Letztes Blind Date - Magnhild Bruheim - E-Book

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Magnhild Bruheim

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Beschreibung

Die Journalistin Tone Tarud findet bei einem Spaziergang im Wald die Leiche einer Frau. Bei den folgenden Ermittlungen stellt sich heraus, dass sie und die Tote, Sofie Lyse, etwas gemeinsam hatten: Beide suchten über das Internet nach dem Partner fürs Leben und hatten auch Kontakt zu den gleichen Männern. Schnell zeigt sich zudem, dass Sofie Lyst sich offenbar mit ihrem Mörder über das Internet zu einem Blind Date verabredet hatte. Tone Tarud lernt wenig später Atle Kristensen kennen, der vor einigen Jahren für den Mord an seiner Ehefrau Lotte zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Kristensen behauptet, er habe seine Frau nicht umgebracht. Mithilfe von Tone Tarud möchte er nun eine Wiederaufnahme des Verfahrens erwirken. Doch dann findet Tone heraus, dass Lotte und Sofie Lyse sich kannen und plötzlich ist auch ihr eigenes Leben in Gefahr. REZENSIONEN "Je tiefer die Hauptfigur sich in die Geschichte verstrickt, desto spannender wird es, bis hin zum furiosen Finale." – Andrea Broszio, www.flensburg-online.de "Ein nettes Buch für zwischendurch, leichter Einstieg, gut lesbar, spannend bis zum Schluss." – Reigam, www.x-zine.de AUTORENPORTRÄT Magnhild Bruheim wurde 1951 geboren und lebt im norwegischen Lillehammer. Bruheim arbeitete zunächst als Journalistin, widmete sich anschließend jedoch mehr und mehr der Schriftstellerei. 1997 erschien ihr erster Kriminalroman "Varselet". Bis 2003 veröffentlichte sie fünf Krimis, darunter auch "Letztes Blind Date".

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Magnhild Bruheim

Letztes Blind Date

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen vonHanne Hammer

Saga

Mesnaelva, Dienstag, 16. Oktober 2001,12.35 Uhr

Alles begann mit einem roten Limonadenverschluss. Einem einzelnen Verschluss aus Plastik. Einem kleinen Farbfleck, der in der grauen Landschaft leuchtete. Der Verschluss lag auf dem schwarzen Felsen. Hätte der rote Fleck nicht ihren Blick eingefangen, hätte Tone Tarud die tote Frau sicher nicht gesehen.

Der Farbfleck zog sie an. Ein paar Schritte und sie entdeckte, dass irgendetwas in der breiten Felsspalte einige Meter unter ihr lag. Neugierige Verwunderung führte sie näher. Bis sie sah, was es war. Das heißt, zuerst begriff sie nicht, was sie sah. Deshalb vergingen einige Sekunden, bevor sie reagierte.

Die Frau hatte blondes, halblanges Haar und lag mit dem Gesicht zur Erde. Irgendetwas an ihr kam Tone bekannt vor. Sie trug eine Jacke aus dunklem, grobem Stoff, Wolle vielleicht, und eine dunkle Hose. Ein Arm war unter dem Körper verborgen, der andere nach vorn gedreht. Mitten in dem blonden Haar war ein Fleck in der gleichen Farbe wie der Limonadenverschluss. Vielleicht ein wenig dunkler. Und größer. Rotes, frisches Blut.

Tone nahm die Szene langsam in sich auf. Versuchte, eine logische Erklärung zu finden. Die seltsame Stellung. Das Blut, das am Hinterkopf klebte. Die Frau musste gestolpert und in die Felsspalte gefallen sein. Zwei Meter weiter unten fiel der Felsen steil ab. Es wäre leichter zu verstehen gewesen, wenn sie dort hinuntergefallen wäre.

Tone Tarud griff nach dem Handy in ihrer Tasche. Wie lautete die Nummer der Polizei? 110? 112? 113? Warum konnte sie sich das einfach nicht merken?, dachte sie verzweifelt. Sie bemühte sich, die richtigen Tasten zu finden. Sie versuchte es mit der 112. Und landete bei der Feuerwehr. Die richtige Nummer war die 110. Ihre Stimme ließ sich genauso schwer unter Kontrolle bringen wie ihre Finger, als sie dem Polizisten am anderen Ende erklärte, wer sie war. Bevor sie begriffen hatte, was sie tat, hatte sie versprochen, vor Ort zu bleiben, bis die Polizei eintraf. Sie bereute es sofort.

Hier konnte sie keine Sekunde länger bleiben! Sie wollte hinunter in die Stadt, unter Menschen. Hier war sie ganz allein ... oder? Das rote Blut im Haar. Vielleicht beobachtete sie in diesem Moment jemand durch den Nebel, von einem Versteck im Wald aus? Ihre Brust schnürte sich zusammen. Sollte sie die 110 noch einmal wählen und sagen, dass sie keine Zeit hatte? Wie immer gewann das Pflichtgefühl die Oberhand. Aber da war auch noch etwas anderes: eine neugierige Spannung, die sich nicht leugnen ließ. Was war hier passiert?

Sie wollte nicht auf dem Felsen stehen bleiben. Sie zog sich zurück. Näher zum Weg hin. Hier fand sie einen Sitzplatz, der ihr eine gute Aussicht ermöglichte. Gleichzeitig gab er ihr das Gefühl, nicht ganz so auf dem Präsentierteller zu sitzen. Eine nasse Kälte vermischte sich mit Angst und Neugierde.

Die Gedanken ausschalten. Oder sich mit anderen Dingen beschäftigen. Mit dem Abend. Mit ihrem Blind Date. An diesem Tag, der so gut angefangen hatte. Sie war um 7.30 Uhr aufgewacht und hatte etwas empfunden, was Lebenslust ähnelte. Lust auf den Tag. Lust aufzustehen. Vielleicht war sie endlich auf dem Weg aus dem schwarzen Loch, in dem sie allzu lange gesteckt hatte. Nicht einmal der Anblick des dichten Nebels, der die Landschaft erstickte, hatte sie entmutigen können. Sie hatte einen Plan für den Tag gehabt, der damit begann, dass sie zu Fuß nach Lillehammer gehen wollte. Den ganzen langen Weg von ihrem Haus in Mesnali aus. Das hatte sie erst ein Mal gemacht, seit sie vor fünf Jahren in diese abseits gelegene Gegend gezogen war.

Und jetzt saß sie hier im Wald und fror. Die Bilder kamen wieder und holten sie an den Ort des Geschehens zurück. Rotes Blut in blondem Haar. Gelbes Laub auf schwarzem Fels. Der Limonadenverschluss. Sie bewachte eine Leiche. Bei dem Gedanken an die Frau, die zwanzig Meter unter ihr in der Felsspalte lag, schlug ihr Herz schneller. Wer war sie?

Sollte sie doch die Polizei anrufen und sagen, dass sie nicht warten konnte? Der Boden war feucht und sie saß unbequem. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Der Gedanke an Mord kam ihr in den Sinn. Eigentlich war er sofort da gewesen, als sie die Leiche entdeckt hatte. Doch jetzt kam er näher, wurde aufdringlicher. War die Frau ermordet worden? Oder war ihre Fantasie von dem Projekt, das sie gerade verfolgte, beeinflusst? Sie arbeitete an einer Sendereihe über Morde.

Alles wirkte ganz still, auch wenn die Ohren das Rauschen des Flusses und des Waldes aufnahmen. Falls hier jemand herumschlich, würde sie ihn vielleicht erst bemerken, wenn er ganz nahe war. Wo blieb die Polizei? Auf dem Teil des Weges, den sie einsehen konnte, war kein Zeichen von Leben zu entdecken. Die Uhr zeigte zwei Minuten nach eins. Zwanzig Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen. Dauerte es wirklich so lange, von der Polizeiwache hierher zu fahren, zu parken und vom Parkplatz heraufzukommen? 13.02 Uhr. Wenn sie noch lange warten musste, kam sie zu spät zu ihrem Interview.

Ihr linker Fuß schlief langsam ein. Sie musste aufstehen, die Stellung wechseln. In dem Moment, in dem sie sich erhob, knackte es in den Büschen ein paar Meter unter ihr. Angst überkam sie und sie zuckte zusammen. Rührte sich da unten nicht etwas? Nur eine Sekunde, dann war es vorbei.

Ein Vogel flog auf, ebenso erschrocken wie sie. Sie hatte ihn wohl gestört. Sie musste die Angst vor Geräuschen überwinden, indem sie selbst Geräusche machte. Sie musste jemanden anrufen, reden. Sie hatte das Handy schon in der Hand, als zwischen den Bäumen etwas auftauchte. Erneut spürte sie die Angst, bis sie sah, dass es Polizisten waren. Endlich. Zwei schwarze Uniformen näherten sich, Schritt für Schritt. Ihr Körper war steif, als sie sich erhob, um ihnen entgegenzugehen.

»Høistad.«

»Ruud.«

Die beiden Polizeibeamten stellten sich vor. Beide hatten warme Hände. Tone sagte ihren Namen, wie sie das auch am Telefon getan hatte, und zeigte ihnen die Fundstelle. Sie selbst hielt sich ein wenig auf Abstand. Doch nur so weit, dass sie noch etwas sehen konnte. Wenn sie schon einmal hier war, wollte sie auch alles mitbekommen. Außerdem wusste sie, dass man sie bitten würde zu warten, um sie genauer zu befragen.

Nach einer kurzen Inspektion der Leiche holte einer der beiden sein Handy heraus. Der andere kam zu Tone zurück. »Kennen Sie die Frau?«, fragte er.

»Sie meinen ...?« Sie nickte in Richtung der toten Frau. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Sie haben uns um 12.40 Uhr angerufen. Wann haben Sie sie gefunden?«

»Unmittelbar davor ... natürlich.« Konnte daran ein Zweifel bestehen?

»Gegen 12.35 Uhr also?« Er notierte sich die Zeit auf einem kleinen Block, ohne Tone anzusehen. Sein Haar war leicht gelockt und er hatte eine hohe Stirn. Das Gesicht war rund mit einer etwas platt gedrückten Nase, der Körper mittelgroß und kräftig. Er war jung, kaum über dreißig. »Was haben Sie hier gemacht?«, fragte er.

»Ich war auf dem Weg ... in die Stadt.« Sie stotterte leicht.

»In die Stadt? Von wo aus?«

»Von Mesnali. Da wohne ich.«

»Und da gehen Sie zu Fuß?« Er schien das merkwürdig zu finden. Fast schon verdächtig. Dann fügte er hinzu: »Das ist ein gutes Stück.«

»Mir war nach einem Spaziergang.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«, wollte er wissen.

Tone versuchte zu erklären, dass sie sich vom Weg entfernt hatte, den Felsen hinaufgeklettert war, um die Aussicht zu genießen und eine Pause zu machen. Plötzlich hatte sie den leblosen Körper entdeckt. Sie erzählte auch von dem roten Limonadenverschluss.

Der Polizist machte sich ein paar Notizen. »Während Sie hier gesessen und gewartet haben«, sagte er, »haben Sie da jemanden gesehen oder mit jemandem geredet?«

»Nein«, antwortete sie.

»Wir würden uns später gerne noch eingehender mit Ihnen unterhalten«, sagte der Lockige und steckte das Notizbuch in die Brusttasche. Er sah auf die Uhr. »Können Sie um, sagen wir, zwei auf die Wache kommen?«

»In Ordnung«, sagte Tone und rührte sich nicht vom Fleck. »Ist sie ..., ist sie gestürzt?«, fragte sie, während sie ihren kleinen Rucksack auf den Rücken schnallte. Sie fand, dass die beiden ihr eine Erklärung schuldig waren.

»Es ist noch zu früh, um dazu etwas zu sagen«, antwortete er abweisend. »Sie muss erst genauer untersucht werden«, fügte er hinzu. Als wollte er den abweisenden Ton wieder gutmachen. »Der Krankenwagen ist unterwegs. Aber es ist nicht leicht, hierher zu kommen. Sie müssen mit der Trage durch den Wald.« Er ging zu seinem Kollegen und sagte etwas zu ihm.

Tone zögerte und blieb noch eine Weile stehen. Sie wusste nicht, worauf sie wartete. Auf nichts, eigentlich. Doch irgendetwas hielt sie fest.

Ruud kam zu ihr zurück. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er. Fürsorglich. »Wollen Sie warten und mit uns zusammen hinuntergehen?« Seine Augen waren braun.

»Es ist nicht mehr weit«, antwortete sie. »Wenn das also alles ist?«

»Brauchen Sie jemanden zum Reden?«

Genau das brauchte sie. »Ich rufe Freunde an«, sagte sie.

»Melden Sie sich, falls Sie professionelle Hilfe brauchen.«

Sie bedankte sich höflich und entfernte sich einige Schritte von dem Felsen. Dann folgte sie langsam dem Weg bergab. Kälte und Angst hatten sich im Körper festgesetzt und sie schaffte es nicht, sie abzuschütteln. Ihre Füße begannen wie von selbst zu laufen und blieben erst stehen, als sie unten beim Birkebeiner angekommen war. Hier war sie als Kind einmal in der Jugendherberge gewesen. Der Polizeiwagen stand zusammen mit ein paar anderen Autos auf dem Parkplatz. Ansonsten war weit und breit kein Mensch zu sehen. Ihre Hand griff nach dem Handy in der Tasche. Zeit, jemanden anzurufen. Aber wen? Ihr erster Gedanke galt ihrer Tochter, Emma. Aber die konnte sie nicht anrufen, Emma würde nur Angst bekommen. Besser eine Freundin. Sie hatte Glück und erreichte Mette Hermansen. Mette wohnte in der Stadt und konnte Tone nach der Arbeit treffen. Dann sagte sie das Interview ab, für das sie ohnehin zu spät dran war.

Der Nebel machte keine Anstalten, sich zu lichten. Eher das Gegenteil war der Fall. Er legte sich dichter um sie. Tone ging in ihrem normalen Tempo weiter. Sie hatte noch Zeit für eine Tasse Kaffee, bevor sie auf der Polizeiwache sein sollte. Plötzlich zuckte sie zusammen. An dem künstlich angelegten Badesee bewegte sich etwas. Durch den grauen Nebelschleier konnte sie nicht viel erkennen. Aber da stand jemand. Sie fühlte sich unbehaglich. Blieb stehen. Hatte die Person vor, hineinzuspringen? Zu dieser Jahreszeit war bestimmt nicht viel Wasser in dem Becken. Trotz der schlechten Sicht hatte sie den Eindruck, dass es sich um einen Mann handelte. Er beugte sich vor. Was tat er da?

Nein, hier konnte sie nicht stehen bleiben. Ließ das gerade Erlebte alle Menschen verdächtig erscheinen? Sie beschleunigte den Schritt, bis sie sich dem Stadtzentrum näherte. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, das hiesige Büro des Norsk Rikskringkasting anzurufen und ihnen einen Tipp zu geben. Als Mitarbeiterin beim NRK war sie dazu verpflichtet. Außerdem konnten die Nachrichtenredakteure bestimmt schneller als sie in Erfahrung bringen, was passiert war.

Polizeiwache Lillehammer, Dienstag, 14.15 Uhr

Tone Tarud war eine wichtige Zeugin. Eine wichtige Informantin. Jetzt saß sie dem Polizisten gegenüber, mit dem sie bereits oben am Fluss gesprochen hatte.

»Wir möchten gerne, dass Sie uns genau schildern, was passiert ist«, sagte Ruud. »Sowohl bevor als auch nachdem Sie die Frau gefunden haben. Dinge, die Sie gesehen oder gehört haben ... Sind Sie jemandem begegnet?«

Sie hatte die Frage erwartet, hatte die letzte halbe Stunde darüber nachgedacht. Ja, sie hatte auf ihrem Spaziergang ein paar Personen gesehen. Zum einen einen Mann, der ihr ziemlich eilig entgegengekommen war, ungefähr eine Viertelstunde bevor sie die Frau gefunden hatte. Sie hatte ihn für einen Wanderer gehalten. Der anderen Person war sie noch früher begegnet. Oder korrekter – sie hatte ihn noch früher gesehen. Ja, auch das war ein Mann gewesen. Tone hatte sich sogar ein wenig erschrocken. Er war vor einer der am Weg liegenden Hütten herumgelaufen. War plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht. Deshalb hatte sie sich erschrocken und war schneller gegangen. Wenn sie genauer nachdachte, meinte sie sich zu erinnern, dass er etwas auf dem Arm gehabt hatte. Tone erzählte, so gut und detailliert sie konnte. Sie erwähnte auch die Person an dem Badesee, um nichts auszulassen.

»Wie sahen die Männer aus?«

Das war schon schwieriger. Der erste Mann hatte leichte Wanderkleidung getragen, dunkel, meinte sie. Er hatte blondes, kurzes Haar, schon etwas gelichtet. Nicht besonders groß, nicht besonders klein. Mitte vierzig, schätzte sie. Die Sache war die, dass sie ihn sich nicht so genau angesehen hatte. Wenn sie auf einem Spaziergang jemandem begegnete, tat sie eins von zwei Dingen: Sie sah dem anderen in die Augen und sagte vielleicht noch Hallo. Oder sie blickte zu Boden oder in die andere Richtung, als hätte sie den anderen gar nicht bemerkt. Heute hatte sie sich für die letzte der beiden Varianten entschieden. Um genau zu sein, hatte sie in ihrem Rucksack nach einer Wasserflasche gesucht, als er vorbeigekommen war. Über den Mann vor der Hütte ließ sich noch weniger sagen. Er mochte um die fünfzig gewesen sein, war ebenfalls mittelgroß, glaubte sie. Aber es konnte auch die graue, dicke Jacke sein, die ihn älter und schwerer hatte erscheinen lassen, als er war.

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Frau vorher noch nie gesehen haben?«, fragte Ruud. Sein Blick hielt sie einige Sekunden lang fest.

»Das kann ich nicht sagen«, erklärte Tone. »Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen.«

Ruud bediente schnell seine PC-Tastatur. »Wir haben ein paar Bilder eingescannt«, sagte er. Er drehte den Monitor leicht, aber sie musste trotzdem neben ihn treten, um etwas sehen zu können.

Ein Farbbild nahm den Großteil des Monitors ein. Das Gesicht war bleich, gelblich weiß, die Haut glatt, die Augen geschlossen. Der Mund stand halb offen, die Oberlippe war auf einer Seite stark geschwollen. Auf der rechten Stirnseite klaffte eine große offene, blutige Wunde. Das blonde Haar war zerzaust.

Tone hatte bisher erst einen Toten gesehen, vor zwanzig Jahren, und das war ihr Großvater gewesen, ein Achtzigjähriger, der friedlich in seinem Sarg lag. Das hier war etwas ganz anderes. Gemischte Gefühle stiegen in ihr auf. Die Frau auf dem Bild war von einem dramatischeren Tod eingeholt worden, daran bestand kein Zweifel. Wieder hatte Tone das Gefühl, dass ihr etwas an ihr bekannt vorkam. Das Gefühl war diesmal stärker. Gleichzeitig war sie sich sicher, sie nicht zu kennen. Andernfalls hätte sie gewusst, wer sie war, selbst wenn der Tod das Gesicht verändert hatte. Vielleicht war sie ihr schon einmal begegnet oder hatte sie in der Stadt gesehen.

Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. »Hat sie sich die Wunde bei dem Sturz zugezogen?«, fragte sie und versuchte zu verbergen, dass sie auf Informationen aus war.

»Das wäre nicht verwunderlich«, antwortete Ruud, bevor er hinzufügte: »Was die Todesursache angeht, die steht noch nicht fest. Deshalb wollen wir auch keine Spekulationen.« Letzteres wurde in einem sehr bestimmten Ton gesagt.

Tone war nicht bereit, sich so schnell geschlagen zu geben. »Aber die Wunde am Hinterkopf?«, fragte sie.

»Wie gesagt, wir wissen es noch nicht.«

»Aber Sie untersuchen den Fall?«

»Wir müssen schließlich die Todesursache klären.«

»Kommt Ihnen irgendetwas verdächtig vor?«, versuchte es Tone.

»Sie sind Journalistin, da sind wir besser vorsichtig mit dem, was wir sagen«, meinte er lächelnd. »Es ist zu früh, um Informationen an die Presse zu geben. Sie rücken uns bereits auf die Pelle. Ein Journalist des NRK war in der Leitung, noch bevor wir von dem Lokaltermin zurück waren. Sie haben einen Tipp bekommen«, fügte er kurz hinzu. Es bestand kein Zweifel, wen er bezüglich des Tipps in Verdacht hatte.

»Aber es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis Sie selbst damit an die Öffentlichkeit gehen müssen«, wandte Tone ein.

»Es ist nur so verdammt beschwerlich, Zeit auf aufdringliche Journalisten zu verschwenden, wenn wir alle Hände voll zu tun haben. Und das Einzige, was wir sagen können, ist, dass wir nichts sagen können. Wenn man auf die gleiche Frage hundertmal geantwortet hat, möchte man nur noch den Hörer aufknallen.«

Tone wagte es nicht, die Angelegenheit weiter zu vertiefen.

»Haben Sie jemanden gefunden, mit dem Sie reden können?«, sagte Ruud, jetzt in einem milderen Ton.

»Ich werde mich mit einer Freundin treffen«, antwortete sie.

Mette Hermansen und Tone Tarud waren auf dem Gymnasium Freundinnen gewesen. Nach dem Abitur besuchten beide die Pädagogische Hochschule. Doch während des Studiums wurde Tone von einem Kommilitonen schwanger. Darauf folgten eine schnelle Hochzeit, die Geburt der Tochter Emma und eine ebenso schnelle Scheidung. Tone schrieb sich auf der Hochschule für Journalistik ein und bekam einen Job beim NRK. Die früheren Freundinnen verloren allmählich den Kontakt zueinander. Doch vor ein paar Jahren hatten sie sich zufällig in Lillehammer wiedergetroffen. Wie sich herausstellte, arbeitete Mette an der dortigen Schule als Lehrerin.

Tone fand Mette, wie verabredet, in einem Café in der Storgata. Mit einer Tasse schwarzen Kaffees und einer Zigarette. Wie gewöhnlich. Das war das Problem mit ihr, dass man immer im Raucherbereich sitzen musste. Tone legte ihre Jacke auf einen Stuhl und ging zur Theke, um sich einen Caffè latte zu holen.

»Weißt du, dass das der kalorienreichste Kaffee ist, den es gibt?«, sagte Mette aufbauend, als Tone zurückkam. »Mit der ganzen Milch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis ich das gelesen habe.«

»Es gibt wohl Schlimmeres als ein paar Extrakalorien«, sagte Tone. »Im Moment kreisen meine Gedanken um beunruhigendere Dinge.«

»Ja?«, sagte Mette und gab das Signal, dass sie bereit war. »Am Telefon hast du gesagt, dass du etwas Furchtbares erlebt hast.«

Tone sah sich um, beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Ich habe eine Leiche gefunden. Ich bin am Fluss entlang von Mesnali in die Stadt gegangen. Plötzlich habe ich in einer Felsspalte eine tote Frau entdeckt.«

Mette starrte sie an. »Ein Unfall?« Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Die Todesursache ist noch unklar. Sie hatte eine große Wunde am Hinterkopf.« Das Bild kam zurück. Plötzlich hatte Tone das Gefühl, auch eine Zigarette gebrauchen zu können. Ohne zu fragen, nahm sie sich eine aus Mettes Päckchen. Es war lange her, seit sie das letzte Mal geraucht hatte.

»Du lieber Himmel.« Mette starrte sie mit großen Augen an.

»Ich muss meine Nerven beruhigen«, sagte Tone. »Ist das okay?«

»Bedien dich«, sagte Mette großzügig. »Ich will genau wissen, was passiert ist.«

»Ich habe natürlich die Polizei informiert«, fuhr Tone fort und nahm einen Zug. Inhalierte tief.

»Was haben die gesagt?«

»Sie wollten alles wissen, ob ich jemanden gesehen habe, Personenbeschreibungen, auf der Polizeiwache haben sie mir dann ein Bild von dem Gesicht der Toten gezeigt ...« Sie zog erneut an der Zigarette. Aber es beruhigte die Nerven nicht. Ganz im Gegenteil, der Körper wurde noch unruhiger. Übelkeit war im Anzug. Sie machte die Zigarette aus und trank einen Schluck Kaffee, aber das machte die Sache auch nicht besser. Sie suchte nach der Toilette. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber es kam nichts heraus.

»Nach so einem Erlebnis ist einem schon etwas sonderbar zu Mute«, sagte Tone, als sie zurückkam.

»Ja, sicher. Du musst doch völlig fertig sein«, sagte Mette verständnisvoll. Dann sah sie auf die Uhr und erklärte, dass sie noch etwas vorhabe. »Ich muss in einer halben Stunde zum Training. Komm mit, dann bekommst du vielleicht ein bisschen Abstand.«

Tone hatte nicht die geringste Lust, ins Fitnessstudio zu gehen, aber sie hatte noch weniger Lust, sich selbst überlassen zu bleiben. Bis zu ihrer Verabredung waren es noch drei Stunden. Wenn sie die nicht absagen wollte, musste sie sich überlegen, was sie solange mit ihrer Zeit anfangen sollte. Sie konnte also ebenso gut Mette begleiten.

Auf der Fahrt zum Strandtorget hinunter erzählte Tone von ihren Plänen für den Abend. Dass sie sich mit einem Mann treffen wollte, den sie noch nie gesehen hatte. Ein Blind Date. Mit jemandem, den sie im Internet kennen gelernt hatte.

»Du scheinst es zu lieben, aufregend zu leben«, sagte Mette und sah sich nach einem freien Parkplatz um.

»Ich arbeite an einer Radiosendung über Menschen, die ihre Partner über das Internet gefunden haben«, erklärte Tone. Das war zumindest ein Teil der Wahrheit. »Ich weiß nur nicht, ob ich nach dem, was heute passiert ist, eine Verabredung durchstehe«, fügte sie hinzu.

Sie gingen langsam auf das Gebäude zu, das einmal eine große Fabrik gewesen war. Tone bat um eine Probestunde. Sie hatte im letzten Jahr mit dem Training aufgehört und deshalb nach Weihnachten ihre Mitgliedschaft gekündigt.

Erst als sie in der Trainingshalle stand und die Stunde begonnen hatte, begriff sie, dass es sich um eine Doppelstunde handelte. Für durchtrainierte Leute. Um sie herum hüpften und schwitzten und amüsierten sich alle. Alles Frauen. Tone amüsierte sich nicht. Am schwierigsten war die Synchronisation von Armen und Beinen, was ihr einfach nicht gelang. Auch die Gedanken spielten nicht mit. Sie wollten hoch in den Wald und sich die Leiche ansehen. Das Erlebnis ließ sie nicht los.

Nach einer halben Stunde verließ sie die Halle. Sie fühlte sich mutlos, schlecht in Form und ein bisschen zu dick. Der einzige Trost war die Sauna.

Sie spritzte so viel Wasser auf den Ofen, dass die Hitze kaum auszuhalten war. Während sie den Schweiß aus allen Poren strömen spürte, entschloss sie sich, ihre Verabredung einzuhalten.

Rica Hotel, Dienstag, 19.10 Uhr

Er würde in der Bar sitzen. So hatten sie es verabredet. Tone kam zehn Minuten zu spät, er müsste also schon da sein. Sie blieb in der Tür stehen, um einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Bestimmt beobachtete er sie. Sah ihr Zögern, taxierte sie und dachte: Das muss sie sein, sie passt zu der Beschreibung. Blondes Haar, normale Figur, durchschnittlich groß, schwarze Hose mit leichtem Schlag, kurze, schwarze Lederjacke. Sie hatte ihm gemailt, was sie anhaben würde.

In der kleinen Bar saßen nur acht oder zehn Personen, und ihr Blick fiel schnell auf einen Mann, der ihr zuwinkte. Hier bin ich. Komm rüber. Tone ging langsam auf ihn zu und versuchte, sich an den Anblick des Mannes zu gewöhnen, der dort saß. Ihn in sich aufzunehmen und zu akzeptieren. Zu versuchen, den Teil seines Ichs zu finden, den sie bereits kannte.

Der erste Eindruck war enttäuschend. Das ließ sich nicht leugnen. Er stimmte nicht mit dem Bild überein, das sie sich von ihm gemacht hatte.

»Håkon Arfoss.« Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Tone Tarud.« Sie lächelte entgegenkommend. Sie mussten offen und positiv sein. Einander eine Chance geben. So lauteten die ungeschriebenen Regeln. Jetzt sollten sie sich erst einmal unverbindlich kennen lernen und herausfinden, ob sie sich miteinander wohl fühlten.

»Was möchtest du trinken?« Er blieb stehen und wartete auf ihre Antwort.

»Ein Glas Rotwein«, sagte sie schnell. Sie wollte keinen unentschlossenen Eindruck machen. Lieber lebhaft und selbstsicher erscheinen.

Mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie sich setzen sollte, während er sich um die Getränke kümmerte. Tone folgte ihm mit den Augen. Jetzt war sie an der Reihe, ihn aus der Distanz zu betrachten. Als Erstes fiel ihr auf, dass sein blondes Haar dünner war, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Beine waren kürzer. Vielleicht war er ein wenig o-beinig. Aber warum mit den Mängeln beginnen? Er war höflich, freundlich, ein Mann, der einem in die Augen sah. Aus den E-Mails wusste sie, dass sie gemeinsame Interessen hatten. Er hatte Kontakt zu ihr aufgenommen, nachdem er ihr Profil gelesen hatte.

Tones Chataktivitäten hatten mit der Idee zu einer Sendereihe begonnen. Sie wollte eine Reportage über die verschiedenen Methoden der Partnersuche von Singles machen. Eine davon war das Internet. Sie loggte sich in einen Chatroom ein und erstellte ihr Profil. Ehe sie sich versah, wurde sie mit E-Mails von unbekannten Männern überschwemmt. Warum nicht einen Schritt weiter gehen?, dachte sie. Warum nicht einen oder zwei der Männer treffen und sehen, was passiert?

Mit einem von ihnen war sie jetzt verabredet. In den Mails war sie forsch aufgetreten, hatte geschrieben, dass sie Herausforderungen liebe. Dass sie sich für Bergsteigen, Gletscherwanderungen und Wildwasserfahrten interessiere, aber niemanden habe, mit dem sie diese Sportarten betreiben könne. Er hatte geantwortet, dass er gerne mitmachen wolle. Im Laufe des Abends sollte sich zeigen, wie risikobereit sie wirklich waren.

Håkon Arfoss kehrte dem Bartresen den Rücken und kam mit einem Weinglas auf sie zu. Tone versuchte, die Gedanken an die tote Frau aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie konnte jetzt nicht über sie reden, nicht mit einem Fremden. Die Lokalnachrichten um 18 Uhr hatten berichtet, dass die Polizei das Gebiet um den Fundort der Leiche abgesperrt hatte. Das konnte nur bedeuten, dass etwas an ihrem Tod verdächtig war. Vielleicht konnte sie den Vorfall ganz beiläufig erwähnen. Sagen, dass sie zufällig im Radio davon gehört hatte.

»Prost, auf unsere Verabredung!«, Tone hob ihr Weinglas. Der Wein war sauer. Billiges Gesöff, dachte sie.

Er antwortete, indem er das Pilsglas hob, das er schon zur Hälfte geleert hatte. »Findest du die Situation eigentlich merkwürdig?«, fragte er.

»Natürlich ist sie irgendwie merkwürdig«, sagte Tone und begegnete seinem festen Blick. Seine Augen schienen grau zu sein, doch konnte das Licht in der Bar auch täuschen. »Sehr merkwürdig«, antwortete sie und versuchte sich an einem Lachen.

»Hast du dich schon mit vielen Männern getroffen?«, fragte er direkt. In den Mails hatten sie darüber nichts geschrieben.

Eigentlich kann ich auch ehrlich sein, dachte sie und sagte: »Mit drei oder vier.«

»Drei oder vier?«

»Mit dir sind es vier. Und du?«, fragte sie schnell zurück.

»Zwanzig, dreißig«, lachte er. Tone lachte nicht. »Das war etwas übertrieben«, fügte er hinzu und lächelte. Seine Zähne waren gerade und schön. »Ungefähr so wie du. Vier oder fünf vielleicht.«

»Wie lange machst du das schon?«

»Bald ein halbes Jahr. Ohne die Richtige gefunden zu haben.« Es war schwer zu sagen, ob er versuchte, einen Scherz zu machen, oder ob er es ernst meinte. »Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und du?«

Und sie? Was sollte sie darauf antworten? Sie hatte ihm nichts von der Sendereihe erzählt. »Mit einigen habe ich immer noch E-Mail-Kontakt«, sagte sie ausweichend. »Mehr nicht.« Tone hatte keine Lust, über die anderen zu reden. Das war privat. »Hast du wenigstens Leute gefunden, mit denen du ein paar Touren machen kannst?«

»Doch schon, ich war ein paarmal unterwegs«, sagte er ohne Begeisterung. Vielleicht war es nicht der große Erfolg gewesen? Ihr kam der Gedanke, dass er nicht gerade wie ein hartgesottener Bergsteiger aussah. Dass er nur eine große Klappe hatte, genau wie sie. Vor dem PC sah alles so einfach aus.

Das Handy in ihrer Handtasche unterbrach die schleppende Unterhaltung. Es war das Lokalradio. Tone entschuldigte sich und ging nach draußen. Eine Mitarbeiterin des NRK wollte sie live in der Morgensendung haben. Tone hatte die Leiche gefunden und jetzt sollte sie den Hörern von ihrem Erlebnis erzählen.

»Weißt du etwas Neues – ich meine, weil die Sache jetzt im Radio kommt?«, fragte Tone.

»Der Todesfall ist verdächtig. Die Polizei ermittelt«, sagte die Journalistin. »Das haben sie gerade bestätigt.«

Tone war schwindelig, sie musste sich an die Wand lehnen. Sie hatte es die ganze Zeit geahnt, doch es in klaren Worten bestätigt zu bekommen, war etwas anderes.

»Hallo, bist du noch da?«

»Das hat mich jetzt erst einmal umgehauen«, brachte Tone hervor. Im Moment hatte sie nicht die geringste Lust, im Radio über ihr Erlebnis zu berichten. Sie müsse darüber nachdenken, sagte sie. »Außerdem kann ich morgen früh nicht«, fügte sie hinzu.

»Wir können jetzt eine Aufnahme machen«, sagte die Journalistin eifrig.

»Ich bin gerade bei einem Geschäftsessen«, schwindelte Tone, da ihr nichts Besseres einfiel. Es war albern, sie ging nie zu Geschäftsessen. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass es nichts brachte, mit Zweifeln zu argumentieren.

»Das muss ein schreckliches Erlebnis gewesen sein«, lockte sie die Journalistin voller Verständnis.

»Ich war geschockt«, sagte Tone, froh, darüber reden zu können. »Ich habe ja nur einen Waldspaziergang gemacht ... und plötzlich stand ich vor einer Leiche.« Unversehens war sie mitten in einem längeren Bericht.

»Du schilderst das sehr lebendig«, sagte die Journalistin, nachdem sie mehrere Minuten miteinander geredet hatten. »Kannst du das nicht einfach für eine Aufnahme wiederholen? Es dauert auch nicht lange.«

»Leider nicht«, sagte Tone bestimmt. Sie musste die Eindrücke sortieren, bevor sie im Radio einfach drauflosplapperte. »Ich rufe dich an, wenn ich hier fertig bin. Falls es nicht zu spät wird.«

»Was war dein erster Eindruck, als du mich heute Abend gesehen hast?«, fragte er, als sie später im Restaurant saßen und auf ihr Essen warteten.

»Ich weiß nicht«, sagte sie, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie ruhig ehrlich sein konnte: »Dass du keine Ähnlichkeit mit dem Bild hast, das ich mir von dir gemacht habe.«

»Hattest du einen Robert-Redford-Typen erwartet?«, fragte er und lächelte.

»Brad Pitt trifft es eher«, sagte sie schnell. Sie fühlte sich langsam wohler, weil sie merkte, dass er nicht ganz ohne Charme war. »Und du? Hast du gehofft, eine Julia Roberts zu treffen?«

»Daneben. Sie ist nicht mein Typ«, antwortete er. »Aber ich gebe zu, dass ich mir dich ... ein bisschen anders vorgestellt habe.«

»Dunkel und geheimnisvoll?«

Er lachte wieder. »Ich wusste, dass du blond bist, das hast du erzählt. Aber da du geschrieben hast, dass du dich für Risikosport interessierst und Herausforderungen liebst, hatte ich mir dich nicht ... so feminin vorgestellt, ja, vielleicht ist es das. Aber ...«, er hob das Glas, um ihr zuzuprosten, »feminine Blondinen gefallen mir am besten.« Er machte einen selbstsicheren Eindruck, selbstsicherer, als sie zuerst gedacht hatte.

»Du meinst dumme Blondinen?«, rutschte es ihr heraus.

»Ganz im Gegenteil. Blondinen können äußerst klug und gefährlich sein«, sagte er und zwinkerte ihr zu. »Was dich angeht, halte ich dich für eine Frau mit unterschiedlichen Seiten. Die womöglich etwas zu verbergen hat. Etwas, das sie nicht erzählen will.«

Tone kam sich irgendwie interessant vor. Fast hätte sie ihm von ihrem Erlebnis im Wald erzählt. Das Gespräch mit der Journalistin ging ihr durch den Kopf. Die Polizei hielt den Todesfall für verdächtig. War es Mord? Sie griff nach ihrem Glas und versuchte, etwas zu sagen, was mit all dem nichts zu tun hatte. »Ich musste gerade an eine Sendung denken, an der ich arbeite«, sagte sie.

»Apropos Sendung ..., ist deine Sendung über die Tanzveranstaltung für Singles schon ausgestrahlt worden?«

»Sie kommt am Freitag.«

»Wenn ich kann, höre ich sie mir an«, sagte er. »Du hast einen interessanten Job.«

»Und du?«, sagte sie. »Findest du deine Arbeit nicht interessant?« Er hatte ihr erzählt, dass er in einer EDV-Firma arbeitete. Soweit sie sich erinnerte, hatte er sie gegründet. »Im EDV-Bereich gibt es doch laufend Neuentwicklungen.« Bessere Fragen fielen ihr zu dem Thema nicht ein.

Die Bedienung brachte das Essen, das Gespräch verstummte und ihre Gedanken schweiften erneut ab. Zu dem Radiointerview am nächsten Morgen. Sollte sie zusagen? Es war ihre Geschichte, ihr Erlebnis, deshalb war es nur richtig, dass sie darüber sprach. Solche Augenzeugenberichte kamen gut im Radio. Die Formulierungen bildeten sich mühelos in ihrem Kopf. Sie würde den Limonadenverschluss erwähnen. Die Geschichte dramatisieren. Sagen, dass sie sofort an ein Verbrechen gedacht habe. Oder war das zu weit hergeholt?

»Ich habe heute eine schöne Waldwanderung gemacht«, sagte Håkon Arfoss, als sie später wieder in der Bar saßen. Er sah Tone gespannt an. »Ich war schon früh in der Stadt und habe am Vormittag etwas für meine Kondition getan.«

Warum erzählte er ihr das? Konnte Arfoss der Spaziergänger sein, dem sie begegnet war? Der Gedanke kam so plötzlich, dass sie etwas Wein auf dem Tisch verschüttete. Sie bekam kein Wort heraus. Es passte einfach zu gut. Jetzt hatte sie auch das Gefühl, ihn wiederzuerkennen.

»Apropos Wanderung«, sagte er und sein Blick ließ sie nicht los. Waren seine Augen grau oder blau? »Du hast gesagt, dass du dich für Bergsteigen interessierst. Ich habe mir gedacht, dich am nächsten Wochenende zur ersten Lektion einzuladen.«

Sie drehte das Glas und starrte in den Wein. »Ach ja?«, sagte sie geistesabwesend. Sie stellte das Glas ab und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen.

»Ich will nach Lom«, antwortete er. »Da gibt es eine gute Kletterwand.«

»Braucht man dafür keine Ausrüstung«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Das lässt sich arrangieren.«

»Können wir später darüber reden? Ich muss zur Toilette«, sagte sie und stand auf.

Ihr Körper fühlte sich steif und ihr Gang unnatürlich an. Im Spiegel begegnete sie ihren eigenen erschrockenen Augen. Ihr Gesicht musste sie verraten haben! Sie blieb einige Minuten auf der Klobrille sitzen, um sich eine Entschuldigung auszudenken.

Auf dem Weg zurück in die Bar hatte sie Gelegenheit, ihn einige Sekunden aus der Distanz zu studieren. Sie hätte es sofort sehen müssen. Arfoss glich immer mehr dem Bild, das sie von dem Mann im Wald hatte. Der Beschreibung, die sie der Polizei gegeben hatte.

»Ein verlockendes Angebot«, sagte sie und versuchte, zu lächeln. »Ich weiß nur nicht, ob ich Zeit habe.« Sie griff nach der Handtasche und holte ihren Terminkalender heraus. Für diese Woche hatte sie nichts eingetragen. »Es sieht leider so aus, als hätte ich schon eine Verabredung«, sagte sie leise. »Aber ich kann versuchen, sie zu verschieben.« Sie klappte den Kalender zu und steckte ihn zurück in die Tasche. »Ich schicke dir eine Mail, wenn ich das geklärt habe.«

»Was ist mit dem Wochenende danach?«, sagte er eifrig.

»Wie gesagt, es wäre schön ...«, sagte sie und fragte sich, wie sie aus der Situation herauskommen sollte. Wie konnte sie herausfinden, ob es Arfoss war, den sie gesehen hatte? Sollte sie ihm von ihrer Vermutung erzählen? Aber vielleicht ging es ihm genau darum. Er könnte sie gesehen haben und jetzt testen, ob sie ihn auch bemerkt hatte! »Lass mich erst klären, was mit dem nächsten Wochenende ist, dann sehen wir weiter ...«, fügte sie ungeschickt hinzu.

Saved by the bell. Das Handy unterbrach ihr Gespräch. »Entschuldigung, ich hätte es ausschalten sollen«, sagte sie erleichtert und erhob sich. »Ich gehe nach draußen.«

Es war noch einmal die Journalistin vom NRK. Sie war auf dem Sprung nach Hause und hatte das Live-Gespräch am nächsten Morgen vorbereitet. Da sie nichts von Tone gehört hatte, rechnete sie mit ihrem Okay. »Du wirst kurz nach sieben angerufen«, teilte ihr die Journalistin unbekümmert mit.

»Nein, das ist nicht okay«, protestierte Tone. Sie konnte sich jetzt nicht öffentlich in die Sache reinziehen lassen.

»Warum nicht?«

»Weil ..., ich mag nicht darüber reden. Es war ein schreckliches Erlebnis.«

»Es geht dir vielleicht besser, wenn du erst einmal darüber geschlafen hast. Kannst du mit deiner Entscheidung nicht bis morgen früh warten?«

Tone schaffte es nicht, ihr zu widersprechen. Sie kannte die Überredungskünste der Journalisten. Deshalb ließ sie sich widerstrebend darauf ein und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie auch am nächsten Morgen niemand dazu zwingen könnte.

Als sie zurück in die Bar kam, meinte Håkon Arfoss, dass es vielleicht an der Zeit sei, den Abend zu beenden. Tone war erleichtert, gleichzeitig aber auch überrascht. Sie hatte den Eindruck gehabt, als hätte er sich auf einen langen Abend eingestellt. Er war kurz angebunden und reserviert, als er sagte: »Morgen ist auch noch ein Tag.« Dann trank er aus. »Und du hast es weiter nach Hause als ich«, sagte er. Er wollte im Hotel übernachten, da er sechzig Kilometer entfernt wohnte.

Vor der Tür gaben sie sich die Hand und bedankten sich für den Abend. Tone wahrte den Schein und sagte, dass es nett gewesen sei und dass sie sich wegen des Wochenendes melden werde.

Es regnete, als sie durch die herbstlich dunklen Straßen zum Bahnhof bummelte, um sich ein Taxi zu nehmen. Er hatte nicht versucht, sie auf sein Zimmer einzuladen. Ein gutes Zeichen. Aber es erstaunte sie auch ein wenig. Auf dem ganzen Nachhauseweg nagte die Frage an ihr, ob sich Håkon Arfoss den ganzen Abend darüber im Klaren gewesen war, dass sie sich im Wald begegnet waren. Aber warum hatte er dann nichts gesagt?

Budal Mesnali, Dienstag, 23.55 Uhr

Der Kiesweg war von gelbem, nassem Laub bedeckt. Tone bat den Fahrer, sie bis vor die Tür zu fahren, und bezahlte teuer für die lange Fahrt. Bis er wieder auf der Hauptstraße war, hatte sie aufgeschlossen und war im Haus.

Das grüne Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte nervös im Halbdunkel. Sie warf ihre Tasche auf den Boden und hängte ihre Jacke über einen Küchenstuhl. Nachdem sie zwanzig Minuten auf ein Taxi gewartet hatte, war sie völlig durchgeweicht. Dann ging sie zum Anrufbeantworter und drückte die Wiedergabetaste.

Die Stimme, die aus dem Anrufbeantworter kam, klang hektisch: »Marta Kristiansen hier ... Ich möchte die Verabredung absagen. Es passt mir doch nicht so gut. Es ist mir einfach zu heikel.« Es folgte eine Pause. Dann beendete sie das Gespräch mit: »Ja, das wollte ich Ihnen nur sagen ... Tschüss.«

Tone wartete auf die nächste Mitteilung. Es kam nichts, der Anrufer hatte einfach aufgelegt. Dann folgte ein weiterer anonymer Anruf. Und das war alles. Das Band spulte zurück. Hatte Marta Kristiansen noch einmal versucht, sie zu erreichen? Tone sah auf das Display des ISDN-Telefons im Arbeitszimmer. Der letzte Anruf war von einem unbekannten Teilnehmer. Genau wie die beiden Anrufe davor. Vielleicht hatte Marta sie ursprünglich anrufen wollen, um zu reden. Tone spielte die Mitteilung noch einmal ab. Täuschte sie sich oder hörte sich die Frau wirklich ein wenig ängstlich an? Auf jeden Fall war es zu spät, um zurückzurufen.

Marta Kristiansen. Sie war eine der Frauen, mit denen sie sich im Rahmen einer neuen Dokumentarreihe verabredet hatte. Sie wollte die Eltern oder andere Angehörige von Mördern interviewen. Der vorläufige Titel der Sendereihe war inspiriert von der einzigen Person, mit der sie bisher gesprochen hatte: ›Ist es meine Schuld?‹, fragt sich die Mutter eines Mörders. Tone hatte ungefähr zwanzig Personen angeschrieben. Zwölf hatten geantwortet und sieben sich zu einem Interview bereit erklärt. Menschen, die bereit waren, darüber zu sprechen, wie sie es erlebten, dass ihr Sohn oder ihre Tochter zum Mörder oder zur Mörderin geworden war. Wie sie den Gedanken aushielten, einem Menschen das Leben geschenkt zu haben, der einen anderen umgebracht hatte.

Jetzt wollte eine der Mütter einen Rückzieher machen. Das konnte sie nicht zulassen. Ich muss sie morgen früh anrufen und überreden, dachte Tone. Sie hatte ja schon zugesagt, deshalb dürfte es nicht so schwierig sein. Oder Tone könnte so tun, als hätte sie die Nachricht gar nicht bekommen, und Frau Kristiansen zum vereinbarten Termin aufsuchen.

Die Notizen zu der Reihe lagen in einer Mappe auf dem Schreibtisch. Auf einem gelben Merkzettel stand, dass Tone sich für Donnerstagnachmittag mit Marta Kristiansen in Tøyen verabredet hatte. Ihr Sohn war wegen Mordes an seiner Ehefrau verurteilt worden. Er hatte sie mit einem Messer erstochen. Das Motiv: Eifersucht. Der Mord war vor gut neun Jahren geschehen. Und der Mann zu dreizehn Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden. Soweit Tone wusste, konnte er inzwischen wieder draußen sein. Bei dem Gedanken machte ihr Herz einen Satz. Sie drehte eine schnelle Runde durch das Zimmer und zog alle Vorhänge zu. Sie waren dick und versperrten den Blick ins Haus.

Sie wollte nichts mehr lesen. Für heute war ihr Bedarf an Todesfällen gedeckt. Die Frau im Wald war bestimmt ermordet worden. Håkon Arfoss’ Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf.

Wen konnte sie so spät noch anrufen? Sie entschied sich für Irene Eikeli, die auch allein lebte.

Das Telefon schellte lange, bevor eine verschlafene Stimme antwortete. Tone entschuldigte sich vielmals und erklärte, dass sie einfach mit jemandem reden müsse. »Ich habe einen schrecklichen Tag hinter mir«, begann sie. Dann strömten die Worte aus ihr heraus, sie redete mehrere Minuten ohne Unterbrechung. Über den Fund der Leiche, den Mord, die Verabredung. Die Freundin am anderen Ende wurde allmählich wach und bat um Details. Doch als Tone ihren Verdacht äußerte, mit dem Mörder zu Abend gegessen zu haben, schlug Irene ihr vor, sich vielleicht doch erst einmal auszuruhen. Es konnte der Schock sein, der sie die Eindrücke durcheinander bringen ließ, sagte sie. Tone hatte da ihre Zweifel.

»Bist du sicher, dass es richtig ist, jetzt alleine zu sein?«, fragte Irene.

»Und mit wem sollte ich zusammen sein?«

»Du hast doch bestimmt Freunde in Lillehammer.«

»Aber niemanden, der mitten in der Nacht hierher kommen kann.«

»Sicher.« Die Freundin kam mit weiteren wohlmeinenden Worten und guten Ratschlägen und war klug genug, ihr nicht vorzuschlagen, das Gespräch zu beenden. Es war Tone, die sich nach einer Stunde hilfreichen Telefonierens verabschiedete. Da hatte sie sich leer geredet und beide gähnten nach jedem zweiten Satz. Die Uhr zeigte halb zwei. In fünfeinhalb Stunden würde das Telefon sie wecken.

Ganz richtig. Das Telefon weckte sie. Aber nicht um sieben Uhr morgens, sondern um halb drei in der Nacht, wie ihr die roten Zahlen des Radioweckers anzeigten. Tone musste gerade eingeschlafen sein. Das Telefon fiel beinahe auf den Boden, als sie nach dem Hörer tastete und sich mit ihrem Namen meldete. Am anderen Ende war es still. »Wer ist da?«, fragte sie. Sie hörte jemanden atmen, dann wurde aufgelegt. Der Apparat im Schlafzimmer hatte kein Display, sodass sie nicht sehen konnte, von welcher Nummer aus angerufen worden war. Hatte sich jemand verwählt? Dann hätte er sich zumindest entschuldigen können. Sie dachte an die beiden anderen anonymen Anrufe. Konnte das Marta Kristiansen sein, die erneut versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen? In dem Fall musste sie total verzweifelt sein. Tone dachte an die Männer, die sie im Internet kennen gelernt hatte, aber sie wusste nicht mehr über sie, als sie ihr erzählt hatten. War ein Verrückter unter ihnen? Einer, der ihr Angst einjagen oder sie auf diese Weise terrorisieren wollte? Håkon Arfoss? Was für ein Mann war er?

An Schlafen war nicht mehr zu denken. Die Nacht draußen war schwarz und aufdringlich. Das Schlafzimmer lag glücklicherweise im Obergeschoss, sodass der Gedanke, dass jemand draußen vor dem Fenster stehen könnte, gar nicht erst aufkam. Ohne das Licht im Schlafzimmer anzumachen, ging sie ins Bad und holte sich ein Glas Wasser.

Fröstelnd lag sie in ihrem Bett und rührte sich nicht. Der leuchtende rote Digitalanzeiger zeigte das Fortschreiten der Nacht an. Sie versuchte, an Ideen für neue Sendereihen zu denken. Doch die Wirklichkeit drängte sich brutal in ihr Bewusstsein. Der Telefonanruf. Die Leiche im Wald. Der rote Fleck am Hinterkopf. Ein Mörder, der frei herumlief. Arfoss, der im Wald gewesen war.

Die Dokumentarreihe schob sich wieder in den Vordergrund. Nach dem ersten Interview hatte sie große Erwartungen in sie gesetzt. Lief der Rest ebenso gut, hatte sie Stoff für mehr. Für ein Buch. Sie hatte bereits einen Verlag angeschrieben und die Idee unterbreitet. Aber vielleicht war es doch nicht so einfach. Eine der Quellen, in die sie die größten Hoffnungen gesetzt hatte, machte einen Rückzieher. Warum hatte Marta Kristiansen sich anders entschieden?

Budal, Mittwoch, 17. Oktober, 9.10 Uhr

Tone erwachte schlagartig. Irgendein lautes Geräusch war von draußen hereingedrungen, ein dumpfer Knall. Sie sah auf die Uhr. Zehn nach neun. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Die dicken Gardinen hielten den Tag außen vor.

Langsam kam sie zu sich. Sie hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen, bis sie gegen Morgen in einen schweren Schlaf gefallen war. Die Ereignisse des gestrigen Tages begannen in ihrem Kopf Karussell zu fahren. Zuletzt dieser anonyme Anruf in der Nacht.

Wollte der NRK sie nicht heute früh angerufen haben? Darüber musste sie sich keine Gedanken mehr machen. Nach dem nächtlichen Anruf hatte sie den Stecker im Schlafzimmer herausgezogen, erinnerte sie sich. Und das Handy lag unten im Arbeitszimmer.

Um dem neuen Tag ins Auge sehen zu können, würde sie erst einen Kaffee im Bett trinken. Der Gedanke, gleich wieder unter die Decke kriechen zu können, gab ihr die Kraft aufzustehen. In Pantoffeln und Morgenmantel tapste sie die Treppe hinunter in die Küche. Während sie wartete, dass das Wasser kochte, warf sie einen müden Blick auf den Tag dort draußen. Er war genauso grau wie der vorherige. Der Traubenkirschbaum gegenüber dem Schuppen hatte nur noch wenig Laub. Das meiste lag um den Baumstamm verstreut.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Die Schuppentür stand weit offen! Tone war seit Tagen nicht mehr in dem Schuppen gewesen und sicher, dass die Tür verschlossen war. Vielleicht war das die Erklärung für den Knall, den sie gerade gehört hatte: die Schuppentür, die gegen die Wand schlug.

Ein Klicken ließ sie zusammenfahren. Es war nur der Wasserkocher, der sich ausgeschaltet hatte. Sie schien langsam schreckhaft zu werden. Sie holte eine Tasse aus dem Schrank und füllte sie mit Kaffeepulver. Die Hände versagten ihr den Dienst und ein Teil des Pulvers landete auf der Küchenbank. Sie rief sich zur Ordnung. Für die offene Schuppentür gab es bestimmt eine Erklärung, sie wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Sie überlegte, den PC einzuschalten und zu sehen, ob neue E-Mails eingegangen waren. Sie widerstand der Versuchung, ging aber trotzdem ins Arbeitszimmer, um das Display des Telefons zu überprüfen. Es verriet ihr jedoch auch nicht, wer sie in der Nacht angerufen hatte. Unbekannter Teilnehmer, war alles, was dort stand. Sie steckte das Handy in die Tasche des Morgenmantels, nahm die Kaffeetasse und ging wieder nach oben.

Der heiße Kaffee brannte auf ihren Lippen. Das Handy zeigte zwei Anrufe an. Die Mailboxstimme informierte sie, dass der erste um 7.30 Uhr eingegangen war. Beide Anrufe kamen vom NRK. Sie hatten mehrmals versucht, sie anzurufen, sowohl über das Festnetz als auch auf ihrem Handy. Ein milde ausgedrückt irritierter Moderator wunderte sich, wo sie bliebe.

Die Lokalnachrichten um zehn begannen mit einer Meldung über die tote Frau. »Eine Frau wurde gestern in der Nähe des Mesnaelva in Lillehammer tot aufgefunden. Die Polizei ermittelt, kann über die genaueren Umstände zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nichts bekannt geben. Die etwa dreißig- bis vierzigjährige Frau wurde gestern gegen halb eins von einer Spaziergängerin entdeckt. Die Polizei bittet um Hinweise ...« Das Erlebnis kam wieder näher, die Radiostimme zog sie in das Geschehen hinein. Eine zufällige Spaziergängerin. Das bin doch ich, dachte Tone. Die Tote hatte vorläufig noch keinen Namen und keinen Heimatort. Das konnte nur bedeuten, dass die Polizei ihre Identität noch nicht kannte.

Vielleicht hatte die Lokalzeitung mehr. Sie schloss die Tür auf, trat in den Herbsttag hinaus und ging langsam den kurzen Weg zum Briefkasten. Auf dem Rückweg zwang sie sich, zu der dunklen Türöffnung des Schuppens hinüberzusehen. Wahrscheinlich hatte sie die Tür nicht richtig verriegelt. Während sie geschlafen hatte, musste ein Windstoß an der Tür gerüttelt haben, sodass das Schloss aufgesprungen war. Was sollte es sonst gewesen sein?

Drinnen stürzte sie sich auf die Zeitung. Der Fund der toten Frau war der Aufmacher. Er nahm fast die ganze Titelseite und noch eine weitere Seite ein. Auch hier nichts über ihre Identität. Es war nicht sicher, ob sie aus der Gegend war, stand in dem Leitartikel. Auch die Spaziergängerin wurde erwähnt. Sie verständigte sofort die Polizei. Diese hat ein größeres Gebiet um den Fundort abgesperrt und ermittelt die Todesumstände, äußert sich jedoch weder über ein Fremdeinwirken noch über mögliche Verdächtige. Unseren Informationen zufolge sollen kurz vor der Entdeckung der Toten zwei Männer auf dem Weg gesehen worden sein, der am Fluss entlangführt.

Diese Information stammte von ihr. Und jetzt wusste sie auch, wer einer der Männer war. Die Polizei bittet Passanten, die sich in dem Gebiet aufgehalten haben, sich zu melden. Jeder, der etwas gehört oder gesehen haben könnte, wird aufgefordert, sich mit einer Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen. Die Polizei hat ein größeres Gebiet nach Beweismaterial abgesucht, will vorläufig jedoch weder bekannt geben, welche Spuren sie verfolgt,