Kein Vorteil für Commissario Luciani - Claudio Paglieri - E-Book
SONDERANGEBOT

Kein Vorteil für Commissario Luciani E-Book

Claudio Paglieri

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Spiel, Satz und Mord. Marco Luciani hat der Verbrecherjagd abgeschworen und will in Barcelona ein neues Leben beginnen. Doch dann bittet ihn ein verzweifelter italienischer Unternehmer um Hilfe: Seine Tochter ist spurlos aus einer privaten Barceloner Tennisakademie verschwunden. Zähneknirschend bucht Luciani einen Kurs in dem noblen Institut und entdeckt bald mehr, als ihm lieb ist, über die nicht so glanzvollen Hintergründe des Profi-Tennis und die Fallstricke der Schönheit. „Paglieri dringt ein in die Schwächen der Figuren, authentisch, glaubwürdig, beinahe sündhaft.“ La Repubblica.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 411

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Claudio Paglieri

Claudio Paglieri, geboren 1965 in Genua, leitet das Ressort Sport und Kultur der Genueser Tageszeitung Il Secolo XIX, außerdem ist er Vollblut-Ligurer, Barcelona-Fan, Marathonläufer, Vater und Hobby-Tennisprofi. Nach seinem Debutroman »Sommer Ende Zwanzig«, eröffnete er 2007 mit »Kein Espresso für Commissario Luciani«, einem geradezu visionären Krimi um Manipulationen beim Profi-Fußball, seine Krimiserie um den asketischen, misanthropischen und nahezu unbestechlichen Ermittler Marco Luciani.

Im Aufbau Taschenbuch Verlag sind erschienen:

Kein Espresso für Commissario Luciani

Kein Schlaf für Commissario Luciani

Keine Pizza für Commissario Luciani

Kein Grappa für Commissario Luciani

Das letzte Abendmahl für Commissario Luciani

Kein Vorteil für Commissario Luciani

Christian Försch, geb. 1968, studierte Germanistik, Italianistik, Musikwissenschaft und Philosophie. Seit 1998 freier Autor und Übersetzer. Er übertrug u.a. Nino Filastò, Claudio Paglieri und Paolo Sorrentino ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Spiel, Satz und Mord

Marco Luciani hat der Verbrecherjagd abgeschworen und will in Barcelona ein neues Leben beginnen. Doch dann bittet ihn ein verzweifelter italienischer Unternehmer um Hilfe: Seine Tochter ist spurlos aus einer privaten Barceloner Tennisakademie verschwunden. Zähneknirschend bucht Luciani einen Kurs in dem noblen Institut und entdeckt bald mehr, als ihm lieb ist, über die nicht so glanzvollen Hintergründe des Profi-Tennis und die Fallstricke der Schönheit.

»Paglieri dringt ein in die Schwächen der Figuren, authentisch, glaubwürdig, beinahe sündhaft.« La Repubblica

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Claudio Paglieri

Kein Vorteil für Commissario Luciani

Roman

Aus dem Italienischen von Christian Försch

Inhaltsübersicht

Über Claudio Paglieri

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Wassili und Boris

Marco Luciani und Alessandro

Wassili und Boris

Marco Luciani und Alessandro

Erster Satz

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Carlos

Marco Luciani

Carlos und der Große Meister

Martina und Irina

Marco Luciani

Carlos und der Große Meister

Marco Luciani

Martina und Carlos

Marco Luciani

Martina und Jenny

Zweiter Satz

Marco Luciani

Martina und der Große Meister

Marco Luciani

Martina

Marco Luciani

Martina und Fabio

Marco Luciani

Martina und Mauro Rossi

Marco Luciani

Cedric und Michel

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Doktor Bonnet

Der Große Meister und Carlos

Marco Luciani

Martina und Mauro Rossi

Marco Luciani

Martina und Corinne

Doktor Bonnet

Der Große Meister und Chiara

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Marco Luciani

Martina und Irina

Tie-Break

Marco Luciani

Dritter Satz

Marco Luciani und Martina

Marco Luciani

Marco Luciani und Martina

Vierter Satz

Marco Luciani

Marco Luciani und Alessandro

Marco Luciani und Sofia

Marco Luciani und Mauro Rossi

Marco Luciani

Sofia

Tie-Break

Martina

Wassili und Boris

Der Große Meister und Carlos

Chiara

Cahaya

Epilog

Danksagung

Impressum

Für Baffo, er weiß warum

Prolog

Wassili und Boris

Wassili Awdejew träumte, er liege in einer Hängematte, die auf der Osterinsel zwischen zwei Moai aufgespannt war. Die Moai beäugten ihn mit finsterer Miene, als wäre er in ihren Lebensraum eingedrungen. »Was seid ihr lästig«, wiederholte Wassili, »ich tu doch nichts Böses, ruhe mich nur ein bisschen aus.«

Die Hängematte schwang hin und her, in gleichmäßigem Takt, und Wassili wurde langsam ein wenig übel. »Ich muss zu viel getrunken haben«, sagte er zu den Moai. »Ich will mich nur noch ein Stündchen ausruhen, dann lass ich euch in Frieden, versprochen.«

Die Hängematte schwang immer weiter aus, dann fing sie an, sich in der Horizontalen zu drehen, wie ein Karussell, zuerst langsam, dann immer schneller, während die Stimmen der Moai in seinem Kopf wie Billardkugeln herumflipperten und immer wieder schmerzhaft gegen die Bande prallten. Wassili merkte, dass er sich in den Maschen der Hängematte verheddert hatte, ihm brach kalter Schweiß aus. Er wollte aussteigen, doch das Karussell drehte sich inzwischen viel zu schnell. Er bat die Moai, ihm zu helfen: »Lasst mich aussteigen, dann gehe ich sofort, versprochen! Lasst mich runter, ich bitte euch, lasst mich runter!«

Er wurde vom Geräusch seines Körpers geweckt, der auf dem Fußboden aufschlug, es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass er nicht auf der Osterinsel, sondern auf seiner Jacht war, in der Luxuskabine. Eine weitere Sekunde genügte, und er merkte, dass ihm die Kotze hochkam, er musste sich sputen, wenn er es bis zum Klo schaffen wollte.

Er kam gerade noch rechtzeitig in die Toilette, wo er zusammengekrümmt jammerte und spie, bis sein Magen vollständig geleert war.

»Verfluchte Scheiße«, murmelte er, zuerst leise, dann lauter.

Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis der Raum sich langsamer drehte und sein Hecheln eine erträgliche Frequenz annahm. Diesmal haben wir es echt übertrieben, dachte er, aber dieses Kokain war wirklich der Oberhammer. Sie hatten überall ihre Lines gezogen, auf den Tischen, den Nachtschränkchen, dem Bauch der Mädchen, sie hatten mit 500er-Scheinen gesnifft, und bei jedem Zug küssten sich die Mädchen, die Scheine verschwanden, er und sein Kumpel Boris applaudierten und lachten wie die Bekloppten.

Er spülte sich den Mund mit einer Lösung zur Zahnfleischbehandlung, die stets im Badschrank stand, spuckte aus und spülte mehrmals nach. Als er meinte, das Aroma der Minze habe mehr oder weniger das der Kotze überdeckt, kehrte er in die Kabine zurück. Eines der beiden Mädchen lag noch immer auf dem Bett, dermaßen zugedröhnt, dass es ihn nicht einmal gehört hatte. Wie hatte sie gesagt, dass sie hieß? Und hatte er das geträumt, oder hatte er sie irgendwann in der Nacht tatsächlich alle beide in seinem Bett vorgefunden, sie und ihre Freundin? Sie war nackt, und Wassili hielt einen Moment inne, um diesen perfekt geformten athletischen Hintern zu betrachten, die langen muskulösen Beine, die er mit seiner Zunge von den Zehenspitzen bis zum Leistenansatz am Oberschenkel abgemessen hatte, wo er am Ende des Regenbogens den Goldenen Topf gefunden hatte.

Er ging wieder die Stufen hoch auf die Brücke und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Niemand war am Steuerrad, die Jacht schaukelte sorglos an dem Ort, an dem sie die Nacht zuvor geankert hatten, weit draußen, wo sie ihre Fete fortsetzen konnten, vor indiskreten Blicken geschützt. Es war fast zwei Uhr nachmittags, Zeit, wieder reinzufahren, denn in Kürze würde er seinen Magen mit einem gediegenen Mahl bei Mantel oder bei Sea Sens besänftigen müssen. Er ging wieder unter Deck und öffnete die Tür der anderen Kajüte. Es roch nach Sex und abgestandener Luft. Boris Nesterowitsch protestierte mit einem Brummton, das andere Mädchen rührte sich nicht. Wassili hob das Laken, um zu prüfen, ob ihr Hintern mit dem der Freundin mithalten konnte, und er war tatsächlich nicht schlecht, nein, alles andere als schlecht. Er ließ den Blick den Rücken hochgleiten, bis zu den Haaren, die über die Schultern fielen, zu einer eintätowierten Schildkröte, die er am Vorabend übersehen hatte. Er dachte, dass auch die Haut blasser war als in seiner Erinnerung, nicht nur am Gesäß, wo vielleicht nie die Sonne hingekommen war, sondern auch an Beinen und Rücken.

»Beweg dich, Boris. Es ist zwei, ich will reinfahren und Mittag essen.«

»Hmmm«, knurrte sein Gegenüber. »Warum so eilig?«

»Und heute Abend um sieben ist diese Ausstellungseröffnung.«

»Nehmen wir sie mit?«

»Wen?«

»Die Mädchen?«

»Bist du bescheuert?! Wir bezahlen sie und schicken sie weg, wie üblich.«

Boris betrachtete das Mädchen, das neben ihm lag, den Kopf im Kissen vergraben. »Schade«, sagte er, »sie hatte Klasse.« Er wälzte sich auf die Seite, um sich an ihren warmen Rücken und den Hintern zu schmiegen, er umfing sie mit einem Arm, zog ihn aber erschrocken zurück. Sie war eiskalt, und er wusste sofort, dass er eine Leiche umarmt hatte.

Marco Luciani und Alessandro

»Was meinst du, wer ist der Mörder?«

»Ich meine, es ist der Matrose.«

»Warum?«

»Weil neben der Leiche ein Knopf liegt, und an seiner Jacke fehlt einer.«

»Hä?! Ach komm, das ist doch nicht derselbe Knopf! Siehst du das nicht? Der ist schwarz und dieser hier weiß!«

»Hmm … Oje, ich fürchte, du hast recht, Ale.«

»Ich weiß, wer’s war.«

»Ja? Lass hören.«

Der kleine Alessandro betrachtete ihn und lächelte stolz: »Das Zimmermädchen war’s. Schau, sie hat die Schleife eines Zopfs verloren, sie ist neben die Leiche gefallen!«

Marco Luciani riss die Augen auf: »Wie? Was? Zeig her!« Er hob die Rätselzeitung an seine Nase und tat, als würde er aufmerksam den Comic mit den Fällen des kahlköpfigen Kommissars studieren.

»Weißt du, dass du recht hast? Das hatte ich gar nicht bemerkt. Aber hat Crapapelata das auch entdeckt?«

»Gattamelata.«

»Okay, wie heißt er? Gattamielata?«

»Pfff, Gattamelata! Ist das so schwierig?«

Marco Luciani seufzte. »Uff, du bist vielleicht spitzfindig.«

»Man muss spitzfindig sein, wenn man den Täter überführen will. Zum Glück bist du kein Kommissar mehr.«

»Ja, zum Glück«, antwortete der Vater.

»Hast du eigentlich jemals einen Täter überführt?«

»He, he, mein Junge. Bleib mal auf dem Teppich. So redet man nicht mit deinem Vater.« Ale schaute ihm direkt in die Augen. »Komm, hast du jemals einen Mörder überführt?«

»Im Rätselheft oder im richtigen Leben?«

»Im richtigen Leben.«

Marco Luciani betrachtete seinen Sohn. Zuerst wollte er weiter den Tollpatsch spielen, doch dann dachte er, dass ein Vater sich vor seinen Kindern weder aufplustern sollte noch klein machen, sondern schlichtweg die Wahrheit sagen. Vor allem, wenn diese sie glücklich machen und einen positiven Nachahmungseffekt bewirken kann.

»Ich habe sie alle überführt, Ale. Ich habe sie immer alle erwischt.«

Dem Jungen fiel die Kinnlade herunter. »Wirklich?!«

»Wirklich«, sagte Luciani, wobei er sich eine Hand auf die Brust und zwei Finger auf die Lippen legte.

»Und warum tust du es nicht mehr?«

»Weil der Kommissar Pappapelata hier …«

»Gattamelata!«

»Na ja, dein Grattavelata, der ist von Anfang bis Ende seiner Ermittlung alleine und entspannt, der hat keinen, der ihm sagt, was er tun und lassen soll. Bei mir dagegen kamen Hinz und Kunz angelaufen und sagten mir, was ich zu machen hätte. Während sie selbst keinen Finger rührten oder nur Schaden anrichteten.«

Alessandro schaute ihn erstaunt an.

»Vergiss es, Ale. Willst du die Punktzeichnungen machen?«

»Neee, das ist doch was für Babys.«

»Und ›Finde den Unterschied‹?«

»Neee, das ist langweilig. Ich hab Hunger. Bekomme ich was Süßes?«

Marco Luciani nickte.

»Ich mache dir einen Vorschlag. Zieh die Badehose an, wir holen die Fahrräder und fahren an den Strand. Da kannst du ein Eis essen.«

»Jippieee!«

Sie waren auf der Türschwelle, als sein Handy klingelte. Er kontrollierte das Display: Alice rief an. Er schloss die Tür hinter sich und ließ es weiter läuten, allein in der leeren Wohnung.

Am Strand von Barceloneta wimmelte es nur so von Leuten, obwohl Werktag war.

»Bist du sicher, dass deine Kumpels hier sind? Ich sehe keinen.«

»Normalerweise sind sie da.«

»Lass uns weitergehen.«

»Halt, nimm mich auf deine Schultern. Ich schaue mich um.«

Er zog die Sandalen aus, und Marco Luciani hob ihn hoch, um ihn sich auf die Schultern zu setzen, doch Ale sagte: »Nein, so«, und stellte sich aufrecht hin.

»Ale, bist du verrückt? Komm runter.«

»Keine Sorge, ist nicht hoch.«

Luciani umklammerte die Oberschenkel seines Sohnes, wobei er zitterte bei dem Gedanken, wie hoch es da oben sein musste. Es war jedes Mal ein Kampf: Er, der nicht schwindelfrei war, während Ale nur darauf wartete, überall hochzukraxeln. Von wem er das hatte, war sonnenklar. Seine Mutter versuchte sicher auch gerade, die Gipfel irgendeines Konzerns zu erstürmen oder auf der sozialen Leiter eine weitere Sprosse zu nehmen.

»Da sind sie! Ich habe sie gesehen, sie bauen ein Kastell. Gehen wir!«, schrie Ale und stürzte sich in die Tiefe, während Marco Luciani in Schockstarre verfiel.

»Die Sandalen, Ale.« Das Kind war jedoch schon zu seinen Freunden gerannt. Marco Luciani hob die Sandalen und den Kescher auf, schulterte die Tasche mit den Badetüchern, der Ersatzbadehose, dem Ball und den Sandförmchen und kämpfte sich durch das Gewusel, um seinem Sohn zu folgen.

Wassili und Boris

»Steh auf!«

Das Mädchen schreckte hoch, plötzlich hellwach, als ob irgendetwas ihr offenbart hätte, dass sie dem Kommando besser gehorchte.

Sie schlug die Augen auf und sah neben dem Bett Wassili, den Eigentümer der Jacht, der sie vorwurfsvoll anblickte. Boris stand in der Türöffnung und betrachtete sie halb verloren, halb lüstern. Ihr wurde bewusst, dass sie splitternackt war, sie griff mit einer Hand nach dem Laken und bedeckte sich damit.

»Zieh dich an und komm rüber«, sagte Wassili auf Russisch, »es ist ein Unglück geschehen.«

»Kannst du ihr nicht irgendwas geben, damit sie aufhört zu flennen? Das geht schon eine Stunde so.«

»Was zum Henker soll ich ihr denn geben? Ihre beste Freundin ist tot. Lass sie flennen, in der Zwischenzeit entscheiden wir, was zu tun ist.«

»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie dauernd schluchzt.«

Wassili erhob sich, schenkte ein Gläschen Wodka ein und reichte es dem Mädchen. »Trink das.«

Sie hob die Hände. »Ich will nicht.«

»Trink es. Es wird dir guttun. Du musst dich beruhigen.«

Sie gehorchte. Der Alkohol wanderte hinab in ihren Magen, wo er Feuer zu fangen schien, dann stieg die Hitze durch ihren Körper hinauf bis zu den Schläfen, in denen der Herzschlag wie eine Trommel pochte, und ließ sie für einen Moment zur Ruhe kommen.

»Was machen wir also?«

Die drei sahen einander an. Nach Wassili hatten sich auch die beiden anderen erbrochen, und nun waren sie blass wie die Leiche, die noch unten in der Kajüte lag, verborgen unter einem Laken.

»Warum können wir nicht die Polizei rufen? Sie werden einsehen, dass es ein Unfall war«, sagte sie.

»Die Polizei rufen bedeutet, dass wir verhaftet werden. Unter Mordanklage. Mit einem guten Anwalt kriegen wir es vielleicht hin, dass man uns nur anlastet, die Drogen beschafft und keine Erste Hilfe bei deiner Freundin geleistet zu haben. Wir riskieren ein paar schöne Jahre Knast, und einen Skandal wird es sofort geben. Alle Zeitungen und Fernsehsender werden über uns berichten. Und das Internet. Meine Frau wartet nur auf so eine Gelegenheit, um die Scheidung einzureichen und mir die Schuld zuzuschieben. Das würde mich Millionen Dollar kosten. Und du, Boris, bist auf Bewährung auf freiem Fuß. Wenn sie dich erwischen, landest du diesmal sicher im Knast.«

»Aber ich habe gar nichts gemacht«, versuchte das Mädchen einzuwenden.

»Du bist eine Prostituierte. Du wirst als solche in die Kartei aufgenommen werden, für den Rest deines Lebens.«

»Ich bin keine Prostituierte!«

»Ach nein? Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir uns über den Tarif geeinigt. Was wird deine Familie denken? Und deine Freunde? Wenn sie erst einmal herausbekommen, dass du eine Nutte bist, wirst du Nutte bleiben, und basta. Glaub mir. Die Männer werden dich nie wieder als ein anständiges Mädchen ansehen, du wirst keine normale Arbeit finden und auch keinen Ehemann. Du wirst es dein ganzes Leben lang tun müssen.«

Die Tränen, die für einige Minuten versiegt waren, liefen dem Mädchen wieder in Strömen über die Wangen.

»Das heißt?«, jammerte sie, »was wollt ihr also machen?«

»Wir haben nur eine Möglichkeit. Wir versenken die Leiche hier draußen im Meer. Dann kehren wir ans Festland zurück, setzen dich an einer abgelegenen Stelle ab, und Boris und ich fahren zurück in den Hafen. Wir haben uns nie gesehen, nie kennengelernt.«

»Gestern Abend haben uns doch eine Menge Leute auf eurer Jacht gesehen.«

»Sie hat recht«, sagte Boris.

»Ja, einverstanden, wir haben uns gestern Abend getroffen, haben etwas zusammen getrunken, und zu einer bestimmten Zeit seid ihr gegangen, und wir haben abgelegt.«

»Alleine?«

»Alleine.«

»Das wird keiner glauben.«

Wassili dachte noch eine Weile nach.

»Zuallererst werden wir erklären müssen, wie sie gestorben ist«, mischte Boris sich ein.

Sein Gegenüber packte ihn am Hemdkragen: »Wer sagt denn, dass sie tot ist?«, schrie er. »Wer zum Geier hat gesagt, dass sie tot ist? Sie ist verschwunden, und fertig. Verschwunden. Abgehauen. Niemand behauptet, sie sei tot.«

Boris öffnete abwehrend die Hände und schloss die Augen. Der Mundgeruch seines Freundes war eine Zumutung.

»Entschuldige. Du hast recht. Was sollen wir also erzählen?«

Wassili dachte angestrengt nach. »Wir fahren nach Cannes zurück. Als ob alles in schönster Ordnung wäre. Nichts ist passiert. Niemand wird irgendwelche Fragen stellen. Und selbst wenn es passieren sollte, werden wir sagen, dass beide von Bord gegangen sind. Und du wirst es bestätigen. Es wird Zeit vergangen sein, wer soll sich da schon erinnern? Wohnt ihr zusammen?«

»Nein.«

»Umso besser. Jede ist für sich an Land und nach Hause gegangen. Und dann hast du nie wieder etwas von ihr gehört. Ebenso wenig wie wir.«

»So kann ich sie nicht zurücklassen. Sie ist meine Freundin.«

»Inzwischen ist sie tot. Und das Beste, was du für sie tun kannst, ist, sie weiter leben zu lassen. Von heute an wird sie verschwunden sein, und jeder wird sie in positiver Erinnerung behalten, wird ihr nachtrauern, sich vorstellen, dass sie abgehauen ist, um woanders ein schönes Leben zu beginnen. Wem würde es nützen, sie tot zu wissen, zu erfahren, dass sie anschaffen ging? Du würdest nur ihr Andenken beschmutzen, sonst nichts.«

»Können wir ihr nicht wenigstens etwas anziehen?«

»Nein. Wir werden sie mit Gewichten beschweren, aber wenn sie wieder auftauchen sollte, darf sie nicht so leicht identifiziert werden. Auch die Ausweise, die Tasche, das Kleid, all ihre Habseligkeiten, hol sie und gib sie mir. Wir beschweren und versenken sie hier, ist besser so.«

»Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, riskiert ihr, alles zu verlieren. Ich habe nichts zu verlieren«, sagte sie, und erst nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie als Mädchen hier allein auf hoher See war, allein mit zwei erwachsenen Männern, die schon halbe Mörder geworden waren.

Wassili trat so dicht an sie heran, dass sie seinen sauren Atem und die Angst riechen konnte. »Ich hab dir schon erklärt, dass du besser die Klappe hältst«, flüsterte er, »wenn du nicht wie deine Freundin enden willst.«

Boris legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist nicht nötig, Wassili. Das Mädchen ist nicht dumm, da bin ich sicher. Sie will nur … verstehst du? Sie will nur eine kleine Hilfestellung, um überzeugt zu werden. Um ein neues Leben anzufangen. Ist es nicht so? Versetz dich an ihre Stelle: Sie ist allein, verschreckt, wird eine Weile abtauchen müssen.«

Er stieg hinab in seine Kajüte und holte aus der Jackentasche ein Bündel Banknoten, das von einer goldenen Krawattennadel zusammengehalten wurde, dann ging er wieder hoch auf die Brücke und warf alles auf den Tisch.

»Das sind viertausend Euro, ungefähr. Wassili?«

Der Freund schnaubte, stieg ebenfalls hinunter in die Kajüte, und kurz darauf packte er ein weiteres, etwas größeres Bündel auf das andere.

»Damit sind wir bei zehntausend. Das reicht, um für eine Weile zu verschwinden und diese Geschichte zu vergessen.«

Sie betrachtete das Geld, betrachtete die beiden Männer. Sie verstand, dass dies das letzte Angebot war. Wenn sie ablehnte, verwandelte sie die Angst, die sie in ihren Augen las, in Wut. Sie würde eines gewaltsamen, schmerzhaften und fürchterlichen Todes sterben, würde ebenfalls auf ein Laken gebettet werden, bereit, vor Cannes in die See zu gleiten.

Mit einem Kloß im Hals betrachtete sie das Kleid, das auf dem Sessel lag. Auf dem Sofa stand die Gucci-Handtasche. Sie hatten sie zusammen gekauft, für 1200 Euro. Und die Stöckelschuhe von Scervino, 12 Zentimeter Absatz, für achthundert.

»Die Kleider solltest du besser wegwerfen«, sagte er. »Sobald du an Land bist. Möglichst weit weg.«

Wassili blickte sie an. »Versteck sie in einer größeren Tasche. Aber nicht das Handy. Das ist gefährlich.«

»Eben. Das kann uns helfen, ein Alibi zu konstruieren.«

Die Männer schauten sie mit offenem Mund an. »Wie denn?«

»Wenn ich es ein paar Tage lang benutze, wird man denken, dass sie noch lebt.« Sie sammelte wortlos die Kleider auf, machte eine Kopfbewegung, die so viel hieß wie: »tut, was ihr tun müsst«, ging hinunter in die Kajüte, verbarg das Gesicht in einem Kopfkissen, hörte, wie das Wasser die Leiche der Freundin mit auf ihre letzte Reise nahm, und fing wieder an zu schluchzen.

Marco Luciani und Alessandro

Marco Luciani kam kurz vor der Abendessenszeit nach Hause zurück, setzte Wasser für die Pasta auf und begann, eine Soße zuzubereiten.

»Papi! Papi, dein Handy klingelt!«

»Ja, ist nicht wichtig, Ale, lass es klingeln, ich schaue später nach.«

»Es ist aber Alice!«, schrie der Junge.

Marco Luciani seufzte. Wozu haben wir uns eigentlich getrennt, wenn sie mich dann dauernd anruft? Wir sind einander über den Weg gelaufen und haben für einen kurzen Moment Gefallen aneinander gefunden, hatte er ihr nach dem letzten Streit gesagt. Ich habe versucht, eine andere zu vergessen, du wolltest Halt bei einem geradlinigen und zuverlässigen Mann finden. Aber du liebst mich nicht, und ich liebe dich nicht. Warum sollten wir eine Beziehung führen? Verplempere in deinem Alter nicht mit mir die Zeit, such dir einen Mann, der dich wirklich liebt, mit dem du Kinder, eine Familie haben kannst. Wer zum Kuckuck sagt, dass ich Kinder und eine Familie will?, hatte sie erwidert. Vielleicht will ich nur Spaß haben, in den Tag hinein leben, mit dem Menschen zusammen sein, bei dem ich mich wohl fühle. Bei mir hat sich noch nie jemand wohl gefühlt, hatte Marco Luciani die Diskussion beendet.

Das Zischeln der Zwiebeln, die er für die Soße im Öl glasierte, hatte ihn abgelenkt, und so merkte er zu spät, dass Ale das Gespräch angenommen hatte: »Pronto?«

Er stürzte ins Nebenzimmer, um dem Sohn das Handy zu entwinden, doch als er dessen seliges Lächeln sah und wie er über etwas lachte, das Alice ihm gesagt haben musste, fühlte er sich wie ein mieser Spielverderber und ließ die beiden eine Weile plaudern. Ale erzählte ihr von der Schule und von seinem besten Kumpel Sergi, aber als er fragte: »Kommst du zu uns zum Essen?«, nahm Marco ihm behutsam das Telefon aus der Hand und antwortete entschlossen: »Alice?«

»Da bist du ja endlich. Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen.«

»Ich freue mich auch, dich zu hören.«

»Entschuldige, Marco, aber es hat die ganze Zeit geklingelt und keiner ging ran … ich war in Sorge.«

»Ich hab’s zu Hause vergessen.«

»Du hast es zu Hause gelassen. Wie üblich.«

»Na gut, mich ruft eh niemand an, höchstens um mir auf die Nerven zu gehen.«

»Danke, du bist nett wie immer.«

»Was ist los, Alice? Was brauchst du?«

Er merkte, wie sie sich verspannte, auch wenn sie nicht fragte: »Warum meinst du, dass ich etwas brauche? Kann ich nicht einfach anrufen, um zu hören, wie es dir geht?«

»Nicht ich brauche dich, sondern ein Freund von mir. Allerdings könnte sich das am Ende als große Chance entpuppen, für dich.«

»Lass hören.«

»Nicht am Telefon, Marco. Die Sache ist heikel.«

»Gut, dann erklär mir wenigstens ansatzweise, worum es sich handelt.«

»Die Tochter. Ein Mädchen von achtzehn Jahren. Sie ist verschwunden.«

Sie hatte es in besorgtem Ton gesagt.

»Und weiter?«

»Und weiter hätte er gerne deinen Rat. Du hast Erfahrung in solchen Dingen. Hast du morgen Zeit?«

»Morgen ist ein Höllentag. Um halb zehn muss ich zwei Franzosen auschecken, und um halb zwölf trifft ein amerikanisches Pärchen ein. Mir bleibt gerade mal die Zeit zum Putzen. Um zwei kommt auch schon Ale aus der Schule.«

»Bestens. Wie ich sehe, ist meine Wohnung ein voller Erfolg. Keine Probleme?«

»Keine Probleme.«

»Da du schon mal in der Nähe bist, wollen wir sagen: um zwölf bei den Basken?«

Er schnaubte ins Telefon. »Das ist sauteuer. Und voller Touristen.«

»Ja, aber mit zwei Tapas hast du auch schon zu Mittag gegessen. Und seit wann stören dich die Touristen?«

»Seit ich hier meinen Erstwohnsitz habe.«

»Aber ihnen verdankst du, dass du über die Runden kommst.«

»Was nicht heißt, dass ich in dieselben Lokale gehen muss wie sie.«

Diesmal schnaubte Alice. »Dann schlag eine Alternative vor.«

»Nein, ist okay. Aber lass uns halb eins sagen.« Es war ihm lieber, wenn er möglichst wenig Zeit mit ihr verbrachte.

Erster Satz

Sechzehn Monate zuvor

Martina und Irina

»Hi. Ich bin Irina.«

»Martina.«

»Komm rein. Ich habe gehört, wir sind Landsleute.«

»Zur Hälfte. Meine Mutter war Russin.«

»Warum war?«

»Sie ist nicht mehr, leider.«

Irina verzog das Gesicht. »Tut mir leid. Aber falls es dich tröstet: Ich habe meine nie kennengelernt. Und auch meinen Vater nicht.«

Martina betrachtete sie, dann studierte sie eingehend das Zimmer, das sie in den kommenden Monaten teilen würden. »Wir haben es gut getroffen. Ich habe einen Vater, aber manchmal wäre mir lieber, ich hätte keinen. Ist das mein Bett?«, fragte sie, auf das einzige der beiden deutend, das nicht mit Kleidern, Schminksachen und Zeitschriften bedeckt war.

»Yes!«

»Sehr gut«, sagte Martina und stellte Koffer und Sporttasche darauf ab.

»Hier ist das Bad … dort dein Schrank, und da ist ein Tisch zum Lernen. Gehst du noch zur Schule?«

»Ja, ich muss dieses Jahr Abi machen. Du?«

Irina lachte: »Nein, ich bin fertig. Ich bin älter als du. Na ja, nicht so alt, aber … und da ist eine Minibar, die ich mitgebracht habe. Wenn du etwas reinstellen willst, nur zu. Wenn du dich bedienen willst, bedien dich.« Sie öffnete sie und zeigte Martina den Inhalt: Zwei Coladosen und zwei Wasserflaschen.

»Vorsicht, das Wasser ist kein Wasser.«

»Sondern?«

»Wodka! Was sonst?«

»Du trinkst Wodka?!«

»Warum, trinkst du nicht?«

»Nein. Das heißt, hin und wieder. Aber Alkohol ist Gift für Sportler. Nichts dehydriert mehr.«

»Schwachsinn. Alkohol tut sehr gut. Der Stimmung auf jeden Fall. Jetzt sag nicht, dass du auch nicht rauchst.«

»Natürlich nicht. Zigaretten finde ich eklig.«

»Ich meinte auch keine Zigaretten.«

Martina ließ die Kinnlade fallen, dann brach sie in Gelächter aus. »Du bist verrückt.«

»Ach komm, ich versuche nur, die Zeit totzuschlagen. Es ist hier so was von öde … Tennis, Tennis, Tennis, von nichts anderem ist die Rede.«

Martina verzog das Gesicht. »Ich habe das Tennis auch satt. Wenn’s nach mir ginge, hätte ich längst aufgehört. Aber bring das mal meinem Vater bei.«

»Verstehe. Vater-Chef-Trainer?«

Martina nickte. »Jetzt hat er sich damit abgefunden, dass er ein wenig Distanz halten und mich Benitez überlassen muss, sonst hätte ich hingeschmissen. Dies wird für mich ein entscheidendes Jahr.«

»Weißt du schon, wer dich trainieren wird?«

»Carlos.«

Irina hob eine Augenbraue. »Glückspilz.«

»Ist er gut?«

»Äh, keine Ahnung. Aber er ist scharf. Der schärfste Knabe in der Akademie.«

Martina errötete und wechselte schnell das Thema. »Bist du schon lange hier?«

»’ne ganze Weile. Ich komme und gehe, um ehrlich zu sein. Ich spiele lieber Turniere, als zu trainieren. Diesmal werde ich allerdings ein wenig länger bleiben müssen. Ich habe mich von meinem Trainer getrennt und muss meine Spielweise neu ausrichten«, sagte sie, wenig überzeugt.

»Wir können vielleicht zusammen trainieren, und dann bekommst du wieder Lust.«

Irina legte ihr die Hände auf die Schultern. »Weißt du was, Martina? Du bist mir sympathisch. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.« Dann musterte sie sie von Kopf bis Fuß. »Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass du nicht so gut aussiehst. Die, die hübscher sind als ich, sind meist richtige Arschgeigen … Aber du scheinst in Ordnung zu sein.«

Martina errötete erneut. »Die Schönheit hier bist du«, sagte sie und deutete auf ein Poster neben Irinas Bett, das sie sofort bemerkt hatte. Das russische Mädchen war aus der Froschperspektive aufgenommen, während es, nur in Büstenhalter und Slip, zum Aufschlag ansetzte. Daneben das Logo einer italienischen Unterwäschemarke.

»Ach das. Ist die Werbung eines Sponsors. Nicht schlecht, oder? Die müssen aber ganz schön mit Photoshop geackert haben, sie sieht mir nicht mal ähnlich.«

»Da bin ich anderer Meinung. Du siehst umwerfend aus, wie in echt.«

Irina zog die Nase kraus: »Hiervon mal abgesehen. Sobald ich fünftausend Euro zur Seite gelegt habe, lasse ich sie mir richten.«

»Aber deine Nase ist bildschön! Was stimmt daran nicht?«, protestierte Martina.

»Sie ist zu lang. Und dann schau mal hier. Der Höcker.«

»Den sieht man gar nicht. Und ich finde, dass er dir gut steht.«

»Neeee. Ich lasse mir sie so wie deine richten. Eine schöne kleine Stupsnase. Ein knackiges Hinterteil hast du auch, wie ich sehe«, sagte sie, kaum dass Martina sich umgedreht hatte, um den Koffer zu öffnen.

»Bist du jetzt fertig?«, erwiderte die andere lachend.

»Entschuldige, aber ich stehe unter Schock. Bis vor fünf Minuten war ich noch Miss Academy, doch jetzt ist meine Regentschaft zu Ende«, sagte sie in melodramatischem Ton, wobei sie sich aufs Bett fallen ließ.

»Wie stehst du im Ranking?«, fragte Martina, während sie ihre Sachen in die Schubladen einräumte.

»Pfff. Position 300, 400, 1000, keine Ahnung.«

»Wie, keine Ahnung?!«

»Keine Ahnung, das ändert sich jede Woche, ich kann mich doch nicht um so einen Schwachsinn kümmern.«

»Vielleicht hast du recht«, erwiderte die andere nach kurzer Überlegung, »das stresst nur. Man muss sich auf sein Spiel konzentrieren, ohne an das Ranking zu denken, dann kommt auch der Erfolg.«

»Hmmm-hmmm.«

»Das nächste Turnier?«

Irina zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Hauptsache, es ist ein netter Ort. Paris, New York, Wimbledon …«

»Aber hast du denn die nötigen Punkte für die Slam-Turniere?!«

»Neee, kleiner Scherz. Ich werde mal wieder so ein beknacktes ITF-Turnier spielen, aber ich hab’s dem großen Häuptling schon verklickert, dass ich nicht mehr in diese Scheißkäffer irgendwo in der bulgarischen Pampa fahre. Nur in Städte mit Niveau, stimmt’s, Anna?«

Sie hauchte einen Kuss in die Richtung eines Fotos im Regal, das wie ein Heiligenbildchen hinter einer Duftkerze stand.

»Wer ist das?«

»Wie, wer ist das? Anna Kurnikowa. Meine persönliche Abgöttin. Sie ist es, die mir den Weg gezeigt hat und mich beschützt.«

Martina trat näher und betrachtete die Ganzkörperaufnahme der Kurnikowa in Badeanzug, ein Titelbild von »Sports Illustrated«.

»Nicht schlecht!«

»Die schönste Frau der Welt. Nicht so eine frigide Kuh wie die Scharapowa. Anna war wahrlich sexy, auch auf dem Platz. Von außerhalb ganz zu schweigen. Eine Bombe.«

»Ich habe die Kurnikowa nie gesehen, nur von ihr gehört. Alle sagen aber, dass die Scharapowa stärker ist.«

»Stimmt nicht. Anna hatte viel härtere Gegnerinnen. Sie stand in Wimbledon im Halbfinale und war im Doppel die Nummer eins der Weltrangliste. Außerdem, wen schert’s. Sie hat sich jedenfalls nicht durch das Tennis kaputtmachen lassen. Hat nicht gedopt. Hat sich nicht zwanzig Mal hintereinander von der Williams abwatschen lassen. Irgendwann, mit 23, hat sie allen Goodbye gesagt und als Model angefangen. Dasselbe Geld, weitaus weniger Mühe. Oh, und dann ist sie mit diesem unfassbar scharfen Enrique Iglesias zusammen! Sie hat dreieinhalb Millionen Likes auf Facebook. Und spielt seit über zehn Jahren nicht mehr!«

Martina sah sie an. Irina war ein bisschen verrückt, aber sympathisch. So eine Mitbewohnerin brauchte sie, eine, die sie zum Lachen brachte. Ich muss mir auch eine Schutzpatronin suchen, dachte sie. Aber ich will eine Tennisspielerin, eine richtige.

Marco Luciani

Marco Luciani brachte die Franzosen bis zur Haustür und hielt ein Taxi an, das sie zum Flughafen bringen sollte, dann ging er wieder hoch in die Wohnung. Wie immer begann er mit dem Schlafzimmer, indem er das Fenster öffnete und die Bettlaken abzog. Er kontrollierte Nachttische, Schubladen und Kleiderschränke. Die Leute vergaßen die merkwürdigsten Dinge, deren Fund nicht immer erfreulich war. Die Franzosen jedoch waren umsichtig und penibel gewesen. Er staubte überall ab, fegte den Fußboden und wischte feucht nach, dann widmete er sich dem Wohnzimmer, was schnell erledigt war. In der Küche war mehr zu tun, das Geschirr vom Frühstück war noch zu spülen, der Herd zu putzen, der Kühlschrank zu leeren. Er kippte die offenen Flaschen in den Ausguss und warf die Speisereste in den Müll, dann kontrollierte er den Hängeschrank. Er fand eine angebrochene Zuckerpackung und Öl, was die nächsten Gäste nutzen konnten, außerdem Pfeffer, Salz, verschiedene Gewürze, Tee und Kaffee. Er stellte den Rotwein – ein Willkommensgruß für die Amerikaner – auf den Tisch, dann ging er zum Bad über. Er überprüfte die Klopapiervorräte, reinigte Toilette und Klobürste, er sprühte Kalkentferner auf, bis die Keramikbecken, Armaturen und Fliesen funkelten. Er öffnete das Fenster und wischte alle übrigen Böden. Alice hatte ihm tausend Mal gesagt, er solle eine Putzfrau anstellen, viele Mädchen seien auf der Suche nach Arbeit. Doch es war ihm ein Anliegen, sich persönlich um die Wohnung zu kümmern. Wenn du willst, dass etwas ordentlich erledigt wird, musst du es selbst tun. Abgesehen davon, dass es bei dem permanenten Kommen und Gehen der Touristen eine Ersparnis von 150–200 Euro im Monat bedeutete.

Er trat hinaus auf die Terrasse, um zu kontrollieren, ob auch hier alles in Ordnung war, und während die Böden trockneten, streckte er sich zehn Minuten auf der Liege aus. Er dachte an den Abend zurück, an dem er es sich auf eben dieser Liege bequem gemacht hatte, um die Sterne zu betrachten, und wie Alice sich danebengelegt und gesagt hatte: »Mein ehemaliger Agent hat angerufen, er meint, es würde sich lohnen, die Band wieder zusammenzutrommeln. Er sagt, es war ein Fehler, nicht gleich die Publicity durch den Fernsehauftritt auszunutzen, jedenfalls könnten wir für eine Menge Auftritte gebucht werden. Was hältst du davon?«

»Du willst wieder singen? Und Alice’s Restaurant?«

»Das Restaurant, das ich gerne eröffnen würde, ist kostspielig. Kompagnons habe ich nicht gefunden. Durch die Musik kann ich vielleicht ein bisschen Geld zurücklegen. Allerdings werde ich viel reisen müssen, wir werden uns seltener sehen.«

»Scheint mir eine Spitzenidee«, hatte Marco geantwortet.

Die »Cattive Ragazze« waren wieder in Aktion getreten, wobei die neue Schlagzeugerin, eine zwanzigjährige Schwarze, für die eine Exliebhaberin ein laszives Video gedreht und im Netz gepostet hatte, entscheidend zum Comeback der Band beigetragen hatte. Zuerst waren sie durch Italien getourt, dann waren Angebote aus Frankreich, der Schweiz und Albanien gekommen. Im Lauf der Monate waren Alices Besuche zu Hause immer seltener geworden. Sie arbeitete viel, doch während sie anfangs auch für einige wenige Tage zurückkam, um wenigstens ein bisschen mit Marco zusammen zu sein, war sie jetzt immer zu müde, um sich ins Flugzeug zu setzen. »Nächste Woche komme ich nach Hause«, versprach sie. Doch in der nächsten Woche kam dann wieder etwas anderes dazwischen, ein Fernsehtermin, ein zusätzlicher Auftritt, eine Panne am Tourbus, die neue Single, die bis zum Monatsende fertig werden musste.

Alice hatte Marco vorgeschlagen, in ihre Wohnung in El Born, mit der schönen Terrasse Richtung Arc de Triomf, zu ziehen, er hatte abgelehnt, und so hatte sie am Ende beschlossen, sie an Touristen zu vermieten, auch nur für wenige Tage. »Sie leer stehen zu lassen, macht keinen Sinn, ich bin dauernd weg und nutze sie, wenn’s hoch kommt, fünf Tage im Monat. Ich hab’s überschlagen, die Kosten abgezogen, kann man damit zweitausend Euro im Monat verdienen, Marco, vielleicht mehr. Wenn du Lust hast, das zu managen, machen wir halbe-halbe.«

»Inwiefern managen?«

»Wir platzieren eine Annonce bei Airbnb und auf anderen Websites dieser Art. Du beantwortest die Anfragen, vergibst die Termine. Dann musst du ihnen nur die Schlüssel übergeben und putzen, wenn sie abreisen, ehe die neuen Gäste kommen.«

»Und wenn du in Barcelona bist, wohin gehst du dann?«

»Wenn die Wohnung frei ist, zu mir. Andernfalls zu dir.«

Er hatte eine Grimasse gezogen.

»Das nenn ich Begeisterung! Ich biete dir einen netten Teilzeitjob an und ab und an gesunden, exzellenten Sex. Auch wenn wir nicht mehr zusammen sind, können wir es immer noch tun, wenn uns danach ist. Wo liegt das Problem?«

»Was die Wohnung betrifft, das geht in Ordnung. In Sachen Sex wirst du keine Mühe haben, einen anderen Kandidaten zu finden.«

Er ging wieder hinein, machte das Bett und legte die penibel gefalteten Handtücher darauf. Dann brachte er den Müll hinunter, und wenige Minuten später nahm er ein New Yorker Pärchen mittleren Alters in Empfang, das sich ausschließlich für die Klimaanlage zu interessieren schien. Er wies sie in alle Geheimnisse der Wohnung ein, gab ein paar Ratschläge zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt sowie zu Restaurants und Lokalen, die ihnen gefallen würden, dann besprach er die Schlüsselrückgabe und verabschiedete sich, wobei er seine und Alices Telefonnummer für Notfälle daließ.

Zwölf Monate zuvor

Martina

Martina hob die Augen zur Anzeigetafel. Sie wusste genau, dass sie kurz vor dem Sieg stand, wollte jedoch eine Bestätigung, weil sie es selbst nicht recht glauben konnte. Nachdem sie den ersten Satz 2:6 verloren und jede Menge Fehler gemacht hatte, war sie Carlos’ Rat gefolgt, nicht zu überdrehen, die Bälle schlichtweg mit der richtigen Länge zu schlagen und auf Fehler der Gegnerin zu warten. Diese Taktik hatte sie für glatten Selbstmord gehalten, denn die Gegnerin hieß Maria Sanchez, die Nummer 90 der Welt, die stärkste, gegen die sie je gespielt hatte. Sie war in dem Turnier an Nummer 2 gesetzt, und Martina hatte gedacht, sie könne nur im Match bleiben, wenn sie auf jeden Ball ging, immer mit vollem Risiko, wie ihr Vater ihr geraten hatte. Und in der Hoffnung, dass sie einen Sahnetag erwischte. »Je härter du schlägst, desto mehr bringst du sie in ihren Rhythmus«, hatte ihr der Trainer nach dem ersten Satz gesagt, und sie hatte akzeptiert, die Taktik zu wechseln. Lange Bälle ohne Wucht, einmal hier, einmal da. Sie spielten auf Sand, es war heiß, und die Sanchez ging auf die 36 zu. Martina hatte schnell gemerkt, dass Carlos’ Rat der richtige war: Die ersten Spiele im zweiten Satz waren ausgeglichen gewesen, dann hatte die Spanierin angefangen, Fehler zu machen. Sie versuchte, schnell aus den Ballwechseln zu kommen und zu punkten, aber dabei verausgabte sie sich. Und verschenkte viel. Nachdem Martina den zweiten Satz 6:4 gewonnen hatte, hatte sie die Ballwechsel noch mehr in die Länge gezogen, die andere hatte noch mehr investiert, begann, wütend zu werden und den Schläger auf den Boden zu schmettern. Jetzt, beim Stand von 5:2 und 40:15, schlug Martina auf, um das bisher wichtigste Match ihrer Karriere zu gewinnen.

Sie ließ den Ball acht Mal aufdotzen, während sie spürte, wie ihr rechter Arm an Kraft verlor und zu Gummi wurde, doch sie wollte sich nicht von der Angst unterkriegen lassen. Sie atmete tief ein, ließ noch zwei Mal den Ball aufspringen, ehe sie einen harten Aufschlag aus dem Feld servierte. Der erste Ball ging ins Netz. Sie wiederholte das Ritual und versuchte, nicht an den möglichen Doppelfehler zu denken, doch der zweite Aufschlag geriet fast einen Meter zu lang. 40:30, der erste Matchball war vergeben.

Sie wechselte auf die linke Seite, holte Luft, ließ den Ball aufdotzen, der Service blieb erneut im Netz hängen. Das ist die Chance, auf die ich lange gewartet habe, dachte sie, eine unter den ersten Hundert der Rangliste zu schlagen. Ins Halbfinale eines mit fünfzigtausend Dollar dotierten Turniers einzuziehen. Auf einen Schlag 36 Punkte zu holen und im Ranking vorzurücken, unter die ersten Zweihundert zu kommen. Wie viele wichtige Dinge in diesem kleinen Ball vereint waren, der erneut zu lang geriet! Der zweite Doppelfehler, 40:40. Bitte, jetzt ist die Angst wieder da, dachte Martina, wechselte den Schläger in die linke Hand und versuchte, die Muskeln des rechten Arms zu lockern, in dem der Ellbogen verschwunden zu sein schien. Die Gummimasse, aus dem er bestand, hing kraftlos an ihrer Flanke. Sie suchte den Blickkontakt zu Carlos auf der Tribüne, er ballte die Fäuste und biss seine schönen weißen Zähne zusammen, seine Kopfbewegung bedeutete: Glaub dran, gib nicht ausgerechnet jetzt auf!

Sie musste für Carlos gewinnen, der ihr die Spiel- und Lebensfreude wiedergegeben hatte. Sie musste ihm zeigen, dass es kein Fehler gewesen war, an sie zu glauben. Martina lockerte die Nackenmuskeln, schaute weder auf Gegnerin noch Publikum und tat, als wäre sie in der Akademie beim Zielschießen, wo es galt, mit dem Aufschlag die Kegel zu treffen. Sie zielte in die Ecke, mit einem schwachen, lächerlich langsamen Schlag. Doch dieser Ball musste die Sanchez verwirrt haben, denn als sie sich auf ihn stürzte, um mit der Vorhand den Punkt zu machen, verschätzte sie sich bei dem ungewohnten Schlag im Tempo, sie ließ eine Granate los, die im Netz landete. Die Spanierin, die einst unter den besten fünfzig gewesen war, lächelte ungläubig, sie deutete auf den Abdruck im Sand, als wollte sie sagen: »Jetzt schau dir mal an, was für einen Gurkenball die geschlagen hat, mit wem ich hier spielen muss, und dann mache ich auch noch den Fehler.« Es war der dritte Matchball, ein wohlig-warmes Gefühl der Erleichterung breitete sich in Martinas Bauch aus: Sie macht einen Fehler nach dem anderen, bring irgendwie den ersten Aufschlag ins Feld, und dann gehört das Match dir. Sie servierte noch einen einfachen Ball nach außen, die Sanchez schien kurz zu zögern, ob sie hart retournieren sollte, dann versuchte sie einen Rückhandslice und ging ans Netz vor, doch der Ball geriet ein wenig zu lang, fünf Zentimeter hinter die Grundlinie. Martina schrie gleichzeitig mit dem Schiedsrichter: »Aus!«, und hob glücklich die Arme gen Himmel. Sie lief ans Netz, wo die Gegnerin sie mit wütender Miene erwartete, nahm den Applaus des Publikums entgegen, der äußerst spärlich war, vielleicht insgesamt zwanzig Zuschauer. Aber unter diesen zwanzig war er, Carlos, der aufgestanden war und heftig klatschte.

»Ich habe gewonnen, Paps, ich habe gewonnen!«

»Ich hab’s gesehen, mein Schatz! Ich habe es live auf dem Computer bei der Arbeit gesehen. Ich könnte platzen vor Wut, dass ich nicht dabei war. Du warst großartig! Hast du so gespielt, wie ich es dir geraten hatte?«

Martina zögerte. »Klar. Volles Tempo. Ich habe gut gespielt, aber am Ende hat sie auch viele Fehler gemacht.«

»Nun, die Sanchez ist stark, an einem guten Tag lässt sie sich selbst von den Besten im Ranking kaum schlagen. Ist dir das eigentlich klar, Marti? Das ist dein erster wichtiger Skalp, die erste Top-100-Spielerin! Eines Tages wirst du dich an dieses Match erinnern.«

»Sicher. Ich bin überglücklich, Papa.«

»Jetzt heb aber nicht gleich ab. Gegen wen spielst du morgen?«

»Eine gewisse Stepanowa, ich glaube, sie ist so um die Nummer zweihundert der Welt.«

»Okay. Kenne ich nicht, aber ich erkundige mich gleich, und dann rufe ich dich wieder an. Gewöhn dich schon einmal an den Gedanken, dass es noch härter wird als heute. Denn heute hattest du nichts zu verlieren, das morgen ist die Nagelprobe. Jetzt fühlst du dich stark, es besteht die Gefahr, dass du sie unterschätzt. Denk dran, wenn du sie schlagen willst, musst du alles geben.«

»Ich weiß, ich weiß. Sei unbesorgt, ich werde mich nicht zurücklehnen, ich will weiterkommen.«

»Sehr gut, mein Schatz. Jetzt dehn dich ordentlich und lass dich massieren, wenn möglich.«

Von Carlos, wollte Martina schon sagen, doch dieses Detail verschwieg sie ihrem Vater besser. Er war eifersüchtig auf Carlos, er war eifersüchtig auf alle Jungs, die in ihre Nähe kamen, sogar auf den Großen Meister war er eifersüchtig. Der hatte diesmal jedoch recht damit gehabt, sie zu diesem Turnier zu melden. Und Carlos’ Tipps, nicht die ihres Vaters, hatten sie zum Sieg geführt.

»Okay. Bis dann«, sagte sie und verdrängte den Gedanken, dass sie sich, ohne ihn auf der Tribüne, zum ersten Mal frei gefühlt hatte.

»Ich bin kaputt, Carlos. Ich weiß nicht, ob ich morgen spielen kann.«

»Ach.«

»Wir haben zweieinhalb Stunden auf dem Platz gestanden. Dann noch die Reise. Und die Hitze …«

»Jetzt massiere ich dir erst mal die Beine.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen«, sagte sie und wunderte sich über ihre eigene Dreistigkeit. In Wahrheit war sie kein bisschen müde, sondern aufgekratzt wegen des Sieges. Sie wollte feiern, sich gehenlassen. Doch Carlos ging auf die Anspielung nicht ein.

»Wenn du willst, kann ich dir eine Pille geben, die die Regenerierung unterstützt.«

Martina hörte sofort in ihrem Kopf die Stimme des Vaters: »Nimm keine Pille, kein Nahrungsergänzungsmittel, kein Bonbon ein, das du nicht kennst. Nimm nichts an. Von niemandem. Nicht einmal von deinen Trainern. Nie.« Hundert Mal hatte er diese Worte wiederholt. Nein, tausend Mal.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Och, ein natürlicher Wirkstoff. Im Grunde nur Kräuter.«

»Wie heißt es?«

»Weiß ich nicht, es hat keinen Namen. Wir lassen sie uns speziell von einem Apotheker machen.«

»Lieber nicht.«

Carlos sah sie an: »Meinst du, ich würde dir etwas Verbotenes geben? Würde das Risiko eingehen, dich bei der Dopingkontrolle auffliegen zu lassen? Wenn ich dir doch sage, dass du es nehmen kannst …«

»Ich warte besser ab, wie es mir morgen geht«, sagte sie und streckte sich auf der Liege aus.

»Das muss jetzt verabreicht werden, direkt nach dem Spiel.«

»Ich habe gesagt, dass ich es nicht nehme.«

»Wie du willst.« Carlos sagte nichts mehr und fing an, ihr die Waden zu massieren, doch dieser kleine Disput zerstörte Martinas Vorfreude auf das Vergnügen, das sie sich erträumt hatte.

Marco Luciani

Er erreichte die Kirche Santa Maria del Mar, und wie immer, wenn er hier vorbeikam, trat er ein, um für seinen Vater eine Kerze anzuzünden. Das Buch, das die Geschichte dieser Kirche erzählte, die Stein für Stein von den Hafenarbeitern errichtet worden war, war eines der letzten gewesen, die er hatte lesen können. Marco hatte es von seinem Nachttisch genommen und sich etwa ein Jahr nach seinem Tod hineinvertieft, einschließlich der Unterstreichungen, der Eselsohren und Randbemerkungen seines Vaters. Es war, als hätte er mit dem Jenseits einen Kommunikationskanal eröffnet, der nie wieder versiegt war.

Er ging hinaus und weiter Richtung Carrer de l’Argenteria. Zum Mittag essen war es noch recht früh, und so fand er problemlos einen freien Tisch auf dem kleinen Platz, setzte sich und beobachtete eine Weile das Gewimmel der Touristen, die zum Picasso-Museum oder dem Markt von El Born gingen.

Alice kam ein wenig zu spät, auf Hochglanz poliert. Sie hatte ein Outfit mit schwarzen Springerstiefeln gewählt, einen engen schwarzen Rock, der Beine und Po betonte, ein T-Shirt mit dem Konterfei David Bowies und eine knappe, ebenfalls schwarze Lederjacke. Ihre schneeweiße, vollkommen unbehaarte Haut erinnerte an ein exotisches Tier, an ein Raubtier, wie das Tattoo auf dem kahlen Schädel eindeutig bewies.

Sie ging hinein, um einen Teller mit gemischten Käse-, Wurst- und Fisch-Tapas zu füllen, bestellte ein Bier, stieß mit Marcos Orangensaftglas an und betrachtete voll aufrichtigen Mitgefühls den winzigen Teller mit Sardellen und glutenfreiem Brot, das er sich hatte bringen lassen.

»Bist du immer noch auf Diät?«

»Ich würde es nicht Diät nennen. Sagen wir, es ist eine Ernährungsmethode.«

»Wenn es ›Methode‹ heißt, kann es nicht schmecken«, sagte sie ironisch.

Marco Luciani versuchte sich davon abzulenken, wie scharf sie ihn machte. Er ertrug sie nicht, aber sie machte ihn scharf.

»Du hast abgenommen. Schon wieder«, sagte sie und musterte ihn mit einem Kopfschütteln. »Lang und einsam und voller Stacheln wie ein Kaktus in der Wüste.«

»Woher willst du wissen, dass ich einsam bin?«

»Wenn du das Handy zu Hause lässt … Und du selbst hast gesagt, dass dich niemand anruft.«

»Wie wäre es, wenn wir über etwas anderes reden würden? Darüber zum Beispiel, warum wir hier sind?«

Sie hob die Hände und sagte: »Okay, okay, sei nicht beleidigt. Du müsstest mir einen Gefallen tun. Nicht mir, genau genommen. Einem Freund von mir.«

»Was für einen Gefallen?«

»Wie ich angedeutet hatte, ist seine Tochter verschwunden. Hier in Barcelona. Er ist verzweifelt und will sie wiederfinden.«

Er runzelte die Augenbrauen. »Was habe ich damit zu tun?«

»Er und seine Tochter sind Italiener, er kennt hier niemanden außer mir und hat mich gefragt, ob ich ihm einen Privatdetektiv vermitteln könnte. Da habe ich an dich gedacht.«

Er brach in spontanes Gelächter aus. »Aber ich bin doch kein …«, wollte er sagen, ehe er innehielt. Er war kein Privatdetektiv, aber er war auch kein Kommissar mehr. Was oder wer war er im Moment genau?

»War dein Freund schon bei der Polizei?«, fragte er.

»Klar. Aber das Mädchen ist volljährig und scheint freiwillig weggegangen zu sein. Sie haben ein paar Dinge überprüft, werden aber nicht wirklich ermitteln.«

»Weggegangen von wo?«

»Sie ist Tennisspielerin. Sehr talentiert. Sie war in einer Akademie vor den Toren Barcelonas.«

Marco Luciani hob eine Augenbraue.

»Ich wusste, dass Tennis dich interessieren würde.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich interessiert bin.«

Alice betrachtete ihn. »Der Vater ist verzweifelt, Marco. Er hat Angst, das Mädchen könnte an üble Burschen geraten sein oder sonst eine Riesendummheit machen … Er weiß selbst nicht, was. Ich bitte dich nur, mit ihm zu reden.«

Ein verschwundenes Mädchen. Oder vielleicht einfach nur abgetaucht. Mit einem Geliebten abgehauen, mit einer Freundin oder auch alleine. Um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht möglichst weit weg von dem klassischen tennisbesessenen Vater, der sie schon als Kleinkind zum Trainieren gezwungen hatte. Sofort ging die Phantasie mit Marco Luciani durch. Doch dann rief er sich zur Ordnung: An dem Fall war nichts Interessantes, und er hatte nicht in Genua einen verantwortungsvollen Posten im Präsidium aufgegeben, um als abgehalfterter Schnüffler in Barcelona hinter gelangweilten Mädchen oder untreuen Ehefrauen herzurennen.

»Ich kenne das Terrain nicht. Ich habe hier fast keine Verbindungen. Es ist besser, wenn dein Freund sich einen hiesigen Ermittler sucht.«

»Jetzt lass dich nicht lange bitten, Marco. Früher oder später wirst du wieder arbeiten müssen. Wenn nicht aus Leidenschaft, dann zumindest wegen des Geldes.«

»Ich habe doch eine Arbeit. Neben deiner Wohnung, die ich manage, und Alessandro bleibt mir kaum eine Verschnaufpause.«

»Du wirst doch nicht dein Leben lang als Putze arbeiten wollen.«

»Das ist auch nicht groß anders als das, was ich immer getan habe: Aufräumen, wo die anderen ihren Dreck hinterlassen haben.«

»Und außerdem verdienst du nicht genug. Wie viel hast du noch auf dem Konto?«