeigte vage in Richtung Festivalgelände. »Wenn Sie mich fragen, würde ich sie alle miteinander nach Hause schicken. Gar nicht erst lange fackeln, zwei, drei Bulldozer über den Platz und fertig. Fall erledigt. Haben wir ja in den Siebzigern auch hingekriegt, als sie bei jeder Gelegenheit ein Hüttendorf gebaut haben, sind dieselben Typen wie damals, ich war oft genug dabei, ich weiß, wovon ich rede. Spinner und Randalierer! Kein Wunder, wenn es dann es-ka-liert. Womöglich haben’s jetzt auch den Neumetzler auf dem Gewissen!«
»Wie meinen Sie das?« Hannah blickte irritiert zu Toni, die aber nur die Augenbrauen zusammenzog und unwillig den Kopf schüttelte.
»Na«, dozierte Huber in einem Tonfall, als würde er mit jemandem reden, der ein bisschen schwer von Begriff war, »ich seh das so: Die haben jemanden gesucht, den sie übermorgen ins Feuer werfen können, ist ja praktisch Werbung für die, wenn wieder einer umkommt. Sensationsgeil sind sie alle, dafür schrecken sie doch vor nichts zurück. Also haben sie sich den Neumetzler geschnappt, vielleicht als er nachts betrunken mit dem Rad nach Hause wollte, so hat er es ja immer gemacht, wenn er einen in der Krone hatte. Haben ihn geschnappt und erst mal irgendwo versteckt, bis die Feuer angezündet werden. Vielleicht ist er auch schon tot, kann gut sein, dann müssen sie nicht erst noch auf ihn aufpassen, eine Leiche haut nicht ab, das macht es einfacher …«
»Ist gut jetzt«, mischte sich Toni ein. »Ihre Phantasiegeschichten bringen uns nicht weiter!« Sie stieß verächtlich die Luft aus, als hätte sie Mühe, nicht noch deutlicher zu werden, und wandte sich zum Gehen.
Huber erhob sich hinter seinem Schreibtisch und beugte sich vor, als wollte er sie am Arm packen, um sie festzuhalten. »Ich wollte nur hilfreich sein, wenn das nicht gewünscht ist, bitte, nicht mein Problem. Aber es bleibt dabei«, knurrte er, während er sich wieder setzte, »ich hab keine Ahnung, warum da nicht einfach kurzer Prozess mit den Spinnern gemacht wird! Wenn es nach mir ginge …«
»Geht es aber nicht«, unterbrach ihn Hannah. »Zum Glück! Und um auf Ihre Frage zu antworten, warum wir die Spinner, wie Sie es nennen, nicht kurzerhand in den nächsten Knast stecken – weil es bestimmte Regeln gibt, wie Sie ja selber gesagt haben.«
Hannah merkte, dass sie kurz davor war, den Mann anzuschreien. Er gehörte zu genau der Sorte Polizisten, derentwegen sie bereits mehr als einmal versucht gewesen war, sich einen anderen Beruf zu suchen.
Toni winkte ihr, dass sie gehen sollten. Ohne Gruß verließen sie das Revier.
»Den merke ich mir«, sagte Hannah, als sie quer über den Parkplatz liefen.
Toni nickte. »Vielleicht hat er sogar recht mit seinem Dummgeschwätz, zumindest die Idee mit der Werbung könnte passen, da sind garantiert eine Menge Fans von heidnischen Ritualen unter den Festival-Typen. Wir sollten das auf jeden Fall im Kopf behalten, ich denke, die Hippies sind durchaus eine Spur, der wir folgen sollten. Aber ich hätte dich warnen sollen, der Hauptmeister ist einfach unmöglich! Der andere Kollege ist dafür ganz okay, ich habe ihn auch letztes Jahr schon kennengelernt.«
»Dann lass uns mit dem arbeiten, bitte, ja? Und denk dir irgendwas aus, womit du diesen bornierten Blockwart beschäftigen kannst. Ich möchte jedenfalls möglichst nicht allzu oft mit ihm zu tun haben.«
»War mein Plan«, versicherte Toni. »Ich lass mir was einfallen. – Blockwart ist gut«, kicherte sie, während sie mit dem Funkschlüssel die Türen des Alfa öffnete. »Aber wir haben Wichtigeres zu tun, als uns mit solchen Deppen zu beschäftigen. Fahren wir!«
Der Neumetzler-Hof sah besser aus, als Hannah ihn sich nach Tonis Beschreibung vorgestellt hatte. Von einem »Spukhof« konnte jedenfalls keine Rede sein, im Gegenteil, das Haus war frisch gestrichen, die Geranien vor den Fenstern blühten, unter einem Kirschbaum standen ein Gartentisch und Stühle, als würde sich hier jeden Moment eine glückliche Familie zu Kuchen und selbstgemachter Limonade einfinden.
Auch das alte Mühlengebäude mit dem geborstenen Holzrad und den verrammelten Fensterläden wirkte eher pittoresk als armselig oder verkommen, der tosende Wasserfall und die Ziegen auf der Bergwiese im Hintergrund ließen das Ganze aussehen wie die mit Photoshop bearbeitete Aufnahme einer Lost-Places-Serie. Bei den Ziegen musste Hannah unwillkürlich an einen anderen Fall denken, in dem ihr ein Ziegenbauer nahezu wörtlich gesagt hatte: »Ziegen verlaufen sich nicht, sie versteigen sich auch nicht im Fels. Schafe ja, Ziegen nie, sie finden immer ihren Weg.«
Was ein deutlicher Widerspruch zu der Geschichte war, die Toni ihr eben noch mal über den ersten Todesfall auf dem Neumetzler-Hof berichtet hatte – die Frau, die angeblich von den Felsen am Wasserfall gestürzt war, als sie eine verirrte Ziege retten wollte.
Vielleicht täuscht das Idyll, dachte Hannah. Vielleicht ist hier nichts so, wie es sein soll. Vielleicht war das damals mit der Frau gar kein Unfall gewesen. Später war dann ihre Tochter im Sonnwendfeuer umgekommen. Ein Selbstmord. Und zehn Jahre danach hatte noch ein weiteres Mädchen, eine Sechzehnjährige, die ebenfalls von diesem Hof kam, Selbstmord begangen.
Dass die toten Frauen alle von hier stammten, hatte Hannah jetzt zum ersten Mal gehört, das war in der kurzen Zusammenfassung, die sie als »Briefing« erhalten hatte, nicht erwähnt gewesen.
Drei tote Frauen, deren Todesumstände niemals genauer untersucht worden waren: ein angeblicher Unglücksfall und zwei Suizide, eine Frau und ein Mädchen, die den Feuertod gewählt hatten. Schließlich eine Pause von zwanzig Jahren, bis zu diesem Hippie-Mädchen. Niemand vom Neumetzler-Hof, aber wieder eine Frau, wieder das Sonnenwendfeuer. Und nur ein Jahr später dann erneut jemand vom Hof, diesmal allerdings ein Mann.
Das ergab kein klares Muster, die einzige Gemeinsamkeit war der jeweilige Zeitpunkt der Todesfälle, das Sonnenwendfeuer. Und natürlich rückten damit die Hippies, die Festivalleute, in den Fokus der Ermittlungen. »Es wird wieder jemand brennen« – der mögliche Zusammenhang zwischen der anonymen Drohung und der Vermisstenanzeige, die Alois’ Frau am Vormittag gemacht hatte, war nur zu offensichtlich.
Toni hatte richtiggelegen mit ihrer Vermutung, dass die Ehefrau von Alois Neumetzler zurück auf ihren Hof gefahren war. Als Hannah kurz die Hand auf die Kühlerhaube des kleinen Suzuki-Jeeps legte, war der Motor noch warm.
Die Frau öffnete die Tür, noch bevor Hannah und Toni die alte Kuhglocke läuten konnten, die als Klingel am Türrahmen angebracht war.
»Frau Neumetzler, dürfen wir reinkommen?« Toni schob sich bereits an ihr vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten. »Das ist meine Kollegin, Hauptkommissarin Hannah Meyer, die mich zurzeit bei den Ermittlungen in einem anderen Fall unterstützt.«
Kein Wort über Hannahs Sondereinheit, und auch kein Wort darüber, dass die Frau nicht im Revier auf sie gewartet hatte.
Hannah fand Tonis Vorgehen richtig, die Frau wirkte ohnehin schon verschreckt genug, als würde sie tatsächlich Angst vor der Polizei haben. Oder zumindest bereuen, sich wegen ihres Mannes an die Polizei gewandt zu haben.
Hinter ihr tauchten jetzt zwei Mädchen auf, Hannah schätzte die Kleinere auf acht oder neun Jahre, die Größere war sicher schon zwölf oder dreizehn.
»Ich bin Mila«, plapperte die Kleine los, »und meine Schwester heißt Lea. Sie sind hier, weil unser Papa verschwunden ist, oder?« Sie trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte sie mit so viel hoffnungsvoller Erwartung in der Stimme, als könnte allein die Tatsache, dass zwei Polizistinnen gekommen waren, nur Gutes bedeuten.
»Quatsch, natürlich nicht«, wies ihre ältere Schwester sie zurecht. »Sei einfach mal still, du nervst.«
Der Blick, mit dem Lea Hannah und ihre Kollegin musterte, war kaum anders als feindselig zu nennen.
»Sie ist gerade in einem schwierigen Alter«, erklärte ihre Mutter.
»Sie ist nämlich in der Pu-ber-tät«, setzte Mia ein wenig altklug hinzu. »Ich werde später auch mal so.«
Die Mutter der beiden Mädchen bat die Polizistinnen nicht in die Wohnung, stattdessen standen sie immer noch im Hausflur, gleich neben der Tür zur Küche. Hannah sah, dass sich der Abwasch in der Spüle türmte, über den Essensresten auf den Tellern, die auf dem Tisch standen, summten dicke Fliegen. Es waren vier Teller, der vierte allerdings war unbenutzt. Auch Toni hatte das bemerkt und fragte ganz direkt: »Haben Sie noch jemanden erwartet?«
»Für Papa!«, meldete sich Mila prompt wieder zu Wort. »Wenn er heimkommt, hat er doch bestimmt Hunger.«
Lea verpasste ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. Mila beschwerte sich postwendend bei der Mutter, die ihrer älteren Tochter mit dem Zeigefinger drohte.
»Wir haben gehofft, dass der Vater vielleicht doch …« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Ist er aber nicht, deshalb bin ich dann zur Polizei.«
»Erzählen Sie uns bitte alles, was Ihnen einfällt«, sagte Toni. »Auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint, aber es kann uns vielleicht weiterhelfen. Sie haben angegeben, dass Ihr Mann gestern Abend das Haus verlassen hat. Wann war das ungefähr?«
Die Antworten der Neumetzler-Frau waren eher einsilbig, aber es zeichnete sich doch ein relativ klares Bild ab. Alois Neumetzler war nach dem Abendbrot aufgebrochen, um mit dem Fahrrad ins Dorf zu fahren. Das tat er manchmal.
»Wenn er mal … eine Abwechslung braucht«, wie es seine Frau zunächst formulierte, bis sie ihre Antwort auf Hannahs Nachfragen präzisierte: »Er hat da im Wirtshaus dann immer was getrunken. Im Braunen Hirschen!«
Aber dann war er nicht wie sonst irgendwann in der Nacht wieder aufgetaucht, auch nicht zum Frühstück.
»Hat er Freunde im Dorf?«, wollte Toni wissen. »Mit wem trifft er sich da im Wirtshaus?«
»Egal, sie kennen ihn alle. Und der Wirt ja sowieso.«
Mit dem Wirt hatte Neumetzlers Frau auch bereits telefoniert. Noch bevor sie die Polizei angerufen hatte. Neumetzler war bis kurz nach eins im Braunen Hirschen gewesen, der Wirt hatte bereits angefangen, die letzten Gläser abzuspülen und die Stühle hochzustellen, als Neumetzler sich von seinem Thekennachbarn verabschiedet hatte und zur Tür gewankt war. Der Thekennachbar war kurz nach ihm aufgebrochen.
»Hat der Wirt gesagt, wer das war?«, fragte Toni.
»Einer von den Festivalleuten, von den Hippies. Der Alois kennt ihn gut, weil er ihm ja auch die Wiese verpachtet und immer Holz für die Feuer bei denen auf dem Gelände verkauft hat. Ordentliches Holz, das auch lange brennt, Buche und Eiche! Nicht irgendwelches Gestrüpp, das nur Funken macht und keine halbe Stunde braucht, bis alles vorbei ist. Heiner heißt er, der Mann, meine ich. Er ist von Anfang an dabei, ich glaube, er hat das Festival sogar gegründet.«
Ob dieser Heiner dann ihren Mann vor der Tür noch getroffen hatte, ob sie sich vielleicht gemeinsam auf den Weg nach Hause gemacht hatten, wusste der Wirt nicht – das Festivalgelände lag rechts neben der Kirche auf der anderen Seite des Flusses, zum Neumetzler-Hof ging es hinter der Brücke nach links, ein Stück gemeinsamen Wegs wäre also durchaus möglich gewesen.
»Das Fahrrad«, mischte sich Hannah ein. »Können Sie sein Rad beschreiben? Vielleicht finden die Kollegen vom Revier es irgendwo, im Dorf oder …«
Toni nickte. »… auf dem Festivalgelände.«
Oder im Fluss, dachte Hannah, ohne den Gedanken laut zu äußern.
»Ein … ein schwarzes Rad, so ein … was früher Mountainbike hieß, aber nicht nur fürs Gelände, sondern auch, um ganz normal auf der Straße zu fahren, ich hab das englische Wort dafür vergessen …«
»ATB«, sagte Toni. »All-Terrain-Bike. Ein Trekkingrad.«
Hannah warf ihr einen erstaunten Blick zu, sagte aber nichts.
»Genau, so heißt das«, bestätigte Neumetzlers Frau. »Mit Batterie. Von welcher Firma das Rad ist, weiß ich nicht. Aber furchtbar teuer, können wir uns eigentlich gar nicht leisten so was. Und ist auch nichts für jemanden wie den Alois! Er ist doch keiner von diesen Angebern aus der Stadt, die hier am Wochenende auftauchen und sich wichtigmachen!«
»Wisst ihr die Marke?«, wandte sich Toni an die beiden Mädchen.
Mila schüttelte den Kopf.
Lea hatte bislang mit keiner Reaktion gezeigt, ob sie die Fragen der Polizistinnen überhaupt verstand, sondern nur mit zusammengepressten Lippen vor sich hin gestarrt.
Jetzt stieß sie plötzlich ihre Mutter zur Seite und rannte an Hannah und Toni vorbei zur Haustür hinaus.
»Entschuldigung«, murmelte Neumetzlers Frau. »Sie ist …« Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es sinnlos, nach irgendeiner Erklärung zu suchen.
»Das kommt alles von dieser Pu-ber-tät«, erklärte Mila.
Von einer Sekunde zur nächsten schien Neumetzlers Frau jegliches Interesse daran verloren zu haben, noch weitere Fragen zu beantworten, vielmehr zeigte sie deutlich, dass sie das Gespräch jetzt beenden wollte – als hätte sie schon viel zu viel erzählt. Oder als wäre es ohnehin vertane Zeit, weil auch die Polizei nichts tun konnte, um ihren Mann wiederzufinden.
Nichts tun konnte oder nichts tun würde.
»Mehr weiß ich nicht. Und ich hab das ja auch alles schon dem Huber Sepp auf dem Revier erzählt, damit er es ›zu Protokoll‹ nehmen kann.«
Dieses »zu Protokoll« klang so verächtlich, dass es den Eindruck ihrer vorherigen Sätze noch verstärkte. Hannah und ihrer Kollegin war klar, dass sie im Moment nichts Wesentliches mehr erfahren würden.
»Wir melden uns, sowie wir etwas Neues wissen. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte direkt an, egal um welche Tageszeit, auch mitten in der Nacht.« Toni hielt der Frau eine Visitenkarte hin, für einen Augenblick schien es, als wollte sie die Karte nicht nehmen, dann schob sie sie ohne einen weiteren Blick in die Tasche ihrer Schürze.
Kaum dass sie wieder im Alfa saßen, griff Toni nach dem Funkgerät und gab die spärlichen Angaben über das Trekkingbike an die Kollegen im Revier durch.
Dann blickte sie zu Hannah: »Fahren wir aufs Festivalgelände? Und suchen diesen Heiner? Es gibt eine Art Infobude da, wo auch das Orga-Team ist, vielleicht haben wir Glück.«
Hannah nickte nur. In Gedanken war sie noch bei dem merkwürdigen Verhalten von Neumetzlers Frau. Irgendetwas passte nicht. Hannah hatte das Gefühl, dass sie etwas übersehen hatten, was wichtig war. Einen Satz, eine unbedachte Reaktion. Aber sie bekam den Gedanken nicht zu fassen.
Toni setzte zurück und wollte eben auf die schmale Teerstraße am Fluss einbiegen, als ihnen Lea vors Auto lief und die Hand ausstreckte, dass sie halten sollten.
»Ich hoffe, ihr findet ihn nicht!«, schrie sie mit einem Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Wut und Verzweiflung war. »Ich will nicht, dass er zurückkommt. Er soll wegbleiben, für immer!«
Bevor Hannah oder Toni reagieren konnten, drehte sie sich wieder um und rannte davon.
Der Hof lag ganz am Ende des Tals, grau und ärmlich. Das unaufhörliche Rauschen des Wasserfalls war wie die stetige Erinnerung, dass sich nichts ändern würde, alles würde bleiben, wie es immer war. Die Sonne schien den Platz nahe der Felswand selbst im Hochsommer zu meiden, im Winter wehte der Wind feuchtkalte Nebelschwaden herüber, die sich wie eine unsichtbare Schicht auf die Haut legten und das Atmen schwer machten.
Wenn der Wildbach im Frühjahr bei der Schneeschmelze zum Fluss anschwoll, über die Ufer stieg und bis ins Haus strömte, stellten sie die Tische und Stühle auf Holzpaletten, um nicht im Nassen zu sitzen. Im Obergeschoss war es besser, aber auch hier war die Nässe überall zu spüren, das Bettzeug war klamm, bei starkem Regen suchte sich das Wasser einen Weg durch das undichte Dach und bildete kleine Pfützen auf dem Fußboden.
Noch eine Generation zuvor hatte der Hof als Wassermühle gedient, jetzt war das Mühlrad geborsten, das Mahlwerk verrostet, die hölzernen Rinnen waren verfault. Xaver hatte die Tür zur eigentlichen Mühle mit schweren Eichenbalken versperrt und die Fenster vernagelt, nur auf dem Dachboden gab es noch eine schmale Öffnung, einer Schießscharte nicht unähnlich, durch die emsig die Schwalben ein und aus flogen, zum Herbst hin kamen die Fledermäuse, im Winter wohnte ein Marder dort oben, manchmal konnten sie sehen, wie er in der Dämmerung eine tote Maus oder Ratte in sein Versteck schleppte.
Es war den Kindern streng verboten, mit der Leiter nach oben zu steigen. Als Xaver den kleinen Johann dabei erwischte, wie er sich gerade durch die enge Luke quetschen wollte, hat er ihn erst windelweich geprügelt und dann für die Nacht in die Kammer neben der Küche gesperrt.
Da konnte die Mutter bitten und betteln, der Xaver hatte kein Nachsehen – »Wer nicht hören will, muss fühlen«, war der Leitsatz, nach dem er seine Erziehung ausrichtete. Ebenso wie sein Leben und das seiner Familie. Das änderte allerdings nichts daran, dass der Johann auch weiterhin unbedingt wissen wollte, was wohl auf dem Dachboden der alten Mühle versteckt sein mochte, das der Vater so besorgt vor ihnen geheim hielt.
Aber der Xaver konnte auch anders. Wenn sie am Sonntag mit dem alten VW-Bus zur Kirche in Wildbrunn fuhren, war er herausgeputzt wie kaum ein Zweiter. Im schicken Anzug, mit schneeweißem Hemd, dezent gestreifter Krawatte und schwarzem Hut, die Schuhe auf Hochglanz geputzt. Und seine Frau im hochgeschlossenen Dirndl mit gestreifter Trachtenschürze, zwischen ihnen auf der Doppelsitzbank die Maria, auch sie im Dirndl. Später dann noch der kleine Johann, ebenfalls mit weißem Hemd und Krawatte, sittsam und bescheiden bei der Mutter auf dem Schoß.
Eine fesche Familie, die versuchte, ein wenig Eindruck zu schinden, auch wenn jeder im Dorf wusste, dass ihr Auftreten so gar nicht den Zuständen auf dem Hof entsprach.
Der verschrammte VW-Bus passte da schon eher, aber für ein anderes Auto reichte das Geld nicht, und sie brauchten einen Lieferwagen, wenn Xaver mittwochs und freitags auf den Markt in der Kreisstadt fuhr, um seinen Ziegenkäse zu verkaufen. Siebzig Ziegen hatten sie auf dem Neumetzler-Hof. Zweimal am Tag wurde gemolken, die Mutter verbrachte die meiste Zeit in der Käseküche, während Xaver am Stall werkelte oder notdürftig die dringendsten Reparaturen am Haus erledigte.
Der kleine Johann wurde schon früh mit eingespannt, zu seinen ersten Worten gehörte der Satz: »Johann muss noch Mist schaufeln.«
Ins Wirtshaus ging der Xaver nur selten, manchmal nahm er das Fahrrad und kam erst spät in der Nacht singend und in Schlangenlinien fahrend nach Hause. Wenn ihm dann etwas im Haus auffiel, das nicht so war, wie es sein sollte, holte er seine Frau und die Kinder aus dem Bett. Johann und Maria bekamen ihre Prügel mit dem Besenstiel, die Frau schlug er mit den bloßen Händen. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich reuig und gelobte Besserung.
»Ich hau euch nie wieder«, versprach er, »aber ihr müsst tun, was ich sage, sonst vergesse ich mich. So ist meine Natur, ich kann nichts dafür.«
Im Sommer war es ein bisschen besser, da zogen sie zusammen mit den Tieren auf die Alm hinauf, hier gab es Sonne und blühende Blumenwiesen, die sie das feuchte Loch im Tal für ein paar Wochen fast vergessen ließen.
Der Vater hatte blendende Laune und scherzte mit der Mutter, zeigte dem Jungen, wie man allerlei wunderliche Tierfiguren aus einem Stück Holz schnitzen konnte, und spielte Verstecken mit der Tochter. Maria war sein Liebling, er tat alles für sie, trug sie stundenlang auf den Schultern über die Wiesen, brachte sie am Abend ins Bett und blieb bei ihr, bis sie endlich schlief.
Natürlich war Johann eifersüchtig. Vor allem seit die kleine Schwester plötzlich alles durfte, während er selber bei den geringsten Widerworten sofort eine Ohrfeige kassierte.
Aber so war es nun mal. Und auch als er in die Schule kam, änderte sich nur wenig. Er war froh über die paar Stunden im Schulhaus, über den Weg nach Wildbrunn und zurück, über die Lehrerin, die ihn oftmals lobte, weil er so fleißig war. Die Mitschüler hänselten ihn als den »Ziegenpeter«, aber es war nicht so schlimm, solange er beim Murmelspielen gewann und bald auch lernte, bei einem Streit ohne Warnung zuzuschlagen – er hatte ja in seinem Vater das beste Vorbild und wusste, wo man den anderen treffen musste, damit es ordentlich weh tat.
So ging es jahraus, jahrein ohne große Veränderungen, ganz so, wie es das Rauschen des Wasserfalls immer schon prophezeit hatte. Bis die Mutter einen fürchterlichen Streit mit dem Vater hatte, der damit endete, dass Xaver mit dem Stemmeisen die Eichenbalken von der Tür zur Mühle riss und von da an nur noch zum Essen an den großen Tisch in der Küche kam. Er sprach kaum noch ein Wort und strafte die Mutter mit Missachtung. Was die ihm allerdings auf die gleiche Weise heimzahlte.
Ein einziges Mal nur wagte es Johann, die Mutter zu fragen, was eigentlich los sei. Die Antwort war ebenso vage wie schwer zu deuten. »Der Herrgott straft uns für unsere Sünden«, sagte die Mutter. Und dann noch: »Sei du bloß froh, dass du kein Mädchen bist. Die schlimmsten Prügel sind besser als das andere, glaub mir.«
Johann mit seinen elf Jahren hatte keine Ahnung, was »das andere« wohl sein mochte.
