Kein Weg ist lang - Joe Schlosser - E-Book

Kein Weg ist lang E-Book

Joe Schlosser

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Fuego
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

In Bremens sonst so unantastbarer Oberschicht läuft einiges aus dem Ruder, als der Sohn des Investors Richard Schäfer, Stefan, entführt wird. Die Forderung: eine Million Euro, keine Polizei. Mechthild Kayser und ihre Mordkommission haben ohnehin mit anderen Dingen zu tun. Im Knoops Park in Bremen Nord wird eine Leiche entdeckt. Die Identität ist schnell geklärt: Der Tote ist Torsten Lammert, der unlängst aus der Haft entlassen worden ist. Die Spur führt zu seinem gewalttätigen Ex-Mithäftling Brubeck. Doch der Fall scheint komplizierter als zunächst angenommen, denn Brubeck ist flüchtig. Mechthild Kayser sieht sich gezwungen, für weitere Recherchen mit der Bremer Unterwelt zu kooperieren. Währenddessen wird ein Oberneuländer Unternehmer erschlagen, und undurchsichtige Geschäftspraktiken werden offenbart, in die noch ganz andere Größen sogar aus den eigenen Reihen verwickelt zu sein scheinen - was ein Vorankommen für die Mordkommission beinahe unmöglich macht. Der Fall erfordert volle Konzentration, denn die Vermutung liegt nahe, dass eine Verbindung zu der Entführung Stefan Schäfers besteht. Wird es Mechthild gelingen, das alles beherrschende Band zwischen Milieu und Elite zu zerschlagen und so einen entscheidenden Sieg gegen die Drahtzieher einzufahren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joe Schlosser

Kein Weg ist lang

Mechthild Kaysers dritter Fall

FUEGO

- Über dieses Buch -

In Bremens sonst so unantastbarer Oberschicht läuft einiges aus dem Ruder, als der Sohn des Investors Richard Schäfer, Stefan, entführt wird. Die Forderung: eine Million Euro, keine Polizei.

Mechthild Kayser und ihre Mordkommission haben ohnehin mit anderen Dingen zu tun. Im Knoops Park in Bremen Nord wird eine Leiche entdeckt. Die Identität ist schnell geklärt: Der Tote ist Torsten Lammert, der unlängst aus der Haft entlassen worden ist. Die Spur führt zu seinem gewalttätigen Ex-Mithäftling Brubeck. Doch der Fall scheint komplizierter als zunächst angenommen, denn Brubeck ist flüchtig. Mechthild Kayser sieht sich gezwungen, für weitere Recherchen mit der Bremer Unterwelt zu kooperieren.

Währenddessen wird ein Oberneuländer Unternehmer erschlagen, und undurchsichtige Geschäftspraktiken werden offenbart, in die noch ganz andere Größen sogar aus den eigenen Reihen verwickelt zu sein scheinen – was ein Vorankommen für die Mordkommission beinahe unmöglich macht. Der Fall erfordert volle Konzentration, denn die Vermutung liegt nahe, dass eine Verbindung zu der Entführung Stefan Schäfers besteht. Wird es Mechthild gelingen, das alles beherrschende Band zwischen Milieu und Elite zu zerschlagen und so einen entscheidenden Sieg gegen die Drahtzieher einzufahren?

Prolog

Es verdiente ohne Zweifel die Bezeichnung „Anwesen“, was er sich vor Jahren hier außerhalb von Lilienthal gebaut hatte. Oder besser: errichten ließ. Inmitten eines 30.000 Quadratmeter großen Parks stand seine Villa. Zweigeschossig mit ausgebautem Dach. Einst Landsitz eines zu Wohlstand gekommenen Bremer Getreidehändlers und jetzt ergänzt durch einen gewaltigen, modernen Anbau. Blaue Pfannen und geschwungene Gauben schwebten seiner Frau vor. Und sie setzte sich damit durch, die alte Kaufmannsvilla um einen ihrer Ansicht nach architektonisch perfekt angeordneten Anbau zu erweitern, der das alte Haus an drei Seiten umgab. Andere Stimmen sprachen von einer Verschandelung des schönen, ehemaligen Landsitzes. Neureich und unkultiviert, spotteten alteingesessene Anwohner und verwehrten ihm den wirklichen Zugang in ihre Kreise der ehemaligen Dorfgemeinschaft. Aber zwischen den Tönen war auch Neid zu hören, auf einen, der es geschafft hatte und nun Eigentümer dieses Prachtbaus war und damit selbstbewusst machte, was er wollte. Der Putz strahlte weiß zwischen all dem Grün hervor. Rhododendren, Bäume und Bäumchen. Ausgedehnte Grasflächen, auf denen so allerlei Gerät der Bauern aus dem vergangenen Jahrhundert ausgestellt war und die einem großen Swimmingpool Raum boten. Das Haus sah nach Platz aus. Viel Platz. Die Vierergarage war geschickt an das Haupthaus angeschlossen und wirkte wie ein riesiger Wintergartenanbau. Statt der Garagentore hatte er große, breite Glastüren einbauen lassen, die sich automatisch hoben, wenn sie mittels der Fernbedienung in Gang gesetzt wurden. Durch die Scheiben konnte jeder einen Blick auf die englische Luxuslimousine, seinen edlen Geländewagen und den weißen Maserati werfen. Das Porschecabriolet seiner Frau war noch das günstigste unter diesen Karossen. Das Grundstück wurde von einer halbhohen weißen Mauer umgeben und ließ den Blick auf all die Wohlhabenheit auf dem Gelände zu. Ein Fehler. Während er eingangs allen zeigen wollte, was er geschafft hatte, bereute er später, dass viele missgünstige Blicke ihn nun unbehelligt auf seinem Anwesen ausmachen konnten. Immer wieder dachte er daran, die Mauer erhöhen zu lassen. Aber er konnte sich letztendlich nie dazu entschließen. Er war hin und her gerissen zwischen dem vermeintlichen Genuss, neidische Blicke zu erhaschen, und einem unzweifelhaft bestehenden Sicherheitsinteresse. Für sich und seine Familie.

Vor Jahren war das Bürogebäude seines Firmenimperiums noch mit auf dem Gelände angesiedelt gewesen. Er wollte seine Mitarbeiter wenigstens optisch an seinem Reichtum teilhaben lassen. Aber die Diskrepanz zwischen seinem Einkommen und den knauserigen Gehältern, die er seinen Angestellten zahlte, wuchs so sehr, dass er sich entschloss, in Bremen eigens ein Bürohaus bauen zu lassen. Ein paar Kontakte, die Ankündigung, einige seiner Firmen steuerlich wirksam in Bremen anzusiedeln, und schon verkaufte ihm die Stadt ein zentral gelegenes Grundstück zu einem Spottpreis. So lief das eben. Das hiesige Bürogebäude ließ er entkernen und umbauen, um darin seinem Hobby nachgehen zu können. Der Sammlung historischer Automobile. Eine stattliche Anzahl Oldtimer hatte er schon beisammen. Echte Raritäten befanden sich darunter. Und wenn er Gäste aus der Geschäftswelt einlud, war ein Gang durch diese heiligen Hallen ein obligatorischer Zeitvertreib. Und auch so mancher hohe Beamte oder Politiker, dessen Loyalität er sich versichern wollte, konnte die erlesenen Restaurationen bewundern und hier einen Umschlag mit dem erforderlichen Geld zugesteckt bekommen. Und er wurde auch noch öffentlich gelobt für sein Engagement zum Erhalt automobiler Kultur. Aber in Wirklichkeit interessierte ihn nur der gegenwärtige Wiederverkaufspreis des jeweiligen Automobils. Denn der spekulative Zugewinn der Veräußerung eines seiner Schätze war steuerfrei.

Er war also einer, der es nicht nur zu einigem Reichtum gebracht hatte. Er wollte auch immer mehr. Geld und Einfluss, Macht. Die Jagd nach Gewinn war sein Lebenselixier. Und er wollte unbedingt auch steuerlich irrelevanten Gewinn. Das war das Schönste für ihn. Die Beschaffung von Schwarzgeld war das Salz in der Suppe seines Lebens. Was konnte man damit nicht alles machen. Leute bestechen, unter der Hand Immobilienpreise drücken und so Steuern sparen. In schwierigen Zeiten mal jemanden bezahlen, der wieder für Klarheit am Markt sorgte. Uneinsichtige bezähmen und überzeugen. Ja, natürlich hatte er es nicht immer leicht. Er musste seinen Kuchen schon verteidigen. Nicht nur das Finanzamt drohte von außen, auch im Inneren seines kleinen Imperiums führte seine Affinität zur Halbwelt und zu obskuren Persönlichkeiten einer ebenso obskuren Geschäftswelt immer wieder zu Schwierigkeiten, die er nicht mit Hilfe staatlicher Organe lösen konnte. Während er zu Beginn seiner Karriere auch schon mal selbst die Dinge in die Hand nehmen und riskant agieren musste, erlaubte ihm seine heutige finanzielle Situation, fremde Dienste in Anspruch zu nehmen. Das kostete zwar, aber er brauchte sich selbst die Hände nicht mehr schmutzig zu machen. Was nicht bedeutete, dass er, wenn es im Notfall erforderlich sein würde, seine Angelegenheiten nicht auch selbst regeln konnte. Aber er versuchte seine Weste frei von Flecken zu halten. Mittlerweile war er ein angesehener und umworbener Bürger geworden. Durch die Verlagerung seiner Firmen nach Bremen bescherte er der Stadt trotz seiner Gegenmaßnahmen einen nicht unerheblichen Steuersegen, galt als Investor und Wohltäter. Er war im Rathaus genauso gern gesehen wie auf den vielen gesellschaftlichen Anlässen, die die Stadt beging. Und auf seinen eigenen Partys tauchten schon lange keine Zuhälter und Barbesitzer mehr auf. Er achtete schon sehr genau darauf, wen er mit wem zusammenbrachte und wen er beeindrucken wollte. Er bevorzugte Konstellationen, die ihm später einmal hilfreich und somit einträglich sein konnten. Er war ein charismatischer Heuchler geworden. Viele ließ er in dem Glauben, mit ihnen befreundet zu sein. Aber wenn es hart auf hart ging, kannte er nur sich. Wenn es an der Zeit war, ließ er Menschen einfach fallen. Wenn es erforderlich war, zerstörte er sie. Es waren wirklich zwei Welten, in denen er sich bewegte, und es gelang ihm, diese peinlich genau zu trennen und voneinander fernzuhalten. Jedenfalls meistens.

Doch jetzt war geschäftlich wie privat einiges aus dem Ruder gelaufen. Zwischen diesen beiden Bereichen unterschied er innerlich eigentlich nicht. Egal, woher die Probleme kamen: Sie gingen ihn immer persönlich an. Und er löste sie immer auf die gleiche Art und Weise: konsequent und zielgerichtet. Er hatte sie auch diesmal wieder in den Griff bekommen. Aber es war nicht leicht gewesen. Und es war ihm klargeworden, dass die bloße Erhöhung der Mauer um sein Grundstück keinen Sinn machen würde.

***

„Eine Million. Das ist nicht wenig“, sagte er, ohne dass eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen war. Vor ihm saß eine Frau in den Fünfzigern mit geröteten Augen, und durch die Blässe ihres Gesichtes schimmerten rote Flecken. Hektische Flecken, dachte er und hoffte, dass sie durchhalten und nicht in Kürze zusammenklappen würde. Zuerst brauchte er die notwendigen Informationen. Dann konnte sie von ihm aus abkippen in einen hysterischen Anfall, Nervenzusammenbruch oder was auch immer, und sich eine Beruhigungsspritze verpassen lassen. Er blickte auf die goldene Rolex mit dem Brillantenkranz an ihrem Handgelenk.

„Ist die Beschaffung dieser Summe für Sie ein Problem?“ fragte er betont nüchtern. Mitgefühl war in seinem Geschäft störend. Wie jede andere Emotion auf seiner Seite. Unkontrollierte Gefühle hatten seine Geschäftspartner zumeist in dieser Situation reichlich.

Sie schüttelte den Kopf und ignorierte den feinen Faden, der aus ihrer Nase lief und auf den Tisch tropfte. Es wunderte ihn nicht, dass genügend Geld zur Verfügung stand. Wenn er engagiert wurde, war Geld nicht das Problem.

„War der Anrufer nervös oder ruhig, und haben Sie noch andere Stimmen gehört?“

„Sie glauben, dass es mehrere sind?“ Endlich sagte sie wieder etwas. Reden war wichtig. Für sie und ihn. Sie konnte sich also schon zusammenreißen, wenn sie wollte.

„Eine Million hört sich nach Teilen an. Wenn der Anrufer ruhig und sachlich war, arbeitet er nicht alleine.“

„Er war ruhig.“

„Das ist ein gutes Zeichen“, erwiderte er, obwohl er es noch gar nicht genau wusste. Aber er brauchte sie. Gefasst. Dann musste sie noch einmal versuchen, das Telefonat wiederzugeben.

„Ich saß im Büro, und die Zentrale stellte das Gespräch durch. Ich meldete mich mit meinem Namen, und ein Mann erklärte mir, dass unser Sohn in seiner Obhut wäre.“

Es drängte ihn, sie hier schon zu unterbrechen. Aber er zügelte sich. Jetzt bloß nicht ihren Redefluss stoppen.

„Dann sagte er nur noch, dass wir ihn für eine Million zurückbekommen. Und wir sollten nicht auf die Idee kommen, die Polizei einzuschalten. Und dass er sich wieder melden würde. Ich dachte, das ist ein gemeiner Scherz, und rief sofort auf dem Handy unseres Sohnes an. Aber es meldete sich nur ganz kurz dieselbe Stimme. Er wollte nur noch eine Durchwahl direkt in unser Haus haben, die er zukünftig anrufen konnte. Da wusste ich, dass es stimmte.“

Als Erstes wollte er wissen, ob der Anrufer wirklich das Wort „Obhut“ benutzt hatte, oder sie sich nur kultivierter ausdrücken würde als er. Er hatte „Gewalt“ gesagt. Das war kein gutes Zeichen. Aber er sagte ihr nichts davon. Dann spulte er seinen Fragenkatalog herunter, bis sie nicht mehr konnte. Er hatte für seine Unterhaltung mit ihr den Esstisch gewählt. Form- und haltgebende Stühle mit hohen Lehnen und eine Tischplatte zum Aufstützen der Arme. So hielten seine Gesprächspartner einfach länger durch. Aber jetzt war Schluss. Wie fast immer in diesen reichen Haushalten stand ein vertrauter Arzt bereit, der ihr jetzt vom Stuhl half und sie irgendwo in diesem riesigen Haus nach oben in eines der Schlafzimmer brachte. Dort bekam sie dann ihre erste Beruhigungsspritze und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, von dem sie später glaubte, es hätte ihn nie gegeben. Er rekapitulierte die erhaltenen Informationen und begann sich erste Notizen in seinen kleinen Taschenkalender zu schreiben. Der Anrufer: männlich, geschätztes Alter der Stimme: zwischen dreißig und vierzig. Hintergrundgeräusche: keine. Kurze, präzise Aussprache des Nötigsten. Dieselbe Stimme am Handy des Sohnes. Der Entführer wusste, dass die Mutter zuallererst dort anrufen würde. War das schon gut vorausschauend? Nein, es war einfach naheliegend. Aber das nachdrückliche „keine Polizei“ war in einer verschärften Stimmlage gekommen. Angsterzeugend, meinte sie, erschrocken habe sie sich.

Er wusste, dass sie selbst zwei Unternehmen in der Firmengruppe ihres Mannes führte. So leicht zu erschrecken war sie gewiss nicht. Auf diesem Sektor hatte sie bestimmt schon so einiges erlebt.

Täter entschlossen und gefährlich, schrieb er weiter. Und: Sicherheit geben, Vertrauen aufbauen. Geschäftsbeziehung begründen.

Er klappte sein Mobiltelefon auf und wählte die Nummer seines Büros. Seine Angestellte war nach dem zweiten Klingeln schon am Apparat. Sie erwartete seinen Anruf. Er gab ihr die Telefondaten von Stefan, und sie versprach, sich schnell zurückzumelden. Es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder meldete. Er wusste, dass das bedeutete, dass eine Handyortung nicht mehr möglich war. Es war also längst abgeschaltet. „Letzter Standort war der Parkplatz am Weserstadion. Vor elf Stunden.“ Diesen Hinweis konnte er vergessen.

Durch die Fenster des großen Erkers sah er neben einem weißen Garagenkomplex mit vier strahlenden Glastoren ein schwarzes Bentleycoupé halten. Ein sehr gepflegter, breitschultriger Mann Mitte fünfzig, leichter Bauchansatz, dunkelblond getöntes, volles Haar, stieg ruhig und gelassen aus dem Wagen. Ein teures, blaues Wollsakko unterstrich seine Erscheinung und seine Klassenzugehörigkeit. Wenig später kam er ihm im Esszimmer entgegen und reichte ihm die Hand. „Gut, dass Sie gleich zur Verfügung stehen konnten.“

Er erhob sich und ergriff die große, warme Hand des anderen. Auch er stellte sich vor und nickte kurz und zackig. So wie er es bei allen seinen Kunden tat.

„Gehen wir ins Arbeitszimmer“, schlug der Hausherr vor und wies ihm mit einer einladenden Geste den Weg. Er registrierte, wie gefasst dieser Mann war. Der Umstand, dass sein Sohn entführt worden war, schien ihn nicht zu erreichen. Sie durchschritten ein mit teuren, modernen Möbeln geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, in dem man auch drei Schulklassen gleichzeitig hätte unterrichten können, gelangten über einen Flur in den hinteren Teil des Hauses, und in jedem, der diesen Weg gehen würde, musste das Gefühl aufkommen, dass der Flur als Verbindungsglied zu einer anderen Welt diente. Vom riesigen, lichtdurchfluteten und in Weiß gehaltenem Wohnzimmer gingen sie in einen mit grüngoldenen Brokattapeten tapezierten, engen Flur mit hohen Wänden und dann in eine Art Raucherzimmer. Hier standen schwere braune Ledersessel und Sofas. Die Wände mit dunklem Holz vertäfelt. Tageslicht fiel nur durch die an einer Seite gelegenen Fenster. An einigen Stellen wurde die Vertäfelung durch in die Wand eingelassene Bücherschränke unterbrochen. Obwohl auch dieser Raum sehr hoch war, drückte die schwere, hölzerne Kassettendecke nach unten. Sein Gastgeber durchschritt den Raum und zog zwei Flügel einer weit über Kopfhöhe hinausragenden Tür auf und ließ ihm den Vortritt. Das Arbeitszimmer war ebenso konservativ eingerichtet. Viel dunkles Leder, braunes Holz, massiver Schreibtisch aus Eiche. Aber Fenster zu drei Seiten. Ihm wurde bewusst, dass sich im vorderen Teil des Hauses die Ehefrau seines neuen Geschäftspartners wohlfühlte, er aber den alten Teil des Hauses vorzog. Er wollte die Entführung seines Sohnes in seinem Arbeitszimmer besprechen. Wie einen der vielen anderen Termine in seinem Tagesgeschäft. Problem erkennen, Problem lösen. Nächstes Vorhaben. Eine Situation, die, sofern sie sich bestätigen würde, ihm selbst sehr angenehm war. Keine Hysterie, keine Hektik. Nüchternes Abwickeln. Ihm wurde ein Clubsessel in einer Besprechungsecke zugewiesen. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen stand ein Humidor. Sein Gegenüber entnahm ihm eine Zigarre und bot ihm auch eine an. Er schüttelte den Kopf. „Ich rauche nicht.“ Mit einem langen Streichholz entzündete der Hausherr seine Zigarre und zog ein paar Mal kräftig an ihr. Dann schaute er beruhigt auf die Glut an ihrer Spitze und begann.

„Sie sind mir von Geschäftsfreunden empfohlen worden. Eigentlich bin ich in der Lage, meine Probleme selbst zu lösen. Aber in diesem Fall ... Meine Frau findet es besser, Sie einzuschalten. Also gut: Das Lösegeld steht ab morgen zur Verfügung. Spätestens übermorgen. Man sagte mir, Ihr Honorar beläuft sich auf zehn Prozent? Ganz schön viel. Kann man darüber noch mal sprechen?“

Er brauchte nicht zu überlegen. „Nein. Das Honorar ist nicht verhandel-bar.“

Mit mürrischem Blick zog der ihm gegenüber sitzende Mann an seiner Zigarre. Er schien es nicht gewohnt zu sein, auf preisdrückende Verhandlungen verzichten zu müssen. „Nun gut. Aber es trifft zu, dass Sie mir in der Höhe Ihres Honorars eine Rechnung für mein Geschäft schreiben?“

„So ist es. Es wird als Honorar für Leistungen meiner Firma in Rechnung gestellt. Ganz offiziell. Damit Sie es absetzen können. Und die Rechnungssumme wird vorab von Ihnen gezahlt. Entweder übergeben Sie mir morgen einen bankbestätigten Scheck oder veranlassen eine Blitzüberweisung, so dass das Geld übermorgen bei mir gutgeschrieben ist. Ich habe Ihnen die entsprechende Rechnung mit den erforderlichen Unterlagen für Ihre Buchhaltung mitgebracht.“

Er überreichte einen Plastikhefter, der ein vorgefertigtes Manuskript enthielt. Die Rechnung lag obenauf. Sein Geschäftspartner zog die Mundwinkel nach unten und griff sich den Hefter. Ein kurzer, prüfender Blick: Rechnungsnummer, Kontodaten, Steueridentifikationsnummer. Alles da, was das Finanzamt wollte.

„Wie geht es jetzt weiter?“

Endlich waren die Formalitäten für diese Geschäftsanbahnung erledigt. Er klappte sein Notizbüchlein auf. „Die Telefonnummer, die Ihre Frau dem Entführer gegeben hat, wird umgeleitet auf ein Handy, das ich ausschließlich für diesen Auftrag betreiben werde. Beim nächsten Anruf übernehme ich das Gespräch. Ich erkläre dem Entführer, in welcher Funktion ich agiere und gebe ihm Garantien.“

Dann erläuterte er, dass er sozusagen Notar beider Seiten dieses Geschäftes sei. Er sorge für die Rückkehr des entführten Sohnes und dafür, dass die Entführer sicher ihr Geld bekämen. Alles ohne Polizei, alles ruhig und gesittet. Eine Geschäftsabwicklung eben.

„Sorgen Sie dafür, dass dieser Anschluss nicht unnötig blockiert wird. Und richten Sie mir ein Gästezimmer hier im Haus ein. Wenn alles vernünftig funktioniert, wird die Abwicklung unseres Vorhabens nur wenige Tage in Anspruch nehmen. Ich erwarte von Ihnen vollstes Vertrauen, keine Maßnahmen, die ohne Rücksprache mit mir getroffen werden, keine Polizei, keine Einmischung und das Befolgen aller meiner Anordnungen.“

Der Hausherr paffte aggressiv an seiner Zigarre. Er war es schon lange nicht mehr gewohnt, Weisungen anderer zu befolgen. Das behagte ihm nicht. Das fiel ihm schwer. Es war ihm zuwider. Er spuckte ein kleines Stückchen Tabak aus und nickte widerwillig.

Der neue Gast im Haus bezog ein kleines Zimmer mit engem Duschbad in der oberen Etage der Villa. Es war nur spärlich eingerichtet und drängte dem Besucher das Gefühl auf, nur möglichst kurz bleiben zu sollen. Dauergäste wollte man hier im Hause nicht.

Noch am Abend klingelte sein Telefon. Er nannte seinen Namen. Der Anrufer schwieg einen Moment. Das kannte er. Die Anrufer in diesem Metier waren immer erst überrascht, machten sich Gedanken, wenn sie eine Stimme hörten, die ihnen nicht vertraut war. Aber eines war klar: Ihre Gier nach dem Geld ließ sie zögern, einfach wieder aufzulegen. Er wartete kurz, dann fuhr er fort. „Sie sind richtig verbunden. Ich bin nicht von der Polizei, sondern von der Familie hinzugezogen worden, die nervlich nicht in der Lage ist, diesen Vorfall ruhig und gewissenhaft abzuarbeiten.“ Er schob eine Pause ein, um seinem Gesprächspartner Zeit zu geben, sich auf diese Situation einstellen zu können. Aber er wartete nicht zu lange. „Ich bin dafür da, dass Sie Ihr Geld bekommen“ – das Wichtigste wie immer zuerst –, „und dass das Kind wieder unversehrt nach Hause zurückkommt. Können wir auf dieser Ebene zusammenarbeiten?“

„Sind Sie Privatdetektiv oder so etwas?“ Er registrierte, dass er gesiezt wurde. Ein Zeichen von Respekt und Akzeptanz.

„Nein. Ich bin Vermittler. Ich arbeite wie ein Notar. Ich achte darauf, dass beide Seiten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Spezialisiert auf Geschäftsvorhaben wie dieses. Die betroffenen Familienangehörigen sind meistens zu nervös, um ein solches Geschäft ruhig und zur Zufriedenheit aller Beteiligten abzuwickeln. Dafür gibt es mich. Möglicherweise haben wir schon einmal zusammengearbeitet. Wenn Sie neu im Geschäft sind, werden Sie die Erfahrung machen, dass alles reibungslos verlaufen wird. Ich vertrete also nicht alleine die Interessen der Familie, sondern auch Ihre. Können wir auf dieser Basis zusammenarbeiten?“ Er fragte noch einmal. Er war bei der entscheidenden Frage angekommen. Er brauchte ein klares „Ja“. Doch sein Gesprächspartner war noch unentschlossen.

„Sie meinen also, Sie machen das alles. Ich kriege mein Geld, ich gebe Ihnen den Jungen. Und das warʼs dann?“ Ungläubigkeit sprach aus dieser Stimme. Es war also das erste Mal für ihn. Das machte es schwieriger.

„Genau so wird es sein. Falls Sie in der Branche Kontakte haben, erkundigen Sie sich nach mir. Man wird mich kennen. Jedenfalls in der gehobenen Kategorie, in der Sie sich bewegen.“ Ein wenig Schmeichelei war nicht falsch.

„Und wie geht das jetzt weiter?“ Endlich. Er hatte gewonnen.

„Notieren Sie sich eine Handynummer. Sie wird nur für dieses Geschäft benutzt werden. Danach nie wieder. Es gibt keine Fangschaltung. Keine Aufzeichnungen. Rufen Sie mich nur noch auf dieser Nummer an. Ich möchte in Kürze persönlich mit dem Kind sprechen und mich vergewissern, dass es ihm gutgeht. Danach können wir die Übergabe absprechen. Falls Ihre Vorschläge dafür nicht zu abwegig sind, werde ich auf alles eingehen. Ich übergebe das Geld persönlich. Ohne Begleitung. Keine Bewaffnung. Gewalt liegt mir fern und hat in unserem Geschäft nichts zu suchen. Sie können sich maskieren oder nicht. Das ist mir gleichgültig. Alles, was ich über Sie erfahre, wird von mir nicht weitergegeben. Das garantiere ich. Sonst wäre ich längst nicht mehr in diesem Geschäft. Kommen wir so überein?“

„Ich weiß noch nicht. Ich muss darüber nachdenken. Ich melde mich wieder.“

Er gab dem Entführer die Handynummer weiter und beendete das Gespräch. Alles war nach Plan gelaufen. Der Kontakt lief nur noch über ihn. Die Familie war ausgeschaltet. Risikominimierung. Einziger Wermutstropfen war, dass er es mit einem Ersttäter zu tun hatte. Da er wahrscheinlich nicht über einschlägige Kontakte verfügte, konnte er sich auch kein Bild von ihm und seiner Vertrauenswürdigkeit machen. Sein persönliches Risiko lag in der Geldübergabe. Wenn der Entführer keine Zeugen haben wollte, war nicht nur der Junge tot, sondern auch er selbst. Bei der Übergabe würde er sicher noch lebend präsentiert werden. Aber dann? Doch er machte sich darüber weiter keine Gedanken. Er hing nicht am Leben. Wenn es vorbei war, dann war es eben so. Und bislang hatte er noch jedes seiner diesbezüglichen Vorhaben zur Zufriedenheit aller gelöst. Tote oder Verletzte hatte es noch nie gegeben. Und nachträgliche Ermittlungen der Behörden auch noch nicht. Dafür war seine Tarnung einfach zu perfekt.

Manchmal, wenn Entführer auf die Hinzuziehung seiner Person bestanden, hatte er schon das Gefühl, dass der von ihm garantierte reibungslose Verlauf eines solchen Geschäfts den einen oder anderen Täter motivierte, gefahrlos eine weitere Entführung planen zu können, wenn das Geld mal wieder zu Ende war. Aber diese Gedanken belasteten ihn nicht wirklich. Entführer entführten eben. Und wenn er dafür sorgen konnte, dass alles einigermaßen glimpflich verlief, war er mit seiner Arbeit zufrieden. Das Geld interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er hatte genug davon. Und nebenbei sorgte er dafür, dass die deutsche Kriminalstatistik nicht mit weiteren, besorgniserregenden Kapitalverbrechen belastet wurde. Und so hatten alle etwas davon. Die Politik eine funktionierende Sicherheit, die Angehörigen der Entführten ihre Lieben heil zurück. Sein Honorar konnten sie von der Steuer absetzen; er versteuerte es regulär. Und für die eigentliche Lösegeldsumme konnte in diesen Kreisen meist eine Regelung mit dem Finanzamt getroffen werden, falls sie nicht sowieso von einem Schwarzgeldkonto beglichen wurde. Und die Entführer führten das Lösegeld meistens gleich wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück, an dem das Gemeinwohl wenigstens mit der Mehrwertsteuer beteiligt war. Und Kriminalbeamte, die bei der Involvierung in solche Fälle das Leben der Entführten alleine schon durch ihre Einbeziehung gefährdeten, konnten sich um andere Dinge kümmern, die bestimmt auch wichtig waren. Nein, er hatte keinen Zweifel daran, dass er eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft übernommen hatte und irgendwo auch der Allgemeinheit diente. Im Kleinen wie im Großen.

Mechthild Kayser saß an diesem Sonntag mit ihrer Freundin Ayse Günher in einem der kleinen Cafés am Ufer der Daugava und genoss im strahlenden Sonnenschein ihren letzten Cappuccino in Riga. Nach ihrem zurückliegenden Fall in Bremen waren sie beide einer Einladung Laima Neumanes, der Chefin der dortigen Mordkommission, gefolgt und hatten eine Woche im schönen Riga, der Partnerstadt Bremens, verbracht. Nach einem opulenten Frühstück im Hotel de Rome, das in einem Joint Venture zwischen Riga und einem Bremer Bauunternehmer errichtet worden war, und in dem sie unter Ausnutzung bestimmter Verbindungen zu einem Vorzugspreis wohnen konnten, ließen sie nun die Zeit verstreichen, bis sie um elf Uhr mit ihrer Rigaer Kollegin an der nahegelegenen Freiheitsstatue verabredet waren. Ihre Hotelrechnung war bezahlt, und ihr Gepäck hatten sie in Sichtweite des Portiers in der Eingangshalle deponiert.

Das Wasser der Daugava glitzerte, als wenn es mit Lametta bedeckt wäre, und kleine Boote dümpelten in der Nähe des Ufers. In ihnen Männer, die Angelruten in die verspielten Fluten hielten und auf guten Fang hofften. Von der hiesigen Altstadtseite blickte man über den Fluss in die Neustadt, die sich mit ihren modernen Bauten völlig anders zeigte. Die Altstadt war gekennzeichnet von klassizistischen und im Jugendstil errichteten Gebäuden, die Mechthild ein wenig an ihr geliebtes Ostertor in Bremen erinnerten. Sie hatten mit Laima die Große Gilde und den prunkvollen Dom besichtigt, waren dem Trubel in den Markthallen begegnet und konnten an einem Abend das Rigaer Staatsorchester im Kleinen Konzerthaus bewundern. Es war eine gute Idee gewesen, nach den Aufregungen in Bremen um den Mord an Christian Dunker die Partnerstadt zu besuchen und sich von Laima entspannt ablenken zu lassen. Gestern Abend waren sie zusammen noch einmal um die Häuser gezogen, und Laima öffnete für ihre beiden Gäste das Schatzkästchen der kleinen, oft verborgenen Insider-Treffpunkte der Stadt. Dort, wohin sich kein Tourist ohne versierten Fremdenführer verirren konnte, wo die Künstler und Originale der Stadt sich trafen, die intellektuelle Elite verkehrte, sich austauschte oder einfach nur ihrem Vergnügen nachging. Einem Vergnügen, das häufig daraus bestand, Unmengen von Cognac zu trinken. Sehr zum Leidwesen Mechthilds, die aber, um Laima nicht zu verletzen, wacker mithielt, bis sie irgendwann doch aufgab und sich zurück auf den Weg in ihr Hotelzimmer machte, während Ayse noch lange nicht Schluss machen wollte. Sie war eben doch einige Jahre jünger, und ihre Neugier auf alles Fremde weitaus größer. Und es war Mechthild im Laufe des Abends nicht entgangen, dass Laimas Interesse an Ayse über ein kollegial-freundschaftliches hinausging. Zeitweise hatte sie das Gefühl, dass Laima die Nähe zu Ayse geradezu suchte, und irgendwann wurde ihr klar, dass ihre Kollegin aus Riga ein ganz natürliches Interesse an Frauen hatte. Aber das war für sie nicht der Grund, ins Hotel zurückzukehren. Es war ohne Zweifel der immense Alkoholkonsum.

Doch jetzt, an der Daugava, war Mechthilds Neugier geweckt. Sie hatte wohl bemerkt, dass Ayse erst in den frühen Morgenstunden zurück ins Hotel kam, noch sehr beschwipst und guter Laune.

„Und? Wie war es gestern Abend noch?“ erkundigte sich Mechthild etwas unbeholfen bei ihrer Freundin.

„Schön! Wir waren anschließend noch bei Laima zu Hause. Du hast es ja sicherlich mitgekriegt. Und es war schön. Ganz anders, als ich dachte. Aber ich weiß nicht, ob es mein Ding ist. Wahrscheinlich nicht.“

Mechthild erwiderte nichts. Sie sah auf die Uhr. „Wir müssen los. Es ist gleich elf.“

Sie verließen das Ufer der Daugava und schlenderten zurück in die Altstadt. Schräg gegenüber ihrem Hotel am Ende der Kalku iela konnten sie die Freiheitsstatue schon sehen. Ein über vierzig Meter hoher Obelisk, auf dem eine Frau aus Bronze, gewappnet mit Schwert und Schild, mehrere Sterne an den ausgestreckten Armen in den Himmel hält. Die Mutter Heimat. Unter der nationalistischen Inschrift „Für Vaterland und Freiheit“ wartete schon eine gutgelaunte Laima. Sie umarmte ihre beiden Kolleginnen, drückte Ayse ein Küsschen auf die Wange und erläuterte, dass sie beide zum Abschluss ihres Besuchs ins Museum für Stadtgeschichte und Seeschifffahrt einladen würde. Dort könnten sie nicht nur Stücke des legendären Silberschatzes der Schwarzhäupter bestaunen, obwohl es zugegebenermaßen nur noch wenige waren, wie Laima einschränkte, sondern auch viele andere Zeugnisse der Verbundenheit der beiden Hansestädte Riga und Bremen betrachten.

Auf dem Weg ins Museum klingelte Mechthilds Handy.

Andresz schloss den Hintereingang seines kleinen ungarischen Restaurants in der Friedrich-Humbert-Straße ab und ging den schmalen Gang zwischen den Häusern nach vorne zum Gehweg. Wie jeden Morgen, bis auf montags, wenn Ruhetag war, hatte er Gemüse geschnitten, die Paprikasoßen zubereitet und Fleisch aus dem Kühlhaus geholt. Vorbereitungsküche eben. Jetzt hatte er noch bis nachmittags Zeit. Dann würde er zurückkehren und die Tische eindecken, die Speisekarten kontrollieren und gegebenenfalls ein neues Fass Bier anstechen. Wie schon oft zwischen seinen Pflichten ging der kleine runde Mann nun die Tidemanstraße hinunter bis an die Lesum, deren Wasser diesen Teil des Bremer Nordens begrenzte, bis sie in Vegesack auf die Weser stieß. Er lief entlang des tief in die Landschaft eingebetteten Flusses Richtung Süden, machte Halt am Grohner Bootshafen, wo er sich die Boote ansah und sich vorstellte, wie es wäre, mit einem der Segelboote über die Meere zu schippern. Dann spazierte er weiter, bis er oben im Knoops Park das Haus Schottek, einen ehemaligen Landsitz einer reichen Familie, erspähen konnte. Er stieg die Treppen hinauf, die rücklings hinter dem Gebäude endeten. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zu seinem Lieblingsplatz in diesem Park. Er erreichte die hinter dem ehemaligen, seit Jahren leerstehenden Schwesternwohnheim gelegene Aussichtsplattform und ließ sich auf einer der Bänke nieder. Von dieser Anhöhe aus schweifte sein Blick über die unter ihm friedlich fließende Lesum und auf ihr gegenüberliegendes grünes Ufer. Ja, das ist ein schöner Platz, sagte er zu sich selbst und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn er hier ein großes Café errichten könnte. Sein Traum. Er stand auf und wandte der Lesum den Rücken zu, sah auf den an einer Seite offenen Atriumbau aus roten Backsteinen des verlassenen Schwesternwohnheimes, und vor seinem inneren Auge wurde der Innenhof von einem gläsernen Dach gedeckt, überall an runden Tischen saßen Gäste, junge Kellnerinnen transportierten auf großen Tabletts Tee- und Kaffeekännchen und natürlich herrliche Tortenstücke. Er schritt die wenigen Meter voran und stand nun direkt im Hof des maroden Gebäudes aus den siebziger Jahren. Er bemerkte nicht die desolaten, verrosteten Kinderspielgeräte, die zum Teil aus ihren Verankerungen gerissen waren, die schmutzigen Fenster und das zwischen den Bodenplatten wuchernde Unkraut, das schon lange keiner mehr beseitigte. Für ihn lag Kaffeegeruch in der Luft. Genau hier müsste ein Café sein. Sein Café. Mitten im Knoops Park mit Aussicht auf die Lesum. Aber leider hatten die Besitzer dieser Immobilie so gar kein Einsehen mit ihm. Eine private Immobiliengesellschaft, die in dem Ruf stand, an eine sogenannte „Heuschrecke“ verkauft worden zu sein, hatte ihm eine Kaufsumme genannt, die jedes weitere finanzielle Engagement ad absurdum führen würde. Keine Chance für ihn und sein Vorhaben. Mit dieser Erkenntnis war auch sein träumerischer Zustand wieder mal zu Ende. Jetzt hieß es, sich auf den Rückweg zu machen. Er schlenderte an den Fenstern des Erdgeschosses vorbei und stellte fest, dass eine Scheibe über und über mit dicken schwarzen Fliegen bedeckt war. Mal wieder ein Igel oder ein Fuchs. Das erlebte er nicht zum ersten Mal. Immer war in diesem alleingelassenen Haus irgendeine Tür nicht richtig zu. Oder Jugendliche hatten mal wieder etwas eingeschlagen. Dann rannte so ein armes Tier ins Gebäude, fand nicht wieder hinaus und verendete in einem der leerstehenden Appartements. Andresz sah sich um. Im Zwischenbau, der die beiden Haupthäuser verband, war eine Tür ohne Griff nur angelehnt. Ohne zu zögern, und weil kein anderer außer ihm sich diesem Gemäuer gegenüber verantwortlich fühlte, trat er ins Haus ein, wandte sich nach links und stieg die wenigen Stufen zum Flur mit den kleinen Appartements hinauf. Es musste eine der hinteren Türen auf der linken Seite sein, und beim zweiten Versuch hatte er auch schon die richtige erwischt. Das Schloss der Tür war herausgebrochen, irgendein Vandalismus, dachte Andresz, und das Summen der Fliegen war sogar von außen zu hören. Als er die Tür öffnete, kam ihm nicht nur ein ekelhafter Geruch, sondern sofort auch ein ganzer Schwarm dicker schwarzer Schmeißfliegen entgegen, die versuchten, auf seinem Gesicht zu landen. Mit beiden Händen wedelte er sich den Blick frei, und zu seiner Überraschung war es weder ein Fuchs noch ein Igel, der da auf dem Boden lag und langsam verweste. Es war eindeutig ein Mensch gewesen, über dessen Reste jetzt die Fliegen kreisten und in dessen offener Bauchhöhle die Maden fraßen, und der zudem noch diesen Gestank verbreitete, der Andresz sofort Reißaus nehmen ließ. Endlich wieder im Freien, rief er die Polizei.

„Jetzt noch mal von vorn, Herr Kollege. Ich habe einen schlechten Empfang und nur die Hälfte verstanden.“ Mit einer Handbewegung wies Mechthild Kayser Laima und Ayse an, zu verharren. Gespannt starrten die beiden auf ihre Kollegin, und mit Besorgnis registrierten sie ihren ernsten Gesichtsausdruck. Der sah plötzlich sehr dienstlich aus.

„Okay“, antwortete Mechthild in ihr Handy. „Ich bin zurzeit in Lettland, aber komme um vierzehn Uhr am Bremer Flughafen an. Schicken Sie mir einen Wagen zur Ankunftshalle. Und alarmieren Sie Herrn Heller und Herrn Souton. Die können schon mal die ersten Maßnahmen einleiten. Gut, bis dann.“

„Arbeit?“ fragte Ayse, obwohl sie wusste, dass es um nichts anderes in diesem Telefonat gegangen sein konnte.

„Ja, eine Leiche irgendwo in Bremen-Nord in einem Park. Mehr weiß ich auch noch nicht.“ Und an Laima gewandt: „Mit dem Museum wird es wohl nichts mehr. Tut mir leid, aber ich muss jetzt mit Ayse zum Flughafen. Während wir auf die Maschine warten, können wir schon einige Vorbereitungen treffen.“

„Keine Frage“, erwiderte Laima und eilte mit den beiden zurück ins Hotel de Rome. Dort organisierte sie einen Streifenwagen, der ihre Kolleginnen zum Flughafen bringen sollte. Der Wagen kam, und der Abschied wurde kurz. Mechthild und Ayse waren mit ihren Gedanken schon längst wieder in Bremen.

„Versuch uns doch mal in Bremen zu besuchen“, lud Mechthild Laima noch schnell ein. Dann schlug sie die Wagentür zu, und ab ging es zum Rigaer Flughafen.

In der Abflughalle organisierte sich Mechthild von einem Kellner einen Schreibblock und begann erste Notizen zu machen. Zumindest versuchte sie es. Aber sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. So jäh war sie noch nie aus einer Urlaubsstimmung herausgerissen worden. Ayse saß auf einem blauen Kunststoffsessel, versuchte über ihr Handy eine E-Mail an den Bremer Kriminaldauerdienst zu senden und forderte weitere Informationen ein. Aber eine Antwort erhielt sie nicht. Endlich wurde ihr Flug aufgerufen, und sie begaben sich zum Ausgang. Im Flugzeug wurden die beiden freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass der Betrieb von Mobiltelefonen während des Fluges nicht erlaubt war.

„Ja, gleich!“ besänftigte Mechthild die Stewardess und bat um etwas Geduld. Dann hatte sie endlich ihre gewünschte Verbindung. „Fritz? Hier ist Mechthild. Mein Schatz, hast du von dem Leichenfund in Bremen-Nord schon gehört?“ Sie wartete eine Antwort ab. „Gut. Machst du das selbst, oder schickst du einen deiner Leute?“

Die Stewardess beugte sich etwas weiter zu Mechthild herunter. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich sehr wohl in der Lage fühlen würde, Mechthild des Flugzeuges zu verweisen, wenn sie ihr Handy nicht endlich abstellen wollte.

„Ich muss Schluss machen, mein Schatz. In ein, zwei Stunden bin ich am Tatort.“ Mit einem um Verständnis ringenden Lächeln an die Stewardess schaltete Mechthild ihr Telefon aus.

Eine gute Stunde später landete die Maschine auf dem Bremer Airport. Ungeduldig warteten die beiden auf ihr Gepäck. Und wie das scheinbar immer so ist, wenn man es eilig hat, kamen ihre Koffer fast zuletzt.

Eine junge Polizistin in Uniform wartete hinter dem Tresen der Zollkontrollstelle. Höflich bot sie an, Mechthilds Koffer zu tragen, aber die lehnte dies mit einer Handbewegung ab und marschierte eilig Richtung Ausgang. Ayse folgte ihr schnellen Schrittes. Der Streifenwagen stand direkt vor der Ankunftshalle. Da der Kofferraum mit Einsatzgegenständen gefüllt war, verstauten sie die beiden Koffer auf der Rückbank. Mechthild nahm auf dem Beifahrersitz Platz und wandte sich der hinter ihr sitzenden Ayse zu. „Guck nach, ob du mittlerweile eine Antwort bekommen hast.“ Dann griff sie nach dem Hörer des Funkgerätes und stellte den Kanal des KDD ein. Bevor sie jedoch Kontakt aufnehmen konnte, tönte es aus dem Fond: „Männliche, unbekannte Leiche. Starke Verwesungsspuren. Fundort ist ein leerstehendes Schwesternwohnheim im Stadtteil St. Magnus.“

„Das ist im Knoops Park“, ergänzte die Polizistin am Steuer. „Feine Gegend da oben.“

Mechthild schaute zur Seite. „Kennen Sie sich dort aus?“

„Mein Vater ist auch Polizist gewesen. Irgendwann übernahm er einen Revieraußenposten, der direkt im Park lag. Aber jetzt ist er längst pensioniert. Und die kleine Wache im Park gibtʼs auch nicht mehr.“ Dann erzählte sie, was sie wusste. „Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörte der ganze Park dem reichen Unternehmer Baron Knoop, der für seine Verdienste um die russische Wirtschaft vom Zaren geadelt worden war. Knoop hatte im russischen Zarenreich eine große Baumwollindustrie aufgebaut. Aber nach dem Krieg mit Beginn der russischen Revolution verlor er alles und verarmte. Seine Ländereien im Bremer Norden fielen an die Stadt. Übrig blieb ein ausgedehnter Park mit mehreren großen Villen, die er für seine Töchter errichtet hatte. Sein eigenes Schloss verfiel und wurde abgerissen. In einer der Villen wurde Jahrzehnte später eine Krankenheilanstalt untergebracht. Und da man in der Nähe Wohnraum für die Krankenschwestern benötigte, wurde in den sechziger oder siebziger Jahren mitten im Park das besagte Schwesternwohnheim errichtet. Aber die Krankenheilanstalt ist längst aufgelöst und somit auch das Wohnheim nach einer kurzen Nutzung für Aussiedler seit langem leerstehend.“

„Und wem gehört das Gebäude heute?“ wollte Mechthild noch wissen.

„Irgendeiner Immobiliengesellschaft, glaube ich. Die versuchen mit dem Grundstück zu spekulieren. Das liegt ja auch ganz toll. Mitten im Park mit Blick auf die Lesum.“

Mittlerweile hatte der Streifenwagen die Autobahn 27 Richtung Norden verlassen und war auf eine kleine Stadtautobahn geraten. Als die Abfahrt Lesum angekündigt wurde, setzte die Fahrerin den Blinker. Sie passierte den kleinen Vorstadtbahnhof und bog dann in die Schneiderstraße ein, die im weiteren Verlauf Auf dem Hohen Ufer hieß und schon am Park entlangführte. In Höhe einer Bushaltestelle bog sie nach links auf einen Weg in den Park ein. „Das darf man normalerweise nicht. Aber so kommen wir direkt zum Schwesternwohnheim.“

Ayse hatte aufmerksam zugehört. „Heißt das, das bleibt nicht unbemerkt, wenn zum Beispiel jemand die Leiche mit einem Auto zum Wohnheim gebracht hat?“

Die junge Polizistin überlegte einen Augenblick. „Zumindest wäre das sehr riskant.“

Langsam zuckelten sie einen befestigten Spazierweg entlang, der zu beiden Seiten von dichten Rhododendronbüschen gesäumt war. Kurze Zeit später tauchte vor ihnen das zweigeschossige Gebäude aus rotem Backstein auf. Mechthild und Ayse stiegen aus und stellten ihre Koffer neben den Bus des Erkennungsdienstes. Die junge Polizistin verabschiedete sich. Sie musste zurück auf ihr Revier in die Neustadt.

Mechthild sah sich um. Ein prächtiger Park mit altem Baumbestand und großzügigen Rasenflächen erschloss sich ihr. Am Ende des Fußweges, der von hier bis zur Straße führte, standen alte Backsteingebäude. Eines davon mit einem unübersehbaren Turm, an dessen einer Flanke eine große Uhr auszumachen war.

„Wirklich schön hier“, sagte sie vor sich hin.

„Bis auf das Schwesternwohnheim“, ergänzte Ayse. „Das ist doch ein echter architektonischer Schandfleck in dieser Umgebung.“

Mechthild nickte. „Wir müssen wissen, ob die Häuser dort an der Straße bewohnt sind. Vielleicht hat man dort etwas bemerkt.“

Ayse machte sich gleich auf den Weg.

Mechthild bückte sich unter das Absperrband des Erkennungsdienstes und betrat den Gebäudekomplex von der offenen Seite. Sie registrierte, dass das Parkgelände hier gleich nach der Aussichtsplattform tief abfiel und den herrlichen Blick auf die unten fließende Lesum freigab. „Auch die schönste Umgebung schützt nicht vor dem Bösen“, seufzte sie und wandte sich dem Schwesternwohnheim wieder zu. Hier bat sie einen Beamten des ED um Gummihandschuhe und Überzieher für die Schuhe. Einen parfümierten Mundschutz gegen den Geruch lehnte sie ab. Am hinteren Eingang zum Gebäude stand Fritz Behrmann, ihr Geliebter und Leiter des Bremer Erkennungsdienstes. Sie küssten sich zaghaft zur Begrüßung. Seit geraumer Zeit wussten alle im Präsidium, dass sie ein Verhältnis hatten, und so versteckten sie es nicht mehr. Fritz Behrmann roch nach Verwesung. „Zurzeit ist noch Dr. von Sülzen drin“, erklärte er. „Und unser Fotograf.“

„Hast du schon Anhaltspunkte?“

„Nee, die Person ist schon stark verwest. Auf den ersten Blick ein Mann. Das warʼs dann auch schon fast. Aber die Haut der Fingerkuppen ist noch ganz gut erhalten. Wenn er bei uns schon mal aufgetaucht ist, weißt du heute Abend, wer er war.“