Keine Nachricht von Kami - Magnhild Bruheim - E-Book

Keine Nachricht von Kami E-Book

Magnhild Bruheim

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Beschreibung

Bente ist in großer Sorge. Ihre Freundin Kami (15) ist vom einen auf den anderen Tag spurlos verschwunden. Sie geht nicht ans Handy, es kommen keine Nachrichten, nichts. Alle sind in großer Aufregung und wenig später wird Kami sogar bei der Polizei als vermisst gemeldet. Wo kann Kami nur stecken? Bente beschließt, Kami auf eigene Faust zu suchen und findet sie tatsächlich vor der Polizei. Doch damit fangen die ganz großen Schwierigkeiten erst an. Denn Kami steht mit zwielichtigen Typen in Kontakt, die es auf Nacktfotos junger, hübscher Mädchen abgesehen haben. Eine dramatische Flucht beginnt.-

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Magnhild Bruheim

Keine Nachricht von Kami

Aus dem Norwegischenvon Kathrin Hägele

Saga

1

Das Model auf dem Bild starrte sie mit großen, stark geschminkten Augen an, die eine Hand hatte sie leicht auf der Hüfte liegen. Das Mädchen war super dünn. Die Stimmung von Bente Vessel trübte sich gleich noch etwas mehr. Sie beschloss, auf das Abendessen zu verzichten, und blätterte mutlos weiter.

Eine Sekunde nach dem ersten Klingelton hatte sie schon das Handy ergriffen, das neben ihr auf dem Bett lag.

»Hei, jetzt stehen wir draußen vor dem Kino«, sagte Kari-Marie in ihr Ohr.

»Wer ist alles dabei?«, fragte Bente.

»Gunn, Martine, Kristoffer, Benjamin und … Jonna.«

»Was macht ihr gerade?«

»Wir gehen gleich rein. Der Film fängt in zwei Minuten an.«

Ein störendes Klopfen an ihrer Tür unterbrach das Gespräch. Die Mutter steckte ihren Kopf herein: »Das Abendessen ist fertig.«

Eigentlich wollte Bente antworten, dass sie nichts essen würde, aber sie hatte jetzt keine Lust auf Diskussionen. Deshalb setzte sie nur eine ungeduldige Miene auf und zeigte auf das Telefon. Die Mutter sah doch, dass sie gerade mit Wichtigerem beschäftigt war.

»Komm, sobald du fertig bist«, meinte die Mutter, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

»Geht ihr danach noch woanders hin?«, fragte Bente ihre Freundin.

»Vielleicht. Schade, dass du nicht dabei bist.«

»Total schade«, seufzte Bente, die über die neuen Familienregeln genervt war. Vor kurzer Zeit hatten die Eltern nämlich die grandiose Idee, dass alle den Mittwochabend gemeinsam verbringen sollten. Das würde den Zusammenhalt stärken, meinten sie, doch das war die dümmste Idee, die Bente seit langem gehört hatte. Es wäre ja in Ordnung, wenn sie diese Regel eingeführt hätten, als sie zehn oder zwölf war, aber nicht jetzt, wo sie bald fünfzehn wurde.

Ein Teil des Mittwochabends sollte damit verbracht werden, zusammen zu essen und zu reden. »Man kann ja noch andere nette Sachen machen«, meinten die Eltern. Sie wollten damit irgendwie zeigen, dass sie sich kümmerten. Bente verbrachte ja gerne ab und zu Zeit mit der Familie, das war nicht der Punkt. Aber wenn sie andere Pläne hatte, so wie heute Abend, machte es sie wütend. Ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, mit der Clique ins Kino zu gehen, und es war ihnen ganz egal, ob sie den Abend lieber mit den Freunden verbringen wollte. Wenn das so weiterging, dann wurde sie ja immer mehr zur Außenseiterin!

»Du … jetzt gehen wir rein …« Bente hörte an der Stimme von Kami, dass sie lief. »Ich habe übrigens was Spannendes zu erzählen … ich schreibe dir ’ne SMS.« Dann legte sie auf. Bente war sich selbst und einem langweiligen Abend überlassen.

Ihr Bruder Sven war der Nächste, der störte. »Essen ist fertig.«

»Ich will nichts essen«, antwortete Bente, obwohl sie keine große Hoffnung hatte, dass es etwas nützen würde, nein zu sagen.

»Du musst aber«, sagte der Zwölfjährige überlegen. »Es ist Mittwochabend.«

»Ich komme gleich«, sagte Bente, um ihn loszuwerden.

J.A. will wieder mit dir zusammen sein, lautete die SMS auf ihrem Handy. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Mit Jon-Arne wieder zusammen zu sein kam nicht infrage. Das war für immer zu Ende. Vor allem nach dem, was vor ein paar Wochen passiert war. Aber im Grunde war es okay, dass er noch wollte.

Und weiter?, schrieb sie zurück, in der Hoffnung, ausführliche Informationen zu bekommen.

Es kam keine Antwort. Wahrscheinlich, weil der Film angefangen hatte. Der Film, den sie nicht sehen durfte. Lustlos griff sie wieder nach der Zeitschrift, in der sie gerade gelesen hatte.

Aber die Mutter gab nicht auf: »Bist du sauer, oder was ist los?«, fragte sie und kam wieder ins Zimmer.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Das geht so nicht. Komm jetzt.« Die Mutter war manchmal unerträglich bestimmend.

Bente sagte nichts, dachte sich aber ihren Teil: Sie würde auf keinen Fall etwas essen. Niemand konnte sie zwingen.

Sven saß mit seinem breitesten Grinsen am Tisch. Für ihn war es ja auch in Ordnung, er verpasste nichts.

»Was ist los mit dir?«, fragte der Vater gutmütig. »Geht’s dir nicht gut?«

»Sie wollte heute Abend ins Kino gehen«, antwortete die Mutter, bevor Bente ihre Version anbringen konnte.

»Wenn die Regeln so engstirnig befolgt werden müssen, bewirken sie genau das Gegenteil«, sagte Bente. »Ab und zu gibt es wichtigere Dinge.«

»Wie ins Kino zu gehen?«, fragte der Vater und versuchte so gut er konnte, witzig zu sein.

»Das ist ein verdammt guter Film.«

»In diesem Haus wird nicht geflucht«, warf die Mutter rasch ein.

»Man darf doch wohl noch seine Meinung sagen«, antwortete Bente wütend.

»Den Film kannst du doch auch an einem anderen Abend sehen«, wandte der Vater ein.

»Aber alle anderen sind heute Abend da«, beharrte Bente. Dass sie das nicht begreifen wollten!

Die Mutter öffnete die Tür vom Backofen, und der Geruch von überbackenen Broten wehte zu ihnen. Bente merkte, dass sie trotzdem ein bisschen hungrig war. Ein paar Extrakalorien waren bestimmt nicht so schlimm. Dann ließ sie lieber das Schulbrot am nächsten Tag weg. Ehe sie sich versah, hatte sie die beiden Brote gegessen, die ihr zugedacht waren.

»Gibt es etwas, was dich zurzeit bedrückt?«, fragte der Vater, nachdem sie fertig gegessen hatten.

Zeit für die Gesprächsrunde, dachte Bente. »Nur, dass ich nicht über mich selbst bestimmen darf«, sagte sie, stand auf und ging in ihr Zimmer.

Kari-Marie rief um Viertel nach elf an. Da saß sie im Bus und war auf dem Nachhauseweg.

»Cooler Film«, sagte sie. »Richtig unheimlich … ein Mädchen wurde gefangen gehalten …«

»Aha«, sagte Bente. Sie war nicht so sehr am Film interessiert.

»Was habt ihr danach gemacht?«

»Nichts Besonderes. Wir waren beim Kiosk und haben ein paar Süßigkeiten gekauft und die Video-Regale durchgesehen. Dann sind wir zur Haltestelle gegangen und haben auf den Bus gewartet.«

»Was du da von Jonna gesagt hast …?«

»Er hat nach dir gefragt. Ich hab mich erkundigt, ob er immer noch an dir interessiert ist, und er hat ja gesagt.«

»Aber ich bin nicht mehr an ihm interessiert.«

»Ist mir schon klar. Aber ich weiß nicht, wie ernst du es meinst.«

»Sehr ernst.«

»Stian war auch da.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Bente, während ihr Herz schneller schlug. Sie versuchte, nicht zu interessiert zu scheinen. Kami könnte misstrauisch werden.

»Er geht mir irgendwie aus dem Weg. Ich weiß nicht … ist mir aber auch egal.« Kami war ein paar Sekunden lang still. Dann sagte sie im Flüsterton: »Jetzt habe ich mehr Interesse an einem coolen Typen hier im Bus.«

»Kennst du ihn?«

»Nein, hab ihn noch nie gesehen. Dunkle, kurze Haare. Gut aussehender Typ. Etwas älter als wir. Ich hab gemerkt, dass er mich mehrmals angesehen hat.«

»Geh zu ihm und red mit ihm.«

»Bist du bescheuert?«

»Aber was du gesagt hast … Heißt das, dass mit Stian Schluss ist?«

»Time will show«, antwortete Kami abweisend. Ihre Stimme war ein paar Sekunden lang nicht zu hören. »Aber du …«

Bentes Herz machte einen kleinen Sprung, sie fürchtete sich vor dem, was kommen würde. Vielleicht wusste es Kami doch?

»Der Akku ist bald leer«, sagte Kami. »Jetzt sieht er übrigens zu mir her … der Typ. Ich rufe dich an, wenn ich aussteige. Hoffentlich reicht der Akku.«

»Okay«, sagte Bente und legte auf. Sie war erleichtert.

Sie telefonierten oft, wenn eine von ihnen allein im Dunkeln unterwegs war. Das nahm etwas die Angst und verscheuchte vielleicht eventuelle Vergewaltiger. Um von der Bushaltestelle nach Hause zu kommen, musste Kari-Marie durch eine Gegend, in der keine Häuser standen.

Zehn Minuten später ließ sich der melodische Klingelton wieder vernehmen.

»Hei«, sagte Kami außer Atem. »Jetzt bin ich auf dem Heimweg. Der Typ ist auch ausgestiegen. Er geht genau vor mir. Militärjacke und Boots. Ein erwachsener Mann ist auch ausgestiegen, aber den sehe ich jetzt gerade nicht. Vielleicht ist er hinter mir. Personenbeschreibung: Langer, dunkler Mantel. Kurze Haare. In den 30ern, vielleicht.« Durch das schnelle Gehen war ihre Stimme abgehackt. »Und was hast du heute Abend gemacht?«

»Das gewöhnliche Mittwochsprogramm«, seufzte Bente. »Lauter langweilige Sachen. Überbackene Brote … die waren übrigens gut.«

»Ich wünschte mir, Liv würde zwischendurch mal was Gutes machen.«

»Deine Mutter ist doch okay.«

»Aber sie hat nie Zeit, es mal gemütlich zu machen.« Kami war außer Atem, als ob sie schneller ginge. »Und sonst? Hast du mit Ingrid gesprochen?«

»War sie nicht mit im Kino?«

»Hast du vergessen, dass sie zum vierzigsten Geburtstag von ihrer Tante musste? Sie hat sich sicher zu Tode gelangweilt.«

»Hab ich nicht dran gedacht«, sagte Bente. Das stimmte nicht: Sie hatte schon an Ingrid gedacht. Das Problem war nur, dass sie zurzeit nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Das hatte sie Kami nicht erzählt.

Aber jetzt wurde die Verbindung durch ein seltsames Rauschen gestört. Danach hörte sie schwach die Stimme von Kami: »Hei. Ich spreche gerade mit einer Freundin.« Eine Männerstimme sagte etwas, was Bente nicht verstand. Kami antwortete: »Was?« Und danach: »Wart mal.«

Plötzlich hörte Bente ein dumpfes Geräusch, als ob das Handy auf den Boden gefallen wäre. Die Verbindung war unterbrochen.

»Hallo?«, sagte Bente, bekam aber keine Antwort. Dann ist wohl der Akku leer, dachte sie. Trotzdem rief sie noch mal an, erhielt aber nur die Ansage, dass der gewünschte Gesprächspartner zurzeit nicht erreichbar sei. Kami wird anrufen, sobald sie zu Hause ist, dachte Bente und blätterte in der Zeitschrift, während sie wartete.

Nach zwanzig Minuten versuchte sie wieder, die Freundin zu erreichen.

Niemand ging ran. Hatte sie sich einfach hingelegt, ohne anzurufen? Das sah Kami gar nicht ähnlich. Bente wartete weitere zwanzig Minuten ab, bevor sie es wieder versuchte. Doch diejenige, die sich dann meldete, war Kamis Mutter, Liv Eiker. »Ich bin gerade erst zur Tür reingekommen«, sagte sie. »Ich denke, Kari-Marie ist in ihrem Zimmer. Es ist ja fast zwölf Uhr. Sie schläft sicher schon.«

»Kannst du bitte nachsehen?«, bat Bente.

»Natürlich«, sagte Liv unsicher.

Bente sagte nichts weiter, und Liv legte auf. Ein paar Minuten später rief sie wieder zurück: »Nein, sie ist nicht da. Und ich sehe auch ihre Jacke nicht. Normalerweise ist sie sonst nicht mehr so spät unterwegs, jedenfalls nicht an einem Mittwochabend.« Sorge lag in ihrer Stimme. »Sie muss ja morgen wieder in die Schule.«

»Ich habe vor ungefähr einer Stunde mit ihr gesprochen«, sagte Bente, während sich etwas in ihr zusammenschnürte. »Da war sie aus dem Bus gestiegen. Sie müsste längst zu Hause sein.«

»Was sagst du da?«, fragte Liv mit zitternder Stimme.

Bente versuchte, die passenden Worte zu finden, um zu erklären, was sie wusste.

2

Der ganze Schulhof war wie ein summender Bienenstock. Die Schüler schwirrten außerhalb des niedrigen, grauen Steingebäudes hin und her. Alle redeten nur über eine Sache: Kari-Marie Eiker war verschwunden!

Bente bekam kaum etwas davon mit, was um sie herum geschah. Alles war unwirklich. Ein Gedanke schoss ihr die ganze Zeit durch den Kopf: Was war mit Kami geschehen? Bilder tauchten auf, die sie nicht sehen wollte. Kami im Schnee. Kami mit einem unbekannten Mann über sich. Es war wie ein böser Traum. Und sie selbst hatte zu spät reagiert.

Die Mitschüler umringten sie. Nachdem sie ein paar Mal das letzte Gespräch mit Kami wiedergegeben hatte, konnte sie nicht mehr. Sie zog sich in das Büro der Rektorin zurück. Dort wollte die Polizei noch einmal mit ihr sprechen. Im Büro saßen auch alle, die am Abend zuvor mit ins Kino gegangen waren. Sie hatten wenig Neues hinzuzufügen. Die Berichte waren alle gleich und endeten an der Bushaltestelle ungefähr um halb elf.

Die Polizei hatte um halb eins in derselben Nacht bei Bente angerufen und ihre ganze Familie aufgeweckt. Kari-Marie war als vermisst gemeldet worden, und Liv Eiker hatte der Polizei mitgeteilt, was Bente ihr erzählt hatte. Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Der Vater blieb bis drei Uhr mit ihr auf. Dann rief Liv an und sagte, dass sie nichts Neues zu erzählen hätte, und ihr Vater meinte, dass sie versuchen sollten, ein bisschen zu schlafen. Das war leichter gesagt als getan. Bente war schon wieder aufgestanden, bevor es hell wurde, und wartete auf den nächsten Anruf. Der war jedoch auch nicht erfreulicher.

Unter den Polizisten war auch eine Frau. Ziemlich jung für eine Polizistin, dachte Bente. Wohl nicht älter als fünfundzwanzig. Die schwarze Uniform war die gleiche wie bei den anderen. Ihre Haare waren hellblond und lockig. Sie war nicht gerade schlank. Sie kam zu Bente herüber.

»Ich heiße Mona«, sagte sie freundlich. »Ich möchte gerne ein wenig mehr mit dir reden, Bente. Aber ich habe mir gedacht, dass wir besser in ein anderes Zimmer gehen. Wir können das Büro nebenan nehmen.«

Bente fand das in Ordnung. Zusammen mit der Polizistin trottete sie ins nächste Büro.

»Bist du sicher, dass Kari-Marie auf dem Nachhauseweg war, als sie dich anrief?«

Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Bente war fast ein bisschen beleidigt. Glaubte die Polizistin etwa, dass sie gelogen hatte?

»Das habe ich doch gesagt. Sie rief zuerst vom Bus aus an und dann zehn Minuten später, nachdem sie ausgestiegen war.« Bente war es leid, das wieder und wieder erklären zu müssen.

»Wir haben mit dem Busfahrer gesprochen. Er meint, dass Kari-Marie ein paar Bushaltestellen vor ihrer Haltestelle ausgestiegen sei.« Mona sah Bente misstrauisch an.

»Aber warum sollte sie vorher aussteigen?«

»Das fragen wir uns auch.«

Bentes Gedanken kreisten wild in ihrem Kopf. Sie verstand nicht, was die Polizei vermutete. Sie blickte sich in dem kümmerlichen Büro um. Überall Papiere und Bücher. Der Schreibtisch, das Buchregal, die Schrift an der Tafel. Ein Landschaftsbild war das Einzige, was davon abstach.

Mona fragte weiter: »Und du bist dir sicher, dass sie den jungen Mann nicht kannte, der mit ihr ausgestiegen ist?«

»Das hätte sie mir doch erzählt, wenn sie ihn gekannt hätte, oder?«

»Die Personenbeschreibungen, die sie dir gegeben hat, stimmen mit denen des Busfahrers überein. Der Typ kann ihr gefolgt sein.«

Das Letzte sagte die Polizistin mehr zu sich selbst, bevor sie Bente wieder ansah. »Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wer er sein könnte?«

Bente konnte nur mit dem Kopf schütteln. Durch das Fenster sah sie die Gestalten, die auf dem Schulhof herumschwirrten. Unruhig. Als ob alles aus den Fugen geraten sei. Eine fehlte dort.

»Könnte er ein Ausländer gewesen sein?«

»Kami, also Kari-Marie, hat nichts darüber gesagt«, sagte Bente. Sie musste sich zwingen, aufmerksam zu sein.

»Noch etwas, Bente. Bald wird es hier vor Journalisten wimmeln. Ich gebe dir den Rat, so wenig wie möglich zu sagen, wenn sie mit dir reden wollen. Es gibt so Vieles, was noch unsicher ist. Wenn sie dich bedrängen, kannst du antworten, dass du der Polizei alles gesagt hast, was du weißt.«

Als sie wieder in das andere Büro zurückkamen, sagte die Rektorin, dass sich Bente gerne den Rest des Tages frei nehmen könne. Sie müsse sich sicher ausruhen, meinte sie. Bente wusste nicht so recht, was sie eigentlich wollte, stimmte aber zu, als sie hörte, dass ihre Mutter kommen und sie abholen würde. Ein Mann mit einer Halbglatze saß neben der Rektorin und machte sich Notizen.

»Du bist also die Freundin, mit der Kari-Marie Eiker auf dem Nachhauseweg gesprochen hat?«, fragte er und war sehr an Bente interessiert. Er gab ihr einen schlaffen Händedruck. »Ich komme von der Lokalzeitung. Kann ich kurz mit dir reden, bevor du gehst?«

»Jetzt nicht«, sagte Bente, ohne Monas Blick zu begegnen.

»Es dauert wirklich nicht lange. Nur ein paar Fragen. Und ein kleines Foto.« Sein Lächeln war zuckersüß. »Ich verstehe, dass du einen harten Tag hattest«, sagte er verständnisvoll.

»Jetzt nicht«, sagte Bente nochmal und zog ihre Jacke an.

»Bente Vessel, ist das richtig?«, fragte er.

Sie hatte keine Ahnung, woher er den Namen wusste, konnte aber nichts anderes als ja auf die Frage antworten.

Der Rest der Journalisten erwartete sie auf dem Schulhof. Plötzlich wurde sie von allen Seiten bedrängt, als ob sie ein Popstar wäre. Alle wollten nur sie interviewen. Sie stellten sich als Mitarbeiter von Lokalzeitungen, Radiosendern und zwei lokalen Fernsehsendern vor. Sie sagte, dass sie der Polizei alles gesagt habe, was sie wusste, und jetzt nach Hause wolle. Aber die Journalisten gaben nicht auf. Ohne ganz zu verstehen, wie ihr geschah, gab sie kurze Antworten auf die Fragen. Aber sie hielt das nicht für ein Interview, deshalb war sie erschrocken, als der Mann mit der großen Kamera sie filmen wollte.

»Wo, glaubst du, ist Kari-Marie?«

»Weiß ich nicht.«

»Hat Kari-Marie gesagt, dass sie Angst hatte, als du gestern Abend mit ihr gesprochen hast?«

»Nicht direkt.«

»Kennst du sie gut?«

»Wir sind gute Freundinnen.«

»War das ein schlimmer Tag für dich?«

»Ja.«

»Der schlimmste Tag in deinem Leben?«

»Ja.«

»Hast du Angst, dass sie Opfer einer kriminellen Handlung geworden ist?«

»Ja.«

Plötzlich stand ihre Mutter da. Sie nahm sie entschlossen am Arm und führte sie weg.

»Ich denke, die Geier haben genug bekommen«, sagte sie auf dem Weg zum Auto. »Hoffentlich haben sie dich nicht ganz aufgefressen.«

3

Bente zog sich in ihr Zimmer zurück, um ihre Ruhe zu haben. Als Entschuldigung gab sie vor, schlafen zu müssen. Stattdessen lag sie einfach nur da und dachte nach. Sie wurde die lästigen Gedanken einfach nicht los. Hätte sie sofort Alarm geschlagen, nachdem der Anruf mit Kami unterbrochen worden war, hätte die Freundin vielleicht gerettet werden können. Doch wovor eigentlich gerettet?, fragte sie sich. Niemand konnte ihr zum Vorwurf machen, dass Kami verschwunden war, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. War ihre Freundin an der falschen Haltestelle ausgestiegen? Wenn das stimmte, hatte Kami dann etwa gelogen? Warum? Gab es etwas, das Bente nicht wissen sollte? Oder bestand etwa nicht mehr dasselbe Vertrauen zwischen ihnen wie früher? Hatte Kami vielleicht auch angefangen, ihre eigenen Geheimnisse zu haben?

Um das schlechte Gewissen zu vertreiben, das sie plötzlich plagte, nahm Bente ihr Handy und wählte die Nummer von Martine. Doch das Handy war ausgeschaltet. Sollte sie Kamis Nummer versuchen? Sie wusste, dass die Polizei es mehrere Male versucht hatte, ohne Resultat.

Sie setzte sich im Bett auf und sah sich um. Ihr Zimmer war der einzige Ort, an dem sie selbst bestimmen durfte. Hier hatte sie alle ihre Sachen und konnte es sich schön machen. Die Wände waren voll mit Postern von Popstars, und auf den Regalen standen alle Dinge, an denen sie hing und mit denen sie schöne Erlebnisse verband. Die Barbiepuppen aus der Kindheit. Die Klassenfotos. Die Schubladen, die ein paar kleine Geheimnisse enthielten. Alles, was ihr etwas bedeutete. Am liebsten wäre sie für den Rest ihres Lebens in ihrem Zimmer geblieben.

Beim Piepen ihres Handys zuckte sie erschrocken zusammen.

Eine SMS: Hei! Bist du da?

Bente verschlug es fast den Atem. Die Nachricht war von Kamis Nummer gesendet worden!

Wer bist du?, schrieb sie zurück.

Es verging eine Weile, bevor sie die nächste SMS bekam: Warte auf neue Nachricht. Kann gerade nicht mehr schreiben. Erzähl niemandem davon. Ich vertraue dir. Sonst nichts.

War es wirklich Kami, die das geschrieben hatte? Wurde sie vielleicht irgendwo festgehalten und musste sich wegschleichen, um die SMS zu schreiben? Wurde sie von einem Vergewaltiger gefangen gehalten? Wurde sie gezwungen, die SMS zu schreiben? Seit der Sekunde, in der sie erfahren hatte, dass die Freundin verschwunden war, hatte ein Schreckensbild das andere abgelöst. Für den Fall, dass die SMS wirklich von Kami war, musste sie vorläufig tun, worum sie gebeten wurde. Hundert Prozent Vertrauen hatten sie sich viele Male versprochen. Sie hatten sich an den Händen gefasst und geschworen.

War es der Polizei nicht möglich, Leute aufzuspüren, deren Handy angeschaltet war? Bente glaubte sich zu erinnern, etwas darüber in einer Zeitschrift gelesen zu haben.

Zwei Stunden vergingen, ohne dass etwas geschah. In Bentes Phantasie war Kami gefesselt, wurde gefoltert und von unbekannten Männern vergewaltigt. Sollte sie das alles nicht doch melden?

Ihr Vater kam nach Hause und steckte seinen Kopf zur Tür herein, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Außerdem war es Zeit fürs Abendessen. Bente merkte, dass das Ereignis ihr den Appetit verschlagen hatte. Zum Glück, denn ihre Mutter hatte Lasagne gemacht, und das war eines ihrer Lieblingsgerichte. Jetzt konnte sie wenigstens diese Kalorien sparen. Sven dagegen häufte sich gierig seinen Teller voll. Wenn er nicht gerade seinen Mund mit Essen voll hatte, redete er. Ließ sich über alle Details von Kari-Maries Verschwinden aus, die er aufgeschnappt hatte. Bente wusste viel mehr, aber dieses Wissen wollte sie selbstverständlich nicht mit ihrem kleinen Bruder teilen.

»Sie kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen?«, versuchte er, Bente einen Kommentar zu entlocken.

Bente hatte keine Lust, darauf einzugehen.

»Es wird sicher alles gut«, sagte der Vater tröstend. »Bevor der Abend um ist, hat sich Kari-Marie sicher wieder eingefunden.«

Glaubst du selbst an das, was du sagst?, fragte Bente mit ihrem Blick. Aber sie sagte nichts.

Nach dem Abendessen meinte die Mutter, dass sie eigentlich zur Arbeit zurückfahren müsse, da sie noch eine Besprechung habe. Aber falls Bente es wollte, würde sie auch zu Hause bleiben.

»Ist Papa denn nicht zu Hause?«, fragte Bente. »Ich brauche doch keinen Babysitter.« Sie stand vom Tisch auf und wollte in ihr Zimmer gehen.

»Ich bleibe hier … falls du jemanden zum Reden brauchst«, bot der Vater sofort an.

Keine neue SMS. Bente legte sich wieder aufs Bett und starrte an die Decke. Jetzt musste sie doch bald mehr erfahren. Wie lange konnte sie noch warten, bis sie Bescheid sagen musste?

Sie erwachte plötzlich, weil es an ihre Tür klopfte. Sie musste also geschlafen haben.

»Ich fahre jetzt, aber ich komme nicht so spät zurück«, sagte die Mutter, die in der Tür stand.

»Ich war gerade eingeschlafen«, antwortete Bente und wünschte sich nur, in Ruhe gelassen zu werden.

»Entschuldigung. Möchtest du trotzdem, dass ich zu Hause bleibe?«

»Warum um alles in der Welt?«

»Nein, in Ordnung. Tschüs dann.« Die Mutter schloss die Tür leise hinter sich.

Genau in diesem Augenblick klingelte das Handy neben ihr. Bente griff schnell danach. Es war nur Martine, aber trotzdem besser als nichts.

»Etwas Neues?«, fragte Martine.

Bente verneinte. Nicht einmal Martine konnte sie von den rätselhaften SMS erzählen. Zumindest jetzt noch nicht. Auch die Information, dass Kami an der falschen Haltestelle ausgestiegen war, behielt sie für sich.

»Glaubst du, dass sie von dem Typen, der mit ihr gesprochen hat, gekidnappt wurde?«, fragte Martine.

»Oder es kann der andere Mann gewesen sein. Sie glaubte, dass er genau hinter ihr ging.«

»Aber er müsste doch dann ein Auto dort gehabt haben, oder?«

»Ich glaube, dass die Polizei die Umgebung gründlich abgesucht hat, ohne eine Spur zu finden.«

»Stell dir vor, er ist ein Vergewaltiger.«

»Uh, daran mag ich gar nicht denken.«

»Ich hoffe nur, dass sie am Leben ist.«

Bente dachte wieder an die SMS. Falls Kami sie wirklich geschrieben hatte, musste sie noch am Leben sein. Und wenn sie es nicht gewesen war …? War es dann jemand, der ihr Handy an sich genommen hatte? Der Täter womöglich? Der Bentes Nummer gefunden hatte. Sie war ja die Letzte, die Kami angerufen hatte.