Kein Hauch von Wahrheit - Lisa Jewell - E-Book
SONDERANGEBOT

Kein Hauch von Wahrheit E-Book

Lisa Jewell

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Sunday Times-Bestseller None of This is True erstmals auf Deutsch! * CRIME NOVEL OF THE YEAR 2024 * * NOVEL OF THE YEAR BEI DEN TIKTOK BOOK AWARDS 2024 * * SOFORTIGER SUNDAY TIMES-BESTSELLER * * ÜBER 6000 FÜNF-STERNE-REZENSIONEN * * 6 WOCHEN LANG NR. 1 BEI AUDIBLE * »Herrlich düster.« – Lucy Foley »Ein launischer, gerissener Roman.« – Gillian McAllister »Einhundert Prozent brillant.« – Clare Mackintosh »Erschütternd, gruselig und großartig.« – Nicola Walker »Absolutes Suchtpotenzial.« – Claire Douglas __________ Manche Begegnungen verändern dein Leben. Andere zerstören es. Alix Summer ist Podcasterin – erfolgreich, selbstbewusst, mitten im Leben. An ihrem 45. Geburtstag begegnet sie in einem Londoner Pub einer Frau, die auf den ersten Blick kaum auffällt: Josie Fair. Auch sie wird an diesem Tag 45 – und wurde im selben Krankenhaus geboren. Ein Zufall? Oder der Beginn von etwas Unheimlichem? Kurz darauf taucht Josie erneut auf. Sie bittet Alix, ihre Geschichte zu erzählen – sie stehe an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Alix, die selbst mit kreativer Leere und den Eskapaden ihres alkoholkranken Ehemanns Nathan zu kämpfen hat, willigt ein. Doch mit jedem Interview wächst ihr Unbehagen. Josie erzählt von ihrer Jugend, der frühen Ehe mit dem deutlich älteren Walter, von ihren Töchtern Erin und Roxy – und von einem Leben, das von Kontrolle und Schweigen geprägt ist. Alix spürt bald, dass etwas nicht stimmt. Eine diffuse Beunruhigung breitet sich aus – ein Gefühl, das sie nicht mehr abschütteln kann. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Nähe und Gefahr verschwimmen. Josie drängt sich immer weiter in Alix’ Leben – bis Nathan plötzlich verschwindet und ein verstörendes Spiel aus Täuschung und Kontrolle beginnt … Ein faszinierendes Psychoduell zwischen zwei starken Frauenfiguren Beklemmend, hochaktuell und absolut süchtig machend »Sie ist einfach geblieben. Und irgendwann war es zu spät, sie zu bitten zu gehen.« Alix Summer »Manchmal muss man jemanden retten – ob er will oder nicht.« Josie Fair Ein fesselnder Psychothriller über Manipulation, Abhängigkeit und die trügerische Sicherheit des eigenen Lebens. Niemand ist, wer er vorgibt zu sein. __________ Leser können nicht genug bekommen … »Lisa Jewell ist mit einem Knaller zurück!!! das könnte mein Lieblingsbuch von ihr sein.« »Ich bin sprachlos nach diesem schaurigen, düsteren, verworrenen und verrückten Thriller.« »Was zum Teufel habe ich da gerade gelesen???? Fesselnd, unzuverlässig, auf die beste Art und Weise abgefahren und gut konzipiert!« __________ Mehr Lob für Kein Hauch von Wahrheit … »Hat mich umgehauen.« – Adele Parks »Sie werden jeden und alles ignorieren, bis Sie es zu Ende gelesen haben.« – India Knight »Eine spannungsgeladene, hervorragend konstruierte Darstellung von Besessenheit.« – Steve Cavanagh »Sehr düster und verworren.« – Graham Norton »GROSSARTIG.« – Marian Keyes »So spannend, so klug, so einfühlsam.« – Katherine Heiny »Ein düsteres Wechselbad von einem Roman.« – Ruth Ware »Ich habe noch nie ein Buch so schnell gelesen!« – Hayley Morris »Ein gerissenes, spritziges, mitreißendes Buch.« – Louise Candlish »Machen Sie sich auf ein Lesevergnügen gefasst.« – Jojo Moyes »Eine Achterbahnfahrt.« – Jane Fallon »Ich habe es verschlungen!« – Harriet Tyce »Lisa Jewell hat ihren Status als Meisterin des Psychothrillers bestätigt.« – Sunday Express »Der fesselndste Thriller, den ich dieses Jahr gelesen habe.« – Daily Express Nummer 1 Sunday Times Bestseller, März 2024 TikTok Crime Novel of the Year, 2024

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel

Prolog

TEIL EINS

Samstag, 8. Juni 2019

Sonntag, 9. Juni

Montag, 17. Juni

Dienstag, 18. Juni

Mittwoch, 19. Juni

Donnerstag, 20. Juni

Freitag, 21. Juni

Sonntag, 23. Juni

Dienstag, 25. Juni

Mittwoch, 26. Juni

Samstag, 29. Juni

Montag, 1. Juli

Dienstag, 2. Juli

Donnerstag, 4. Juli

Freitag, 5. Juli

Samstag, 6. Juli

Montag, 8. Juli

Dienstag, 9. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Donnerstag, 11. Juli

Freitag, 12. Juli

TEIL ZWEI

Samstag, 13. Juli

Sonntag, 14. Juli

Montag, 15. Juli

Dienstag, 16. Juli

Mittwoch, 17. Juli

Donnerstag, 18. Juli

Samstag, 20. Juli

TEIL DREI

Samstag, 20. Juli

Sonntag, 21. Juli

Montag, 22. Juli

Mittwoch, 24. Juli

Donnerstag, 25. Juli

Sonntag, 28. Juli

Montag, 29. Juli

TEIL VIER

Vier Wochen später

Mittwoch, 15. Juli 2020

Mittwoch, 28. Oktober

Sechzehn Monate später

März 2022

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel von Lisa Jewell

Was damals geschah – The Family #1

Was nicht vergessen wurde – The Family #2

Impressum

Cover

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Inhaltsbeginn

Impressum

Kein Hauch von Wahrheit

Lisa Jewell

Aus dem Englischen von Michael Krug

Prolog

Aus der klimatisierten Kühle des Hotelfoyers in die schwüle Hitze der Nacht zu stolpern, macht ihn nicht nüchterner, sondern vielmehr panischer, klaustrophobischer. Auf seiner Haut bricht Schweiß aus, der sich wie reiner Alkohol anfühlt, und befeuchtet seine Wirbelsäule und seinen Rücken. Wie kann es um 3 Uhr morgens nur so heiß sein? Und wo ist sie? Wo ist sie? Er dreht sich um, hält hinter sich Ausschau nach der jungen Frau, und kann sie verschwommen, undeutlich, wie doppelt, durch das Glas der Fenster des Hotels erkennen. Dann bemerkt er ein Auto, das neben ihm anhält, und sein Herzschlag beruhigt sich. Sie ist hier. Endlich. Gott sei Dank. Diese schreckliche Nacht neigt sich dem Ende zu. Er kneift die Augen zusammen und konzentriert sich auf den Fahrersitz, sucht dort nach dem beruhigenden Schimmer ihres weißblonden Haars. Aber er entdeckt es nicht. Als die Scheibe heruntergelassen wird, schreckt er leicht zurück.

»Was?«, entfährt es ihm, als er die dunkelhaarige Frau hinter dem Steuer erblickt. »Was machst du denn hier? Wo ist meine Frau?«

»Alles gut«, gibt sie zurück. »Sie hat mich geschickt. Sie hat zu viel getrunken und mich gebeten, dich nach Hause zu bringen. Komm. Steig ein.«

Er schaut zurück zu der jungen Frau und sieht, wie sie das Hotel verlässt. Mit schnellen Schritten geht sie in die entgegengesetzte Richtung davon, die Handtasche eng an die Seite gedrückt.

»Ich habe Wasser dabei. Und Kaffee. Komm schon. Du bist im Handumdrehen zu Hause.«

Der Hund auf ihrem Schoß knurrt ihn leise an, als er sich auf dem Beifahrersitz niederlässt.

»Ich dachte, du wärst weg«, sagt er, während er hinter sich nach dem Sicherheitsgurt tastet. »Ich dachte, du wärst gegangen.«

Die Frau lächelt ihn an, schraubt den Deckel von einer Plastikflasche mit Wasser und reicht sie ihm.

»Ja«, antwortet sie. »War ich auch. Aber sie hat mich gebraucht. Wie auch immer, trink das. Trink alles aus.«

Er setzt die Flasche an seinen völlig ausgetrockneten Mund und stürzt das Wasser gierig hinunter. Dann schließt er die Augen und wartet darauf, zu Hause einzutreffen.

TEIL EINS

Ab Mai bei Netflix:

Hi! Ich bin dein Geburtstagszwilling!

Eine ungewöhnliche Serie von den Machern von The Monster Next Door und The Serial Date Swindler. Ein Podcast innerhalb einer Dokumentation – eine Podumentation, wenn man so möchte. Im Juni 2019 begann die beliebte Podcasterin Alix Summer, bekannt für ihre Reihe All Woman über erfolgreiche Frauen, ein einmaliges Projekt namens Hi! Ich bin dein Geburtstagszwilling! über eine Frau aus der Gegend, die am gleichen Tag wie sie geboren wurde. Im Verlauf des Projekts erfuhr Summer mehr über ihre unscheinbare Nachbarin, als sie sich je hätte vorstellen können. Wenige Wochen später lag Summers Leben in Trümmern, und zwei Menschen waren tot. Zutiefst schauriges Material mit schockierenden Einblicken in die dunkelsten Winkel der Menschheit – garantiertes Suchtpotenzial, das einen verleitet, sich alles an nur einem Tag anzusehen.

Hi! Ich bin dein Geburtstagszwilling!

EINE NETFLIX-ORIGINALSERIE

Der Bildschirm ist dunkel. Langsam wird ein Aufnahmestudio sichtbar.

In der Mitte erscheint:

Aufnahme aus Alix Summers Podcast vom 20. Juni 2019

Langsam wird die Stimme einer Frau eingeblendet.

»Fühlst du dich wohl, Josie?«

»Ja. Alles gut.«

»Prima. Sag, erzählst du mir, was du heute Morgen gefrühstückt hast, während ich alles einrichte?«

»Oh. Äh ...«

»Nur damit ich die Tonqualität testen kann.«

»Verstehe. Okay. Also, ich hatte Toast. Zwei Scheiben Toast. Eine mit Marmelade. Eine mit Erdnussbutter. Und eine Tasse Tee. Das edle Zeug von Marks. Mit der goldenen Verpackung.«

»Mit Milch?«

»Ja. Mit Milch.«

Eine kurze Pause entsteht.

Die Kamera schwenkt durch das karge Aufnahmestudio und vergrößert einzelne Details – die auf dem Monitor auf und ab wandernden Linien, ein herumliegender Kopfhörer, ein leerer Kaffeebecher.

»Wie sieht’s aus? Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Perfekt. Wir können loslegen. Ich zähle von drei herunter, dann stelle ich dich vor. In Ordnung?«

»Ja. Okay.«

»Wunderbar. Also ... drei ... zwei ... eins ... Hallo und herzlich willkommen! Ich bin Alix Summer und präsentiere diesmal etwas recht Ungewöhnliches ...«

Der Ton wird ausgeblendet, der Bildschirm wird wieder schwarz.

Der Vorspann läuft ab.

Samstag, 8. Juni 2019

Josie spürt das Unbehagen ihres Ehemanns, als sie in den goldenen Schein des Gastropubs eintreten. Sie ist an dem Lokal schon hundertmal vorbeigelaufen. Stets mit dem Gedanken: Nichts für uns. Zu junges Publikum. Auf der Tafel draußen stehen Gerichte, von denen sie noch nie gehört hat. Was ist Bottarga? Aber dieses Jahr fällt ihr Geburtstag auf einen Samstag. Und als Walter sie gefragt hat, was sie unternehmen möchte, hat sie diesmal nicht geantwortet: »Oh, wir bestellen uns einfach was zu essen und trinken dazu eine Flasche Wein.« Dieses Jahr hat sie an das honigfarbene Licht im Lansdowne gedacht, an das leise Raunen von Unterhaltungen, den Champagner in Eiskübeln auf Tischen im Freien an warmen Sommertagen und an das bisschen Geld, das ihre Großmutter ihr vergangenen Monat hinterlassen hat. Sie hatte sich davor im Spiegel betrachtet und versucht, sich als jemanden zu sehen, der seinen Geburtstag in einem Gastropub im Queen’s Park feiert, und sie hat zu ihm gesagt: »Wir sollten zum Abendessen ausgehen.«

»Okay«, hat Walter erwidert. »Was schwebt dir vor?«

Und sie hat geantwortet: »Das Lansdowne. Du weißt schon. In der Salusbury Road.«

Er hat nur die Brauen hochgezogen. »Es ist dein Geburtstag. Du entscheidest.«

Nun hält er ihr die Tür auf, und sie tritt ein. Kurz stehen sie beide an einem Schild mit der Aufschrift: Bitte warten Sie hier, wir bringen Sie zu Ihrem Tisch. Josie lässt dabei den Blick über die frühabendlichen Gäste wandern, die Handtasche eng an den Bauch gedrückt.

»Schön hier«, meint sie zu dem jungen Mann, der mit einem Klemmbrett in der Hand erscheint. »Josie. Reservierung für 19:30 Uhr.«

Lächelnd schaut er von ihr zu Walter und zurück. »Zwei Personen, richtig?«

Sie werden zu einem hübschen Tisch in einer Ecke geführt. Walter nimmt auf einer Sitzbank Platz, Josie auf einem Stuhl mit Samtbezug. Sie bekommen zwei Klemmbretter mit den Speisekarten gereicht. Josie hat sie zuvor online durchgesehen, damit sie googeln konnte, wenn sie etwas nicht kannte. Deshalb weiß sie bereits, was es gibt. Und sie bestellen Champagner. Ihr ist egal, wie Walter darüber denkt.

Ein Tumult am Eingang erregt ihre Aufmerksamkeit. Eine Frau tritt ein. Sie hält einen Ballon mit der Aufschrift Birthday Queen in der Hand und hat winterblondes Haar, das durch die Frisur den Eindruck vermittelt, es wäre flüssig. Sie trägt eine weite Hose, dazu ein zweiteiliges schwarzes Top, das an den Seiten mit Spitze verbunden ist. Ihre Haut ist sonnengebräunt. Sie lächelt breit. Bald folgt hinter ihr eine Gruppe in ähnlichem Alter. Jemand hält einen Blumenstrauß in der Hand, jemand anders mehrere edel aussehende Geschenktüten.

»Alix Summer!«, verkündet die Frau mit weithin vernehmbarer Stimme. »Tisch für vierzehn Personen.«

»Schau«, sagt Walter und stupst Josie sanft. »Noch ein Geburtstagskind.«

Josie nickt abwesend. »Ja«, erwidert sie. »Sieht ganz so aus.«

Die Gruppe folgt dem Kellner zu einem Tisch direkt gegenüber dem von Josie. Dort stehen drei Eiskübel mit jeweils zwei gekühlten Flaschen Champagner bereit. Geräuschvoll nehmen die Leute ihre Plätze ein. Sie diskutieren darüber, wer sich wo hinsetzen soll. Die Frauen wollen um Himmels willen nicht neben ihren Ehemännern sitzen und die namens Alix Summer dirigiert das Chaos mit einem breiten Lächeln, während ihr ein großer Kerl mit rotem Haar, wahrscheinlich ihr Ehemann, den Ballon abnimmt und ihn an eine Stuhllehne bindet. Bald haben alle Platz genommen. Die ersten Champagnerflaschen werden geköpft. Es wird in vierzehn Gläser eingeschenkt, gehalten von vierzehn sonnengebräunten Armen mit Armbändern aus Gold und gestärkten weißen Hemdsärmeln. Dann stoßen alle miteinander an, wofür sich die weiter entfernten Gäste erheben und über den Tisch strecken. Im Chor sagen sie: »Auf Alix! Alles Gute zum Geburtstag!«

Josie heftet den Blick auf die Frau. »Was schätzt du, wie alt sie ist?«, fragt sie Walter.

»Lieber Himmel. Keine Ahnung. Ist heutzutage schwer zu sagen. Vielleicht Anfang vierzig?«

Josie nickt. Heute ist ihr fünfundvierzigster Geburtstag. Was schwerfällt zu glauben. In jungen Jahren hat sie gedacht, der Fünfundvierziger würde schier unmöglich langsam nahen. Damals hat sie fünfundvierzig für ein anderes Leben gehalten. Aber das Alter hat sie schnell eingeholt und ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie sieht Walter in seiner verblassenden Pracht an und fragt sich, wie anders alles verlaufen wäre, wenn sie ihn nicht kennengelernt hätte.

Zu dem Zeitpunkt war sie dreizehn. Er war ein wenig älter als sie. Tatsächlich sogar viel älter. Damals waren alle außer ihr schockiert. Hochzeit mit neunzehn. Erstes Kind mit zweiundzwanzig. Ein weiteres mit vierundzwanzig. Ein Leben im Schnellvorlauf, dessen Höhepunkt sie eigentlich jetzt erreicht haben sollte, um es von nun an langsam und zufrieden anzugehen. Nur fühlt es sich nicht so an, als hätte es je einen Höhepunkt gegeben. Vielmehr kreist sie mit verkrampftem Magen unablässig um einen aus einem Trauma entstandenen, grauenvollen Abgrund.

Walter ist inzwischen im Ruhestand. Sein Haar hat sich ebenso verabschiedet wie ein Großteil seines Hör- und Sehvermögens. Sein Höhepunkt in der Lebensmitte liegt so weit in der Vergangenheit und im gleißenden Chaos der Kindererziehung vergraben, dass es schier unmöglich ist, sich daran zu erinnern, wie er in ihrem Alter war.

Sie bestellt Feta und Fladenbrot mit sonnengetrockneten Tomaten, danach Thunfisch-Tagliata – (Das Wort »Tagliata« leitet sich vom Verb »tagliare« ab, das »schneiden« bedeutet.) – mit pürierten Cannellini-Bohnen, begleitet von einer Flasche Veuve Clicquo – (Der Veuve Clicquot Yellow Label besticht durch fruchtige und würzige Aromen.). Danach ergreift sie Walters Hand und streicht mit dem Daumen über die altersfleckige Haut und fragt: »Geht’s dir gut?«

»Ja, sicher. Alles bestens.«

»Und was hältst du von dem Lokal?«

»Es ist ... ja. Ist schön hier. Gefällt mir.«

Josie strahlt. »Gut«, erwidert sie. »Das freut mich.«

Sie erhebt das Sektglas und streckt es dem von Walter entgegen. Er stößt mit ihr an und sagt: »Alles Gute zum Geburtstag.«

Sein Lächeln bleibt auf Josie geheftet, während sie Alix Summer und ihren stattlichen Freundeskreis beobachtet. Der rothaarige Ehemann der Frau hat den Arm locker über die Rückenlehne ihres Stuhls gelegt. Große Teller mit Fleisch und Brot werden an ihren Tisch gebracht und wie aus der Luft gezaubert vor ihnen abgestellt. Josie lauscht ihren Geräuschen, ihrem Lärm. Die Gruppe beherrscht den Raum mit ihren Stimmen, ihren Armen, ihren Händen und ihren Worten. Diese Leute strahlen eine überbordende Energie aus, eine wirbelnde, schillernde, berauschende Aurora borealis irritierender, pompöser Selbstverliebtheit. Und mittendrin Alix Summer mit ihrem breiten Lächeln und den großen Zähnen, dem Haar, in dem sich das Licht fängt, der schlichten Goldkette mit einem Anhänger, der über ihre glänzenden Schlüsselbeine schrammt, wann immer sie sich bewegt.

»Ob wirklich heute ihr Geburtstag ist?«, überlegt Josie laut.

»Vielleicht«, meint Walter. »Aber wir haben Samstag, also wer weiß?«

Josies Hand ertastet die Kette, die sie seit ihrem dreißigsten Lebensjahr um den Hals trägt, ihr damaliges Geburtstagsgeschenk von Walter. Vielleicht sollte sie einen Anhänger daran anbringen. Etwas Glänzendes.

In dem Moment schiebt Walter ein kleines Geschenk über den Tisch zu ihr.

»Es ist nicht viel. Ich weiß, du hast gesagt, du willst nichts. Aber ich hab dir nicht geglaubt.« Er grinst sie an, und sie lächelt zurück. Josie wickelt das kleine Päckchen aus und entnimmt ihm eine Flasche Ted Baker-Parfüm.

»Wie wundervoll«, sagt sie. »Vielen Dank.« Sie beugt sich vor und küsst Walter zart auf die Wange.

Am Tisch gegenüber öffnet Alix Summer Geschenktüten und Geburtstagskarten und ruft ihren Freunden und Angehörigen ihren Dank zu. Als sie eine Karte auf den Tisch legt, sieht Josie darauf die Zahl 45. Sie stupst Walter. »Schau«, sagt sie. »Fünfundvierzig. Wir sind Geburtstagszwillinge.«

Kaum sind die Worte über Josies Lippen gedrungen, durchströmt sie das nagende Gefühl von Kummer, das sie den Großteil ihres Lebens begleitet hat. Sie hat es nie an etwas festmachen können, nie gewusst, was es bedeutet. Nun jedoch wird es ihr klar.

Es bedeutet, dass alles, buchstäblich alles an ihr falsch ist und ihr die Zeit dafür davonläuft, sich zu bessern.

Als Josie sieht, wie Alix aufsteht und in Richtung der Toiletten geht, springt auch sie auf und kündigt an: »Ich muss aufs Klo.«

Walter schaut überrascht von seinem Parmaschinken mit Melone auf, erwidert jedoch nichts.

Wenig später reflektiert der Spiegel über den Waschbecken Josie und Alix, die nebeneinanderstehen.

»Hi!«, sagt Josie. Ihre Stimme klingt dabei schriller als beabsichtigt. Spontan beschließt sie, die ihr unbekannte Frau zu duzen. Immerhin sind sie anscheinend exakt gleich alt. »Ich bin dein Geburtstagszwilling!«

»Oh!«, entfährt es Alix. Ihr Gesichtsausdruck wirkt auf Anhieb herzlich und aufgeschlossen. »Du hast heute auch Geburtstag?«, duzt sie zurück.

»Ja. Den fünfundvierzigsten!«

»Oh, wow!«, sagt Alix. »Ich auch. Alles Gute!«

»Ebenfalls.«

»Um welche Uhrzeit bist du geboren?«

»Gott«, erwidert Josie. »Keine Ahnung.«

»Ich auch nicht.«

»Hier in der Nähe?«

»Ja. St. Mary’s. Du?«

Josies Herz vollführt einen Satz. »Auch St. Mary’s!«

»Wow!«, wiederholt Alix. »Das ist geradezu unheimlich.«

Alix’ Fingerspitzen wandern zu dem Anhänger an ihrem Hals. Josie stellt fest, dass es sich um eine goldene Hummel handelt. Sie will gerade noch etwas über den Zufall ihrer Geburten sagen, als sich die Tür zu den Toiletten öffnet und eine von Alix’ Freundinnen eintritt.

»Da bist du ja!«, sagt die Frau. Sie trägt eine ausgebleichte Jeans im Stil der 1970er-Jahre, dazu ein schulterfreies Oberteil und riesige Kreolen an den Ohren.

»Zoe! Diese Frau ist mein Geburtstagszwilling! Das ist meine große Schwester Zoe.«

Josie lächelt Zoe an und verkündet: »Am gleichen Tag im gleichen Krankenhaus zur Welt gekommen.«

»Wow! Ist ja irre«, kommentiert Zoe.

Dann lenken Zoe und Alix die Unterhaltung weg von dem gewaltigen Zufall. Josie erkennt auf Anhieb, dass er vorbei ist, dieser seltsame Moment einer Verbindung, der für Alix flüchtig und belanglos war, für Josie hingegen aus irgendeinem Grund bedeutsam. Nur zu gern würde sie diese Gelegenheit packen und ihr neues Leben einhauchen. Aber das kann sie nicht. Sie muss wieder zu ihrem Ehemann und ihrem Fladenbrot, und Alix muss sie zu ihren Freunden und ihrer Feier zurückkehren lassen. Mit einem leisen »Bis dann« wendet sie sich zum Gehen. Alix sieht sie mit strahlender Miene an und sagt: »Alles Gute noch mal, Geburtstagszwilling!«

»Dir auch!«, erwidert Josie.

Doch Alix hört sie nicht mehr.

01:00 Uhr

In Alix’ Kopf dreht sich alles. Tequila-Runde um Mitternacht. Zu viel davon. Nathan schenkt sich einen Scotch ein. Von dem Geruch wird Alix nur umso schwindliger. Im Haus herrscht Stille. Manchmal, wenn sie eine besonders quirlige Babysitterin haben, sind die Kinder noch auf, wenn sie heimkommen, rastlos und hellwach. Manchmal dröhnt der Fernseher in voller Lautstärke. Aber nicht in dieser Nacht. Die stille, über fünfzigjährige Babysitterin ist vor einer halben Stunde gegangen. Das Haus ist aufgeräumt, der Geschirrspüler brummt. Die Katze bahnt sich zielstrebig einen Weg über das lange Sofa zu Alix und schnurrt bereits, bevor Alix’ Hand ihr Fell berührt.

»Diese Frau«, ruft sie Nathan zu und löst eine der Krallen der Katze aus ihrer Hose. »Die immer wieder zu uns gestarrt hat. Sie war mit mir auf der Toilette. Stell dir vor, sie hat heute auch ihren Fünfundvierzigsten gefeiert. Deshalb hat sie so zu uns rübergeschaut.«

»Ha«, erwidert Nathan. »Geburtstagszwilling.«

»Und sie ist auch im St. Mary’s auf die Welt gekommen. Schon komisch. Weißt du, ich hatte immer das Gefühl, ich sollte eine von zwei Schwestern sein. Ich hab mich oft gefragt, ob meine Mutter die andere im Krankenhaus zurückgelassen hat. Ob das sie gewesen ist?«

Nathan lässt sich schwerfällig neben sie plumpsen und schwenkt den Scotch mit einem einzigen Eiswürfel darin, einem der großen zylindrischen, die er aus Mineralwasser macht. »Sie?« Sein Ton klingt abweisend. »Höchst unwahrscheinlich.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du wunderschön bist, und sie ist ...«

»Was?« In Alix’ Brust regt sich ihr Gerechtigkeitsempfinden. Es freut sie, dass Nathan sie für hübsch hält, aber sie wünschte, er würde auch die Schönheit weniger konventionell attraktiver Frauen erkennen. Solche herablassenden Aussagen über das Äußere lassen ihn oberflächlich und frauenfeindlich klingen. Und in ihr löst es das Gefühl aus, ihn nicht wirklich zu mögen.

»Also, ich hab sie ausgesprochen hübsch gefunden. Diese Augen, so dunkelbraun, dass sie fast schwarz wirken. Das gewellte Haar. Aber unabhängig davon, es ist schon eigenartig, oder? Die Vorstellung, dass zwei Menschen gleichzeitig am gleichen Ort geboren worden sind.«

»Nicht wirklich. Wahrscheinlich sind im St. Mary’s an dem Tag zehn weitere Babys auf die Welt gekommen. Vielleicht sogar mehr.«

»Aber wie wahrscheinlich ist es, jemandem davon zu begegnen? Noch dazu am eigenen Geburtstag.«

Die Katze hat sich mittlerweile gemütlich auf ihrem Schoß eingerollt. Alix streicht mit den Fingerspitzen durch das Fell am Hals und schließt die Augen. Wieder dreht sich alles. Sie schlägt die Lider auf, schiebt die Katze von ihrem Schoß und rennt in den Flur zur Toilette, wo sie sich heftig übergibt.

Sonntag, 9. Juni

Abrupt erwacht Josie aus der seichten Untiefe eines Traums so nah an der Oberfläche ihres Bewusstseins, dass sie ihn beinah kontrollieren kann. Sie befindet sich im Lansdowne. Alix Summer ist da, ruft ihr zu und lädt sie ein, an ihren Tisch zu kommen. Dort stehen extravagante Obstschalen. Ihre Freunde gehen. Das Lokal leert sich. Alix und Josie sitzen einander gegenüber, und Alix sagt: »Ich brauche dich.« Dann wacht Josie auf.

Wegen der Busse.

Die Busse wecken sie ständig.

Sie wohnen unmittelbar neben einer Bushaltestelle an einer verkehrsreichen, schmutzigen Straße zwischen Kilburn und Paddington. Laut einer Website über Lokalgeschichte wurden die großen viktorianischen Villen in dieser Straße 1876 für wohlhabende Kaufleute gebaut. Sie hat einst zur Heilquelle der Klostergemeinschaft Kilburn Priory geführt. Früher sind über sie die Räder von Kutschen gerumpelt und die Hufe von Pferden geklappert. Mittlerweile ist jede prunkvolle Villa in der Straße umgebaut und in großzügige Apartments unterteilt. Die Stuckfassaden haben durch den endlosen, so nah vorbeiziehenden Verkehr die Farbe von altem Zeitungspapier angenommen. Und dann die Busse. Drei Linien verlaufen hier, weshalb alle paar Minuten einer draußen anhält oder vorbeifährt. Das Zischen der Hydraulik beim Öffnen der Türen an der Haltestelle ist so laut, dass der Hund manchmal die Flucht in einen entfernten Winkel ergreift.

Josie sieht nach, wie spät es ist – 8:12 Uhr. Sie zieht den Vorhang aus schwerem Kattun zur Seite und späht auf die Straße. Nur wenige Meter trennen sie von den Gesichtern der Menschen im Bus, die nichts von der Frau mitbekommen, die sie durchs Fenster ihres Schlafzimmers beobachtet. Der Hund trabt zu ihr. Sie legt die Hand unter seinen Kopf.

»Morgen, Fred.«

Sie hat einen leichten Kater. Gestern Abend hatte sie eine halbe Flasche Champagner und danach noch einen Sambuca. Viel mehr, als Josie sonst trinkt. Sie geht ins Wohnzimmer. Dort sitzt Walter am Esstisch neben dem Fenster mit Blick auf die Straße.

»Morgen«, begrüßt er sie und schenkt ihr ein knappes Lächeln, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf den Computerbildschirm richtet.

»Morgen«, gibt sie auf dem Weg in den Küchenbereich zurück. »Hast du den Hund gefüttert?«

»Ja, hab ich. Und ich bin mit ihm draußen gewesen.«

»Danke«, erwidert sie herzlich. Fred ist ihr Hund. Walter wollte nie einen, schon gar keinen Handtaschenhund wie Fred, der ein Pomchi ist. Sie trägt die volle Verantwortung für ihn und ist dankbar, wann immer Walter ihr von sich aus in irgendeiner Form mit ihm hilft.

Nachdem sich Josie eine Portion Toast und einen Becher Tee gemacht hat, zieht sie auf dem kleinen Sofa in der Ecke die Füße unter sich. Als sie das Handy einschaltet, stellt sie fest, dass sie vergangene Nacht noch spät Alix Summer gegoogelt hat. Das erklärt, warum sie kurz vor dem Aufwachen von der Frau geträumt hat.

Anscheinend ist Alix Summer eine recht bekannte Podcasterin und Journalistin. Sie hat achttausend Follower auf Instagram und genauso viele auf Twitter. Ihre Selbstbeschreibung lautet: »Mutter, Journalistin, Feministin, notorisch vielbeschäftigt und neugierig, gescheiterte Yoga-Fanatikerin, begeisterte Besucherin des Queen’s Park.« Danach folgt ein Link zu ihrem Podcast namens All Woman, für den sie erfolgreiche Frauen darüber interviewt, wie man eine erfolgreiche Frau wird. Einige der Namen kennt Josie – eine Schauspielerin, eine Nachrichtensprecherin, eine Sportlerin.

Sie beginnt, sich eine Folge anzuhören – über eine Frau namens Mari le Jeune, die ein weltweit tätiges Kosmetikimperium leitet. Alix’ Stimme geht in der Einleitung so samtig ins Ohr, dass Josie nachvollziehen kann, warum sie diesen speziellen Karriereweg eingeschlagen hat.

»Was hörst du dir da an?«, fragt Walter.

»Nur einen Podcast. Von dieser Frau, Alix, die ich gestern Abend im Restaurant kennengelernt habe. Mein Geburtstagszwilling. Das macht sie beruflich«, antwortet Josie.

Sie hört weiter zu. Die Frau namens Mari spricht darüber, dass sie in jungen Jahren einen Mann geheiratet hat, von dem sie kontrolliert worden ist.

»Er hat alles kontrolliert – was ich gemacht, was ich gegessen, was ich angezogen habe. Er hat meine Kinder gegen mich aufgehetzt. Meine Freunde. Mein Leben war so winzig. Als hätte er es sich genommen und jedes Quäntchen von mir herausgequetscht. Dann ist er 2005 völlig unerwartet gestorben. Und es war wie ein Neustart für mein Leben. Während der düsteren Jahre mit meinem Ehemann habe ich gedacht, ich wäre vollkommen allein. Dabei hat im Hintergrund eine Reihe von Leuten nur darauf gewartet, dass ich mich bei ihnen melde. Sie waren die ganze Zeit da, haben mich abgeholt und mitgenommen.«

Alix’ Stimme ertönt wieder.

»Und wenn dein Mann ... Hoffentlich klingt das nicht brutal oder gefühllos, aber was glaubst du, wie dein Weg ausgesehen hätte, wenn er nicht so jung gestorben wäre? Hättest du es trotzdem dorthin geschafft, wo du jetzt bist? Denkst du, dass bei deinem Erfolg, bei allem, was du erreicht hast, so was wie Schicksal die Hand im Spiel hatte? Oder glaubst du, dass erst der tragische Tod deines Ehemanns dir diesen Weg ermöglicht hat?«

»Eine sehr gute Frage, über die ich selbst immer wieder nachdenke. Ich war sechsunddreißig, als er gestorben ist. Als mein Mann seine Prognose erhalten hat, war ich nicht annähernd stark genug, um ihn zu verlassen. Unterbewusst hatte ich mich darauf eingestellt, so lange zu warten, bis die Kinder älter gewesen wären. Aber ich hatte so viele Male davon geträumt, was ich danach machen wollte, dass ich den Plan für mein Leben ohne ihn schon hatte. Obwohl ich noch nicht wusste, wie ich je von ihm wegkommen sollte. Also ja, es ist durchaus möglich, dass ich diesen Weg beschritten hätte, auch ohne ihn an den Krebs zu verlieren. So ist es wohl lediglich früher passiert. Das hat mir mehr Zeit verschafft, das Unternehmen richtig aufzubauen, es besser zu verstehen und mit ihm zu wachsen. Hätte ich gewartet, wäre es anders verlaufen. Und so fürchterlich es klingen mag, der Tod ist ein klarer Schnitt. Da gibt es keine Grauzonen, keine Unklarheiten. In gewisser Weise schafft er eine leere Leinwand. Und das hat sich als überaus hilfreich beim Ausloten der endlosen Möglichkeiten erwiesen, die sich mir in den ersten Jahren eröffnet haben. Hätte er weitergelebt, wäre ich jetzt nicht dort, wo ich bin.«

Josie hält die Wiedergabe an. Unbewusst hat sie ein wenig die Luft angehalten. Sie fühlt sich beinah außer Atem. Der Tod ist ein klarer Schnitt. Sie späht durch den Raum zu Walter, um zu sehen, ob er etwas mitbekommen hat, aber er schenkt ihr keine Beachtung. Sie setzt die Wiedergabe fort und hört sich den Rest des Podcasts an. Die Frau namens Mari besitzt mittlerweile drei über die Welt verteilte Immobilien, beschäftigt alle ihre vier Kinder in ihrem Familienunternehmen und ist die Gründerin der größten Wohltätigkeitseinrichtung gegen häusliche Gewalt im Vereinigten Königreich. Am Ende des Podcasts sitzt Josie eine Weile da und verarbeitet, was sie über das außergewöhnliche Leben dieser Frau gehört hat. Schließlich wendet sie sich wieder den Google-Ergebnissen zu und scrollt eine Zeit lang durch Alix’ Instagram-Feed. Wie sie es geahnt hat, bekommt sie eine große Küche mit einer Arbeitsinsel, rothaarige Kinder an windgepeitschten Stränden, Aussichten von Londoner Wolkenkratzern, Cocktails und Katzen und Luxusurlaube zu sehen. Alix’ Kinder sind jung, wahrscheinlich höchstens zehn, und Josie fragt sich, was die Frau all die Jahre davor gemacht hat. Was tut man mit dreißig, wenn man keine Kinder großzieht? Womit verbringt man seine Zeit?

Bei einem Foto von Alix und deren Mann hält sie inne. Er ist groß, sogar neben Alix, die größer als die meisten Frauen ist. Sein Schopf dichten roten Haars sieht durch irgendeinen Filter deutlich röter aus als in echt. Die Bildunterschrift lautet: »Heute vor fünfzehn Jahren bist du in mein Leben getreten. Es ist nicht immer einfach gewesen, aber wir hatten immer uns.« Darauf folgt eine Reihe von Emojis in Form von roten Herzen.

Josie hat zwar Konten bei sozialen Medien, postet dort allerdings nichts. Allein beim Gedanken, ein Foto von Walter und ihr ins Internet zu stellen, wo die Leute es anglotzen und beurteilen können, fühlt sie sich unbehaglich. Aber sie ist froh, dass es andere tun. Josie ist eine leidenschaftliche Beobachterin. Sie postet nie etwas, kommentiert nie etwas, likt nie etwas, sieht sich immer nur Dinge an.

Der Sonntag beginnt heiß und stickig. Nathan ist nicht neben Alix im Bett, und sie versucht, die Bruchstücke der vergangenen Nacht ansatzweise zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Das Lokal, der Champagner, der Tequila. Der Spaziergang nach Hause durch den Park. Reden mit den Enten im Streichelzoo durch den Zaun, quack, quack. Nathan beim Einschenken von Scotch, die Katze auf ihrem Schoß. Der Geruch des Duftzerstäubers in der Toilette unten, vermischt mit dem Mief ihres Erbrochenen. Ein Blick in die Kinderzimmer, Wimpern auf Wangen, Nachtlichter, Pyjamas. Nathans Gesicht im Spiegel neben ihrem, sein Mund an ihrem Hals, Hände an ihren Hüften, weil er Sex will.

NEIN, SPINNST DU?

Dann das Bett. Aber das Kissen auf Nathans Seite ist unberührt. Hatten sie Streit? Wo schläft er?

Behutsam steigt sie aus dem Bett und späht ins angeschlossene Badezimmer. Dort ist er nicht. Auf dem Weg die Treppe hinunter in den Flur hört sie die Geräusche ihrer Kinder. In der Küche läuft der Fernseher. Eliza liegt mit der Katze auf der Brust auf dem Sofa davor. Leon sitzt am Laptop. Reste vom Frühstück liegen über die lange cremefarbene Arbeitsplatte in der Küche verstreut.

»Wo ist Dad?«

Eliza schaut auf. Sie zuckt mit den Schultern.

»Leon. Wo ist Dad?«

Er nimmt die Kopfhörer ab und sieht sie mit verkniffenen Augen an.

»Was?«

»Wo ist Dad?«

»Keine Ahnung.«

Alix geht in den Garten. Die Steinplatten der Terrasse fühlen sich bereits warm unter den Füßen an. Nathan ist nicht im Schuppen. Auch nicht im Studio. Sie holt das Handy aus der Pyjamatasche und ruft ihn an. Es klingelt.

»Hast du ihn vorhin gesehen?«, fragt sie Eliza, als sie in die Küche zurückkehrt.

»Nein. Mum?«

»Ja.«

»Können wir heute in den Buchladen?«

»Ja. Natürlich. Das machen wir.«

Alix kocht Kaffee, trinkt Wasser, isst Toast. Sie ahnt, was passiert ist und womit sie zu rechnen hat. Obwohl es seit Monaten nicht mehr vorgekommen ist, entsinnt sie sich, wie es sich angefühlt hat – wie ein schrecklicher, zermürbender Albtraum. Die Freuden ihrer Geburtstagsnacht liegen in ihrer Erinnerung bereits in Trümmern.

Während sie bei ihrem zweiten Kaffee sitzt, fällt ihr etwas aus der vergangenen Nacht ein.

Die Frau aus dem Gastropub, die am gleichen Tag geboren ist. Was hat sie noch mal gesagt, wie sie heißt? Oder vielleicht hat sie es gar nicht erwähnt.

Alix fragt sich, was die Frau an diesem Morgen macht. Sie fragt sich, ob auch ihr Ehemann in der Nacht klammheimlich verschwunden ist und sie allein hat aufwachen lassen. Nein, denkt sie, natürlich nicht. Andere Ehemänner machen das nicht. Nur ihrer.

Um 16:00 Uhr taucht er wieder auf. Er trägt die gleiche Kleidung wie am Abend zuvor. In der Küche schiebt er sich an ihr vorbei zum Kühlschrank, aus dem er sich eine Cola light holt, die er durstig trinkt.

Alix beobachtet ihn, wartet darauf, dass er das Wort ergreift.

»Du warst völlig weggetreten«, sagt er schließlich. »Und ich war ... aufgekratzt. Ich musste einfach ...«

»Noch mehr trinken?«

»Ja! Oder eigentlich nein. Ich meine, trinken hätte ich auch hier können. Aber ich wollte einfach ... na ja, du weißt schon, unterwegs sein.«

Alix schließt die Augen und atmet tief durch.

»Wir waren den ganzen Abend unterwegs. Von sechs bis Mitternacht. Wir haben alle unsere Freunde getroffen. Wir haben sechs Stunden lang getrunken, hatten Spaß. Dann sind wir nach Hause gekommen, wo du einen Whisky hattest. Und danach wolltest du noch mehr?«

»Ja. Schätze schon. Ich meine ... Ich war ziemlich betrunken, konnte nicht mal klar denken. Also hab ich dem Drang einfach nachgegeben.«

»Wo bist du gewesen?«

»In Soho. Mit Giovanni und Rob. Hatte bloß noch ein paar Drinks mit ihnen.«

»Bis 4 Uhr nachmittags?«

»Ich hab mir ein Zimmer in einem Hotel genommen.«

Alix knurrt leise. »Du hast lieber dafür bezahlt, in einem Hotel zu schlafen, statt nach Hause zu kommen?«

»Dazu war ich nicht mehr wirklich in der Lage. Schien mir zu dem Zeitpunkt die beste Möglichkeit zu sein.«

Er sieht fürchterlich aus. Alix versucht, sich vorzustellen, wie er mitten in der Nacht durch Soho wankt und einen Drink nach dem anderen kippt. Sie malt sich aus, wie er ausgesehen haben muss, als er um 4 Uhr morgens in ein Hotel getorkelt ist, das so rote Haar zerzaust; wie er der Rezeptionistin den von einer langen Nacht voller Alkohol und üppigem Essen fauligen Atem ins Gesicht gehaucht hat; wie er in ein Hotelbett gefallen ist und in dem ansonsten verwaisten Zimmer laut geschnarcht hat.

»Haben die dich nicht mittags rausgeschmissen?«

Er reibt sich die grau melierten Bartstoppeln am Kinn und verzieht leicht das Gesicht. »Doch«, erwidert er. »Anscheinend haben sie mehrere Versuche unternommen, mich wach zu bekommen. Am Ende, äh, mussten sie sich Zugang zum Zimmer verschaffen. Um sich zu vergewissern, dass ich nicht ... na ja, du weißt schon, tot bin.«

Bei den Worten schmunzelt er, und Alix wird klar, dass sie vor zwanzig Jahren über so etwas gescherzt hätten. Irgendwie wäre es witzig gewesen – ein erwachsener Mann, der fast zwölf Stunden am Stück durchgetrunken hat, in Soho so abgestürzt, dass er das Hotelpersonal zwingt, sein Zimmer zu betreten, weil man fürchtet, er könnte gestorben sein. Zweifellos hat man ihn ausgestreckt und halb nackt auf dem Bett vorgefunden, ahnungslos, verkatert, abstoßend.

Früher hätte sie darüber gelacht.

Heute nicht mehr.

Nicht mit fünfundvierzig.

Jetzt ist sie einfach nur angewidert davon.

In der folgenden Woche hört sich Josie fast dreißig Episoden von Alix’ Podcast an. Sie lauscht den Geschichten von Frauen, die sich aus verschiedensten misslichen Lagen gekämpft haben – Krankheit, skrupellose Männer, Armut, Krieg, psychische Probleme, Tragödien. Sie haben Kinder, Körperteile, ihre Autonomie verloren, sind geschlagen, gedemütigt, unterdrückt worden. Und dann hat sich jede Einzelne von ihnen erhoben und ungeahnte neue Ziele im Leben gefunden und erreicht. Der Podcast ist mehrfach ausgezeichnet worden und Josie kann nachvollziehen, warum. Die Geschichten der Frauen sind nicht nur inspirierend, Alix’ Herangehensweise ist zudem so einfühlsam, so intelligent, so menschlich, dass bei ihr jedes Interview bewegend klingen würde, egal wen sie dafür auswählt. Josie versucht, im Internet mehr über Alix zu erfahren, findet allerdings herzlich wenig. Die Frau selbst ist bisher selten interviewt worden, und wenn, hat sie kaum etwas von sich preisgegeben. Josie vermutet, dass sie eine Frau ist, die es aus eigener Kraft geschafft und die Kontrolle über ihr Leben hat. Sie geht davon aus, dass sie eine ähnliche Geschichte zu erzählen hat wie die Frauen, die sie interviewt. Josie gibt sich Fantasien darüber hin, Alix erneut über den Weg zu laufen, sich mit ihr auszutauschen, und vielleicht könnte Alix sie irgendwie dazu anleiten, wie sie der Mensch werden kann, zu dem sie ihrer Ansicht nach von Haus aus bestimmt war.

Dann taucht eines Nachmittags ein neues Foto in Alix’ Instagram-Feed auf. Es zeigt eine Geburtstagsparty für eines der Kinder. Man sieht Luftballons mit der Zahl elf darauf. Die Tochter mit dem roten Haar ist als punkige Fee verkleidet. Der Vater steht neben ihr und beobachtet stolz, wie sie die Lippen spitzt, um die Kerzen auf einer riesigen rosa Torte auszupusten. Dahinter sind weitere Leute zu sehen, die lächelnd zu Applaus ansetzen. Dann richtet Josie die Aufmerksamkeit auf etwas im Hintergrund, das ihr bekannt vorkommt: ein Schulfoto auf einer Anrichte, darauf die beiden Kinder in hellblauen Poloshirts mit einem dunkelblauen Logo. Ihr wird klar, dass Alix Summers Kinder dieselbe Schule besuchen wie früher Roxy und Erin, als sie klein waren. Und plötzlich ist da wieder dieses seltsame Gefühl einer Verbindung, der Eindruck, dass irgendetwas im Universum Alix Summer und sie zusammenbringen will. Sie stellt sich die Frau auf demselben Spielplatz vor, auf dem sie so viele Jahre ihres Lebens Zeit verbracht hat, beim Betreten desselben stickigen Büros, um Schulausflüge und das Essensgeld zu bezahlen, beim Sitzen auf den beengten Bänken in der Aula während Aufführungen und Krippenspielen, beim Aufhängen derselben marineblauen und himmelblauen Uniformen zum Trocknen.

Geboren am gleichen Tag.

Im gleichen Krankenhaus.

Sie haben ihren fünfundvierzigsten Geburtstag im gleichen Lokal um dieselbe Zeit gefeiert.

Und jetzt das.

Es hat etwas zu bedeuten, davon ist sie überzeugt.

Montag, 17. Juni

Alix beobachtet in der Küche ihren Ehemann. Sein Haar ist noch nass von der Dusche. Die Rückseite seines Shirts klebt an der Haut. Sie hat nie begriffen, warum er sich nicht anständig abtrocknet, bevor er sich anzieht. Während er Kaffee aus seinem Lieblingsbecher trinkt, drängt er die Kinder, sich zu beeilen, aufzuessen, die Schuhe anzuziehen. Er tut so, als wäre es ein normaler Montag. Nur ist es keiner. Es ist der Montag nach seiner zweiten Sauftour hintereinander. Der Montag nach einem Samstag, an dem er erneut nicht nach Hause gekommen und erst am Sonntagnachmittag erbärmlich ungepflegt und nach der vorigen Nacht stinkend aufgetaucht ist. Ein Montag, an dem Alix wieder ernsthaft begonnen hat, über die Zukunft ihrer Ehe nachzudenken. Wenn sie weiterhin so über die Zukunft ihrer Ehe nachdenkt, könnte dieser Montag den Anfang vom Ende markieren. Nathan ist immer eine wandelnde Liste von Vor- und Nachteilen gewesen, seit ihrer ersten Begegnung. Nach ihrem dritten Date hat sie sogar eine Pro-Kontra-Liste als Entscheidungshilfe verfasst, ob sie sich weiterhin mit ihm treffen sollte oder nicht. Sein Verhalten an den vergangenen beiden Wochenenden hat der Spalte mit den Nachteilen erheblich mehr Gewicht verliehen. Was schlecht ist, weil die Vorteile stets nur knapp überwogen haben. Zum Beispiel ist er ein guter Tänzer. Das war beim zweiten Date super. Fünfzehn Jahre später mit zwei Kindern, zwei Karrieren und einer Zukunft ist es kein so großer Pluspunkt mehr.

Um 8:15 Uhr bricht Nathan auf. Er ruft einen Abschied aus dem Flur. Es ist lange her, dass sie einander beim Verlassen des Hauses regelmäßig geküsst haben. Alix begleitet die Kinder zu Fuß zur Schule. Leon ist mürrisch, Eliza aufgekratzt.

Alix geht zwischen ihnen, schaut auf ihr Handy, ruft E-Mails ab, sieht sich auf Websites nach dem Welpen um, den sie ihren Kindern für irgendwann dieses Jahr versprochen hat. Ein Australian Shepherd soll es werden, im Idealfall mit zwei verschiedenen Augen und daher schier unmöglich zu finden, worüber Alix insgeheim erleichtert ist. Sosehr ihr ein Hund im Haus fehlt, im Moment ist in ihrem Kopf kein Platz für einen Welpen.

Sie hat soeben die Aufzeichnung der dreißigsten Folge von All Woman abgeschlossen. Nächste Woche wird sie veröffentlicht. Danach möchte sie etwas anderes ausprobieren. Das Projekt hat sich abgenutzt. Sie fühlt sich bereit für eine neue Herausforderung. Allerdings wartet sie noch auf Inspiration. Ihr Terminkalender ist leer, und für eine Karriere ist ein leerer Terminkalender genauso stressig wie ein voller.

Wenige Minuten später sind die Kinder weg, aufgesaugt vom Strudel des Treibens auf dem Spielplatz vor der Schule. Alix wendet sich ab, um den Heimweg anzutreten. Nach dem bewölkten Morgen bricht plötzlich die Sonne durch die Wolken und blendet sie. Auf der Suche nach ihrer Sonnenbrille kramt sie in der Handtasche. Als Alix sie findet und aufschaut, stellt sie fest, dass eine Frau sehr nah neben ihr steht. Das Gesicht kommt ihr auf Anhieb bekannt vor. Einen Moment lang glaubt sie, dass es sich um eine andere Mutter von Kindern an der Schule handeln muss. Dann fällt ihr ein, wer es ist.

»Oh«, sagt sie und klappt die Sonnenbrille zu. »Hallo! Du bist doch die Frau aus dem Lokal. Mein Geburtstagszwilling!«

Die andere Frau wirkt geradezu theatralisch überrascht. »Oh, hallo«, gibt sie zurück. »Ich dachte mir gleich, dass du mir bekannt vorkommst. Wow!«

»Bist du ... Hast du Kinder hier?« Alix deutet auf die Schule.

»Nein. Zumindest nicht mehr. Sie waren hier, aber das ist lange her. Inzwischen sind sie einundzwanzig und dreiundzwanzig.«

»Oh. Richtige Erwachsene!«

»Ja, das sind sie wirklich.«

»Jungs? Mädchen?«

»Zwei Mädchen. Roxy und Erin.«

»Wohnen sie noch zu Hause?«

»Erin, die ältere ist noch da. Man könnte wohl sagen, sie ist so was wie eine Nesthockerin. Roxy hingegen ... sie ist ziemlich jung ausgezogen. Mit sechzehn.«

»Sechzehn. Wow! Das ist wirklich jung. Ich bin übrigens Alix.« Sie streckt die Hand zum Schütteln aus.

»Josie«, erwidert die andere Frau.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Josie. Und wer ist das?«, fragt Alix, als sie einen winzigen karamell- und cremefarbenen Hund an einer Leine zu Josies Füßen bemerkt.

»Das ist Fred.«

»Oh, ist der putzig! Was für eine Rasse ist er?«

»Ein Pomchi. Jedenfalls hat man mir das gesagt. Aber jetzt, da er ausgewachsen ist, bin ich mir nicht mehr so sicher. Er könnte wohl auch eine Promenadenmischung sein. Weißt du, rückblickend habe ich so meine Zweifel, ob der Züchter, von dem wir ihn haben, wirklich koscher ist. Ich hab schon öfter mit dem Gedanken gespielt, einen DNA-Test machen zu lassen. Aber dann sehe ich ihn an und denke mir: Was soll’s? Verstehst du?«

»Ja«, bestätigt Alix. »Er ist bezaubernd, was auch immer er ist. Ich liebe Hunde.«

»Hast du einen?«

»Nein. Derzeit nicht. Wir haben unsere Hündin Teeny vor drei Jahren verloren, und irgendwie hab ich mich noch nicht ganz dazu durchringen können, sie zu ersetzen. Aber ich sehe mich gerade um. Weißt du, die Kinder sind jetzt in einem Alter, in dem es meiner Meinung nach gut für sie sein könnte, einen Hund zu haben – die Pubertät steht an, die Teenagerjahre. Teeny war meine Hündin. Ich hatte sie schon, bevor die Kinder auf die Welt gekommen sind. Dieser Hund wäre für sie. Aber wir werden sehen.«

Als sie sich bückt, um den kleinen Vierbeiner zu streicheln, weicht er von ihr zurück.

»Sorry«, sagt Josie und klingt dabei übertrieben entschuldigend.

»Ach was«, erwidert Alix. »Er ist scheu. Das macht doch nichts.«

Alix sieht Josie an und bemerkt, dass die Frau sie mit einem bedeutungsvollen Blick anstarrt. Einen Moment lang fühlt sie sich dadurch unwohl. Dann jedoch setzt Josie ein verhaltenes Lächeln auf, und Alix stellt fest, dass sie recht mit ihrer Einschätzung von dem Abend ihrer Begegnung im Restaurant hatte – die Frau ist auf eine stille, unterschwellige Weise hübsch. Gepflegte Zähne, Lippen wie Rosenblüten, eine leichte Adlernase, die ihrem Gesicht eine besondere Note verleiht. Das haselnussbraune, gewellte Haar ist gescheitelt und zurückgebunden. Sie trägt ein T-Shirt mit Blumenmuster und einen blauen Jeansrock. Auch ihre Handtasche ist aus blauem Jeansstoff. Als Alix bemerkt, dass sogar das Halsband und die Leine des Hunds aus demselben Material bestehen, wittert sie ein ausgeprägtes Faible. Manche Leute haben so etwas, denkt sie. Ein sich wiederholendes Motiv, einen fest verwurzelten ästhetischen Tic, durch den sie sich irgendwie geschützt fühlen. Die Mutter einer Freundin hat ausschließlich violette Gegenstände gekauft, erinnert sie sich. Alles in Violett. Sogar ihren Kühlschrank.

»Tja ...«, Alix setzt die Sonnenbrille auf. »Ich muss dann mal weiter. Hat mich gefreut, dich wiederzusehen.«

Als sie sich zum Gehen wendet, sagt Josie: »Es gibt da etwas, worüber ich gern mit dir reden würde. Falls du noch eine Minute hast. Ist nichts Wichtiges. Hat nur was damit zu tun ... dass wir Geburtstagszwillinge sind. Das ist alles.« Sie lächelt entschuldigend. Alix lächelt zurück.

»Oh«, erwidert sie. »Jetzt?«

»Ja. Falls du eine Minute hast.«

»Tut mir so leid, jetzt geht es echt nicht. Aber vielleicht ein andermal.«

»Morgen?«

»Nein, morgen nicht.«

»Mittwoch?«

»Oh Gott, Josie, es tut mir leid, wirklich. Aber offen gestanden hab ich den gesamten Rest der Woche ziemlich viel zu tun.«

Als sie erneut gehen will, legt Josie zart eine Hand auf ihren Arm. »Bitte«, sagt sie. »Es würde mir wirklich viel bedeuten.«

Josie hat den feuchten Glanz von Tränen in den Augen, und sie klingt irgendwie verzweifelt. Ein kalter Schauder durchläuft Alix. Aber sie seufzt leise und erwidert: »Morgen Nachmittag habe ich eine freie Stunde. Vielleicht könnten wir uns da kurz auf einen Kaffee treffen.«

Josies Züge fallen in sich zusammen. »Oh«, sagt sie. »Nachmittags arbeite ich.«

Alix verspürt Erleichterung darüber, der Verpflichtung vielleicht entgangen zu sein. Allerdings schlägt Josie vor: »Weißt du was? Ich arbeite in einer Änderungsschneiderei nah der U-Bahnstation Kilburn. Komm doch morgen dort vorbei, dann können wir uns unterhalten. Dauert auch nur ein paar Minuten, versprochen.«

»Worüber willst du eigentlich reden?«

Josie beißt sich auf die Unterlippe, als überlege sie, ob sie das Geheimnis preisgeben soll. »Sag ich dir morgen«, antwortet sie schließlich. »Und falls du was zum Ändern hast, bring’s mit. Ich kann dir zwanzig Prozent Rabatt geben.«

Nach einem flüchtigen Lächeln geht sie davon.

18:00 Uhr

Josie arbeitet in Teilzeit, vier Tage die Woche von mittags bis 17:30 Uhr. Sie ist seit fast zehn Jahren bei Stitch, seit der Eröffnung des Ladens. Es war im Alter von fünfunddreißig ihr erster Job überhaupt. Davor hatte sie immer Kleidung für die Mädchen genäht, als sie noch klein waren. Sie hat die Schule mit sechzehn praktisch ohne Prüfungen abgebrochen, bevor sie sich die nächsten zehn Jahre lang um ihren Mann gekümmert und Kinder großgezogen hat. Daher konnte sie auf wenige Qualifikationen zurückgreifen, als sie letztlich beschlossen hat, es wäre an der Zeit, etwas außerhalb des Haushalts zu machen. Sie hätte auch mit Kindern arbeiten können – vielleicht in einer Schule. Allerdings ist sie nicht so gut im Umgang mit Menschen, und bei dieser Tätigkeit bleibt ihr das erspart. Sie sitzt hinter ihrer Nähmaschine neben einem riesigen Schiebefenster mit Blick auf die U-Bahnschienen. Jedes Mal, wenn ein Zug vorbeifährt, rattern die Scheiben im Rahmen. Gelegentlich plaudert sie mit den anderen Frauen, überwiegend jedoch lauscht sie mit ihren Kopfhörern Heart FM. Heute hat sie den ganzen Tag große künstliche Bärte an das aufgedruckte Foto des Gesichts eines Bräutigams auf zwanzig T-Shirts für den Junggesellenabschied genäht. Anscheinend reisen alle nach Riga. Aber normalerweise beschränkt sich die Arbeit auf Säume und Hosenbünde.

Als sie nach Hause kommt, sitzt Walter am Esstisch neben dem Fenster und starrt auf den Laptop. Er dreht den Kopf und lässt ein Lächeln für sie aufblitzen, als er sie hört. »Hallo«, begrüßt er sie. »Wie war die Arbeit?«

»Ganz gut.« Sie spielt mit dem Gedanken, die falschen Bärte zu erwähnen, beschließt jedoch, dass sie sich als Erzählung nicht so spektakulär anhören würden.

»Wie war dein Tag?«, erkundigt sie sich stattdessen, hebt den Hund auf und küsst ihn auf den Kopf.

»Ruhig. Hab ein wenig über den Lake District recherchiert.«

»Oh, wie schön. Was Gutes gefunden?«

»Nicht wirklich. Mir kommt das alles so teuer vor. Fühlt sich nach Abzocke an.«

»Vergiss nicht meinen unverhofften Geldsegen. Dieses Jahr könnten wir wohl ein bisschen mehr aufbringen.«

»Es geht nicht darum, ob wir es uns leisten können«, stellt er klar. »Ich kann es nicht leiden, mich übervorteilt zu fühlen.«

Josie nickt und stellt den Hund wieder auf den Boden. Dass er kein echter Pomchi ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sich Walter geweigert hat, den für diese Rasse üblichen Preis zu zahlen, und fest entschlossen war, ein Schnäppchen zu ergattern. Josie hat dabei einfach mitgespielt.

»Was wollen wir zum Abendessen?«, fragt sie. »Wir haben jede Menge im Kühlschrank. Unter anderem diese Fertigfleischbällchen. Dazu könnte ich Pasta machen.«

»Ja. Das wäre toll. Gib ein bisschen Chili rein. Mir ist nach etwas Pikantem.«

Josie lächelt. »Ich gehe mich nur erst umziehen«, kündigt sie an. »Dann lege ich los.«

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kommt sie an dem von Erin vorbei. Die Tür ist wie immer geschlossen. Aus dem Zimmer hört Josie das Quietschen des teuren Gaming-Stuhls, den sie Erin zum sechzehnten Geburtstag gekauft haben. Mittlerweile wird er nur noch von Klebeband zusammengehalten. Walter schmiert den Sockel alle paar Monate mit WD40, trotzdem quietscht der Stuhl, wenn Erin sich darauf bewegt. Josie hört außerdem das Klicken der Tasten des Controllers und die gedämpften Soundeffekte, die aus Erins Kopfhörern dringen. Kurz spielt sie mit dem Gedanken, anzuklopfen und hallo zu sagen, kann sich jedoch nicht dazu durchringen. Im Augenblick kann sie es beim besten Willen nicht ertragen. Den Gestank da drin. Das Chaos. Sie wird morgen nach ihr sehen. Vorerst wird sie ihre Tochter in Ruhe lassen. Nachdem sie die Tür mit den Fingerspitzen berührt hat, geht sie weiter. Sie nimmt Notiz von den Schuldgefühlen wegen Erin und lässt sie vorbeiziehen wie eine Wolke.

Aber sobald sie verflogen sind, keimt ihre Sorge um Roxy auf. Beides tritt immer zeitgleich auf. Sie hebt das Foto von Erin und Roxy von der Kommode im Schlafzimmer. Es ist entstanden, als sie ungefähr drei und fünf Jahre alt waren. Pausbacken, lange Wimpern, keck lächelnde Lippen, bunte Kleidung.

Wer hätte das gedacht?, geht ihr durch den Kopf. Wer hätte das je gedacht?

Dann erinnert sie sich an Alix Summers Kinder von heute Morgen in ihren Uniformen der Parkside-Grundschule, das Mädchen auf einem schicken Scooter, der Junge mit über den Asphalt schrammenden Füßen, die Haut so glatt. Ohne sich ihnen genähert zu haben, weiß sie, dass ihr Haar nach sauberen Kissenbezügen und Kindershampoo riechen würde. Kleine Kinder verströmen keine unangenehmen Gerüche. Das kommt später. Einem Schock gleich tauchen plötzlich schuppige Haare, säuerlich miefende Achselhöhlen und käsige Füße auf. Und das ist erst der Anfang. Beim Gedanken an die süßen Kinder, die sie einmal hatte, seufzt Josie, bevor sie das Foto zurück auf die Kommode stellt.

Sie zieht sich um, wäscht sich die Hände, kehrt zurück in die Küche, öffnet den Kühlschrank und holt die Fleischbällchen heraus. Dem Schrank entnimmt sie eine Dose gehackte Tomaten und getrocknete Kräuter. Während sie eine Zwiebel schneidet, beobachtet sie Walter beim Tippen auf dem Laptop am Fenster, sieht einen Bus vorbeifahren, betrachtet die Gesichter der Passagiere, denkt an Roxy, an Erin und daran, wie ihr Leben verlaufen ist.

Als die Fleischbällchen in ihrer Tomatensoße köcheln, deckt sie die Pfanne ab und öffnet einen anderen Schrank. Sie holt sechs Gläser Babynahrung hervor, die größeren für Babys im Alter über sieben Monaten. Hauptsächlich Fleisch und Gemüsemischungen. Aber keine Erbsen. Erin kann Erbsen nicht leiden. Josie entfernt die Deckel und stellt die Gläser in die Mikrowelle. Als sie warm sind, jedoch nicht heiß – denn heißes Essen verweigert Erin –, rührt sie den Inhalt um und richtet die Gläser mit einem Teelöffel und einem Stück Küchenrolle auf einem Tablett an. Aus dem Kühlschrank fügt sie noch Schokoladenmousse hinzu, bevor sie das in den Flur trägt und vor Erins Zimmer zurücklässt. Sie klopft nicht an. Erin würde es nicht hören. Aber irgendwann zwischen dem Abstellen des Essens und später, wenn Josie zu Bett geht, werden die Gläser mit Babynahrung leer vor Erins Zimmer auftauchen.

Ein weiterer Bus fährt vorbei. Diesmal ist er verwaist. Walter klappt den Laptop zu und steht auf. »Soll ich mit dem Hund rausgehen, bevor wir essen?«

»Oh! Schon gut, das kann ich machen.«

»Nein, es tut mir gut. Frische Luft. Bewegung.«

»Aber stört’s dich auch nicht, seinen Dreck wegzuputzen?«

»Den trete ich einfach in den Rinnstein.«

»Das kannst du nicht machen, Walter.«

»Klar kann ich. Seine Scheiße sieht sowieso nur wie Kaninchenkot aus.«

»Bitte heb sie auf«, fleht sie. »Es ist nicht nett, den Dreck liegen zu lassen.«

»Mal sehen«, erwidert er und nimmt die Leine von Josies ausgestreckter Hand entgegen. »Mal sehen.«

Josie beobachtet durch das vordere Fenster, wie sie losgehen. Fred hält an einem Baumstamm inne, um daran zu schnüffeln. Walter zieht ihn ungeduldig weiter, den Blick auf sein Handy gerichtet. Josie wünscht sich, sie wäre stattdessen mit Fred Gassi gegangen. Hunde müssen herumschnüffeln. Das ist für sie wichtig.

Sie rührt die Fleischbällchen auf dem Kochfeld um, bevor sie ein paar Flocken getrocknetes Chili hinzufügt. Anschließend gießt sie Wasser in einen Topf und stellt ihn zum Kochen auf den Herd. Sie schaltet ihr Handy ein, ruft den Browser auf und tippt »Roxy Fair« ein. Unter den Einstellungen grenzt sie den Zeitraum auf »Letzte Woche« ein, damit nur die aktuellen Ergebnisse angezeigt werden. Das macht sie zweimal täglich. Jeden Tag. Jedes Mal erfolglos. Höchstwahrscheinlich hat Roxy mittlerweile den Namen geändert, das ist ihr bewusst. Dennoch darf man nicht aufhören zu suchen. Man darf nicht einfach aufgeben.

Um 20:00 Uhr kommt Walter mit dem Hund zurück.

»Hat er gekackt?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

Er lügt, aber Josie lässt es auf sich beruhen.

Sie essen die Spaghetti mit Fleischbällchen vor dem Fernseher. Walter merkt an, dass sie wirklich scharf sind. Theatralisch leert er dazu sein Glas Wasser, und Josie lacht entgegenkommend. Um 22:00 Uhr stehen sie auf, um ins Bett zu gehen. Vor Erins Zimmer warten die leeren Babynahrungsgläser. Josie bringt sie in die Küche und spült sie fürs Recycling aus. Walter putzt sich mit nacktem Oberkörper im Badezimmer die Zähne. Von hinten sieht er wie ein Greis aus. Es ist nur zu leicht zu vergessen, was er einst war. Während Josie wartet, dass Walter im Badezimmer fertig wird, schlüpft sie in ihren Pyjama. Danach geht sie hinein, putzt sich die Zähne, bürstet sich die Haare, wäscht sich das Gesicht, cremt sich die Haut und die Hände ein. Im Bett greift sie zu ihrem Buch, schlägt es auf und liest eine Weile.

Um 23:00 Uhr schaltet sie die Nachttischlampe aus und wünscht Walter eine gute Nacht.

Josie schließt die Augen und stellt sich schlafend.

Walter auch.

Nach einer halben Stunde spürt sie, wie er das Bett verlässt. Sie hört seine leisen Schritte auf dem Teppich, gefolgt vom Knarren der Dielen im Flur. Dann ist er weg, und sie streckt sich mit dem Wissen über das Bett aus, dass es für den Rest der Nacht ihr gehört.

Hi! Ich bin dein Geburtstagszwilling!

EINE NETFLIX-ORIGINALSERIE

Der Bildschirm zeigt einen leeren Sessel mit Blumenmuster in einem großen, offenen Studio.

Von der Seite erscheint eine junge Frau.

Sie trägt eine grüne Latzhose über einem abgeschnittenen schwarzen Trägertop und hat tätowierte Unterarme.

Nachdem sie sich auf den Sessel gesetzt hat, schlägt sie die Beine übereinander und lächelt in die Kamera.

Am unteren Bildschirmrand wird eingeblendet:

Amy Jackson, Nachbarin von Josie und Walter Fair

Amy, lachend: »Wir haben sie Doppel-Denim genannt.«

Interviewerin aus dem Off: »Und warum?«

Amy: »Weil alles, was sie getragen hat, aus Jeansstoff war. Buchstäblich alles.«

Kurz wird ein Foto von Josie Fair in Jeansrock und -jacke eingeblendet.

Interviewerin: »Wann bist du in die Wohnung neben Josie und Walter Fair eingezogen?«

Amy: »Das muss Ende 2008 gewesen sein. In dem Jahr habe ich mein erstes Baby bekommen.«

Interviewerin: »Und was hast du von Josie und Walter als Nachbarn gehalten?«

Amy: »Wir haben sie als echt schräg empfunden. Ich meine, er war ganz in Ordnung. Am Anfang nach dem Einzug haben wir noch gedacht, er wäre ihr Vater. Wenn man ihm im Flur über den Weg gelaufen ist, hat er immer genickt und gegrüßt. Aber sie war richtig unfreundlich, hat sich aufgeführt, als wäre sie was Besseres. Manchmal hab ich mich gefragt, ob sie vielleicht nur distanziert war, weil sie die Leute aus ihren Angelegenheiten heraushalten wollte, verstehen Sie? Als würde sich hinter verschlossenen Türen irgendwas abspielen.«

Interviewerin: »Bist du je ihren Töchtern begegnet?«

Amy: »Ja. Als wir eingezogen sind, haben wir beide Mädchen recht oft gesehen. Ich schätze, Erin war damals ungefähr zwölf. Roxy muss neun, vielleicht zehn gewesen sein. Es war ein lauter Haushalt. Viel Geschrei. Viel zugeknallte Türen. Und dann irgendwann, wohl so vor fünf oder sechs Jahren, ist es plötzlich richtig still geworden. Und wir haben nie erfahren, warum. Bis das alles passiert ist.«

Interviewerin: »Das alles?«

Kurze Pause.

Amy: »Ja. Das alles. Die Morde. Die Toten.«

Der Bildschirm wird schwarz.

Dienstag, 18. Juni

Stitch ist ein bezaubernder, heller Laden, untergebracht in einer ehemaligen viktorianischen Kurzwarenhandlung. Vorn sind noch die ursprünglichen, gekrümmt verlaufenden Erkerfenster vorhanden, hinten weist ein riesiges Schiebefenster zu den U-Bahngleisen hinaus. Dazwischen sind sechs Nähmaschinen in zwei Reihen angeordnet. Alix entdeckt Josie an der Maschine ganz hinten. Sie hat Kopfhörer aufgesetzt und das Haar zu einem niedrigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Alix trägt ihre Leinentasche zur Ladentheke und lächelt.

»Hi«, grüßt sie. »Ist Josie heute da?«