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In einem beschaulichen Kleingarten am Stadtrand der Finanzmetropole Frankfurt findet Ex-Kommissarin Eva Ritter die Leiche eines Investment-Bankers. Als ein weiteres Mordopfer entdeckt wird, deutet alles auf ein Liebesdrama in besseren Kreisen hin. Während die gesundheitlich angeschlagene Ermittlerin besorgt auf die Diagnose ihrer mysteriösen Erkrankung wartet, riskiert sie einen Blick hinter die Fassade der High Society im Taunus. Ihrem ehemaligen Kollegen bei der Kripo Frankfurt gefällt das gar nicht. Denn ihre Recherchen führen Eva Ritter in ein Netz aus Filz und Korruption. Während sich der private Kummer und die dunklen Machenschaften in der feinen Gesellschaft im Taunus häufen, muss Eva Ritter feststellen, dass sie mit dem Mörder womöglich mehr gemein hat, als sie je dachte. Ein psychologisch subtiler und facettenreicher Krimi mit Zügen eines zeitgemäßen Gesellschaftsromans.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Olaf Kolbrück
ISBN 978-3-942829-89-2 (ebook) ISBN 978-3-942829-24-3 (prin)
1. Auflage 2012 © 2012 by fhl Verlag Leipzig UG Alle Rechte vorbehalten.
3. Auflage 2016 © 2016 by Olaf Kolbrück, kolbrueck.de Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Anne Geißler Titelbild: GabiPott / photocase.de
Für Annic
Nein. Sitzen wollte sie nicht. Auch wenn sie Stehen in den vergangenen Wochen immer häufiger anstrengend fand. Aber von dieser niedrigen Bank, die aussah, als sei sie von Zwergen aus alten Bonsai-Stämmen zusammengenagelt worden, wollte sie sich nicht hoch quälen. Lieber lehnte sich Eva Ritter an der Ecke des Kleingartenhäuschens an, stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und sah Wim Voss dabei zu, wie er den Stamm seines Quittenbaums aus der Strohmatte schälte. Eva Ritter fand die Einpackerei immer etwas übertrieben. Aber Wim Voss war übervorsichtig, was diese Quitte anging, weil er das Bäumchen aus einem Kern gezogen hatte, den ihm ein griechischer Knastkumpel geschenkt hatte. Wim Voss schüttelte die Matte aus. Staubkörner schwebten im Sonnenlicht glitzernd zu Boden und verschwanden im feuchten Gras wie Schneeflocken, die im Flug schmelzen.
Wim räusperte sich, dann verzog sich sein buschiger Schnäuzer zu einer langen Bürste. Er lächelte.
»Sie hat überlebt«, sagte er.
Sein Zeigefinger deutete auf einen jungen Trieb an seiner Quitte. Wie ein stolzer Vater blickte er zu Eva hinüber. Sie kam näher und sah sich das Bäumchen aus der Nähe an.
»Was sagst du dazu?«
»Ich sage, Quittenmarmelade passt sehr gut zum Kartoffelkuchen. Ich kann sie dir einkochen, wenn dein Baum es diesmal tatsächlich schaffen sollte, Früchte zu tragen.«
Im vergangenen Jahr hatte der Baum hoffnungsvoll begonnen, aber nach einem plötzlichen Kälteeinbruch nur eine kümmerliche Ernte eingebracht.
»Quittenmus ist gut für die Verdauung und hilft gegen Gicht«, sagte Wim, ohne die Bemerkung weiter zu beachten.
»Na, Danke für den Hinweis und die charmante Andeutung. Da bin ich aber froh, dass du kein Ginko gepflanzt hast. Das würde ich dann doch sehr persönlich nehmen.«
Sie stieß ihn sanft in die Seite, um zu zeigen, dass sie ihn nur aufziehen wollte.
»Ich hoffe nur, du hast ihn nicht zu früh aus seinem Winterschutz geholt. Diese Ecke von Eschborn liegt in der Frischluftschneise für Frankfurt. Wenn das kalte Wetter aus dem Taunus kommt, wird es auch um diese Zeit hier im Garten noch eisig.«
So kalt wie die Bilanzen der Banker in Frankfurt, dachte sie kurz, vergaß den Gedanken aber sofort wieder, als sie zum Feldberg hinüber sah. Das Licht der Frühlingssonne funkelte über dem Wald wie gespritzter Apfelwein. Zwei kleine Regenwolken der letzten Nacht schoben sich wie freche Kinder, die heimlich einen Streich gespielt hatten, über den Platz an der Kuppe in Richtung Hintertaunus davon. Eva Ritter öffnete die braune Wildlederjacke. Auch wenn sie bereits die besten Tage hinter sich hatte, war es immer noch ein Fest, sie aus dem Schrank zu holen. Weg mit der Daunenjacke. Der Winter hing am Kleiderhaken. Frühling, neue Chancen, neue Hoffnungen, dachte sie. Vielleicht, fügte sie hinzu. Hauptsache kein Schnee mehr. Glätte konnte sie in ihrem Zustand gar nicht mehr gebrauchen. Mit ihren komischen Muskeln, die aufweichten wie Camembert in der Sonne, hielt sie sich so schon mühselig genug auf den Beinen. Was immer der Grund dafür sein mochte.
»Gutes Material und gute Pflege. Dann klappt auch der Rest«, hörte sie Wim Voss sagen, der sorgfältig die Strohmatten zusammenfaltete. »Apropos gute Pflege. Was sagen eigentlich deine Ärzte? Weißt du schon Genaueres?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ärzte«, schnaubte sie. »Sie haben mir ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel geschnitten. Groß wie ein Fingernagel. Damit wollen sie jetzt einen Gen-Test machen.«
»Klingt unangenehm.«
»Die Warterei im Krankenhaus ist schlimmer.«
»Wie im Knast?«
»Schlimmer, du weißt ja nicht, wie lange du absitzen musst.«
»Immerhin musstest du nicht zum Essen bleiben. Krankenhauskost dürfte in etwa auf dem Niveau der Küche im Knast sein.«
»Sie hätten mich allerdings gerne dort behalten. Sie finden mich ungeheuer interessant – als medizinischen Fall natürlich, weil diese Krankheit kein Mensch zu kennen scheint. Erst müssen sie sich ganz schön zusammenreißen, um nicht vor Freude in die Hände zu klatschen, aber kurz darauf tritt bei ihnen eine geistige Lähmung ein und sie stottern nur herum, als sei ich eine Außerirdische.«
Sie lachten. Manchmal fühlte sie sich wirklich, als komme sie von einem anderen Planeten. Einem mit weniger Schwerkraft. In diesen Momenten schaute sie bei Wim Voss vorbei. Vielleicht um sich Mut zu machen, weil er sich von ganz unten wieder hochgekrabbelt hatte. Vor beinahe 10 Jahren hatte sie ihn verhaftet. Es war ein Aufsehen erregender Fall gewesen. Er hatte ihr karrieretechnisch einige Punkte eingebracht, weil der Polizeipräsident nach der Verhaftung eine Zeit lang eine mächtig gute Presse bekam. Dafür hatten schon einige Verleger in der Region gesorgt, die allesamt auf Voss hereingefallen waren. Also feierten sie den Polizeipräsidenten in ihren Blättern als den standesgemäßen Rächer.
Knapp ein Jahr hatte sie benötigt, um Voss einzukreisen, der mit Urkundenfälschung und windigen Immobilienverträgen ein kleines Vermögen zusammenergaunert hatte und dann mit wilden Partys im Frankfurter Westend das Geld schneller ausgab, als er Verträge für abbruchreife Immobilien unterschreiben konnte, die er dann mit Hilfe gefälschter Gutachten weiterschob und dafür auch noch satte Subventionen kassierte, weil es ihm regelmäßig gelang, einen förderungswürdigen Sanierungszweck zu konstruieren. Voss war damals bekannt wie ein bunter Hund und tauchte regelmäßig in den Klatschspalten im Lokalteil auf. Nur fand sich nie ein Fetzen Papier, mit dem seine Machenschaften nachgewiesen werden konnten. Stets war es ein Subunternehmen oder eine Briefkastenfirma in Liechtenstein, an der die Spur endete. Als Eva Ritter ihn schließlich doch schnappte, ausgerechnet über den Umweg eines EU-Subventionsbetrugs, den man in Brüssel als Randnotiz abheftete, schien er ihr fast dankbar zu sein. Wie ein müder Zwerg Alberich hatte sich der korpulente kleine Mann mit dem Schnäuzer nach dem Urteil von ihr verabschiedet und mit hängenden Schultern lediglich um Blumensamen und einen Topf Erde für seine Zelle gebeten.
Damals hatte er sich noch in der Haft um einen Platz in der Kleingartenkolonie beworben. Er konnte ja warten.
Ewig her, das alles.
Beim Metzger an der Hauptstraße hatten sie sich Jahre später wiedergetroffen. Sie hatten sich sofort verstanden. Wim Voss hatte Unmengen Fleisch eingekauft. Sie fand das sehr sympathisch. Er hatte sie zum Grillen in seinem Kleingarten eingeladen. Sie war gekommen. Teils aus Neugier, teils weil er so verändert wirkte. Keine Spur vom einstigen Schlawiner und Partylöwen. Kein Rachegefühl. Stattdessen gelöst, als sei er froh, dass ihm das Leben eine neue Chance gegeben hatte.
Inzwischen war Wim für sie so etwas wie der gute Onkel geworden, an den man sich anlehnen konnte. Eine buddhistische Ruhe ging von ihm aus. Er hatte mit seiner abgeklärten, lächelnden Art eher etwas Mönchisches. Bis auf das Fleisch natürlich.
Nur seine listigen Augen erinnerten daran, dass er auch etwas von einem Gauner hatte. Ein alter Seebär, der alle Winde kannte, mitten auf hoher See den Kurs gewechselt hatte und nun mit dem Wind im Rücken segelte. In diesem Bild war sie die Mannschaft, die ihm voller Vertrauen folgte. »Zeit, die Ausrüstung klar zu machen«, sagte er.
Beinahe federnd, so sehr das sein Übergewicht zuließ, ging er an Eva vorbei zur Gartenbox, die in einer Ecke des Grundstücks von zwei Apfelbäumen eingerahmt wurde.
Wim Voss zog einen hölzernen Stab aus der Sicherheitsverankerung, die verhindern sollte, dass der Deckel vom Wind hochgehoben wurde.
»Wann kaufst du endlich mal ein Schloss dafür? Der Plunder darin muss doch hunderte Euro wert sein«, warf sie ihm hinterher.
»Ach, Eva, immer so misstrauisch. Kleingärtner sind ehrliche Menschen. Wer soll denn da was klauen? Sie haben Schippen und Scheren doch selbst. Und einen Rasenmäher schleppt so schnell keiner weg.«
Was so nicht ganz stimmte, wusste Eva. Die Kleinkriminalität im Speckgürtel rund um Frankfurt wurde zunehmend zu einem Problem. Wenn auch vor allem für die Grundstücksspekulanten. Die Autodiebstähle und Wohnungseinbrüche drückten auf die Preise. Die stiegen zwar immer noch. Aber nicht so schnell, wie sich das manch einer wohl erhoffte. Wim dürfte indes von den Kleinkriminellen unbehelligt bleiben. Er sah nicht aus wie jemand, bei dem etwas zu holen war. In seiner Kleidung, die selbst bei der Altkleidersammlung noch aussortiert worden wäre, sah er immer noch aus wie kurz nach der Haftentlassung. Der bunte Farb- und Stilmix – zu einer olivgrünen Hose trug er ein zitronengelbes Hemd mit grünen Querstreifen – ließ ihn zusammen mit seiner vorgeschobenen Wampe aussehen wie ein Clown im Varieté. Ein zu kurz geratener Clown. Voss war einen Kopf kleiner als Eva.
»Ich habe mich lange genug mit solchen Oberflächlichkeiten abgegeben, die einem nur Zeit stehlen«, hielt er gerne jenen vor, die ihn deshalb schräg ansahen. Sein altes Leben sei Teil seiner Karma-Prüfung gewesen. Das habe er hinter sich gelassen. Nun sei er hier, um sein Karma zu reinigen. So redete er jedoch nur im Kleingarten, was aber auch daran liegen konnte, dass er überall in den Beeten und jeder denkbaren Ecke und Nische seines Refugiums Buddha-Figuren aufgestellt hatte, die nun wie fernöstliche Gartenzwerge vor sich hin meditierten. Sie hatten zudem für Verdruss gesorgt, weil eines Tages der Kleingartenvorstand bei ihm am Zaun stand und seine Buddha-Figuren als unpassend für eine Kleingartenanlage deklarierte, weil sie zu sehr nach religiösem Veranstaltungsort aussahen. Wim Voss war der Schreck in die Glieder gefahren. Der Vorstand galt als kleinlich. Sein Glück war, dass die Herren trotz aller Mühen keine Stelle in der Kleingartensatzung finden konnten, die sich gegen Buddhas im Beet und andere Figurendarstellungen wandte. Die Buddhas konnten bleiben.
Er sammelte aber keine Karmapunkte, wenn es um seine Gartengerätschaften ging. Da war er ein Snob. Nur vom Feinsten. Einige Zangen hatte er sich für seine Zwergenhände sogar eigens anfertigen lassen. Wahrscheinlich war es also eher eine Abneigung gegen Schlösser. Was nicht so ganz unverständlich wäre, dachte Eva.
Sie hörte, wie er schwungvoll den Deckel der Holzbox anhob. Es gab ein langes, seufzendes Knarren, als sei der Winter soeben aus seinem letzten Versteck vertrieben worden.
Es folgte ein langgezogenes »Eva«.
Eva stand schneller neben Wim als sie sich selbst zugetraut hätte. Schweigend starrten sie in die Box. Die Gerätschaften waren durcheinander gefallen wie ein morscher Haufen Mikado-Stäbe. Darauf lag mit verrenkten Gliedern eine Leiche, die in Anzug und Krawatte selbst unter anderen Umständen einen eigenartigen Kontrast zur Umgebung des Kleingartens geboten hätte.
Der Körper des Mannes, Eva schätzte ihn auf Mitte 30, lag dort wie ein zusammengekauertes Kätzchen, das jemand auf den Sperrmüll geworfen hatte. Ein Schuh war offenbar verloren gegangen. Am linken Fuß sah Eva nur eine schwarze Socke. Zwischen den angewinkelten Beinen ragte ein Rechen heraus. Die Aufschläge des Sakkos, offensichtlich eine gute Qualität, hingen schlaff zu Seite. Ein Knopf fehlte. Die Arme waren seltsam hinter dem Kopf verwinkelt. Die Lage hatte selbst im Tod noch etwas Unbequemes.
Voss drehte sich angeekelt zur Seite und brummte etwas Unverständliches. Er ging hustend ein paar Schritte zurück. »Und so was kannst du dir in aller Ruhe ansehen?«
Natürlich. Dieses alberne Klischee, dass Kommissare immer wieder Probleme beim Anblick von Mordopfern hätten. Solche Kommissare gab es nur in Vorabendserien. Leichen waren für sie und ihre Kollegen genauso Routine wie Aktenordner für einen Buchhalter. Solange der Tote nicht seit Monaten in einer Wohnung ausdünstete, war das eigentliche Grauen eher der Blick auf die Banalität des Bösen. Der Blick in die Seelen der Mörder, deren Tat manchmal ein gequälter Ausbruchsversuch war, ein Hilferuf, für den Eva Ritter zuweilen sogar so etwas wie Verständnis aufbrachte.
Sie sagte nichts und scannte die Leiche weiter mit einem routinierten Blick, stets auf der Suche nach verräterischen Details. Sie machte das automatisch, wie sie sich mit wachsender schlechter Laune eingestand. Schließlich hatte sie all dem hier den Rücken gekehrt. Trotzdem registrierte ein Programm in ihr alle Einzelheiten.
Der Kopf des Toten war in den Nacken gefallen und schien ein an den Rand gelehntes Stück Kaninchendraht anzustarren. Die Gesichtsfarbe erinnerte Eva an vertrockneten Fisch. Das Gesicht war blutverschmiert. Dem Aussehen nach zu urteilen lag der Mann noch nicht lange da. Sie starrte weiter in die Box hinein. Das Blut wirkte leicht klebrig. Die Züge des Gesichts kamen ihr bekannt vor. »Ich komme schon noch darauf.« Neben ihr verlor Wim für einen Moment seinen Gleichmut und keifte wie eine Amsel, die man vor einen Katzenkorb gebunden hatte. »Scheiße. Scheiße. Scheiße.«
Eva war bereit, ihm Recht zu geben. Auch wenn sie der Anblick nicht ekelte. Sie wollte einfach keine Leichen mehr sehen. Mordopfer hatten immer etwas Unwürdiges. Der gewaltsame Tod war unwürdig. Der Ermordete war aus der Bewegung herausgerissen und der letzte Gedanke in einem Moment der Überraschung eingefroren, die flüchtende Seele hinterließ stets einen Fußtritt auf dem Gesicht, wenn sie sich aus dem Körper herauswand.
»Ich hab da nichts mit zu tun. Wer hat mir den bloß da rein gelegt? So was kann man doch nicht machen.«
»Mörder sind da nie sehr wählerisch. Nicht, wenn sie es eilig haben. Rücksichtsvoll sind sie auch nicht. Sie nehmen keine Rücksicht auf unsere Pläne. Das haben sie mit dem Schicksal gemeinsam.«
Vor drei Monaten hatte sie den Dienst als Kriminalober-kommissarin quittiert. Ihr war schon das ganze Jahr klar gewesen, dass ihre Muskeln nicht mehr so richtig mitspielten. Sie war langsam geworden. Das Training schwänzte sie, weil sie dabei eine immer erbärmlichere Figur machte. Auch wenn sie vor möglichen Ursachen die Augen verschloss, waren ihr dennoch die Konsequenzen klar gewesen. Sie war nicht mehr fit genug für den Außendienst. Doch bevor man sie mitleidig ins Archiv oder in die deprimierende Innenrevision steckte, weil sie eines Tages selbst für einen flüchtigen Rentner an Krücken zu langsam sein würde, hatte sie lieber frühzeitig die Konsequenzen gezogen.
Sie hatte sich auf halbwegs geregelte Arbeitszeiten in ihrem neuen Job bei der Wirtschaftsberatung Roger & Berger als Risk Management Consulter gefreut und darauf, nie wieder prüfend vor einer Leiche zu kauern. Obwohl es auch bei Roger & Berger und deren Kunden Leichen gab. Karteileichen, Leichen im Keller, und Geschäftspartner von Geschäftspartnern, die so leblos waren, dass sie wahrscheinlich schon tot geboren worden waren. Und wenn sie ein Lebenszeichen von sich gaben, war ihr Lächeln so frisch, wie dreimal chemisch gereinigte Kochwäsche.
Aber dafür waren diese Manager auch immer wieder überrascht wie kleine Kinder, wenn sie ihnen klar machte, dass es neben den üblichen Foulspielen auch den immer weiter wachsenden Risikofaktor Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsspionage gab. Neben der Überprüfung der Lebensläufe wichtiger künftiger Mitarbeiter und der Sicherheitsmaßnahmen war es vor allem ihr Job, dem Management klar zu machen, wie sich das Unternehmen präventiv gegen Spionage und Sicherheitsrisiken wappnen konnte und wie der Vorstand bei der Ermittlung strafbarer Handlungen vorgehen musste. Und es machte sogar Spaß, weil alle an Ergebnissen interessiert waren und nicht bürokratisch nach Kosten oder Formularen fragten.
Mit solchen Leuten konnte man umgehen. Auch wenn ihr diese Manager sonst häufig vorkamen, wie mit der Schablone gepresst. Blasse Gestalten, die funktionierten wie programmiert. Aber der Umgang mit ihnen war ihr inzwischen lieber, als fragend in die kalten Augen einer Leiche zu starren, die ihr immer wie umgedrehte Fragezeichen erschienen. Sie hatte gehofft, dass sie nie wieder versuchen müsste, aus diesem letzten Ausdruck die Erinnerung an den Mörder herauszulesen. Das Schicksal hatte es offenbar anders gemeint. Sie würde dem Schicksal nicht aus dem Weg gehen. Das tat sie nie.
»Jemand muss die Polizei rufen. Zu blöd, dass du nicht mehr im Dienst bist. Ich war das nicht. Ich hab damit nichts zu tun!« Voss wurde immer aufgeregter.
»Ganz ruhig. Und nichts mehr anfassen.«
»Ich bewege mich doch schon gar nicht mehr.«
Was sachlich nicht völlig korrekt war, wie sie bemerkte. Er zitterte. Eva seufzte kurz Richtung Feldberg, vor dem gerade zwei Krähen vorüberzogen, um sich auf dem Feld neben der Kleingartenanlage niederzulassen.
Sie wusste, wenn sie länger über die Situation nachdachte, würde sie richtig sauer werden. Falsch. Sie war es schon. Natürlich sollte sie diese Leiche nicht persönlich nehmen. Zufall. Niemand hatte die Leiche dort deponiert, damit genau sie sie fand. Trotzdem. Sie nahm es persönlich. Sie war hier. Die Leiche lag dort in der Box und sie würde den Mörder finden. Das würde sie sich nicht gefallen lassen. Im Kleingarten ihrer Freunde und in ihrer Nachbarschaft, gewissermaßen vor der Haustür, legte niemand eine Leiche ab. Jedenfalls niemand, dem sie nun nicht lebenslänglich Zeit dafür verschaffen würde, über seinen Fehler nachzudenken.
Sie hakte eine Hand unter den Ellbogen von Wim und zog ihn mit kleinen Schritten rückwärts langsam von der Box und der Leiche weg. Als sie die Steinterrasse vor der Laube unter den Schuhen spürte, hielt sie an und ließ ihn los. Neben ihr atmete Voss tief durch.
Für jemanden mit seiner Vergangenheit, stellte er sich ihrer Meinung nach extrem wehleidig an. Männer. Weiter dachte sie den Gedanken nicht.
»Mein Gott, sehen Mordopfer immer so aus? So tot? So zugerichtet? Es war doch Mord? Ich muss was trinken. Willst du auch was trinken?«
Die Fragen stolperten Wim Voss regelrecht über die Lippen.
»Freiwillig ist er bestimmt nicht da hinein geklettert.«
Sie sah wie Wim zusammenzuckte, während er in die Hütte schlurfte, um sich etwas zu trinken zu holen.
»Und dieser Tote sieht sogar noch passabel und vorzeigbar aus«, rief sie ihm hinterher. »Jedenfalls bis er die Obduktion hinter sich hat«, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu.
»Was sagtest du?«
Voss reichte ihr eine Cola.
»Nicht wichtig. Schnapp dir dein Handy. Du musst meine Ex-Kollegen anrufen.«
Sein Dackelblick sagte: »Kannst du?«
Eva nickte, kramte nach dem Handy in ihrer Jackentasche und sah hinüber zu den Krähen auf dem Feld.
»Bin ich denn jetzt verdächtig? Ich war es nicht. Ich hab ihn nicht umgebracht und auch nicht da hineingelegt. Ich kenne den Knaben nicht einmal.«
»Ich kenne ihn aber. Und ich wundere mich, wie der Mensch hier her kommt und was er in dieser Anlage wollte. Mit Tulpenzwiebeln hatte er nichts am Hut.«
Das Telefonat war kaum beendet, da spürte Eva, dass Wim ein wenig herumdruckste.
»Da wäre noch was«, sagte er.
»Erzähl schon«.
»Deine Kollegen werden doch sicher so etwas wie eine Hausdurchsuchung in der Bude hier machen. Womöglich nehmen sie mich auch für ein Protokoll auf die Wache?«
»Man nennt das Routine«. Es sollte ein Witz sein, doch Voss lachte nicht.
»Wo ist das Problem?«
»Ich hab da noch ein wenig Haschisch im Häuschen.« Wim sah Eva ein wenig schuldbewusst an.
»Wie viel?«
»Ausreichend.«
»Wofür?«
»Ein Jahr mindestens.«
»Ein Jahr Knast?«
»Das weiß ich nicht. Die Menge reicht bis Ende des Jahres. Ich kaufe immer in einem Schwung. Alles andere ist mir zu lästig. Aber natürlich nur für den Eigenbedarf.« Sein Blick war eine Mischung aus Schalk und ehrlichem Flehen.
Eva war nun klar, worauf er hinaus wollte.
»Du hast Angst, dass dein kleines Hasch-Depot auffliegt. Und du meinst, ich solle dein Haschisch an mich nehmen, weil die Kollegen mich wohl kaum filzen werden.«
Wim nickte eifrig und sein Schnäuzer wippte dabei synchron mit dem vorgeschobenen Bauch und gab ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Robbe, die mit aufforderndem Kopfwackeln auf Fisch hofft.
»Ich dachte immer, deine buddhistische Ruhe hat allein natürliche Ursachen.«
»Hat sie auch. Aber auch der Dalai Lama hat bestimmt so seine kleinen Schwächen. Außerdem trinke ich keinen Alkohol, wie du weißt. So gleicht sich alles wieder aus.«
»Bring schon her. Ich stecke es ein. Die Kollegen würden am Ende nur Haschkekse daraus machen, wenn sie die lausigen konfiszierten paar Tütchen mal wieder an der Vernichtung vorbeischleusen.«
Sie spürte, wie Wim sie zweifelnd anschaute.
»Ja, was dachtest du denn? Da arbeiten doch keine Chorknaben. Wenn sie ein paar harmlose Gramm ohne Aufsehen abzweigen können, wird damit die nächste Feierabendsause gesponsert.«
Eva Ritter bekam eine Gänsehaut, als sie das Glockengeläut aus der Stadt herüberwehen hörte. Wie eine surreale Filmmusik zur Arbeit der Spurensicherung am Tatort. Eva stand abseits am Zaun und sah nur die Rücken der Männer, die um die Leiche herum standen, Nummern auf dem Boden verteilten, Fotos machten und hier und da kleinere Fundstücke in Tüten packten. Zum ersten Mal seit ihrem Abschied aus dem Dienst spürte Eva fast körperlich, dass sie nicht mehr dazu gehörte. Als ihr Ex-Kollege Bernd Kerner mit der üblichen zynischen Miene in der Kleingartenanlage eintraf, hatte er sie freundlich aber bestimmt gebeten, Abstand zu halten. Eigentlich war er dabei weniger nett gewesen. Eva wusste genau, wie sein Grummeln gemeint war. Sie hatte schließlich lange genug mit ihm zusammengearbeitet.
»Glaubst du, sie verdächtigen mich?«, fragte Wim Voss. Er saß neben ihr auf der Holzbank vor der Gartenlaube und versuchte, nicht allzu neugierig auf die Männer von der Spurensicherung zu starren. Er kramte ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche und stopfte sich eine alte, abgegriffene Pfeife.
»Wenn schon, verdächtigen sie mich nicht weniger als dich. Wer die Leiche findet, ist in den seltensten Fällen der Mörder. Das weiß auch Kerner. Er ist nicht dumm. Nur extrem ehrgeizig.«
Wim Voss zündete den Tabak an und zog zweimal kräftig an der Pfeife.
»Das sieht man ihm an. Ganz schön drahtig dein Ex-Kollege. Hartes Kinn. Weicher Kern?«
Eva schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal sah sie sich ihren ehemaligen Partner bei der Mordkommission als Unbeteiligte an. Wim hatte recht. Die Energie sprühte Kerner aus jedem Knopfloch seines perfekt sitzenden Anzugs. Selbst der Knoten der Krawatte wirkte wie mit dem Winkelmesser gezogen. Man hätte ihn auch für einen eiligen Börsenmakler zwischen zwei Terminen halten können. Als Kommissar in einem ›Tatort‹ wäre er in diesem Aufzug eine glatte Fehlbesetzung gewesen. Selbst Derrick hätte sich gegenüber Kerner zumindest ein wenig ungepflegt gefühlt.
An Voss und Ritter war Kerner zunächst im Stechschritt, die vom frechen Wind verwirbelten Haare glatt streichend, vorbeimarschiert. Ein knappes »Zu euch komme ich später« musste als Gruß genügen. Er hatte dabei nicht einmal seine Brille mit den getönten grünen Gläsern abgesetzt. Ebenso wenig wie sich sein breites Grinsen nur einen Moment verändert hatte. Eva hatte das schon immer eigenartig gefunden. Kerner hatte es sogar aufgesetzt, wenn er einen Bericht anfertigte. Wahrscheinlich hatte er es sich bei einem dieser toughen Detektive im Kino abgeguckt und regelmäßig vor dem Spiegel geübt. Sie wunderte sich nur, warum Kerner hier war. Genau wie sie einst, saß er in der Kriminaldirektion in Frankfurt. Für Eschborn waren aber die Hofheimer Kollegen zuständig.
Er agierte jetzt ganz anders als früher zusammen mit Eva Ritter. Sie hatte ihn regelrecht zur Langsamkeit gezwungen, hatte immer ein bedächtiges Tempo eingeschlagen, mit dem sie jeden Zeugen und Verdächtigen beinahe einschläferte. Das war auch ihr Ziel. So konnte sie besser arbeiten. Sie versuchte zunächst die Schwingungen um die Verdächtigen herum aufzunehmen, wollte die Atmosphäre des Tatorts oder einer Wohnung spüren. So wie eine Katze wie gelähmt erscheint, wenn sie die Beute sieht, den Vogel oder die Maus einen endlos scheinenden Moment lang abschätzt, Gerüche, Wind, Geräusche aufnimmt und all dies zusammenrechnet, bevor sie zuschlägt. Deshalb achtete Eva nie so sehr darauf, was die Zeugen und Verdächtigen sagten, sondern wie sie es taten. Der Blick, der Lidschlag, das unbewusste Zucken der Augenbrauen, die Länge eines Zögerns waren für sie stets das Barometer für Wahrheit und Lüge, Fakten und zusammenphantasiertes Gerede. Das Böse verriet sich oftmals durch Kleinigkeiten. Der Rest an Information ergab sich dann immer. Irgendwie. Kerner war dagegen immer übereifrig. Er wollte den Täter zur Strecke zu bringen, als sei er auf der Jagd. Solche Emotionen fand Eva immer hinderlich. Diese Fokussierung auf Beute verstellte den Blick. Der Täter war kein Tier, das man erlegt. Er hatte ein Mindestmaß an Respekt verdient. Man musste ihn verstehen lernen, dann brauchte man nur auf ihn zu warten.
»Vermisst du es?«, fragte Wim in ihr Grübeln hinein.
»Du meinst, so wie die Jungs hier mit der Nase beinahe über die Leiche zu kriechen, um dann den Pathologen mit der immer gleichen Frage zu nerven und die immer gleiche Antwort zu bekommen? Bestimmt nicht.« Ihr Blick folgte Kerner, der in vorsichtigen Schritten um die Männer der Spurensicherung herumging, hierhin und dorthin deutete, um möglichst wichtig zu wirken.
»Ich wette, Kerner bekommt allmählich hektische Flecken im Gesicht. Er hat es eilig. Er mag Außentermine nicht so sehr. Im Präsidium hat er mehr Zuschauer, die für die Karriere wichtig sind.«
»Das ist zu spät. Ich brauche das so schnell wie möglich auf meinem Schreibtisch«, hörte sie ihn einen der Männer anblaffen. Kerner hatte es immer eilig. Auch in der Karriere. Er war im rasanten Tempo befördert worden.
Weniger angesichts seiner Erfolge, obwohl er die hatte, sondern vor allem, weil er sich gut verkaufen konnte. Ich – das war sein Lieblingswort in Gesprächen. Dann hatte er auch noch das Glück gehabt, dass Eva Ritter vorzeitig aus dem Dienst ausschied. Sie war sicher, dass sich Kerner als ihr Nachfolger nicht lange auf dieser Position aufhalten wollte. Er hatte höhere Ziele. Dabei kam es auch darauf an, möglichst gut auszusehen. Also warf er sich auch hier in Pose, wie ein Feldherr, der seine kleine Truppe beobachtete.
Eva zog Wim ein wenig näher zu sich heran.
»Dabei ist das alles nur Theater, weil man sich irgendwie die Zeit vertreiben muss, während man sich einen Eindruck von Tatort verschafft. Schließlich weiß jeder erfahrene Beamte die Antwort schon grob. Man bekommt mit den Jahren einen Blick dafür, wie lange eine Leiche ungefähr im Moder liegt. Es sei denn, sie liegt seit Wochen dort. Aber dann ist es ohnehin sinnlos, die Ermittlungen mit Blaulicht zu starten. Wenn du es auf die Minute genau brauchst, musst du ohnehin warten, bis der Pathologe seine Labortests beendet hat. Pass auf, jetzt sagt der Pathologe ihm gleich: ›Zwölf, höchstens 24 Stunden. Genaueres weiß ich nach der Obduktion.‹«, hauchte sie Voss mit der nachgestellten Stimme des Pathologen ins Ohr und wedelte sich dabei eine dicke Tabakwolke vor der Nase weg.
Währenddessen hatte sich der Rechtsmediziner, der noch über der Leiche lehnte, nur kurz zu Kerner umgedreht, so als sei er gerade von einem Hausierer angesprochen worden, dem man nicht unbedingt mit Höflichkeit begegnen musste und schon gar nicht die Chance zu einem längeren Gespräch bieten wollte.
Der Rechtsmediziner Franz Reinhardt stand kurz vor der Pensionierung. Eigenartigerweise war er der einzige im Haus gewesen, der sich bei ihrem Abschied nicht nur nach ihren künftigen Plänen, sondern auch nach der Gemütslage erkundigt hatte. Dabei hatte der Zwei-Meter-Mann wie immer seine langen schlaksigen Arme vor dem Brustkorb verknotet, als wüsste er nicht, wohin damit. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, Mädchen«, hatte er gesagt. Er nannte alle Frauen im Haus immer Mädchen, gleichgültig wie alt sie waren. Die 18-jährige Praktikantin genauso wie Ruth Hammer, die ehemalige Sekretärin des Polizeichefs, die vor einem Jahr in den Ruhestand gegangen war.
»Mädchen, freu dich an einem guten Essen und an einer guten Verdauung. Das sollte man sich erhalten. Alles andere ist nur ein Furz, der sich ohnehin mit der Zeit verdünnisiert.«
Das passte zu Reinhardt. Er hatte sich in den Jahrzehnten bei der Kripo einen dermaßen guten Appetit bewahrt, dass er sogar neben der Leiche knien, in Würmern stochern und ein Pastrami-Sandwich essen konnte. Obwohl man ihn sogar bei einer Obduktion selten ohne eine Knabberei in der Hand sah, blieb er überaus hager und sorgte damit stets für neidische Kommentare der Frauen in seiner Umgebung. Eva Ritter eingeschlossen.
Wie wohl die junge brünette Frau mit ihm zu Rande kam, die einen halben Meter hinter ihm stand? Sie hatte sich einen dicken bordeauxfarbenen Wollschal um Mund und Nase gebunden. Eva tippte auf eine Studentenpraktikantin, die sich vor dem Geruch der Leiche übertrieben fürchtete. Ihre Anwesenheit erklärte auch, warum Reinhardt mit herausgekommen war. Er wollte ihr sicher das ›wahre Leben jenseits des Labors zeigen‹, wie er das nannte. Seine übliche Art zu prüfen, wie abgebrüht seine Praktikanten waren.
Zu essen hatte er diesmal nichts dabei. Seine Hände schlackerten in der Luft und waren vollauf damit beschäftigt, die Studentin auf Details hinzuweisen. Entsprechend missmutig erledigte er seine Arbeit. Eva sah, wie er ungeduldig zwei Mitarbeitern vom Beerdigungsinstitut, die am Zaun warteten, ein Zeichen gab, dass sie die Leiche jetzt abtransportieren konnten, um kurz darauf Kerner mit einer ›Bin ich Jesus?‹-Geste anzusehen.
Der Kommissar kam zu ihnen herüber.
Kerner nickte Wim Voss zu und hüstelte dabei, wie immer, wenn er unter Stress stand.
»Wann waren Sie das letzte Mal hier?«
»Letzten Sonntag. Prüfen, ob der Winterschutz noch hielt.«
»Irgendetwas bemerkt?«
»Sollte ich? So lange kann der doch da noch nicht liegen.«
Kerner sah einen Moment lang verwirrt aus. Dann warf er Eva Ritter einen bösen Blick zu.
»Und heute?«
»Es muss kurz nach 9 Uhr gewesen sein. Keine besonderen Vorkommnisse.«
Wim nahm übertrieben Haltung an.
»Eine halbe Stunde später kam Eva vorbei«.
»War die Truhe abgeschlossen?«
»Nein.«
»Haben Sie keine Angst vor Einbrechern hier im Kleingarten?«
»Hier? Ihre Ex-Kollegin hat mich das auch schon gefragt. Ihr Polizisten habt das Misstrauen gegen andere Menschen auch in den Genen.«
Voss sah Kerner an, als habe dieser ihn soeben gefragt, in welchen Safe man am besten einen abgegessenen Apfel steckt. »Schauen Sie sich doch einmal um. In zehn Minuten sind Sie in Kronberg und Königstein, da gibt es lohnendere Ziele. Für die Junkies aus Frankfurt ist das hier außerdem zu weit weg. Und wenn, brechen sie in die Häuschen ein, um eine warme Nacht darin zu verbringen und weil sie auf eine Pulle Schnaps spekulieren. Aber den Gerätekasten? Den schließt hier niemand ab. Wozu auch. Haben Sie schon mal erlebt, dass ein Junkie versucht, am Hauptbahnhof eine Gartenharke zu Geld zu machen oder mit einer Gießkanne über die Zeil rennen sehen, um seinen Dealer zu bezahlen?«
»Ich kenne einen geistig verwirrten Freigänger, der immer mit seinem Staubsauger auf der Zeil spazieren geht«, sagte Eva.
»Kennst du den Nackten, der nur in Socken durch Frankfurt läuft?«, fragte Wim.
Eva verkniff sich ein Grinsen, als sie Kerners gequältes Gesicht sah.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Käme mir nie in den Sinn«, sagte Voss.
Kerner grummelte wie ein herannahendes Gewitter.
»Das würde ich Ihnen auch nicht raten. Ich bin zwar überzeugt, dass Sie den Toten nicht erst an anderer Stelle erschießen, um ihn dann im eigenen Garten zu deponieren, aber ich könnte auch auf die Idee kommen, dass Sie eben ein ganz gerissenes Kerlchen sind und Sie erst einmal mitnehmen, wenn Sie hier den Spaßvogel geben wollen.«
»Weißt du schon, womit und wann er erschossen wurde?«, schaltete sich Eva ein. »Lass mich raten. Kleinkaliber. Maximal 18 bis 24 Stunden.«
Sie merkte, wie schnell sie gegenüber Kerner wieder in den knappen Stil informellen Austausches geriet, den sich beide in langen Jahren im Büro angewöhnt hatten.
»Eva, du bist nicht mehr im Dienst.«
»Und wieso bist du hier? Das ist doch eigentlich Aufgabe der Hofheimer Kollegen.«
»Ihnen fehlen die Leute. Grippewelle. Und der Rest ist im Urlaub oder feiert Überstunden ab. In Hofheim sitzt wohl im Moment nur eine Kommissaranwärterin. Die wollten sie wohl noch nicht in die freie Wildbahn lassen.«
»Also sag schon, wann und womit ist er umgebracht worden? Vielleicht hab ich auch was für dich. Ich wette, der Tote hatte keine Papiere. Wer sich die Mühe macht, jemanden in eine solche Gartenbox zu quetschen, ist auch geistesgegenwärtig genug, die Papiere verschwinden zu lassen. Also, wisst ihr schon, wer es ist?«
»Eva, lass die Spielchen. Du bist Zivilistin.« Er stemmte die Arme in die Hüfte. Sie konnte das Knurren hören, dass sich in seinem Kehlkopf anstaute und herauswollte.
»Wir haben ihn immerhin gefunden. Du weißt, dass wir damit nicht hausieren gehen. Information gegen Information. Das spart dir ein paar Stunden Arbeit. Ansonsten weiß ich von nichts. Ich bin Zivilistin, eine einfache Bürgerin.«
Als Karrierist hatte Kerner ein gutes Gespür, wann er anderen auf die Füße treten musste, und wann er besser für gutes Klima sorgte. Er öffnete seinen Sakko, um ein wenig lockerer zu wirken und machte eine wegwischende Handbewegung.
»Jetzt sei bitte nicht eingeschnappt, Eva. Wir können doch normal miteinander reden.«
Für einen Augenblick entspannten sich die Mienen. Eva registrierte, dass man sogar den Frühling riechen konnte, nachdem die Pfeife von Wim ausgegangen war. Ein Sekunde später hätte sie die kalte Pfeife Kerner liebend gerne an den Kopf geworfen.
»Versprich mir nur, dass du jetzt nicht anfängst, als hessische Miss Marple durchzustarten.«
Sie warf ihm einen Blick zu, den er aus Verhören nur zu gut kannte. Für den Verdächtigen wurde es dann meist bis an die Grenzen des rechtlich Möglichen unbequem.
»Miss Marple?« Sie zischte es mehr, als das sie es sagte. »Du bist heute wieder sehr charmant.« Sie schnaubte übertrieben laut. Auch weil sie sich selbst in letzter Zeit zunehmend als etwas fülliger empfunden und deshalb den Entschluss gefasst hatte, endlich einmal wieder etwas abzunehmen, bevor sie wirklich eines fernen Tages aussehen würde wie eine alte Schachtel. Dann hatte sie über die Gedanken an die paar überflüssigen Pfunde nur gelacht. Als wenn sie keine anderen Sorgen hätte. Aber umso empfindlicher reagierte sie nun auf Bemerkungen, die sie an einer wunden Stelle trafen.
»Davon bin ich ja wohl noch dreißig Jahre entfernt. Mindestens. Oder sehe ich aus wie jemand, der sich die Haare lila ondulieren lässt?«
Kerner schluckte und Voss versteckte sein Grinsen hinter der Pfeife.
»Sorry. Du weißt, wie ich das meinte.« Er überlegte einen Moment. »Tatzeit wahrscheinlich irgendwann gestern zwischen 21 Uhr und Mitternacht. Vermutlich eine Automatik. Der Schuss kam von hinten. Du hast ihn doch da liegen gesehen. Ich sag dir doch sicher nichts Neues?«
»Ich wollte nur sicher sein.«
»Er muss hier in der Kleingartenanlage erschossen worden sein. Wahrscheinlich da vorne auf dem Weg.« Er deutete ungefähr in die Richtung. »Ich habe Blut und Schleifspuren gefunden. Dann hat der Täter vermutlich nach einem Versteck gesucht und die Leiche in die Truhe gelegt.«
»Zeugen?«
»Ich habe einen Kollegen zum Vereinsvorsitzenden geschickt.«
»Der wird Ihnen sagen, dass die Deponierung von Leichen in der Anlage gegen die Satzung verstößt«, unterbrach ihn ein grinsender Wim Voss.
Kerner stemmte die Hände in die Hüfte und zog die Mundwinkel nach unten.
»Ich lasse noch die Mitglieder befragen. Vielleicht war noch einer von ihnen spätabends hier. Womöglich haben auch die Nachbarn in der Wohnsiedlung etwas gesehen. Ich habe ein paar Leute losgeschickt. Aber bei diesen fürchterlich hohen Hecken hier rund um die Anlage habe ich wenig Hoffnung. Was treibt denn so ein Kerl nachts hier im Kleingarten? Im Business-Anzug. Das ist doch wohl nicht der passende Aufzug.«
Missmutig sah er Voss an, als wollte er dessen verschlissenen Aufzug mit dem des Toten vergleichen. Kerner verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht findet die Spurensicherung ja doch noch etwas. Viel Hoffnung habe ich nicht. Es hat heute Nacht geregnet. Falls es auf dem Weg weitere Spuren gibt, werden die kaum zu gebrauchen sein. Auch sonst Fehlanzeige. Es ist nichts da. Keine Papiere, keine Autoschlüssel. Nichts. Das wird eine elendige Arbeit.« Er hüstelte.
»Ich kann dir ein wenig weiterhelfen« sagte Eva selbstzufrieden. »Der Tote ist Jens Lücker. Eurobest-Bank. Anfang 30 und schon die Nummer 2 dort. Ein top Fondsverwalter. Brachte der Bank viel Geld ein. Ziemlich gut vernetzt und verdrahtet. Er saß im Vorstand verschiedener Hilfsorganisationen, war Mitglied im Golfclub, Reitclub, Rotarier, das übliche halt, wenn man Networking betreibt. Mit unserem Polizeipräsidenten soll er schon manche Runde auf dem Golfplatz gedreht haben. Ich habe mir kürzlich erst ein Dossier über ihn bei uns im Büro angesehen, nachdem ich ihn mit seinem Chef auf einer dieser Stehpartys getroffen habe. Du weißt ja: lokale Prominenz, Geldadel, Politiker. Das sind seine Kreise. Der Fall schreit geradezu nach Fettnäpfchen. Einmal falsch aufgetreten und schon hat deine Personalakte einen Fleck. Ich wünsche dir viel Spaß dabei. Du weißt ja, wie sensibel dein Chef bei solchen Fällen wird. Rück schon mal die Krawatte gerade.«
Sie spürte, dass sie Spaß daran hatte, Kerner ein wenig zu piesacken. Er hustete mehrmals. Sie ließ ihn stehen.