Kein Mann für jeden Tag - Alice Peterson - E-Book

Kein Mann für jeden Tag E-Book

Alice Peterson

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Beschreibung

Von Montag bis Freitag wohnt der attraktive Jack Baker als Untermieter in Gillys schicker Londoner Wohnung. Aber am Wochenende verschwindet er immer, ohne zu sagen, wohin. Gilly zerbricht sich darüber nicht weiter den Kopf. Nachdem ihr Exfreund sie zwei Wochen vor der Hochzeit sitzengelassen hat, glaubt Gilly, in Jack nun den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Doch ist er wirklich so perfekt, wie alle glauben? Oder sollte sie auf die Warnungen ihres Freundes Guy hören und die Finger von ihm lassen?

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

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ALICE PETERSON

ROMAN

Übersetzung aus dem Englischen vonUlrike Werner-Richter

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»Monday to Friday Man«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Alice Peterson

Published by arrangement with Quercus, London, Great Britain

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln

Testredaktion: Susanne Bartel, Nürnberg

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Umschlagmotiv: © shutterstock / mattasbestos

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1525-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Bernice und Zek

Zum Andenken an Alice

1

»Sie legen einfach die Kapsel in die Maschine. Das geht so.« Die Verkäuferin steht vor einer Luxus-Kaffeemaschine und demonstriert die entsprechenden Handgriffe. Ihr rotes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jeder ihrer Bewegungen mitschwingt. »Dann drücken Sie den Knopf mit der Aufschrift ›Cappuccino‹, und das war’s auch schon.«

»Toll«, sage ich, während das blitzblanke Gerät faucht und gurgelt und die Milch zu Schaum schlägt. Eine italienische Kaffeemaschine war eines der Hochzeitsgeschenke, die ich nur widerwillig zurückgegeben habe. Zum Schluss stäubt die Verkäuferin einen Hauch Kakaopulver auf den Milchschaum und reicht mir die Tasse. Ich nippe daran.

»Nun? Wie schmeckt er Ihnen?«, erkundigt sich das Mädchen.

Und in diesem Augenblick sehe ich ihn.

Ich starre in sein Gesicht. Ich wusste, dass wir uns eines Tages über den Weg laufen würden – immerhin wohnen wir beide in Hammersmith –, und doch bin ich noch nicht bereit, ihm entgegenzutreten. Mein Blick streift seine Armbanduhr, die ich ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt habe. Ich erinnere mich noch genau, wie ich sie um sein Handgelenk legte und Ed mich in die Arme nahm und küsste. Jetzt kann er mir nicht einmal in die Augen sehen.

Eine blonde Frau kommt mit einem Blatt Papier in der Hand auf ihn zu.

»Edward, Liebling, haben wir eigentlich die Töpfe von Le Creuset …« Sie bricht ab. Offenbar spürt sie die angespannte Atmosphäre. »… auf unsere Liste gesetzt?«, fährt sie fort und schaut von mir zu ihm.

»Wir gehen«, ist alles, was er hervorpressen kann. Die hübsche Frau, deren äußerst gepflegtes Erscheinungsbild den Verdacht nahelegt, dass sie den größten Teil des Tages in Schönheitssalons verbringt, wartet darauf, mir vorgestellt zu werden, doch Ed nimmt ihren Arm und führt sie entschlossen aus dem Kaufhaus.

Ich verlasse die Küchenabteilung ohne meine Luxus-Kaffeemaschine, stolpere wie betäubt zur Rolltreppe und klammere mich am Handlauf fest. In meinen Augen stehen Tränen. Unfassbar. Er heiratet. Schon nach sechs Monaten! Wie kann er nur?

Ich höre sie miteinander flüstern.

»Ach was … Gilly? Himmel, das war Gilly?«

Der betäubende Duft von ihr erfüllt noch immer die Luft.

»Nicht so laut«, raunt Ed ihr zu. »Wir kommen einfach später wieder.«

»Wehe, du lässt mich eines Tages sitzen«, entgegnet sie und schaut sich verstohlen um.

Ich sehe, wie sie das Kaufhaus verlassen. Als die Luft rein ist, trete auch ich durch die Glastüren. Im Türflügel sehe ich mein Spiegelbild. Ein Streifen weißer Milchschaum ziert meine Oberlippe.

2

»Hier ist Dorset FM mit Ihren Lieblings-Sommerhits«, verkündet die sanfte Stimme des Moderators. »Als Nächstes hören Sie den Song eines Sängers, den ich Ihnen sicher nicht mehr vorstellen muss.«

Ich sitze im Auto, fahre aufs Land und singe so laut mit, dass ich Lionel Richie bei Dancing on the Ceiling glatt übertöne. Mein Hund Ruskin lässt vom Rücksitz ein kurzes Protestgebell hören, ehe er die Nase wieder aus dem Fenster steckt. Er liebt es, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren.

»Was ist, Rusk?«, frage ich ihn und drehe mich kurz um. »Hast du etwa etwas gegen meinen engelsgleichen Gesang?«

Er bellt noch einmal und bringt damit nur allzu deutlich zum Ausdruck, dass er weder mit meinem Gesang einverstanden ist noch meinen Musikgeschmack teilt. Rusk steht eindeutig mehr auf Bach und Mozart.

Ich lenke den Wagen an den Straßenrand und lasse einen Traktor auf der Gegenfahrbahn vorbeikriechen. Vermutlich war es gut, dass ich letztes Wochenende über Ed gestolpert bin. Ganz sicher sogar.

»Gleich sind wir da, Süßer«, verspreche ich Ruskin. Nachdem der Traktorfahrer sich bei mir bedankt hat, weil ich gewartet habe, und ich mich bei ihm, weil er sich bedankt hat, fahre ich weiter.

Ich werde jetzt nicht weiter über Ed nachgrübeln, ermahne ich mich. Aber er hat gut ausgesehen. Schlank und gebräunt. Ich hatte monatelang auf diese Uhr gespart. Krampfhaft umklammere ich das Lenkrad.

»Sieh mal, Ruskin, ist es nicht schön hier? Grüne Wiesen, weiße Schafe und dieser blaue Himmel! Hier wird es uns sicher gefallen.«

Ich habe beschlossen, dass Ruskin und ich aus London wegziehen und irgendwo auf dem Land ganz neu anfangen. Natürlich werde ich London vermissen, denn trotz allem verbinden mich mit der Stadt viele glückliche Erinnerungen. Zum Beispiel freitagabends mit meinen Freunden tanzen zu gehen. Manchmal haben wir bis fünf Uhr morgens gefeiert und dann gemütlich bei Sonnenaufgang gefrühstückt. Samstags waren Ed und ich oft auf Partys unterwegs oder haben in einem schönen Restaurant zu Abend gegessen. Wenn wir wieder zu Hause waren, genehmigten wir uns oft noch einen Cocktail, legten eine romantische CD ein und entspannten. Ich habe diese Abende geliebt. Außerdem gibt es in London ein paar der besten Museen der Welt, obwohl ich zugeben muss, dass ich mich dort in letzter Zeit eher selten aufgehalten habe. Dann schon eher auf den sonntäglichen Märkten in Spitalfields und Camden! Mit Ed bin ich auch das erste Mal in die Oper gegangen. Zuerst wusste ich nicht recht, ob das mein Ding ist, aber irgendwann wollte ich die Abende in Covent Garden nicht mehr missen. Dort hat er mir übrigens auch den Heiratsantrag gemacht.

Es fällt mir wirklich schwer, mir vorzustellen, dass ich irgendwo anders als in London leben könnte, allerdings hat sich in der letzten Zeit so einiges verändert. Für mich hat die Stadt ihren Glanz verloren, aber vielleicht ist der Grund dafür ja nur, dass ich wieder Single bin und viele meiner verheirateten Freunde weggezogen sind. Erst heute Morgen lag wieder eine Karte von einer früheren Schulfreundin in meinem Briefkasten. Die schwarz-weiße Illustration zeigte eine winkende Familie in einem Heißluftballon. Und darunter stand: Die Digbys brechen zu neuen Ufern auf.

Ich fahre an einem reetgedeckten Häuschen vorbei, dessen Eingangstür offen steht und die Sonne hereinlässt. Wo in London wäre so etwas wohl möglich? Sicher nicht in Hammersmith, wo ich manchmal im Zickzack die Bürgersteige wechsle, um fragwürdigen Gestalten aus dem Weg zu gehen. Nachts krakeelen Betrunkene vor meinem Schlafzimmerfenster herum, und morgens finde ich Glasscherben auf der Straße. Letzte Woche wurde mein Auto aufgebrochen, allerdings muss ich zugeben, dass ich so blöd war, meine Fitnessklamotten auf dem Rücksitz liegen zu lassen. Die Mistkerle haben meine gesamten CDs mitgenommen – bis auf The Best of Girls Aloud.

*

In einem verschlafenen Marktflecken parke ich vor einer Immobilienagentur namens Hunters. Als ich Ruskins Sicherheitsgurt löse, entdecke ich unter dem Beifahrersitz mein Adressbuch, eine leere Wasserflasche aus Plastik, einen ganzen Haufen zerknüllter Strafzettel und – zum Teufel, was ist das? – eine alte Mandarinenschale. Ich sollte demnächst dringend mal aufräumen.

Bei näherer Begutachtung der Straßenbeschilderung stelle ich erfreut fest, dass ich hier fürs Parken nicht einmal bezahlen muss. In London muss man ja schon einen Obolus entrichten, ehe man nur seinen Namen ausgesprochen hat. Ein weiterer guter Grund, um der Stadt den Rücken zu kehren. Als ich die Agentur betrete, zerrt Ruskin mich begeistert zu einem Mann, der am Schreibtisch sitzt.

»Gilly?« Er steht auf und reicht mir die Hand. »Gilly mit G, nicht wahr?«, fügt er vorsichtshalber mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Ich freue mich über sein gutes Gedächtnis und lächle zurück. Dad sagt immer, ich würde jeden darauf hinweisen, dass ich anders bin, indem ich erkläre, dass mein Name mit G und nicht wie üblich mit J geschrieben wird. Richard hatte ich, soviel ich weiß, das letzte Mal in Dads Küche gesehen. Ich muss ungefähr zehn gewesen sein, Richard ging damals schon auf die zwanzig zu. Er trug sein dunkles Haar ziemlich lang und war laut und selbstbewusst. Ich erinnere mich, dass ich seine Cowboystiefel unheimlich schick fand. Er war mit seinem Vater zum Tee gekommen.

Nach Adam Riese muss er inzwischen Mitte vierzig sein. Ich hatte ihn größer in Erinnerung, aber natürlich war ich damals noch ein Kind, und als Kind kommen einem alle Erwachsenen größer vor. Sein Körperbau ist gedrungen, er hat einen kräftigen Handschlag und – oje! – einen miserablen Geschmack, was Kleidung angeht. Wie kann ein Mann nur ein knallgelbes Hemd mit Ananasfrüchten drauf tragen? Vermutlich steckt er in der Midlife-Crisis.

»Schön, dich wiederzusehen«, sagt Richard. »Es ist ganz schön lang her. Wie geht es deinem Dad?« Richard ist das Patenkind meines Vaters, und es war Dads Idee, ihn aufzusuchen, wenn ich wirklich vorhätte, aufs Land zu ziehen. Richards Vater Michael und mein Vater hatten sich während des Wehrdienstes kennengelernt und waren seitdem immer in Verbindung geblieben. Ich kann mich noch erinnern, wie Michael und mein Vater ihre Militärzeit Revue passieren ließen. Gern erzählten sie, wie sie in aller Herrgottsfrühe aufstehen und ihre Stiefel polieren mussten, bis sie spiegelblank glänzten, und dass ihr Sergeant sie ständig anbrüllte. Ich habe mir ihre Geschichten immer gern angehört.

»Setz dich doch«, fordert Richard mich auf und begutachtet interessiert meinen Jeansmini, die Sonnenbrille und die rosa Birkenstockschuhe.

Ich nehme die Sonnenbrille ab. Hinter Richards Schreibtisch hängt eine große schwarz-weiß gerahmte Luftaufnahme von Dorset.

»Süßer Hund«, sagt er.

»Danke.« Ich strahle vor Stolz. Ruskin ist mein Rettungshund, ein Terrier-Mischling mit einem Schwanz, der an eine Palme erinnert, mit stämmigen, robusten Beinen und einem hübschen, für seinen Körper eigentlich zu großen Kopf. Sein Anblick führt des Öfteren zu Heiterkeitsausbrüchen bei Kindern, die ihn immer streicheln wollen. Für mich ist er das treueste männliche Wesen in meinem Leben. Niemand soll sich einfallen lassen, diesen Hund zu kritisieren.

Nachdem wir uns kurz über die Befindlichkeiten unserer Väter ausgetauscht haben, kommt Richard auf das Geschäft zu sprechen. »Du willst also hier in der Gegend etwas kaufen?«

»Richtig. Ich habe Lust auf ein Abenteuer«, erkläre ich kühn. Warum soll ich schließlich nicht genauso zu neuen Ufern aufbrechen wie die Digbys?, denke ich mir.

»Ich kann mich gar nicht erinnern – hast du Familie hier?«

»Oh ja. Meine Tante Pearl lebte in …« Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mich zu erinnern. »Tolpuddle. Genau. In Tolpuddle.« Ich weiß noch, wie ich als Kind zusammen mit meinem Zwillingsbruder Nicholas in den Sommerferien immer zu Tante Pearl geschickt wurde. Wir hatten viel Spaß. Sie fuhr mit uns an den Strand, wo wir auf den Felsen herumklettern konnten und uns wilde Wasserschlachten lieferten.

Richard verschränkt die Arme. Er hat ein ausdrucksstarkes, eckiges Gesicht, lockiges dunkelbraunes Haar und dichte Augenbrauen.

»Heute Morgen bin ich durch ein paar wirklich hübsche Dörfer gefahren.« Ich beschließe, ihm nicht zu erzählen, dass die meisten von ihnen ziemlich ausgestorben wirkten. »Ich habe auch ein Cottage gesehen, das zum Verkauf stand. Es war in … Pudlehampton, oder hieß es Pudletown? Jedenfalls irgendwas mit Pudle.«

»Piddlehinton.« Er verkneift sich ein Lachen. »Möchtest du vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?«

»Gern. Einen Cappuccino, bitte.«

»Also, wir sind hier nicht im Grandhotel.«

Ich werde rot. »Instantkaffee ist absolut okay.«

Er wälzt sich aus seinem Sessel, steigt eine Treppe hinauf und verschwindet aus meinem Blickfeld. Rastlos schaue ich mich im Büro um, ehe ich den Arm ausstrecke und Ruskin streichle, der unter meinem Sessel liegt.

Der Blick aus dem Fenster erinnert mich daran, dass ich hier nicht damit rechnen muss, Ed und seiner zukünftigen Ehefrau über den Weg zu laufen. Als er mir im Kaufhaus plötzlich gegenüberstand, hatte ich nur einen einzigen Gedanken: Ich war so gewöhnt daran, jeden Morgen neben diesem Gesicht aufzuwachen. Ich kenne jede Linie darin, die Form seines Mundes und die Geschichte der fast unsichtbaren Narbe auf der linken Stirnseite. Ich senke den Blick und betrachte meinen abgeblätterten Nagellack. Seine Neue würde es sicher nie so weit kommen lassen – genauso wenig, wie sie wahrscheinlich an ihren Nägeln kaute. Ich überlege, ob Ed ihr schon erzählt hat, woher die Narbe stammt.

Aus der Küche dringen Lärm und ein paar herzhafte Flüche, ehe Richard mich fragt, ob ich Milch und Zucker nehme. Es hört sich an, als stünde der Wasserkessel kurz vor einer Explosion, während Richard mit den Tassen zu kämpfen scheint und vor dem Fenster ein Tattergreis mit einem Rollator vorbeischlurft.

Plötzlich werde ich von Panik überwältigt. Was tue ich eigentlich? Werde ich hier überhaupt einen Job finden? Und wenn ich London verlasse, werde ich meinen Vater vermissen? Er wohnt in dem alten heruntergewirtschafteten Haus unserer Familie am Regent’s Park. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass er es gern sähe, wenn ich wegzöge, aber bei Dad kann man nie genau wissen. Anna wäre sicher traurig, wenn ich ginge. Sie ist wie ich Single und fast wie eine Schwester für mich. Auch meinen Zwillingsbruder Nick und ganz besonders seine Kinder würde ich vermissen. Natürlich könnten sie mich alle in meinem idyllischen Landhaus mit rosa Kletterrosen und hübschem Gartentor besuchen kommen. Ich kann meine beiden Nichten fast vor mir sehen, wie sie barfuß über den Rasen rennen und unter dem Rasensprenger spielen. Und abends würden wir alle fröhlich im Garten Himbeeren pflücken.

Ich streichle Ruskin und denke daran, wie sehr ich meine Hundefreunde vermissen würde, mit denen ich jeden Tag im Ravenscourt Park spazieren gehe. Wir sind fast schon eine Institution. Jeden Morgen um acht treffen wir uns unter der dicken Eiche, ganz gleich, ob die Sonne scheint oder es regnet.

Und auch Susie würde mir fehlen. Ihre Tochter Rose ist mein Patenkind.

Dann denke ich wieder an Ed. »Himmel, das war Gilly?«, hatte die Frau gesagt. Ich kann es unmöglich ertragen, ihr noch einmal über den Weg zu laufen.

»Gilly?« Richard steht vor mir und reicht mir eine Tasse.

»Entschuldige.« Ich nehme den Kaffee und bedanke mich. »Ich war mit den Gedanken ganz woanders.«

»Hast du dein Haus in London eigentlich schon verkauft?«

»Bisher nicht. Aber ich stehe ja noch ganz am Anfang …«

»Womit verdienst du im Moment dein Geld, Gilly?«

»Gute Frage.« Ich lächle ihn an und räuspere mich. »Ich arbeite im Antiquitätenladen einer Freundin.«

»Okay.«

»Allerdings nur vorübergehend«, beeile ich mich nachzuschieben. »Früher habe ich für eine Agentur gearbeitet, die Locations für Fotoshootings, Werbung, Konferenzen und Ähnliches vermietete, aber unter der neuen Geschäftsführung hat die Pleite nicht lange auf sich warten lassen. Die neue Chefin war einfach fürchterlich …« Ich reibe mir die Hände, und mir wird klar, dass ich Richard nicht alles erzählen sollte. »Wie auch immer: Ich helfe meiner Freundin nur über den Sommer aus, bis ich umziehe. Du sagtest am Telefon, dass du ein paar Häuser im Angebot hast, die mein Budget nicht sprengen?«

Er schiebt ein paar Blätter zusammen. Als einige davon auf den Boden fallen, macht er sich nicht einmal die Mühe, sie aufzuheben. »Fangen wir doch einfach mit diesem hier an.«

Es ist ein Cottage mit Reetdach. Der Boden in der Küche ist schwarz-weiß gefliest, in der Ecke steht ein altmodischer Herd.

»Es liegt an der Hauptstraße nach Dorchester«, sagt Richard.

Ich betrachte die Bilder eingehend und versuche, etwas Positives zu sagen. »Es sieht ein bisschen schäbig aus«, entfährt es mir.

»Absolut. Ein schreckliches Haus«, stimmt er mir sofort zu.

Neugierig sehe ich zu, wie er das nächste Exposé aus dem Stapel zieht. Ein weiß gestrichenes Cottage mit einem Vorgarten und Fensterläden.

»Der Nachteil bei diesem hier ist«, beginnt Richard, der mein Interesse spürt, »dass es auf einem steilen Hügel liegt. Wenn es im Winter schneit, sitzt du fest.«

»Ist im Dorf etwas los?«

»Tja, was meinst du genau mit ›etwas los‹?«

»Nun, es wäre ganz nett, wenn ich dort Leute in meinem Alter kennenlernen könnte.« Zum Beispiel einen attraktiven Gentleman mit zwei Labradorhunden, der gern am Meer spazieren geht und romantische Dinner am Kamin liebt. Und vielleicht auch nichts gegen Tanzen hat. Ob Richard ein Domizil, das so etwas ermöglichen würde, in seinem Aktenschrank verbirgt?

Er trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Abgesehen vom Pfarrer und seiner Frau fällt mir im Augenblick niemand ein. Die Ärmste war monatelang bettlägerig, nachdem sie in ihren Müllcontainer gefallen und den ganzen Berg hinuntergeschlittert ist.«

Gegen meinen Willen muss ich lächeln.

Er zeigt mir ein weiteres winziges Cottage in einem Dorf, das aus höchstens drei Häusern und einem Briefkasten zu bestehen scheint. Die Fenster sind so groß wie Streichholzschachteln und die Vorhänge zugezogen. Mir ist zwar klar, dass mein Budget begrenzt ist, aber das soll wirklich alles sein?

»Okay.« Richard legt eine Pause ein, blickt mich zögernd an, fährt dann aber doch fort: »Sag mal, bist du ganz sicher, dass du wirklich umziehen willst?«

»Wie bitte?«, entfährt es mir.

In diesem Augenblick klingelt mein Handy, und Ruskin beginnt zu bellen. Nervös krame ich in meiner Handtasche herum und bin mir nur allzu bewusst, dass Richard mir dabei zusieht. Ich fördere meinen gesamten Krempel zutage: Tagebuch, Puderdose, Busfahrkarte, Lippenstift und sogar Ruskins Hundekotbeutel. Ich bin sicher, Handys verabreden sich heimlich, um sich im Augenblick eines Anrufs eines anderen zu verstecken.

Da bist du ja, du kleiner Nichtsnutz!

»Was sagtest du gerade?«

Ich schalte das Telefon aus.

Richard betrachtet mein langes dunkelbraunes Haar, das ich mit einem Schal mit dunkelblauen Tupfen nach hinten gebunden habe, meine Armreifen, meine türkise Wildlederhandtasche und wirft schließlich einen vorsichtigen Blick auf meinen leeren Ringfinger. »Ich könnte mir denken, dass ein Dorf auf dem Land nicht der richtige Ort ist für …«

»Einen Single?«

Er streicht sich über das Kinn und nickt.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, gebe ich zu, »aber …«

»Die Leute werden sich Gedanken über deine Beweggründe machen.«

Verständnislos blicke ich ihn an.

»Man wird dich sicher nicht sehr oft einladen, falls du so etwas erwarten solltest. Ich fürchte, da bist du auf dem Holzweg.«

Ich lache nervös. »Aber wieso nicht?«

Er lehnt sich über den Schreibtisch. »Weil die Frauen sich bedroht fühlen«, vertraut er mir an.

»So ein Quatsch. Warum sollten sie?«

»Glaube mir, es ist so, wie ich es dir sage. Sie werden befürchten, dass du ihnen ihre Ehemänner ausspannen willst. Immerhin siehst du ziemlich gut aus«, fügt er mit leuchtenden Augen hinzu.

»Aber es kommt für mich nicht infrage, einer anderen Frau den Mann auszuspannen, das kannst du mir glauben. Und wenn die Kerle hier alle auch noch Ananashemden tragen wie du, dann haben sie bei mir ohnehin keine Chance.« Allmählich entspanne ich mich. »Ich brauche einfach einen Tapetenwechsel.«

»Die Dörfer mögen im Sommer ganz idyllisch wirken, aber im Winter herrscht hier absolut tote Hose«, argumentiert er.

»Das glaube ich nicht. Außerdem kommen mich meine Freunde bestimmt besuchen.«

»Und was willst du hier tun? Etwa Bridge spielen?«

»Ich suche mir eine Arbeit. Etwas, das richtig Spaß macht.«

»Du hast die ganze Sache noch nicht richtig durchdacht, oder?«

»Aber sicher. Ich brauche eine neue Umgebung. Ich wünsche mir einen Garten für Ruskin und für mich … ein gesünderes Leben. Frische, saubere Luft.«

»Aber hier riecht es ständig nach Mist«, lacht er.

»Jetzt mach doch nicht alles so mies. Ich werde einen hübschen Garten haben, wo ich mein eigenes Obst und Gemüse anbaue«, ereifere ich mich. »Himbeeren, Kartoffeln und … und … Brokkoli.«

»Wenn du glaubst, dass du einsam bist …«

»Einsam? Ich bin nicht einsam!« Ich bücke mich zu Ruskin hinunter, der zusammengerollt mit dem Kopf auf meinen Füßen liegt, und streichle ihn.

»Warum willst du wirklich umziehen?«

»Was?« Ich wage es nicht aufzublicken. Richards Frage raubt mir fast den Atem.

»Gilly, jemand hat mir mal gesagt, dass man London nur verlassen darf, wenn man es hasst. Wenn man allen Saft aus der Stadt herausgepresst hat. Ich habe diesen Rat dummerweise nicht ernst genommen, und heute vermisse ich London wie verrückt. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob du wirklich schon so weit bist.«

Wieder denke ich an Ed und werde ein bisschen mutiger.

»Wetten, dass doch?«

Richard nickt.

»Ich habe es satt, immer das Gleiche zu sehen. Heulende Sirenen und Unfälle, die genau vor meiner Nase passieren, lassen mich längst kalt. Ich bin es leid, die Scheiß-Innenstadtmaut zu bezahlen, und Ruskin hat keinen Garten, sondern nur den Bürgersteig. Fast alle meine Freunde sind aus London weggezogen, … und … und die, die dort noch wohnen, laden mich höchstens zum Tee ein, damit ich zuhören kann, wie ihre Kinder quengeln, dass sie ihr Eis in einer Waffel und nicht in der Schale wollen.«

Ich atme durch. Himmel, das tat wirklich gut!

»Im Augenblick habe ich keinen Job, jedenfalls nichts Festes«, fahre ich fort wie ein Dampfkochtopf, der Druck ablässt. »Ich bin frei und Single, also habe ich nichts zu verlieren. Und wenn ich nun Single bleibe? Was ist, wenn ich nie mehr jemanden kennenlerne, Richard? Soll ich mein Leben in London verbringen und später in Hammersmith begraben werden? Ich habe Angst, ich …«

Richard richtet sich auf. »Du hast Angst?«

»Ach, ich könnte mich ohrfeigen!«

»Aber warum?«

Und dann passiert etwas, das ich nicht erwartet habe: Ich beginne zu heulen.

Richard reicht mir ein Paket Taschentücher und fordert mich mit sanfter Stimme auf, alles herauszulassen, als wäre er mein Therapeut.

»Entschuldige«, sage ich schließlich und wische mir die Augen trocken. »Es geht schon wieder.« Dann zögere ich. »Mein Gott, Richard«, bricht es aus mir heraus, denn ich weiß, dass ich ihn nicht mehr täuschen kann, »das ist mir alles so peinlich. Da haben wir uns jahrelang nicht gesehen, und ausgerechnet bei dir breche ich zusammen.«

Was wird er von mir denken?

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Richard lächelt. »So etwas passiert ständig.« Ich ertappe mich dabei zurückzulächeln. »Trotzdem solltest du mir sagen, was eigentlich los ist.«

Ich seufze. »Ich liebe ihn noch immer«, sage ich.

Richard hört geduldig zu, während ich ihm von meiner vierjährigen Beziehung mit Ed und ihrem plötzlichen Ende zwei Wochen vor der für Weihnachten geplanten Hochzeit erzähle. Ed hat mir nie erklärt, woran es lag. Stattdessen fand ich eines Tages einen Zettel auf unserem Flurtisch, auf dem stand: »Es geht nicht. Ich kann dich nicht heiraten.«

»Kennst du das Gefühl, irgendwo am Rand zu sitzen und zusehen zu müssen, wie das Leben aller anderen weitergeht – nur dein eigenes nicht?«, frage ich Richard.

»Ziemlich gut sogar.«

Ich erzähle ihm, wie ich Ed und seiner zukünftigen Frau bei Selfridges begegnet bin.

»Himmel, Richard, ich stecke in einer Sackgasse und hab keine Ahnung, wie es weitergehen soll.« Ich warte vergeblich darauf, dass er etwas Tröstliches von sich gibt. »Kannst du mir nicht sagen, was ich tun soll?«

»Du musst aufhören, dich selbst zu bemitleiden, und darüber hinwegkommen.«

»Was?« Die plötzliche Veränderung seines Tonfalls lässt mich aufhorchen.

»Ich fühle mit dir, Gilly. Ganz ehrlich. Was dieser Ed dir angetan hat, ist unverzeihlich, aber es ist ein halbes Jahr her. Du musst endlich wieder nach vorn schauen.«

»Ich weiß«, erwidere ich mit bebenden Lippen.

»Es wäre nicht richtig, aufs Land zu ziehen. Du würdest nur vor der Wirklichkeit davonlaufen.«

Ich spiele am Griff meiner Handtasche herum. »Du bist doch sicher verheiratet, Richard, oder?«

»Geschieden. Ich bin ganz schön einsam, und glaub mir, ich hatte auch schon oft das Gefühl, wegrennen zu wollen.«

Überrascht von seinem Geständnis blicke ich auf.

»Wenn ich du wäre, Gilly, dann würde ich mir meinen süßen Hund schnappen, nach London zurückfahren und endlich wieder Spaß am Leben haben. Warum lächelst du?«, fragt er.

»Du hast gesagt, ich soll wieder nach London fahren. Die Stadt ist dreckig, teuer, und die Leute sind unhöflich. Ob du es glaubst oder nicht: Vor ein paar Tagen hat mir ein Betrunkener vor meiner eigenen Haustür erklärt, ich solle mich verpissen, und dann mit einer Bierdose nach mir geworfen.«

Richard grinst.

Ich erzähle weiter, meine Nachbarin Gloria habe mich anschließend gefragt, ob das vielleicht ein neuer Untermieter gewesen sei, der seinen Schlüssel vergessen hätte.

»Aber das ist es!«, ruft Richard, rollt eine Hochglanzbroschüre mit Immobilienangeboten zusammen und klopft damit triumphierend auf den Tisch. »Ich glaub, jetzt hab ich’s«, sagt er wie Professor Higgins. »Such dir einen Untermieter.«

»Einen Untermieter?«

Zufrieden verschränkt Richard die Arme. »Genau! Ich habe gerade erst vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen, dass jetzt viele Leute ihr Gästezimmer vermieten. Du hast doch ein Gästezimmer, oder?«

Ich nicke. »Allerdings ein ziemlich kleines.«

»Dann mach es doch!«

»Ach, ich weiß nicht.« Ich brauche immer etwas Zeit, um mich für eine neue Idee zu erwärmen.

»So hättest du ein Zusatzeinkommen, ohne viel dafür tun zu müssen«, wirbt Richard für seine Idee.

Ich denke nach. Seit mir in meinem letzten Job gekündigt wurde, ist mein Einkommen drastisch geschrumpft. Mari, eine Freundin aus der Hundegruppe und die Besitzerin des Antiquitätenladens, kann es sich nicht leisten, mir mehr als den üblichen Tarif zu zahlen. In der letzten Zeit habe ich mir sogar für mittags Brote geschmiert, um Geld zu sparen.

»Aber ich bin zu alt für eine WG. Die Zeiten habe ich hinter mir. Inzwischen verläuft mein Leben in geordneten Bahnen.«

»Dann bring eben wieder ein bisschen Chaos rein!«

Und dann scheucht er Ruskin und mich aus dem Büro.

»Was soll das?«, protestiere ich, als er mich an die Luft setzt.

»Ich lade dich zum Essen ein.«

»He, warte mal …«

»Auf der anderen Straßenseite ist ein ganz passabler Pub. Ich habe das Gefühl, dass ich bei dir noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten muss.«

3

Ich durchforste gerade die Stellenangebote in der Tageszeitung, als Mari mit einer Marmorbüste in den Laden schwankt. Sie ist gerade erst von einer Einkaufsreise nach Frankreich zurückgekehrt.

»Nun schau dir diesen hübschen Kerl mal an, Gilly!« Sie stellt die Büste auf einem Sofa ab. Ruskin und Basil, Maris Jack-Russell-Terrier, machen widerwillig Platz. »Sieht er nicht toll aus?«

Das tut er zwar in der Tat, aber ich hab nicht den leisesten Schimmer, wo er in den nächsten Monaten wohnen soll. Auf dem langen Eichentisch in der Mitte des Raums stapeln sich bereits alle Arten von Kostbarkeiten. »Hast du viel mitgebracht?«, frage ich und folge ihr nach draußen.

»Weniger als beim letzten Mal, aber mehr als das Mal davor.«

Ich helfe Mari, ihren ramponierten weißen Lieferwagen leer zu räumen. Der Bürgersteig ist vor Vasen und Lampions unpassierbar.

»Frisch gestrichen und mit fluffigen Stoffkissen sehen sie bestimmt toll aus«, erklärt Mari, als sie mich dabei ertappt, angesichts einiger verrosteter Gartenstühle die Nase zu rümpfen.

Mari – übrigens die Abkürzung für Marigold – gehört zu meinen extrovertiertesten Hundefreundinnen. Sie ist Ende vierzig, hat pechschwarzes, zu einem schicken Bob geschnittenes Haar und trägt heute einen knallgrünen Overall. Ich habe sie vor vier Jahren im Ravenscourt Park kennengelernt. Sie stand im Schatten einer Eiche in der Nähe der U-Bahn-Station, rauchte eine Mentholzigarette und warf für Basil immer wieder einen Ball zum Apportieren. Mari ist geschieden und hat keine Kinder. »Ich wollte nie welche«, erklärte sie mir bei einem unserer Spaziergänge. »Ich wollte immer nur einen Hund.«

Ihr Laden in der Pimlico Road ist auf antike Kerzenleuchter, Spiegel, Lampions und Vasen spezialisiert. Gerade hat sie sich in Frankreich bei diversen brocantes nach Schnäppchen umgesehen. Mari hat einen todsicheren Riecher und stößt auf Dinge, an denen unsereins glatt vorbeilaufen würde. Stattdessen wischt sie einfach die Spinnweben beiseite, und hervor kommt ein georgianischer Leuchter.

»Die hier ist wirklich interessant«, sagt Mari. Gemeinsam hocken wir auf dem Boden und betrachten eine große, runde, silberne Lampe. »Ich vermute, sie stammt aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts und wurde bei chirurgischen Operationen eingesetzt. Irgendein schlauer Zeitgenosse hatte die Idee, sie nach dem Vorbild einer Bauernlampe aus dem achtzehnten Jahrhundert zu gestalten.«

»Sie ist wunderschön«, sage ich und stelle mir die Lampe in meiner nach französischem Vorbild rustikal gestalteten Küche vor, die allerdings nur in meiner Fantasie existiert.

»Weißt du, was ich an Antiquitäten ganz besonders mag?«, fragt Mari. »Alle Sachen haben Leuten gehört, die längst schon tot sind. Stell dir mal all die tollen Partys vor, die dieser Leuchter miterlebt haben muss«, fährt sie fort und deutet auf einen Kerzenständer, der aussieht, als hätte sie ihn aus dem Müll gezogen. »Schon gut, warte nur, bis Bob ihn in die Finger bekommt. Danach ist er wie neu.« Robert Chamerette ist Maris Mann für Glas und Metall, und Mari liebt ihn fast so sehr wie ihren Basil. »Denk doch nur an die Dienstmädchen, die ihn in der Hand hatten«, sagt sie, »und an die Kratzer, die er in seinem Leben abbekommen hat. Und jetzt steht er hier in meinem Laden.«

»Und wie viel hat er gekostet?«

»Ach, Gilly!« Mari schüttelt entrüstet den Kopf. »Es geht doch nicht darum, wie viel er gekostet hat. Wichtiger ist, für wie viel ich ihn verkaufen kann.«

Später am Tag, als Mari sich mit einem Journalisten trifft, der für ein Fotoshooting einige Leuchter mieten möchte, widme ich mich wieder den Stellenangeboten in meiner Zeitung. Leider springt mir kein Job wirklich ins Auge. Ob es vielleicht daran liegt, dass ich einfach keine Einstellungsgespräche mehr ertrage? Ich glaube, ich würde lieber eine Wurzelkanalbehandlung über mich ergehen lassen, als wieder eine Absage zu bekommen. Mit geschlossenen Augen denke ich an die schlechten Erfahrungen zurück.

Erstes Einstellungsgespräch: »Gilly Brown, bitte treten Sie ein«, fordert mich eine glamourös gekleidete Empfangsdame auf. Es geht um einen Job in der Modebranche, daher habe ich meinen Stil angepasst und trage ein eng anliegendes Kleid und Stiefeletten wie die eines Gladiators.

Als ich auf die edel gestylte Blondine zugehe, stolpere ich über einen Teppich, verliere das Gleichgewicht, fliege sozusagen auf die Dame zu und beende meinen stürmischen Auftritt mit einer Bruchlandung auf dem Stuhl ihr gegenüber.

Sofort weiß ich, dass ich mir den Job abschminken kann. Das gleiche Gefühl hatte ich bei meiner Fahrprüfung, als ich in der ersten Minute über die Bürgersteigkante holperte.

Zweites Einstellungsgespräch: »Wo liegen Ihre Stärken und Schwächen?«, fragt mich der Mann. Ich habe mich um einen Job in einer Bank beworben.

»Ich kann hervorragend mit Menschen umgehen, mit Zahlen allerdings habe ich gewisse Probleme«, brüste ich mich stolz.

Warum sieht er mich nur so merkwürdig an?

Drittes Einstellungsgespräch: »Und sind Sie bereit, manchmal auch Überstunden zu machen?« Es geht um einen Job in einer angesagten Werbeagentur, und ich habe mich bis zu diesem Zeitpunkt überraschend gut geschlagen.

»Auf jeden Fall«, antworte ich. »Ich gebe hundertzehn Prozent und werde Sie nicht enttäuschen.«

Unter dem Schreibtisch kreuze ich die Finger. Ich habe dieses Geschwafel von hundertzehn Prozent schon immer gehasst, doch das strahlende Lächeln meines Gegenübers signalisiert mir, dass er sehr zufrieden mit der Antwort ist.

Er steht auf und beugt sich zu mir hinunter. »Sie sind also hungrig, Gilly?«

Ich schaue auf meine Uhr. »Also, wenn ich es mir recht überlege, habe ich durchaus etwas Appetit«, antworte ich und frage mich schon, wohin er mich wohl ausführen wird, um meine Einstellung mit mir zu feiern.

»Ich meinte eher, ob Sie hungrig auf Erfolg sind«, sagt er leise.

Ich öffne die Augen und muss laut lachen. Himmel, beim letzten Gespräch habe ich wirklich arg gepatzt. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich den Job ebenfalls nicht bekommen habe. Nach mehreren weiteren Fehlschlägen verlor ich sowohl die Lust als auch mein Selbstvertrauen, und als Mari mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, für ihre Verkäuferin einzuspringen, sagte ich sofort zu. Ich hoffte, dass ein Job auf Zeit mir Gelegenheit gäbe, meinen Kopf freizubekommen, darüber nachzudenken, was ich wirklich tun will, und meine Antworten für Einstellungsgespräche ein wenig aufzupolieren.

Meine Freunde und meine Familie lächelten nur milde, als ich ihnen erzählte, dass ich jetzt in einem Antiquitätenladen arbeitete. Meine beste Freundin Anna, die im Marketing arbeitet, sagte, sie hätte sich Antiquitätenhändler bisher immer klein, kahlköpfig, mit einer Lesebrille auf der Nase und nach vorn gezogenen Schultern vorgestellt, weil sie ständig versuchten, verwitterte Warenzeichen auf Porzellantellern zu entziffern.

Aber mir gefällt es hier wirklich. Oft besuchen außergewöhnliche Kunden aus der ganzen Welt Maris Laden. Erst gestern war eine Italienerin in einem Outfit von Vivienne Westwood da, die sich ihren Designerschal immer wieder so dramatisch über die Schultern warf, dass er an irgendwelchen Antiquitäten hängen blieb. Mehr als einmal musste ich ihn vorsichtig von einer Vase oder einem Lampion entfernen, wobei ich innerlich darum betete, ihn nicht zu beschädigen. Als die Frau Anstalten machte, mit ihren Killerabsätzen die Treppe hinunterzugehen, schlug ich ihr vor, lieber in meine Birkenstocksandalen zu schlüpfen.

Maris Laden umfasst zwei Etagen. Im Erdgeschoss liegen auf den knarzenden Holzdielen alte Kelims, über die man gern stolpert. Eine heimtückische Treppe führt ins Untergeschoss, in dem es ein wenig modrig riecht, und obwohl dort ein ausgesprochenes Durcheinander herrscht, besitzt es einen gewissen Charme.

Mein Problem ist, dass ich mich immer und immer wieder gefragt habe, als was ich eigentlich arbeiten möchte – aber ich weiß es einfach nicht. Ich will mich nicht für irgendeinen Job bewerben, sondern möchte etwas tun, das mich begeistert.

Maris wahre Liebe ist das Theater. Wird sie gefragt, was sie tut, so antwortet sie meistens stolz, dass sie Schauspielerin ist, und das stimmt sogar, denn in ihrer Freizeit steht sie in kleinen Theaterproduktionen auf der Bühne.

»Ich würde meinen Traum nie und nimmer verraten«, sagt sie, »weil ich keinesfalls mit einem verbitterten Zug um den Mund herum sterben will. Du musst etwas finden, das dich glücklich macht, Gilly.«

Aber was ist mein Traum?

Seit ich die Universität von Manchester mit einem Abschluss in Englisch verlassen habe, bin ich immer so schnell von einem Job zum nächsten gewechselt, als würde ich mir auf heißen Steinen die Füße verbrennen. Mein alter Geschichtslehrer hat früher einmal gesagt, ich sei wie ein Schmetterling, weil ich nie sehr lang an einem Ort verweilen kann. Bei der Erinnerung muss ich lächeln.

»Wenn ich groß bin, werde ich Bauer«, hatte ich meinen Klassenkameraden irgendwann erklärt. »Ich will einmal viele Pferde und Hunde haben.«

Friseurin war die nächste Idee gewesen.

Popstar.

Model.

Tierarzt.

Mein Lebenslauf ist ein wahrer Flohmarkt der unterschiedlichsten Jobs, die von Wohltätigkeitsarbeit bis – Ironie des Schicksals – zur Assistenz bei einem Berufsberater reichen, der anderen half, ihren Traumjob zu finden. Natürlich könnte ich mich wieder bei einem Location-Service bewerben. Wenn man die Chefin einmal ausblendet, dann hat mir die Arbeit dort sogar Spaß gemacht, sodass ich geschlagene drei Jahre blieb. Mein Vater sagt, das war Weltrekord. Damals habe ich auch ein paar Kontakte geknüpft, vielleicht sollte ich einfach mal rumtelefonieren und in Erfahrung bringen, ob es freie Stellen gibt.

Ich starre auf meine Zeitung. Was hält mich davon ab? Warum fühle ich mich, als ob irgendetwas fehlt?

»Wenn du den Eindruck hast, in einer Sackgasse zu stecken«, hatte Richard beim Mittagessen gesagt, wobei er immer mehr wie eine ältliche Tante klang, »dann musst du etwas anderes tun. Das Leben kann zeitweise wie ein Vorhängeschloss sein, das sich nicht öffnen lässt. Manchmal liegt es nur an der Zahlenkombination. Wenn du die ein winziges bisschen veränderst, dann – schwups! – springt die Tür auf.«

»Was soll ich nur tun, Rusk?« Ich streichle ihn und wünsche, er wüsste die Antwort.

»Such dir einen Untermieter«, höre ich Richard auf mich einreden. Ich schreibe meine monatlichen Ausgaben auf und beginne, mir Sorgen zu machen, als die Liste einfach nicht enden will. Vielleicht sollte ich die Mitgliedschaft im Fitnessstudio kündigen? Ich müsste sowieso dreimal in der Woche hingehen, damit sie sich lohnt.

In gewisser Hinsicht hat Richard ja auch recht; ich sollte wirklich etwas aus meinem Haus machen. Immerhin kann ich froh sein, dass ich überhaupt eine Immobilie mein Eigen nenne. Als meine Oma mütterlicherseits vor fünf Jahren starb, hinterließ sie meinem Zwillingsbruder und mir so viel Geld, dass jeder von uns ein Haus finanzieren konnte. Meine Großmutter war eine weit entfernte, strenge Gestalt in unserem Leben gewesen. Mein Vater sagte immer, dass sie uns in ihrem Testament bedacht habe, weil sie sich schuldig fühlte, dass sie nach der Geburt unserer Schwester Megan den Kontakt zu uns geflissentlich vermieden hatte.

Wieder blicke ich auf meine Liste. Heute Morgen war die Kreditkartenabrechnung in der Post. In letzter Zeit habe ich das Plastikgeld viel zu häufig benutzt, und mir ist auch klar, dass ich die Birkenstockschuhe besser nicht hätte kaufen sollen. Außerdem ist sowohl die Strom- als auch die Gasrechnung gestiegen. Kein Zweifel: Ich brauche die Miete eines Mitbewohners. Ich hebe den Telefonhörer ab.

»Einen Untermieter?«, flüstert Anna. »Oh, der Chef ist im Anmarsch. Ich rufe später zurück.«

Anna arbeitet im Marketing einer Firma, die sich auf Sport und Reisen spezialisiert hat. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen und haben zusammen mit Nick eine Band namens The Funky Monkeys gegründet. Wir haben im Schnee getobt, sind Schlitten gefahren, und Anna hat uns oft begleitet, wenn wir mit Megan einen Ausflug ans Meer oder in den Zoo gemacht haben.

Als ich mein Lunchpaket auspacken will, höre ich die kleine Glocke an der Tür und lege die Butterbrote hastig wieder in die Plastikdose zurück. Ein alter Mann betritt gebückt den Laden. In der Hand hält er eine Plastiktüte der Drogeriekette Boots. Als er auf mich zuschlurft, kann ich ihn gerade noch warnen, damit er nicht über den Teppich stolpert.

»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich höflich.

Seine Klamotten können nur vom Flohmarkt stammen.

»Hm.« Er zögert. »Hm. Ich wollte nur mal gucken. Nette Sachen hier. Ich suche nach einem … nach …«

Das Telefon klingelt, und ich überlege, ob ich abnehmen soll, während ich bemerke, dass der Mann dunkelbraune Socken zu seinen braunen Sandalen trägt. Nun mach schon! Bitte!

»Also, ich suche nach einem Service. Teller, wissen Sie?«

Ich bemühe mich, nicht zu lachen.

»Tut mir leid, Sir, aber wir verkaufen nur Antiquitäten, vor allem Lampen und Spiegel.«

Ich deute auf die Spiegel, die an der Wand hängen. Der Mann wirkt verloren und verunsichert. Ich führe ihn freundlich aus dem Geschäft und zeige ihm die Richtung zum Peter-Jones-Shop.

Das Telefon klingelt erneut. Ich stürme zurück in den Laden: »Maris Antiquitäten … Ach, du bist’s, Anna. Hi!«

»Entschuldige wegen vorhin. Nur ganz schnell: Ich habe mit einem Kollegen gesprochen, der an Wochenendheimfahrer vermietet. Du kannst das Stichwort ja mal googeln.« Als sie wieder auflegen will, fällt ihr noch etwas ein. »Ich bin so froh, dass du nicht wegziehst. Ich brauche dich hier, wir Singlefrauen müssen doch zusammenhalten.«

Ich lächle. »Ich hätte dich auch vermisst.«

*

»Wochenendheimfahrer« tippe ich in die Suchmaske, nachdem ich von einem netten Abend mit Anna heimgekommen bin. Wir waren bei einem unserer Lieblingsgriechen in der Nähe ihrer Wohnung in Clapham. Ich liebe diese Abende mit Anna, die ich seit frühester Kindheit kenne. Sie ist wie ein Sonnenstrahl: Ich fühle mich sofort besser, wenn ich sie nur sehe. Im Augenblick ist auch sie Single, aber wer weiß schon, wie lange dieser Zustand noch währt. Anna hat keine Probleme, Männer kennenzulernen. Sie ist blond, hat ein paar Sommersprossen auf Nase und Wangen, und die meisten Männer verlieben sich in ihre sinnliche Stimme und ihr ansteckendes Lachen. »Ich habe die Kerle immer so schnell satt«, sagt sie und behauptet, von den Männern endgültig genug zu haben und für immer Single bleiben zu wollen, doch ich kenne den wahren Grund für ihre Bindungsangst. Seit Ewigkeiten ist sie in ihren Arbeitskollegen Paul verliebt, doch zwischen den beiden ist noch nie etwas passiert, denn Paul ist verheiratet. Ich habe ihn bisher noch nicht einmal kennengelernt.

Ich klicke das oberste Ergebnis auf der Liste an.

»Wie kommt es eigentlich, dass du dich entschlossen hast, dein Gästezimmer zu vermieten?«, hatte Anna mich beim Essen gefragt.

»Ich will endlich über Ed hinwegkommen«, verkündete ich stolz. »Wenn er sich weiterentwickeln kann, kann ich es auch.«

»Das ist aber auch höchste Zeit!«

Ich erzählte ihr von Richard und sagte, dass er vielleicht als Immobilienmakler eine Niete sein mochte, aber dass ich seine Idee mit dem Untermieter super fände.

»Ich könnte den Boden unter Richards Füßen küssen«, freute sich Anna. »Ist er verheiratet?«

Ein glatt rasierter Mensch im Anzug namens Miles erscheint in diesem Moment auf dem PC-Bildschirm und lächelt mich mit vielen weißen Zähnen an.

»Das Vermietungsprinzip ›Montag bis Freitag‹ funktioniert wunderbar«, beteuert er. »Man vermeidet das Pendeln zur Arbeit und jede Menge lange Verkehrsstaus. Ich springe einfach – hopp! – in die U-Bahn, und das war’s: Schon bin ich im Büro. Und am Wochenende fahre ich nach Hause. Ich kann das Prinzip nur wärmstens empfehlen, denn es hat ausschließlich Vorteile und ist das reinste Kinderspiel.«

Okay, Miles. Der Gute sieht aus, als sei er drauf und dran, aus dem Bildschirm zu treten und sich auf meinen Schoß zu setzen, um mich zu überzeugen.

Ich scrolle nach unten und lese weitere Empfehlungen von Vermieterinnen und Vermietern.

»Mein Wochenendheimfahrer ist Facharbeiter und äußerst angenehm im Umgang«, erklärt Mandy. »Außerdem hat er nie viel Gepäck dabei. Ich kann mich also trotz meines Mitbewohners in meinen eigenen vier Wänden noch wohl und heimisch fühlen.«

Auch ich finde das wichtig, denn in meinem kleinen Haus ist schon für Menschen nicht viel Platz – von Gepäck ganz zu schweigen.

Eines meiner liebsten Hobbys ist die Suche nach ungewöhnlichen Objekten. Kürzlich habe ich eine abstrakte afrikanische Skulptur gefunden, die einen Vogel im Flug darstellt. Sie steht jetzt vor dem Kamin.

Die Internetseite lockt mit einem Button: »Jetzt registrieren«. Als Vermieter kann man sich mit einem einzigen Klick anmelden.

»Was hältst du davon, Ruskin?«, frage ich meinen Hund, der wie üblich auf dem Rücken in seinem Sessel liegt und alle vier Pfoten in die Luft streckt. Ich gehe zu ihm hinüber und gebe ihm einen Kuss. »Würdest du dich von einem Fremden im Haus gestört fühlen, mein Knuffelchen?«

Als ich zu meinem Computer zurückkehre, überlege ich, ob ich mich sofort registrieren oder lieber doch noch eine Nacht darüber schlafen soll. Ich bin von Natur aus kein spontaner Mensch und gehe lieber auf Nummer sicher. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, fahre ich lieber zweimal durch den Kreisverkehr, um auch wirklich ganz sicher die richtige Ausfahrt zu erwischen. Meine Unentschlossenheit konnte Ed auf die Palme bringen. Dad meint, dass ich wahrscheinlich noch darüber nachgrübeln würde, ob ich das Bügeleisen angelassen oder die Haustür richtig abgeschlossen habe, wenn man mich schon auf den Friedhof trägt.

»Denk doch mal nach, Gilly«, höre ich wieder Richard beim Mittagessen auf mich einreden, »ein Mann im Haus könnte dir auch Steckdosen wechseln, den Duschkopf reparieren und den Abfluss säubern. Außerdem wissen Männer immer, wo der Absperrhahn ist.«

»Das kann ich alles selbst, vielen Dank«, gab ich zögernd zurück.

»Okay, aber du weißt nie, wer bei dir aufkreuzen wird. Vielleicht ist es ja zufällig der Richtige.«

»Aber ich bin nicht auf der Suche nach dem Richtigen.«

»Oh, du hättest also lieber eine Richtige? Spielst du etwa im anderen Team?«

Ich lache noch immer, als Miles wieder auf dem Bildschirm erscheint und mir erklärt, dass ich mit einem einzigen Mausklick einen großen Schritt in Richtung einer reicheren und schöneren Zukunft gehen kann.

Nun mach schon, Gilly. Denk an das Geld. Du brauchst es.

Ich klicke auf den Jetzt-registrieren-Button und halte die Luft an.

So. Ich habe es getan. Ohne zu zögern. Richard wäre stolz auf mich.

»Darf ich dich etwas fragen?«, hatte ich mich erkundigt, nachdem ich der Meinung war, dass er mich ausreichend über mein Privatleben ausgequetscht hatte und nun eigentlich selbst an der Reihe war. Denn abgesehen davon, dass Richard das Patenkind meines Vaters ist, wusste ich bis dahin herzlich wenig über ihn. »Wieso bist du eigentlich Immobilienmakler geworden? Nichts für ungut, aber ich halte dich nicht gerade für eine Leuchte in diesem Geschäft.«

Er zuckte mit den Schultern. »Diese Frage stelle ich mir jeden Tag.«

»Und?«

»Die Antwort heißt: Ich weiß es bis heute nicht.«

»Bist du glücklich?«

»Glücklich? Das ist eine schwierige Frage. Nein. Es fällt mir zwar leicht, dir zu sagen, was du tun solltest«, erklärte er und ließ mich eine gewisse Verwundbarkeit spüren, »aber wenn es um das eigene Leben geht, weiß ich manchmal weder aus noch ein.«

Das Leben ist von Zeit zu Zeit tatsächlich wie ein Vorhängeschloss, das sich nicht öffnen lässt. Wahrscheinlich sucht auch Richard noch nach der Winzigkeit, die ihn endlich glücklich macht.

Aber vielleicht tun wir das ja alle.

4

Zehn Tage später gebe ich mein Passwort ein: »Bobby Shafto«. Es ist der Titel eines Kinderliedes, das wir unserer kleinen Schwester Megan oft vorgesungen haben, als sie noch ein Baby war und wir mit ihr ans Meer fuhren.

»Willkommen Gilly Brown«, begrüßt mich mein Rechner, und ich klicke das Kästchen an, das mich zum Profil meines Inserats führt. »Ihr Angebot in Hammersmith hatte 28 Besucher und 0 Anfragen.«

Ungläubig logge ich mich aus. Mein Haus und ich, wir scheinen tatsächlich Mauerblümchen zu sein. Niemand will mit uns tanzen. Was ist da los? Wahrscheinlich ein Fehler im System. Doch als ich es erneut versuche, erhalte ich die gleiche Meldung. Niemand ist interessiert. Null Anfragen. Ich klicke auf den Hilfe-Button der Seite.

»Stellen Sie sicher, dass Anfragen potenzieller Mieter nicht in einem Spam-Ordner landen …«

Aha! Ich sehe sofort in meinem Spam-Ordner nach, werde aber auch dort nicht fündig. Ob es an der Rezession liegt? Sollte ich vielleicht die Miete senken? Ich schaue nach, ob das schäbige Zimmer auf der anderen Seite der Hammersmith Bridge mit seinem Plastiksofa und den verschimmelten Vorhängen noch auf dem Markt ist. Es sieht nicht halb so nett aus wie meins, ist aber hundert Pfund teurer und liegt außerdem unmittelbar an der Hauptstraße. Ich kann mir nicht denken, dass jemand …

Mist! Nicht zu fassen!

Es klingelt. Meine Nachbarin Gloria stürmt herein. Sie hat aus freien Stücken nie geheiratet, ist gerade sechzig geworden, hat sich aus der Welt der Aromatherapie zurückgezogen (sie war zuvor Physiotherapeutin) und ist jetzt Rentnerin. Sie hat einen silbernen Wuschelkopf und trägt ein schlabbriges rotes T-Shirt zu schwarzen Leggings. Samstagmorgens gehen wir meist zusammen ins Fitnessstudio. Glorias Leben ist eine wunderbare Mischung aus nächtelangem Durchmachen mit ihren Freunden – »auf die Rolle gehen«, so nennt sie das – und gemütlichen Abenden vor dem Radio mit einer Tasse heißem Kakao.

Ich habe Gloria vor fünf Jahren an dem Tag kennengelernt, als ich Ruskin zu mir geholt habe. Sie klopfte abends an meine Tür und fragte, ob ich Strom hätte. Da ich sie mit einer Taschenlampe in der Hand begrüßte, erkannte sie schnell, dass es mir nicht besser ging als ihr, und bemerkte auch, dass ich Angst hatte. Ich erzählte ihr, dass mein kleiner Hund verschwunden sei.

Wir suchten ihn im ganzen Haus. War er möglicherweise im Gästeklo eingeschlossen? Oder etwa durch das Abflussrohr geflutscht? Lag er unter dem Sofa? Er war nicht zu finden. Als Gloria mich dabei erwischte, wie ich auf der Suche nach Ruskin den Deckel der Teedose öffnete, erklärte sie mich offiziell für verrückt.

Irgendwann machte sie mir ein Zeichen, legte den Finger auf die Lippen und kauerte sich neben das Spülbecken. »Komm her, Liebchen«, flüsterte sie.

Ruskin hatte sich tatsächlich in den schmalen Ritz zwischen Waschmaschine und Trockner gequetscht und kam erst nach viel gutem Zureden hervor. An seinen Ohren hingen Spinnweben.

»Ich glaube, ich kann ihn nicht behalten«, sagte ich mit bebender Stimme.

Ich hatte mir einen Hund gewünscht, seit ich klein war. Immer wieder hatte ich meine Mutter angebettelt, doch sie war der Meinung gewesen, dass sie mit einem Hund und Megan überfordert wäre. »Und außerdem wäre ich irgendwann diejenige, die mit ihm spazieren gehen müsste«, hatte sie erklärt.

Ich schwor mir, sofort einen Hund anzuschaffen, sobald ich alt genug wäre und eine eigene Wohnung hätte. Als ich das Tierheim in Battersea besuchte, war Ruskin einer der ersten Hunde, die ich erblickte. Er lag zusammengerollt in seinem Körbchen und schlief tief und fest. Als ich mich vor den Käfig kniete, öffnete er die Augen, tapste auf mich zu und steckte eine Pfote durch die Gitterstäbe. Als das Mädchen, das mich herumführte, sagte, dass er das noch nie zuvor getan hätte, wusste ich, dass er mein Hund war.

»Vielleicht habe ich ja einen Fehler gemacht«, beichtete ich Gloria an diesem Abend. Das Gefühl von Verantwortung lastete plötzlich zu schwer auf mir.

Aber Gloria legte mir nur das winzige Fellbündel in die Arme. »Du bist jetzt seine Mama. Er braucht dich.«

»Hi, mein Schatz«, begrüßt sie mich, stolziert in mein Wohnzimmer und wirft ihren Badeanzug auf mein Sofa. Ruskin stürmt begeistert auf sie zu und stürzt sich unter fröhlichem Schwanzwedeln in ihre Arme. »Wieso bist du nicht fertig?«, fragt sie, als sie sieht, dass ich noch in meinem Schlafanzug herumlaufe.

Schnell setze ich mich wieder an den Computer. »Hübsche Flip-Flops«, murmle ich.

»Toll, nicht wahr? Sie sind unheimlich bequem und trainieren meine Beine – ehrlich gesagt tun sie fast alles für mich – außer meine Rechnungen zu bezahlen. Was machst du da?«

»Ich verändere mein Profil.«

Gloria zieht sich einen Stuhl heran. »Noch kein Glück gehabt?«

»Nicht einen einzigen Interessenten!«

»Dabei hätte ich gedacht, dass man sich um dieses Zimmer reißt. Zumindest hätte der eine oder andere anbeißen müssen.«

»Aber Untermieter sind doch keine Fische.« Ich muss lachen.

»Rutsch rüber«, befiehlt sie. »Lass mich mal sehen.«

Gloria überfliegt meine Anzeige.

»Vielleicht liegt es ja an den Schulferien«, sage ich. »Im August ist in London nie viel los.«

Gloria liest laut den Text vor, mit dem ich meine Nummer 21 angepriesen habe. »Ich wohne in Hammersmith, in einem Vier-Zimmer-Haus in einer ruhigen Seitenstraße.« Sie klickt den Button »Ändern« an. »Jetzt gehen wir es einmal etwas kreativer an, Gilly.«

Ich schaue auf die Uhr. »Und was ist mit dem Schwimmen?« Gloria und ich schwimmen dreimal die Woche und nennen uns »die Olympioniken«. Zwar werden wir häufig von schnelleren Schwimmern überholt, doch das stört uns nicht im Geringsten.

»Setz Teewasser auf«, sagt sie, bevor sie unsere Straße als lebhaft mit freundlicher, gewachsener Nachbarschaft beschreibt.

»Aber die Wochenendheimfahrer wollen es doch bestimmt eher ruhig haben, oder etwa nicht?«

»Ach was! Kein Wunder, dass sich noch niemand gemeldet hat. Die Formulierung des Inserates ist so kalt wie ein Wintertag in Sibirien.«

»Wirklich?« Ich lese den Text noch einmal durch und muss zugeben, dass selbst ich nicht bei mir einziehen würde. Die Beschreibung klingt stinklangweilig.

Gloria schürzt die Lippen und stürzt sich mit Feuereifer in die Arbeit. »Sieh einmal hier! Hast du dir das mal angeschaut?« Hoch motiviert klickt sie einen Button an, der auf eine Webseite führt, auf der beschrieben wird, worauf es den meisten Wochenendheimfahrern ankommt.

»Sie möchten unter Leuten sein«, stellt Gloria fest. »Siehst du? Sie wollen Spaß haben.« Laut liest sie vor, was ich geschrieben habe: »In Laufweite befinden sich einige Pubs.«

»Aber es gibt doch ein paar in der Nähe.« Ich lächle scheinheilig.

»Himmel, ich kann meine Begeisterung kaum im Zaum halten.«

»Okay, dann ändere es und schreib eben, dass sich in Laufweite ein paar hervorragende Pubs befinden. Außerdem zahl