Wille zur Macht - Joe Schlosser - E-Book

Wille zur Macht E-Book

Joe Schlosser

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  • Herausgeber: Fuego
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Nicaragua 1985. Die USA unterstützen die paramilitärische Terrorgruppe Contras bei ihrem Kampf gegen die als kommunistisch erachtete sandinistische Regierung. Um die Bevölkerung vor den Angriffen der Contras zu schützen und den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, macht sich Christian Dunker als Brigadist auf den Weg in das Grenzgebiet Nicaraguas. Noch ahnt er die weitreichenden Folgen seines Handelns nicht ... Zwanzig Jahre später wird in einer Bremer Mietwohnung eine grausam zugerichtete Leiche entdeckt - Dunker ist ermordet worden. Die Leiterin der Mordkommission, Mechthild Kayser, und ihr Team stehen vor einem undurchsichtigen Fall. Was zuerst wie ein Racheakt aussieht, nimmt schnell ungeahnte Ausmaße an. Die Ermittlungen führen bis in lokalpolitische Kreise. Sogar die russische Mafia und der Bremer Verfassungsschutz scheinen eine tragende Rolle zu spielen. Schnell wird Mechthild Kayser klar: Wenn sie diesen Fall lösen will, kann sie sich nur auf sich selbst und ihre Instinkte verlassen - denn trauen kann sie niemandem mehr. Ein spannender und intelligenter Krimi über Politik und Macht, der eine Brücke schlägt zwischen den revolutionären Zeiten der achtziger Jahre und dem heutigen Bremen.

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Joe Schlosser

Wille zur Macht

Mechthild Kaysers zweiter Fall

FUEGO

- Über dieses Buch -

Nicaragua 1985. Die USA unterstützen die paramilitärische Terrorgruppe Contras bei ihrem Kampf gegen die als kommunistisch erachtete sandinistische Regierung. Um die Bevölkerung vor den Angriffen der Contras zu schützen und den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, macht sich Christian Dunker als Brigadist auf den Weg in das Grenzgebiet Nicaraguas. Noch ahnt er die weitreichenden Folgen seines Handelns nicht ...

Zwanzig Jahre später wird in einer Bremer Mietwohnung eine grausam zugerichtete Leiche entdeckt – Dunker ist ermordet worden. Die Leiterin der Mordkommission, Mechthild Kayser, und ihr Team stehen vor einem undurchsichtigen Fall. Was zuerst wie ein Racheakt aussieht, nimmt schnell ungeahnte Ausmaße an. Die Ermittlungen führen bis in lokalpolitische Kreise. Sogar die russische Mafia und der Bremer Verfassungsschutz scheinen eine tragende Rolle zu spielen. Schnell wird Mechthild Kayser klar: Wenn sie diesen Fall lösen will, kann sie sich nur auf sich selbst und ihre Instinkte verlassen – denn trauen kann sie niemandem mehr …

Ein spannender und intelligenter Krimi über Politik und Macht, der eine Brücke schlägt zwischen den revolutionären Zeiten der achtziger Jahre und dem heutigen Bremen.

Frühjahr 1985

„Das ist hier kein pseudodemokratisches Gremium! Wir tragen die Verantwortung dafür, dass die Brigaden so zusammengestellt werden, dass sie vor Ort ihre Arbeit im Sinne der internationalen Solidarität erfolgreich durchführen können. Wir kennen die Verhältnisse vor Ort. Ihr nicht! Deshalb treffen wir die Entscheidung, wer fährt und wer nicht!“

Mit diesen markigen Worten beendete Thomas M. von seinem Podest aus eine gerade aufkeimende Diskussion. Die beiden Männer und die Frau, die neben ihm saßen, nickten zustimmend.

Ein Raunen ging durch den Raum. Autoritäres Gehabe war allen Anwesenden ein Gräuel. Viele der Frauen und Männer im Saal des alternativen Kulturzentrums im Hamburger Schanzenviertel hatten schon eine Reihe negativer Erfahrungen mit den sogenannten Autoritäten in Deutschland gemacht. Sie hatten schon immer und bei vielen Gelegenheiten grunddemokratische Strukturen in der politischen Auseinandersetzung in Deutschland eingefordert. Blinde Unterordnung war ihnen zuwider. Sie waren daran gewöhnt, dass Entscheidungen begründet und diskutiert wurden.

„Die Betroffenen an der Diskussion zu beteiligen, würde eine objektive Entscheidung im Sinne der Sache verhindern“, fuhr Thomas M. fort und wurde wieder ruhiger. „Darum haben wir uns entschlossen, eine demokratische Entscheidung nur in unserem Gremium herbeizuführen. So wird es auch von der Sandinistischen Befreiungsfront erwartet, um zu verhindern, dass über uns Konterrevolutionäre ins Land geschleust werden. Das habt ihr zu akzeptieren!“

Christian Dunker saß inmitten der Zuhörer und hatte nicht geraunt. Er fühlte sich nicht in der Lage, Entscheidungen darüber zu treffen, wer der Brigade angehören sollte oder nicht. Wenn sie ihn nicht auswählen sollten, wäre das auch nicht so schlimm für ihn. Dann machte er eben in Deutschland seine Solidaritätsarbeit weiter. Vielleicht klappte es dann ja später einmal. Er würde es auf jeden Fall wieder versuchen.

Denn hier wollte er nicht bleiben. Er hoffte in Nicaragua eine neue Aufgabe für sich zu finden. Schließlich war er Lehrer. Zumindest beinahe. Denn zum Referendariat war er nicht zugelassen worden. Die Bildungsbehörde zweifelte sein Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung an.

Er, der seit Jahren dafür gekämpft hatte, dass die Buchstaben des Grundgesetzes in die Wirklichkeit umgesetzt wurden, war plötzlich zum Staatsfeind erklärt worden. Weil die Würde des Menschen für ihn weiter reichte, als nur bis an den Rand eines Stammtisches. Nur weil ihm die Verpflichtung des Eigentums mehr bedeutete, als Fabriken zu bauen und Arbeiter zu knechten. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war für ihn eine Erfahrung, kein intellektuelles Geschwafel. Als die milliardenschwer mit Steuergeldern subventionierte Atomindustrie ihren gefährlichen Dreck nicht anders loswerden konnte, als ihn in einem stillgelegten Salzbergwerk unter die Menschen zu bringen, da entschloss auch er sich zum aktiven Widerstand. In der Nähe von Gorleben blockierte er damals zusammen mit Dorfbewohnern und einem Heuwagen eine Straße. Die Menschen aus dem angrenzenden Dorf hatten darauf bestanden, dass die Straßenblockade unbedingt passiv und friedlich verlaufen sollte. Das war die Bedingung für ihre Beteiligung. Sie wollten keine Gewalt. Und das wurde absolut eingehalten.

Die Polizei war sowieso eindeutig in der Übermacht. Sie hätten jeden der wenigen Demonstranten mit drei oder vier Beamten gleichzeitig wegtragen können. Aber das taten sie nicht. Als sie mit erhobenen Knüppeln johlend losstürmten, erschreckten sich die Menschen so sehr, dass sie sofort aufsprangen und davonrannten. Auch Christian Dunker wollte sich schnellstens davonmachen, aber er hielt inne, als er sah, wie neben ihm eine alte Frau aus dem Dorf hinfiel. Er wollte ihr aufhelfen, aber als die Polizisten sie erreichten, legte er sich nur noch schützend über sie. Mehrere Beamte prügelten auf ihn ein. Trotz der Schmerzen war seine größte Sorge, dass die alte Frau unter ihm ersticken könnte.

Als sie von ihm abließen, rutschte er langsam von der zitternden Frau. Jetzt war sie es, die ihm aufhelfen musste. Seine Beine schmerzten so sehr, dass er kaum laufen konnte. Ihm rann Blut übers Gesicht.

„Erst die Nazis und jetzt das!“ sagte die alte Frau und schob ihn von der Straße herunter in einen Feldweg, während mit einem lauten Krachen ein Sonderwagen der Polizei gegen den Heuanhänger fuhr und ihn von der Straße in den Graben drückte.

Dunker schreckte auf. Im Saal ging es weiter. Das kleine Zentralkomitee auf dem Podium begann die Namen derer zu verlesen, die als Brigadisten ins Kriegsgebiet nach Nicaragua entsandt werden sollten. Sein Name war dabei. Ein Gefühl der Aufregung durchfuhr seinen Magen. Jetzt wurde es wirklich ernst. Einerseits fühlte er sich durch die Auswahl seiner Person in seiner jahrelangen Arbeit für Lateinamerika bestätigt. Aber andererseits war ihm auch ein wenig mulmig bei der Sache. Er hatte keine große Ahnung von dem, was ihn erwartete. Aber jetzt stand unwiederbringlich fest: Er flog nach Nicaragua und trat in eine bewaffnete, internationale Brigade ein. Zum Kampf gegen die Contra, diese vom Westen unterstützte Söldnerarmee, die die neue nicaraguanische Revolutionsregierung niederkämpfen sollte. Und zum Schutz eines Dorfes im Grenzgebiet zu Costa Rica.

Zwei Monate später hob die Maschine der Cubana Airlines vom Flughafen in Ostberlin ab und nahm Kurs auf Havanna. Nach vielen Stunden gab es einen Zwischenstopp in Gander auf Neufundland. Dann ging es direkt in die kubanische Hauptstadt, und die Maschine rollte nach der Landung auf dem Flughafen José Marti vor den Eingang für Transitreisende.

„Bienvenido“ stand in großen Lettern über der Tür.

Es dauerte einige Zeit bis das Bodenpersonal eine Gangway ans Flugzeug geschoben hatte. Aber dann ging es hinaus in die schwüle Luft Kubas. Es war kurz nach Mittag, und eine brennende Sonne stand hoch am Himmel. Zwei uniformierte Frauen mit überdimensionierten Revolvern an der Seite geleiteten die Brigadisten in einen Wartesaal und wiesen sie an zu warten. Und so wartete Dunker mit etwa zwanzig seiner Mitbrigadisten darauf, dass es weitergehen würde. Aber es ging nicht weiter. Stunde um Stunde verstrich, und in dem nicht klimatisierten Raum wurde die Luft heiß und stickig. Ab und zu schaute ein Uniformierter herein, aber alle an ihn gerichteten Fragen beantwortete er nur mit einem langgezogenen „tranquilo, tranquilo“.

Nach fast fünf Stunden wurden sie erlöst. Sie durften den Raum verlassen und in das Flughafenrestaurant wechseln. Hier gab es eine funktionierende Klimaanlage und jede Menge Getränke. Dunkers Durst war groß. Er orderte zwei eiskalte, kubanische Colas und versuchte, gegen die in seine Nase aufsteigende Kohlensäure ankämpfend, die erste mit einem Zug zu leeren. Es gelang ihm nicht.

Irgendwann sickerte durch, dass ihr Anschlussflug in Nicaraguas Hauptstadt Managua erst am kommenden Morgen abgehen würde. Das bedeutete für alle eine lange und ungemütliche Nacht auf dem Flughafen. Ihnen wurde erklärt, dass sie das Restaurant nicht verlassen durften, und so machten sie es sich so bequem wie möglich, um zu lesen, zu quatschen oder sich auszuruhen. Dunker versuchte, es sich auf einem harten Plastiksitz mit seiner Parkajacke gemütlich zu machen und zu schlafen. Im Sitzen. Es klappte nicht. Irgendwann schliefen seine Beine ein, und er musste sich bewegen, um wieder Blut in die abgedrückten Adern zu bekommen.

Spät am Abend wurde die Deckenbeleuchtung im Restaurant ausgeschaltet, und das Personal ging nach Hause. Die Nacht draußen vor den Panoramafenstern war schwarz. Nur einige Lampen an den Wänden warfen noch mattes Licht in den Raum. Da niemand die Klimaanlage regelte, wurde es am frühen Morgen ziemlich kühl im Restaurant, und die meisten der Brigadisten begannen zu frieren. Mitten in der Karibik. Keiner hatte wärmende Kleidungsstücke im Handgepäck, denn alle waren auf Hitze eingestellt. Und auf Regen. Denn in den Bergen an Nicaraguas Grenze zu Costa Rica sollte es zu dieser Jahreszeit viel regnen.

Irgendwann morgens, bevor es hell wurde, flackerte dann die Restaurantbeleuchtung wieder auf, und nach einiger Zeit gab es frischen und sehr heißen Kaffee am Tresen des Restaurants. Langsam erschien die Sonne am Horizont, und nach kurzer Zeit hatte der Raum wieder eine angenehme Temperatur. Zu essen gab es noch nichts, da die Lieferanten noch nicht eingetroffen waren, wie eine freundliche Bedienung erklärte. Aber darauf konnten sie auch nicht mehr warten. Eine kleine, dicke Afrokubanerin in einer zu eng sitzenden Uniform war erschienen und verkündete, dass in kurzer Zeit die Maschine nach Managua bereitstehen würde und alle Brigadisten ihr folgen sollten. Sie wurden wieder in einen engen Raum gebracht, dessen einzige verglaste Seite zum Rollfeld des Flughafens zeigte. In eine der großen Glasscheiben war eine Tür eingelassen, die allerdings verschlossen war. Auch hier mussten sie noch zwei Stunden ausharren, bis endlich eine Stewardess erschien, die Tür zum Rollfeld öffnete und nach der Sichtkontrolle der Tickets alle Brigadisten in einen alten Bus verfrachtete, der sie zu ihrer Maschine brachte.

Es war eine kleine Maschine der Cubana Airlines, aber dennoch so groß, dass es sich jeder der Brigadisten auf mehreren Sitzen bequem machen konnte. Denn weitere Mitreisende gab es nicht. Sie waren mit ihrer Brigade allein an Bord.

Der Flug sollte nicht lange dauern, aber die Zeit reichte, um allen noch ein Frühstück zu servieren. Dann gab der Flugkapitän bekannt, dass sie in den Landeanflug auf Nicaraguas Hauptstadt eintreten würden. Alle schnallten sich wieder an, und die, die einen Fensterplatz hatten, und das waren eigentlich alle, blickten nach draußen, gespannt, wie dieses Land, das sich in einem mörderischen Befreiungskampf von der schrecklichen Diktatur des amerikafreundlichen Präsidenten Somoza befreit hatte, eigentlich aussehen würde. Sie erblickten den Beginn des Festlandes. Breite Zonen trockenen Bodens zeigten sich. Vereinzelt unterbrochen durch kleine Dörfer, die von erschlossenen Feldern umgeben waren. Dann überflogen sie Managua, bevor sie mit einer weiten Kurve in die Richtung des außerhalb liegenden Flughafens abbogen.

Managua wirkte von oben wie eine zerstörte Stadt nach länger zurückliegenden, schweren Bombenangriffen. Überall waren große, freie Flächen, die auf den ersten Blick wie Grünzonen aussahen, auf den zweiten aber zeigten, dass es mitten in der Stadt befindliche Brachflächen waren. Es handelte sich nicht um Zeugnisse der zurückliegenden Befreiungskämpfe; vielmehr waren es die Resultate des großen Erdbebens von 1972, als große Teile der Hauptstadt zerstört worden waren. Obwohl es anschließend eine internationale Finanzhilfe für den Wiederaufbau gegeben hatte, erreichte dieses Geld nie seinen Bestimmungszweck. Vielmehr soll es sich der Diktator Somoza einfach in die eigene Tasche gesteckt haben. Beim Anflug auf die Landebahn konnte man rund um den Flughafen diverse Stellungen zur Flugabwehr entdecken. Und überall waren Soldaten postiert.

Nachdem das Flugzeug in seiner Halteposition angekommen war, gab der Pilot die aktuelle Zeit und die herrschenden Temperaturen durch und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass das Photographieren des Flughafens und insbesondere der militärischen Einrichtungen strengstens untersagt wäre.

Die Passkontrolle ging überraschend schnell voran. Auch das Gepäck erhielt jeder Brigadist prompt und ohne weitere Kontrollen. Das lag nicht an der laschen Überprüfungsmentalität der Nicaraguaner, sondern an der gut funktionierenden Zusammenarbeit der Behörden und Geheimdienste in Nicaragua und auf Kuba. Während ihrer langen Wartezeit in Havanna tauschten die Offiziellen und die weniger Offiziellen die Daten der Brigadisten untereinander aus, suchten auf Computern und in Karteien und fertigten ihre Notizen an. Auch das gesamte Gepäck der Brigade wurde in Havanna inspiziert und ordnungsgemäß wieder verschlossen.

Vor dem Flughafen wartete Renate, eine deutsche Genossin aus dem nicaraguanischen Koordinierungsbüro für internationale Brigaden, und eine camionetta, ein kleiner Lkw mit offener Pritsche. Renate erklärte, dass die Gruppe nun erst mal ihre Unterkunft in Managua beziehen würde, bevor es weitergehen könnte an ihren Bestimmungsort in den Bergen. Die Abfahrt wurde um zwei Tage verschoben, damit die Brigade die Gelegenheit erhielt, am nächsten Tag an den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag teilzunehmen, dem 19. Juli, dem Tag, als im Jahr 1979 die Sandinisten die Regierung übernahmen, nachdem der Diktator Somoza fünf Tage vorher geflüchtet war. Natürlich nicht ohne die Staatskasse mitzunehmen.

Gutgelaunt und ein bisschen aufgeregt verluden die Brigadisten ihr Gepäck auf den Wagen. Dann stiegen sie selbst hinten auf, und wenig später ging es los. Es war heiß, weit über dreißig Grad Celsius, und der Fahrtwind auf der Ladefläche eine willkommene Erfrischung.

Sie fuhren durch heruntergekommene Vororte, vorbei an maroden Fabriken und Siedlungen aus einfachen Holzhütten. Kleine Gewerbebetriebe tauchten am Straßenrand auf.

An fast allen Hauswänden prangten Parolen der FSLN, der Nationalen Befreiungsfront Nicaraguas. „Patria libre o morir“ war am häufigsten zu lesen. Daneben „Nicaragua victoriosa, ni se vende, ni se rinde“ und „Aqui, allá, el Yanque morirá“.

Das gefiel den meisten Brigadisten. Revolutionäre Parolen überall, für die sie zu Hause gleich als verdächtig eingestuft wurden.

Sie erreichten die Innenstadt von Managua. Die Straßen waren abseits der Hauptachsen in einem schlechten Zustand. Nicht nur einmal musste der Lkw langsam über abgesackte Fahrbahnteile oder um Stellen mit fehlenden Kanaldeckeln herum rangieren.

In einer kurzen Nebenstraße erreichten sie ihr vorläufiges Domizil. Ein einstöckiges, kleines Haus mit vertrocknetem Vorgarten und einem schmiedeeisernen Gitter vor einer Art Garage, dem größten Raum des Gebäudes. Renate erklärte, dass das Haus der Befreiungsfront in El Salvador gehören würde und sie es den Brigadisten in internationaler Solidarität zur Verfügung stellen würden. Möbel gab es so gut wie keine im Haus. Lediglich in der Küche befand sich ein Tisch mit ein paar Stühlen. Aber es gab ein Klo und eine kleine Dusche.

Renate hatte ein paar auf schlechtem Papier gedruckte Stadtpläne Managuas verteilt und markierte die Straße, in der sie wohnten. Lediglich die Hauptstraßen und einige besondere Orte waren darauf ausgewiesen. Die kleinen Straßen hatten keine Namen. Man orientierte sich am besten durch einfaches Abzählen von einem Fixpunkt aus in eine der vier Himmelsrichtungen. Entweder von einer der Hauptstraßen ausgehend oder aber von dem im Norden Managuas gelegenen Lago de Managua, dem zweitgrößten Binnensee des Landes. Relativ einfach war es auch, sich mit den Bussen in der Stadt zu bewegen. Sie hielten in der Regel auf ein Zeichen hin überall an. Man bezahlte nur ein paar Cordobas und konnte dann so lange fahren wie man wollte. Bei jedem Umsteigen musste neu gezahlt werden.

Dunker und zwei weitere Brigadisten machten sich am Nachmittag auf den Weg, um für die Gruppe Lebensmittel einzukaufen. Mit großer Aufmerksamkeit bewegten sie sich durch die Straßen dieser für sie völlig fremden Stadt und ungewohnten Atmosphäre. Zwischen oder direkt in den überwucherten Trümmerfeldern standen vereinzelt kleine Häuser. Eidechsen huschten bei ihrem Herannahen unter Geröllhaufen. Einige Männer gingen mit einem Jutesack in der Hand gebückt durch die Brachflächen. Sie sammelten giftige Schlangen ein, die sich hier unter diesen günstigen Bedingungen rapide vermehrten und eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten. Dunker dachte bei diesem Anblick mit Sorge an das schmiedeeiserne Tor vor ihrer Schlafstätte, das Schlangen nicht aufhalten konnte.

An der Pista de la Resistencia fanden sie endlich einen supermercado.

Eigentlich sah er so aus wie jeder Supermarkt auf der Welt. Ein großer Parkplatz, ein eingeschossiger Betonklotz und Einkaufswagen vor dem Haupteingang. Aber die gähnende Leere auf dem Parkplatz, die fehlende Farbe und der bröckelnde Putz an den Wänden wiesen auf eine Mangelwirtschaft hin. Alle Einkaufswagen waren verrostet.

Nach ihrem Eintreten in den Markt waren die Brigadisten umso mehr überrascht, wie vielfältig das Warenangebot war. Es gab im Prinzip alles, was man zum Leben brauchte. Brot, Milch, Gemüse, Fleisch. Alles war reichlich vorhanden. Und die Preise waren so niedrig, dass auch jeder Nicaraguaner hier alles kaufen konnte, was er benötigte.

Die drei kauften Brot, Obst, Mineralwasser und Kaffee. Dazu noch ein paar Flaschen „Flor de Caña“, den nicaraguanischen Rum, den es in drei Qualitäten gab und der eine Auszeichnung durch die DDR erhalten hatte, wie man einer auf der Flasche klebenden Plakette entnehmen konnte.

Mit ihren Einkäufen bepackt, schlenderten sie zurück in ihr Haus. Sie verstauten die Lebensmittel in einem Schrank in der Küche und entschlossen sich dazu, das „Sarah’s“ aufzusuchen.

Das Sarah’s war ein kleines Lokal in der Innenstadt, unweit der Plaza España, in dem sich die internationalen Brigadisten trafen. Fälschlicherweise wurde es von einigen als das Migrantencafé bezeichnet. Falsch, weil die wenigsten Brigadisten in Nicaragua bleiben wollten. Trotzdem hatte es dieses Flair. Vor einem kleinen, heruntergekommenen Steinhaus war eine große, auf Holzstützen ruhende Wellblechüberdachung angebracht worden. Eine Terrasse also, auf der sich unterschiedlichste Holzstühle und Tische befanden. Zusammengesucht eben.

Als die drei das Sarah’s erreichten, war es bereits gut besucht. Nicaraguaner waren bis auf die Bedienungen nicht da. Die drei nahmen an einem Tisch Platz und bestellten Bier. Von allen Seiten schlugen ihnen Wortfetzen der unterschiedlichsten Sprachen entgegen. Hauptsächlich europäische Sprachen: Deutsche, Skandinavier, Engländer, Franzosen, aber auch eine Gruppe amerikanischer Aktivisten unterhielten sich hier.

Als die Bedienung die Bierflaschen auf den Tisch stellte, versuchte sie den dreien etwas auf Spanisch zu erklären, was sie aber nicht verstanden. Von einem anderen Tisch kam die Übersetzung. Ein großer, blonder Skandinavier erklärte ihnen, dass ab 18.00 Uhr kein Bier mehr ausgeschenkt werden dürfe. Wegen des morgigen Nationalfeiertags. Warum das so wäre, konnte er nicht genau erklären. Er mutmaßte, dass man entweder verhindern wollte, dass alle Nicas morgen zu besoffen sein könnten, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen, oder die Regierung verhindern wollte, dass gerade am Nationalfeiertag ein Engpass beim Bierverkauf entstehen könnte. Dunker schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach fünf. Allzu viele Biere könnten sie sich nicht einverleiben. Aber vom Nebentisch kam sogleich die rettende Botschaft: Nach nicaraguanischem Recht könne alles, was um sechs Uhr auf dem Tisch steht, noch ausgetrunken werden. Also brauchte man nur kurz vorher noch eine entsprechend große Menge zu ordern. Lediglich die Hitze würde dem kalten Bier auf Dauer nicht bekommen.

So beruhigt stießen die drei an. Schwitzwasser perlte in großen Tropfen die Flaschen hinunter, und nach der nächsten Runde hatte sich schon ein kleiner See auf dem wackeligen Tisch gebildet.

Es war halb sechs geworden, als sich plötzlich der Himmel verdunkelte. Innerhalb kürzester Zeit war alles grau geworden, die Sonne verschwunden, und mit einem Mal ergossen sich enorme Wassermassen aus den Wolken auf die Straße. Unmengen dicker Tropfen prasselten auf das Wellblechdach der Terrasse. So laut, dass man sich kaum noch unterhalten konnte. Genau über ihrem Tisch hatte das Dach ein Leck, und so rückten sie mit Tisch und Stühlen an eine andere Stelle. Von oben blieb es jetzt zwar trocken, aber unter ihnen weichte der lehmige Boden auf. Auf der Straße waren wahre Bäche entstanden. Jetzt erklärte sich auch, warum die Bordsteine vor den Gehwegen so hoch waren. Sie verhinderten das Überschwappen der Wassermassen in die Häuser.

Dunker war froh, jetzt einigermaßen geschützt im Sarah’s zu sitzen. Es war immer noch sehr warm und er stellte fest, dass es ein überaus beruhigendes Gefühl war, von hier aus den dicken Regentropfen zuzuschauen. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Wie jeden Tag im Sommer in Managua. Der Regen kam gegen sechs, heftig und massig, und hörte dann schlagartig wieder auf. Und wenige Zeit später war durch die wiedererschienene Sonne schon so viel Wasser verdunstet, dass man glauben konnte, es hätte nie geregnet. Fast hätten die drei vergessen, noch schnell mehrere Flaschen Bier zu bestellen. Die Sperrzeit stand bevor. Aber die Bestellungen an den anderen Tischen erinnerten sie rechtzeitig an das nahende Ende der Ausschankzeit.

Zwei Stunden später waren sie dann wieder zurück in ihrem Haus. Gerade rechtzeitig, denn Renate wollte sich just mit den anderen Brigadisten auf den Weg zur „Barricada“ machen. Die Barricada war eine Zeitung und das agitatorische Sprachrohr der sandinistischen Regierung. Sie erschien täglich und berichtete über die Errungenschaften der Revolution. Und die gab es unbestritten: kostenlose ärztliche Versorgung für jedermann, Bildungsmöglichkeiten für alle, eine Landreform, die kleinen Bauern endlich zu eigenem Boden verholfen hatte. Viele von ihnen hatten sich zu Kooperativen zusammengeschlossen und erhielten staatliche Hilfe, um große Maschinen gemeinsam kaufen zu können. Es gab Mindestlöhne für die Arbeiter, die ihnen einen menschengerechten Lebensstandard verschafften.

Auf der anderen Seite wurde aber auch viel über die immer noch anhaltenden Kämpfe der Regierung mit den von den USA finanzierten Contras berichtet. Gerade in den schwer zugänglichen Grenzgebieten zu Honduras und Costa Rica verübten sie Überfälle auf die dortigen Dörfer und Kooperativen und massakrierten die Bevölkerung. Ihr Ziel war es, hauptsächlich Lehrer, Ärzte, Ingenieure und Techniker zu töten, die der Bevölkerung beim Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems halfen. Genau in ein solches Grenzdorf sollte die weitere Reise der Brigadisten gehen.

Das Photographieren war auch in den Räumen der Barricada verboten. Die Brigade sprach mit den Redakteuren und den Druckern. Sie besichtigten die Druckerei, in der auf ausrangierten Druckmaschinen aus der DDR die Zeitung hergestellt wurde. Da Nicaraguas einzige Papierfabrik nur Toilettenpapier und Servietten herstellen konnte, wurde das Zeitungspapier für die Barricada aus der Sowjetunion eingeführt. Die Setzer arbeiteten mit einem EDV-unterstützten System, das noch aus der Somoza-Zeit stammte und amerikanischen Ursprungs war. Da die USA ein Handelsembargo gegenüber Nicaragua verhängt hatten, war die Ersatzteilbeschaffung für diese Technik vollkommen von der Solidaritätsbewegung in den Vereinigten Staaten abhängig. Gleiche Schwierigkeiten gab es auch mit der Bearbeitung von Photos. Alle hierzu vorhandenen technischen Geräte waren auf ein System von Kodak ausgerichtet. Und zu allen Problemen kam noch hinzu, dass die noch vorhandenen US-Chemikalien nicht gut mit dem neuen Photopapier aus der UdSSR korrespondierten.

Die Barricada wurde mit etwa zwanzig Seiten täglich ausgegeben und kostete lediglich fünf Cordobas. Begründet mit der Erklärung des nationalen Notstandes als Folge der US-amerikanischen Interventionspolitik unterlag sie wie alle Zeitungen des Landes einer Zensur. Zensiert wurden Berichte über die Sicherheitslage und die Militärberichterstattung. Konterrevolutionäre Agitation war verboten. Trotzdem gab es sie. Zum Beispiel in der konservativen „Prensa“, einer anderen Zeitung in Managua, die keine Gelegenheit ausließ, die sandinistische Regierung subtil und in suggestiver Art und Weise zu kritisieren. So wurde immer wieder in Kreuzworträtseln des Blattes nach dem Namen des Mannes gefragt, der als Präsident Nicaraguas vor den sandinistischen Diktatoren flüchten musste. Verboten worden war sie deshalb bislang noch nicht.

Einige Brigadisten kritisierten die Redakteure dafür, dass sie sehr viel agitierten und wenig informierten. Der Chefredakteur gab das ohne Ausflüchte zu. Seiner Meinung nach machte das die derzeitige Bedrohung durch die USA erforderlich. Und früher wäre das anders gewesen, behauptete er. Einige sprachkundige Brigadisten ließen sich alte Zeitungen vorlegen und stellten fest, dass das zutraf. Die revolutionäre Diskussion geschah früher viel öffentlicher und unter Berücksichtigung verschiedener Strömungen. Bürger konnten ihre Fragen stellen, und die Verantwortlichen hatten prompt in der Barricada zu antworten. So wollten einige Lehrer aus Matagalpa wissen, warum ihre Gehälter immer verspätet kamen. Der zuständige Minister hatte ihnen gegenüber persönlich dazu Stellung genommen.

Der Vizedirektor der Barricada, Renaldo Reíz, verteidigte weiter die Agitation seiner Zeitung. Er betonte, dass andere Parteien in Nicaragua nicht verboten seien und die konservative Partei über ihre Zeitung Prensa ständig gegen die Regierung arbeite und sogar die kommunistische MAP-ML, die an der Seite der Sandinisten gegen Somoza gekämpft hatte, heute harte Kritik an der Regierung verübe, da sie ihr zu bürgerlich erschien. Trotzdem würde die Regierung an ihrem Kurs festhalten und Nicaragua in eine demokratische Struktur führen wollen. Jede der Parteien, die sich an Wahlen beteiligt hatte, säße mit Vertretern in der verfassungsgebenden Versammlung, die in den kommenden zwei Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten sollte.

Dunker kamen diese Erklärungen nicht schlüssig vor. Sie waren in seinen Augen halbherzig. Wenn das Volk Nicaraguas es schon geschafft hatte, die schreckliche Diktatur siegreich zu beseitigen, dann durfte es während der Umgestaltung der Gesellschaft ihren Feinden keinen Raum geben. Es leuchtete ihm nicht ein, dass somozatreue Gegner des neuen Nicaragua ziemlich unbehelligt gegen die Regierung und damit gegen die Interessen des Volkes agitieren durften.

Er scheute sich aber, seine Haltung konsequent zu Ende zu denken. Ein aufkommendes Gefühl von Demokratiefeindlichkeit hielt ihn ab.

In der kommenden Nacht wurden die Brigadisten von Schüssen und Gewehrsalven in der Stadt aus dem Schlaf gerissen. Erschreckt zogen sich die meisten in die hintere Ecke der Garage zurück. Einige Mutige gingen vorsichtig vor das Haus auf die Straße. Immer wieder waren Schüsse zu hören, aber zu sehen war nichts. Es dauerte einige Zeit und Beratschlagung, wie man sich verhalten sollte, aber letztendlich war es der Hinweis eines herbeigeeilten Nachbarn, der sie beruhigte, als er erklärte, dass es sich nur um Freudensalven anlässlich des soeben begonnenen Nationalfeiertags handele, also keine Kämpfe in der Stadt stattfanden. So ganz konnte das die Brigadisten nicht beruhigen: Wild umherfliegende Geschosse von angetrunkenen Soldaten waren für sie ungewöhnlich und sehr beängstigend. Aber sie versuchten dennoch wieder einzuschlafen. Denn in wenigen Stunden wollten sie schon wieder aufstehen. Um fünf hatten sie sich mit anderen Internationalisten auf der Plaza España verabredet, von wo aus sie geschlossen zum Platz der Revolution marschieren wollten, auf dem die zentrale Kundgebung anlässlich des Nationalfeiertags stattfinden sollte. Und dort sollte auch Präsident Ortega eine Rede halten.

Dunker schätzte, dass sie bis zu tausend Brigadisten waren, die jetzt den Platz der Revolution erreichten. Alle Hauptstraßen waren mit rot-weißen Fahnen geschmückt. Militär und Polizei patrouillierten. Die Photoapparate der Brigadisten wurden überprüft, um auszuschließen, dass es sich um getarnte Schussapparate handelte.

Nach und nach füllte sich der Platz. An die fünfhunderttausend Menschen sollen es gewesen sein, wie der Eröffnungsredner in seiner Begrüßung sagte. Es wurde viel Musik gespielt, Märsche und Kampflieder. Die Brigaden aus den einzelnen Ländern wurden ebenso wie die internationalen Gäste begrüßt. Es war kochendheiß auf dem Platz, und die Luft wurde knapp. Vereinzelt waren schon einige Demonstranten ohnmächtig geworden und mussten aus der Menge abtransportiert werden. Und dann kam er endlich. Der, auf den alle gewartet hatten: der Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega. Dunker verstand nicht viel von dem, was der Präsident sagte. Dazu reichten seine Spanischkenntnisse nicht aus. Aber er verstand, dass Ortega die Hetzkampagnen der USA gegen sein Land verurteilte. Und Ortega betonte, dass das revolutionäre Nicaragua keine internationalen Terroristen ausbilden würde, wie behauptet wurde.

Obwohl Ortega in der Uniform der Revolutionäre auftrat, hatte er bei weitem nicht die Ausstrahlung und das Charisma eines Fidel Castro. Er wirkte eher nüchtern und technokratisch. Darüber täuschten auch seine laut geschrienen, politischen Parolen nicht hinweg, aber das hier versammelte Volk jubelte ihm zu. Es war ein sehr junges Volk, das sich hier auf dem Platz der Revolution versammelt hatte. Über die Hälfte der Bevölkerung Nicaraguas war unter sechzehn Jahre alt. Diese jungen Leute erhofften sich eine bessere und gerechtere Zukunft von ihrem Präsidenten. Einen anderen hatten sie nicht, der sich auf ihre Seite gestellt hatte. Die Menschen waren zum ersten Mal verantwortlich eingebunden in ihre Gesellschaft. Sie kümmerten sich in ihren barrios, den Stadtteilen Managuas, um Hygiene und Gesundheitsvorsorge, um Bildung und die Bekämpfung von Kriminalität. Und in den Komitees zur Verteidigung der Revolution traten sie für den Erhalt ihres Einflusses ein. Hier war Jugend überall ernsthaft beteiligt und vertreten. Hier konnten sie mitwirken bei der Realisierung einer neuen und gerechteren Welt. Ganz anders als zu Hause in Deutschland, dachte sich Dunker, mit dem seiner Meinung nach elenden System der Volksvertreter, die sich immer weiter von diesem entfernten.

Dann wurde es laut über den Köpfen der Menge. In Formation rasten mehrere Kampfhubschrauber über sie hinweg. Eine perfekte Inszenierung. Gerade hatte Präsident Ortega verlauten lassen, dass die Sowjetunion dem Land diese Kampfhubschrauber geschenkt hatte, um die Konterrevolutionäre aufzuhalten. Und nun wurden sie dem Volk präsentiert. Was Ortega nicht erwähnte, war, dass die Sowjetunion seinem Wunsch nach Kampfbombern nicht nachgekommen war. Ein Zeichen dafür, dass die Sowjetunion wegen Nicaragua die USA nicht unnötig provozieren wollte.

Dunker wurde es bald zu heiß. Er merkte, wie ihm flau wurde und sein Kreislauf absackte. Die Menge um ihn herum raubte ihm langsam aber sicher die Luft zum Atmen. Er drängelte sich durch die Menschenmassen nach hinten und versuchte irgendwo einen schattigen Platz zu erreichen. Er benötigte fast eine halbe Stunde, bis er den Platz der Revolution hinter sich lassen konnte. Unter einem Baum am Straßenrand stand ein Händler mit einem Holzkarren voller Eis und bot gekühlte Cola an. Dunker griff guten Gewissens zu, denn der nicaraguanische Ableger des Coca-Cola-Konzerns war erst vor kurzem verstaatlicht worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Coca-Cola die Contra finanziell unterstützte. So stand es jedenfalls in der Barricada. Der Verkäufer zog eine der Flaschen aus der Kiste, öffnete sie und goss den Inhalt in einen kleinen Plastikbeutel, den er mit einem Knoten verschloss und Christian reichte. Seit Coca-Cola verstaatlicht worden war, waren die Flaschen Mangelware und wurden wie Schätze streng gehütet. Deshalb wurde die Cola aus den abgenutzten Flaschen umgefüllt.

Dunker biss in eine Ecke des Plastikbeutels und ließ den Inhalt in seinen Mund laufen. Das kühle Getränk und der Zucker ließen ihn wieder aufleben.

Er blickte zurück auf die Menschenmenge auf dem Platz der Revolution. Die Reden hatten ein Ende gefunden, aber die Menschen blieben noch, schwenkten ihre Fahnen, viele davon ganz revolutionär in Schwarz-Rot, und ihre Transparente. Die neue Nationalhymne Nicaraguas drängte aus den Lautsprechern, und viele sangen sie mit. Von hier aus war das riesige Monument eines revolutionären Klassenkämpfers, das an diesem Tag auch eingeweiht worden war, viel besser wahrzunehmen als aus der Nähe. Die Höhe des schwarzen, muskulösen Mannes, der auf einem mächtigen Steinquader stand, kämpferisch am nach oben gestreckten Arm die Kalaschnikow mit ihrem geschwungenen Magazin haltend, in der anderen Hand eine Spitzhacke, konnte Dunker nicht abschätzen. Die Statue hob sich geradezu monströs gegen den hellen Himmel ab und wirkte eher abstoßend. Für solche Art von Kunst hatte er kein Verständnis. Sie erinnerte ihn zu stark an die schönen Körper von Leni Riefenstahl und die skulpturalen Verkörperungen der überlegenen Herrenrasse der Nazis. Aber es war ihm natürlich auch klar, dass ein engerer politischer Zusammenhang nicht bestand. In der Darstellung von Macht und Schönheit gab es eben Überschneidungen – und dieselben Geschmacksverirrungen.

Dunker trank den Plastikbeutel leer und schlenderte weg von der Plaza España in irgendeine Richtung. Er war kein großer Freund solcher Massenveranstaltungen. Er war mehr an der praktischen Arbeit interessiert. Er wollte endlich in das Dorf, in dem er mit der Brigade die nächsten Wochen und Monate zubringen würde. Sie wollten dort die Miliz verstärken und nebenbei Häuser für immer mehr ankommende Flüchtlinge aus der Grenzregion bauen, die auf der Flucht vor der Contra ihre Dörfer verlassen mussten. Darin sah er den Sinn dieser Unternehmung. Sie war wahrscheinlich eher humanitär als revolutionär. Für seinen Traum von einer besseren Welt wollte er das beitragen.

Auf seinem Weg sah er einige Ruinen ehemaliger Hochhäuser. Verlassen standen sie im Gestrüpp der überwucherten Trümmerfelder. Im weißgestrichenen Beton waren noch die Spuren der Kämpfe zu erkennen. Einschüsse im Putz und durch Granaten gerissene Löcher bezeugten, dass der Befreiungskampf noch nicht lange zurücklag. Und für die Beseitigung der Spuren nicht ausreichend Geld vorhanden war.

In der Ferne leuchtete in der Sonne in sattem Grün ein Berg, auf dessen einsehbarer Flanke mit weißen Steinen weithin sichtbar das Kürzel der Befreiungsfront FSLN ausgelegt war. In diesem zum Teil ausgehöhlten Berg soll der Diktator Somoza eines seiner berüchtigten Foltergefängnisse gehabt haben. Und hier soll er Kinder in Käfigen zu Folterknechten erzogen haben, spezialisiert auf das Ausstechen von Augen. Wegen ihrer kleinen Finger. In der Barricada hatte gestanden, dass diese Kinder nach ihrer Befreiung alle erfolgreich resozialisiert werden konnten. Dunker hoffte es für sie.

Er machte sich wieder auf den Weg zurück in seine Behausung und passierte die Laguna de Tiscapa an ihrer östlichen Seite. An mehreren Stellen in Managua konnte man auf tiefliegende Seen dieser Art stoßen. Man musste schon einige Höhenmeter heruntersteigen, um an ihre Ufer zu gelangen. Sie wirkten magisch mit ihrem dunkelgrünen bis schwarzen Wassern. Das Baden war meistens verboten. Zu gefährlich waren ihre Strömungen und Tiefen.

Es war schon nachmittags, als er das Haus der el salvadorianischen Befreiungsfront erreichte. Die meisten anderen Brigadisten waren schon länger wieder zurück. Es herrschte helle Aufregung. Martin, ein Zimmermann aus Hamburg, war auf dem Weg zur Kundgebung von Militärpolizisten kontrolliert worden und hatte seinen Pass nicht dabei. Ohne viel Federlesen und Rücksicht auf die Einwände der anderen Brigadisten wurde er verhaftet, in einen Transporter gezerrt und abgeführt. Renate war seit mehreren Stunden dabei, ihn zu suchen und zu befreien. Dunker zog sich mit einigen anderen in die Küche zurück und wartete.

Dann Lärm von draußen. Ein freudiges Johlen im Vorgarten schien das Zeichen dafür zu sein, dass es Renate geschafft hatte. Martin war unversehrt wieder unter ihnen. Lediglich den Verlust seiner Armbanduhr hatte er zu beklagen. Sie war ihm am Eingang eines Gefängnisses, das im Keller einer ehemaligen Villa untergebracht war, von einem Polizisten abgenommen worden. Zurück hatte er sie bei seiner Entlassung nicht erhalten. Das war zu verschmerzen. Alle waren froh, dass er wieder da und ihm nichts geschehen war. So ganz vertrauten sie dieser revolutionären Welt eben doch nicht. Lateinamerika mit seinen Diktaturen war in ihren Köpfen mit Unrechtsstaaten und dem spurlosen Verschwinden von Menschen verbunden. Diese Angst wurde bei Martins Verhaftung sofort in ihnen geweckt. Warum sollten sie auch einem Land mit fremden und unübersichtlichen Verhältnissen so ohne weiteres trauen? Obwohl sie grundsätzlich gern gesehene Gäste dieses Landes waren, die am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft mitarbeiten wollten, hatte dieser Vorfall einige erschüttert. Aber Renate spielte den Vorgang herunter. Wenn man immer seinen Pass dabei hätte, dann würde einem nichts geschehen. Und an einem Tag, an dem der Präsident sich in der Öffentlichkeit zeigte, waren die Sicherheitsmaßnahmen eben sehr streng. Die Regierung durfte nicht das Risiko eingehen, dass ihrem Präsidenten etwas zustoßen könnte. Er galt als hochgefährdet und die Verantwortlichen gingen davon aus, dass aus dem Ausland angeheuerte Auftragskiller versuchen wollten, ihn zu ermorden. Darum hielt sich der Präsident selten in der Öffentlichkeit auf, schlief jede Nacht an einem anderen, geheimen Ort.

Renate hatte nicht nur Martin wieder mitgebracht, sondern auch die Nachricht, dass sie am kommenden Morgen mit einem Lkw ihre weitere Reise nach San Martin beginnen wollten.

Aufgrund der bevorstehenden Abreise entschieden sich die meisten der Brigadisten dafür, irgendwo in der Stadt bei einem Bier den Abschied zu feiern.

Fast alle wollten ins Sarah’s, aber Christian Dunker und die beiden Brigadisten, mit denen er einkaufen gegangen war, wollten noch etwas anderes sehen. Ein Blick auf die Uhr machte den dreien klar, dass sie sich sputen mussten. Es war schon halb fünf, und bald kam der große Regen. Sie entschlossen sich, nördlich der Laguna de Tiscapa nach Westen zu gehen, um auf den Paseo Salvador Allende zu gelangen. Dort hofften sie, auf weitere Restaurants oder Kneipen zu treffen. Links von ihnen tauchte das „Intercontinental“ auf, das beste Hotel der Stadt. Wer hier wohnen wollte, musste mit harten US-Dollars bezahlen. Das Hotel war jetzt im staatlichen Besitz und eine Einnahmequelle für ausländische Währungen, die Nicaragua für den Handel am Weltmarkt benötigte; sofern das Handelsembargo der USA das zuließ. Durch diese Präsenz des Dollars in Nicaragua war natürlich ein Schwarzmarkt entstanden. Ein Umstand, der bei den Brigadisten keine Unterstützung fand, da sie eine zweite Währung im Land neben dem Cordoba nicht fördern wollten. Dennoch war es so, dass viele Händler lieber Dollars statt der einheimischen Währung sehen wollten. Aber wer sich mit Nicaragua solidarisierte, bestand darauf, in Landeswährung zu bezahlen.

Am Paseo Salvador Allende konnten Dunker und seine beiden Begleiter kein gescheites Restaurant finden. Es gab hier einige wirklich schicke Läden, nicht zu vergleichen mit dem Sarah’s, aber sie fühlten sich nicht wohl bei dem Gedanken, mit ihrem Brigadisten-Outfit unter den anderen Gästen, die hauptsächlich Anzüge trugen und Krawatten, wie sie beim Blick durch die Fenster feststellten, zu sitzen und zu essen. Zu sehr machten diese Leute auf sie den Eindruck von Feinden der Revolution.

Als sie gegenüber das psychiatrische Krankenhaus von Managua erblickten, war auch der Paseo zu Ende. Vor ihnen lag die Laguna de Asososca und glücklicherweise, denn es war schon fast fünf Uhr, und der Himmel begann sich zu bedecken, entdeckten sie ein Schild mit einem Hinweis auf ein Restaurant, das direkt am See liegen sollte. „El Panorama“ hieß es und machte den Eindruck, dass sie hier ohne unangenehme Gefühle einkehren konnten. Sie bemerkten, dass in der näheren Umgebung noch weitere Restaurants angesiedelt waren, aber nur das El Panorama hatte seine Lage an der Laguna. Sie nahmen in gemütlichen Bambussesseln auf der Veranda Platz und genossen den Blick auf das tiefgrüne Wasser des Sees. Herrlich erhoben sich ihnen gegenüber seine steilen Ränder gen Himmel. Das Ufer war dicht bewachsen und der den herannahenden Abend ankündigende, sich verdunkelnde Himmel ließ in den letzten Sonnenstrahlen die vielen Grüntöne noch satter und dunkler erscheinen.

Alle drei bestellten sich Gallo Pinto, ein landesübliches Gericht aus Reis mit dicken, roten Bohnen und einem Spiegelei, manchmal ergänzt um ein paar Scheiben gebratener Kochbananen. Dazu natürlich Bier. Die Bedienung war ein wenig verwundert über ihre Wahl, denn die Nicaraguaner pflegten Gallo Pinto eher zum Frühstück zu essen. Aber das wussten die drei Brigadisten noch nicht. Sie wollten ihren letzten Abend in Managua noch einmal genießen. Wer sollte es ihnen verdenken? Denn bald würden sie es nicht mehr so komfortabel haben werden. In San Martin sollte es weder Strom noch fließend Wasser geben. Dafür aber sehr viel rote, matschige Erde.

Am nächsten Morgen waren alle sehr früh wach, obwohl bis zum Eintreffen des Lkw noch einige Stunden vergehen sollten. Sie waren eben aufgeregt, denn nun ging es wirklich los. Gegen neun Uhr erschien endlich ein gelber Mercedes-Lkw mit Fahrerkabine und einer Pritsche. Er hatte eine runde Motorhaube und noch rundere Kotflügel – ein Hinweis auf sein Alter. Renate diskutierte mit dem Fahrer die Sicherheitslage der Straßen außerhalb Managuas. Zum einen galt es, kämpferischen Auseinandersetzungen der sandinistischen Truppen mit der Contra auszuweichen, zum anderen waren die Straßen außerhalb der Hauptstadt und insbesondere in dem Gebiet, in das sie sich begeben wollten, nur als Pisten zu bezeichnen, die häufig aufgrund der Regenfälle schwer befahrbar waren. Mit Genugtuung stellte Renate fest, dass der Lkw allradangetrieben war, was ihre Fahrt mit Sicherheit erleichtern würde.

Die Ladefläche war mit hölzernen Spriegeln versehen, und hinter der Fahrerkabine befand sich eine zusammengeschobene Persenning. Wenn die Hitze zu groß werden sollte, konnte man sie schattenspendend über die Ladefläche ziehen. Oder zum Schutz vor Regen. Aber erst einmal sollte sie offen bleiben, denn alle Brigadisten wollten die Landschaft und die Umgebung sehen, durch die sie fahren würden.

Sie verließen die Stadt in östlicher Richtung, passierten noch einmal die Umgebung des Flughafens und bogen dann auf die Straße nach Teustepe ab. Ihr nächster Halt sollte in der etwa einhundertvierzig Kilometer entfernten Stadt Juigalpa sein.

Hinter Teustepe wurde die Straße schlechter. Die Landschaft veränderte sich drastisch. Nur noch vereinzelt waren Häuser zu sehen, in einiger Entfernung sah man manchmal kleine Dörfer. Die Vegetation wurde dichter und undurchdringlicher. Der Weg führte bergauf, und nur einmal konnten die Brigadisten den westlich gelegenen, riesigen Lago de Nicaragua im hellen Sonnenlicht blitzen sehen, auf dem eine ehemalige Flussfähre aus Bremen ihren Dienst versah. Ein Geschenk der Solidaritätsbewegung.

Der Lkw tat sich schwer, manche Steigungen zu nehmen. Der alte Diesel kämpfte sich aber unermüdlich hoch. Außer ihnen war fast niemand mehr auf der Straße. Lediglich ab und zu kam ihnen einer der klapprigen Überlandbusse entgegen oder wurde von ihnen überholt. Vollgestopft mit Menschen, Kleintieren und großen, in Folien eingeschlagenen Paketen auf dem Dach. Die Schaffner standen immer außerhalb der Beifahrertür auf einem Trittbrett und hielten Ausschau nach Fahrgästen oder auch unangenehmen Überraschungen. Alle Schaffner, denen die Brigadisten begegneten, litten unter einer Bindehautentzündung, da sie während ihrer gesamten Arbeitszeit draußen im Fahrtwind standen.

Häufiger fielen in dieser Gegend nun IFAs in olivgrün auf. Militärlastwagen aus DDR-Fertigung, die dem befreiten Nicaragua von dort zur Verfügung gestellt worden waren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Gegend gefährlicher wurde.

Aufgrund der schlechten Straßen und des betagten Lkws dauerte es mehrere Stunden, bis die Gruppe endlich Juigalpa vor sich sah. Der Nachmittag hatte schon begonnen, als sie die gepflasterte Hauptstraße Juigalpas erreichten und nach dem Büro des CNSP Ausschau hielten. Das Comité Nicaraguense de Solidaridad con los Pueblos war der örtliche Ansprechpartner für die Brigadisten. Von dort erhielten sie ihre Instruktionen und Hilfe für die weitere Reise. Ihr Lkw fuhr langsam die Straße entlang, die in einem tiefen Bogen hinab ins Zentrum führte und auf der anderen Seite wieder anstieg Richtung Ortsausgang.

Die Bausubstanz Juigalpas wies kaum Spuren des Befreiungskampfes auf. Sie war gut erhalten, ganz anders als in der Hauptstadt. Die niedrigen, eingeschossigen Häuser mit den gebrannten Dachpfannen wirkten gepflegt. Vor ihren Fenstern waren die typischen, gewölbten Gitter aus Schmiedeeisen angebracht. Durch manche geöffnete Haustür konnte man in einen begrünten Innenhof oder in lateinamerikanischem Stil möblierte Dielen schauen. Materiell wirkte Juigalpa intakt. Inwieweit hier statt der Bauten die Seelen der Menschen durch den Krieg zerstört oder verletzt worden waren, war nicht von außen erkennbar. Im Ort herrschte aber eine merkwürdige Stimmung, die ihnen im Büro des CNSP, nachdem sie es gefunden hatten, erklärt wurde.

„Der größte Teil der Bevölkerung war hier auf Seiten von Somoza“, erläuterte der Vorsitzende des CNSP den Brigadisten. „Viele Bewohner Juigalpas waren Händler, Kaufleute, die mit der Diktatur kooperierten.“

Die Brigadisten sollten sich in Juigalpa nicht mit jedem einlassen, mahnte der Vorsitzende, man wisse nie. In der Stadt gäbe es sicher Leute, die mit der Contra Kontakt haben.

Dann erläuterte er die Sicherheitslage. Auf der Straße, die die Gruppe nach Nueva Guinea bringen sollte, war ein Linienbus auf eine Mine der Contra gefahren. Zurzeit musste das Militär klären, ob sich die Contra noch in der Gegend aufhalten würde. Jedenfalls war es für heute zu gefährlich für die Brigadisten, weiterzufahren. Selbst, wenn sie militärisches Geleit erhalten könnten.

Das CNSP hatte den unvermeidlichen Aufenthalt der Brigade aber schon organisiert. In der Nähe, an der Hauptstraße gelegen, befand sich eine einfache hospidaje, eine Art Herberge, in der sie übernachten sollten. Am nächsten Morgen würde man weitersehen. Wenn das Einverständnis der Bezirksregierung vorläge, könnten sie weiterfahren. Mit diesen Erläuterungen entließ der Vorsitzende des CNSP die Brigade, und sie suchten nach der Unterkunft.

Die nicaraguanische Regierung wollte möglichst verhindern, dass internationale Brigadisten in Kampfhandlungen verwickelt wurden. Für sie lag deren Wert hauptsächlich darin, als Zeugen der Situation im Lande zu fungieren und zudem, sozusagen als lebendes Schutzschild, für die Sicherheit der Bevölkerung in den grenznahen Gebieten zu dienen, in denen die Contra operierte. Denn die Contra und die sie unterstützenden Länder müssten das Risiko internationaler Verwicklungen eingehen, falls sie eine Ortschaft angreifen würde, in der Internationalisten, zum Beispiel auch aus den USA, arbeiteten. Der Tod von Zivilisten einer Nation, die die Contra förderte, war kontraproduktiv für die Konterrevolutionäre. Außerdem versprachen die Brigaden im Grenzgebiet natürlich auch mehr Schutz für die jetzt vorhandenen Erfolge der Revolution: Gesundheitsposten, Kooperativen, Lehrer und Ingenieure.

Ein von Honduras ausstrahlender, sandinistenfeindlicher Radiosender hatte vor einigen Tagen die Kämpfer der Contra aufgerufen, alle Deutschen im Land zu töten. Das hatte einige sehr beunruhigt. Auch die Brigadisten, die davon hörten, als sie noch in Managua weilten. Als sie nun an der Rezeption der hospidaje standen, plärrte aus dem Lautsprecher in der Ecke die Stimme des Nachrichtensprechers von Radio Revolución, die erklärte, dass derselbe honduranische Feindsender heute seine Haltung revidiert hatte und nun dazu aufrief, ausschließlich die Ostdeutschen zu töten. Laut Kommentar das Ergebnis einer Intervention des bundesrepublikanischen Botschafters in Honduras.

Für alle ein deutliches Zeichen dafür, dass auch die Bundesrepublik Deutschland in irgendeiner Weise mit der Contra verbunden war. Und wenn es nur aus Freundschaft mit ihrem Verbündeten, den USA, war.