Keine Panik vor dem Alter(n) - Wolfram Pirchner - E-Book

Keine Panik vor dem Alter(n) E-Book

Wolfram Pirchner

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Beschreibung

"Hallo, Alter!" Hilfe, wir werden älter! Kein Grund zur Panik, denn mit der richtigen Einstellung lässt sich der wachsenden Zahl an Kerzen auf der Geburtstagstorte mit Gelassenheit und Optimismus begegnen. Wer sich nicht gegen das Älterwerden wehrt, sein Leben aktiv gestaltet und auch mit zunehmendem Alter fit und mobil bleibt, erhält seine Jugendlichkeit weit über das biologische Alter hinaus. Wolfram Pirchner erzählt von seinem eigenen Umgang mit dem Thema Alter(n) und befragt zahlreiche prominente Gesprächspartner wie Erni Mangold, Lotte Tobisch, Felix Dvorak, Bernhard Aichner oder Mona Seefried zu ihren persönlichen Erfahrungen. Und er bietet zahlreiche praktische Tipps, wie man auch im fortgeschrittenen biologischen Reifezustand seine Zeit genießen und lebenswert gestalten kann. Denn letztendlich geht es nur um eines: glücklich zu sein – in jedem Alter.

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WOLFRAMPIRCHNER

KEINEPANIKVOR DEMALTER(N)

Zu jung, um alt zu sein

Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt.

Arthur Schopenhauer

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2018 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagabbildungen: © Andreas Hochgerner (Fotos Wolfram Pirchner),

© iStock.com (Hintergrund, Fotostreifen)

Herstellung und Satz: Gabi Adébisi-Schuster, Wien

Gesetzt aus der Minion Pro und der Barlow

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-107-8

eISBN 978-3-903217-10-2

INHALT

Anstatt eines Vorworts

Seid lieb!

60 ist das neue 40?

Du wirst dich noch wundern …

Das Lebensband

Es geht mir von Tag zu Tag besser

Körperchemie

MeinLeben noch einmal leben …

Ab ins Heim – ich sicher nicht!

Vorsorge

Wert und Würde

Der alte Großvater und der Enkel

Ein Anwalt des Vertrauens

Lebensbilanz

Selbstachtung

Es war einmal in Griechenland

Heilsame Klänge und die Herausforderungen der Technik

Weihnachten – Oh Jubel, oh Freud’ oder Oh Trubel, oh Leid …

Perfektionismus

Wir müssenunbedingt!

Egoismus?

Endliche Lebenszeit

Jung und Alt

Was seht ihr, Schwestern?

Altersangst

Sicher schön

Prominente Gäste

Bernhard Aichner

Felix Dvorak

Dietmar Grieser

Mona Seefried

Der Bindestrich

Drumthebrain

#MeToo

Das Leben verdichten

Runder Geburtstag – was nun?

Ziele

Prokrastination

Der Zug des Lebens

Unsere Zeit ist begrenzt

Identitätsfindung

Lotte Tobisch

Die Angst vor dem Tod

Erni Mangold

Der Ort der Stille

»Muss ich denn sterben, um zu leben?«

Wir haben keine zweite Chance – vom Loslassen

Eine Lehrstunde der besonderen Art

Ich darf genießen! Ab heute.

Achtsam und behutsam

Umstellungsfreudigkeit

Der Umgang mit den Alten

Zwischenzeit

Verabschiedung

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

ANSTATT EINES VORWORTS

Ob Verwandte, Freunde, Bekannte, fast nie hat einer gesagt: »Sei mutig, ich vertrau dir!« Es hat auch keiner gesagt: »Scheiß drauf, was die anderen sagen. Denk dir einfach dein 80-jähriges Ich, das aufs Leben zurückblickt: Was hättest du gern getan als junger Mensch? Was waren deine Träume? Und dann mach einfach, und lass dich davon von niemandem abbringen. Denn du bist nach der Schule so frei wie nie wieder in deinem Leben.«

Stattdessen haben einem alle eingeredet, man sollte erst einmal »etwas Sicheres« machen. Aber so entsteht nichts.1

PS: Vielleicht frage ich mich nicht nur mit 40, sondern mit 50, mit 60, mit 70, mit 80, mit 90: »Warum habe ich es (damals) nicht wenigstens versucht?«

SEID LIEB!

»Lange habe ich gezögert, ›mein Buch‹ zu schreiben.« Mit diesem Satz beginne ich mein erstes Buch Nur keine Panik, das 2014 erschienen ist. Es ging um meine Panikattacken und die Bewältigung derselben. Und dann kommt noch ein Satz, der mir im Nachhinein auffällt: »Ich habe in keiner Lebenslage mehr Panik.« Das stimmt nicht ganz. Hin und wieder habe ich leichte Panik, auch Panikattacken. Aber ich gehe gut damit um.

Seit einigen Monaten habe ich so etwas wie eine Altersbetrübtheit, eine leichte Form der Altersskepsis, keine Panik. Nicht wenn ich an den unvermeidlichen Prozess des Älterwerdens denke, ich habe ungute Gefühle und verspüre eine schwermütige Melancholie, wenn ich an die Endlichkeit meines Seins denke. Ich denke vermehrt über meine Restlaufzeit nach. Was wird (noch) alles daherkommen? Wohin wird der Weg gehen? Mit wem werde ich ihn gehen? Wer werden die Gefährtinnen und Gefährten sein, mit denen ich die kostbare verbleibende Zeit teilen werde? Es ist beunruhigend, wenn ich mir überlege, dass ich nicht mehr so viel Zeit habe, wie ich schon verbraucht oder gebraucht habe. Verlebt oder gelebt, egal, wie man dazu sagt … Erleichterung macht sich bisweilen durch die beruhigende Gewissheit breit, dass ich sicher mehr gelebt als verlebt habe. Eine liebe Freundin sagte unlängst zu mir: »Du hast privat, beruflich – in allen Lebenslagen – bereits drei oder vier Leben gelebt.« Zum Teil hat sie sicher recht. Ich hatte bisher ein intensives Leben mit vielen Höhen und Tiefen. Ein Leben, in dem die Sinuskurve stark ausgeschlagen hat und es immer noch tut. Nach oben und nach unten. Gott sei Dank! Einmal habe ich in einem meiner Bücher geschrieben, dass ich die Amplituden der Sinuskurve gerne abfedere, also ungern himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt bin. Bei genauer Betrachtung stimmt das jedoch nicht. Fest steht, dass die sogenannte Mitte, das Mittig-Sein, das viele anstreben, das »Ommmmmm-Gefühl«, für mich eher nichts ist. Außer wenn ich in diesen Zustand willentlich gerate, mittels Meditation, dann schon. Aber das mache ich nicht allzu oft, weil ich viel zu intensiv im Hier und Jetzt verwurzelt bin.

Hin und wieder gerate ich also in den Zustand hektischen Denkens, wenn ich mir überlege, was ich noch alles für mich und wenige andere, die in meinem Herzen sind, bewegen möchte auf diesem Planeten. Welche Menschen ich möglicherweise näher kennenlernen will, welche Länder darauf warten, von mir bereist zu werden, mit welchen Menschen ich noch die eine oder andere Baustelle ausräumen möchte, die sich durch Vertrauensbrüche, mangelnde Ehrlichkeit und Grenzüberschreitungen aufgetan hat. Bei solchen Worten und Bildern im Kopf (meinen Gedanken) macht sich gelegentlich eine gewisse Schwermut breit, eine womöglich sinnlos anmutende Gefühlsregung, die zu keinem konstruktiven Ergebnis führt. Im Hintergrund höre ich jahreszeitlich passend (was das Verfassen dieses Vorwortes betrifft) das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Anrührend, beinahe fesselnd dirigiert von einem ganz Großen: Nikolaus Harnoncourt. Der Professor hat meinem Empfinden nach immer schon einen Tick schneller und dynamischer dirigiert als viele seiner wertgeschätzten Künstlerkollegen. Nicht ganz Karajan, aber fast. Sehr schön. Ich mag diese leichte Getriebenheit nicht nur in der Musik – sie erinnert mich an mein Leben. Aber ich sollte eigentlich ein Buch über »keine Panik vor dem Alter(n)« schreiben und nicht in ebendiese hineinkippen. Bitte verzeih!

Apropos: Ist es in Ordnung für dich, wenn ich auch in diesem Buch wieder die Du-Anrede verwende? Bist du einverstanden, dass wir diese Form der Kommunikation beibehalten? Und ist es o.k. für dich, wenn ich zwecks Einfachheit wieder die weibliche Form der Anrede verwende? Erstens weil mehr Frauen meine Bücher lesen (sagt man mir hin und wieder), und zweitens weil es mir sehr angenehm ist. Ich bin ein vorbildlicher Genderer, das weißt du vielleicht, wenn du meine oder eines meiner Bücher gelesen hast. Danke, dass du mich verstehst. Was dieses angebotene, dieses wertschätzend gemeinte, aber doch aufgezwungene Duzen betrifft, fällt mir mein kleiner Trick ein, den ich bei Vorträgen anwende. Um gleich zu Beginn eine persönliche Atmosphäre zu schaffen, stelle ich mich als Erstes mit Namen vor. Daraufhin lachen einige Zuhörerinnen. Sie amüsieren sich, weil sie der Meinung sind, dass sich der ehemalige Fernsehmoderator nicht vorzustellen braucht. »Wir wissen eh, wer Sie san, Herr Pircher!« Ich sage darauf, dass ich zu Hause gelernt hätte, mich vorzustellen. Um dann hinzuzufügen, dass aber nicht alles, was man zu Hause lernt, gut fürs Leben ist … Dann biete ich das Du-Wort an, weil ich auch sehr persönliche Dinge über mich erzähle. Ich weise aber darauf hin, dass, wenn nur eine oder einer dagegen ist, ich natürlich niemanden duzen würde. Bis jetzt war erfreulicherweise noch niemand dagegen. Lustig ist, dass mich nach dem Vortrag, beim Signieren meiner Bücher, einige Damen und Herren fragen: »Müssen wir jetzt wieder Sie zu dir sagen?« Natürlich müssen sie nicht.

Also: Wir duzen uns. Vielleicht zum Leidwesen der von mir sehr geschätzten und gemochten Amalthea-Verlagsdamen, die dann höflich anmerken: »Ist das nicht möglicherweise zu privat, was meinen Sie?« Keine Angst, ich verrate keine Details über meine zweifellos vorhandenen dunklen Seiten (Geheimnisse müssen und dürfen wir doch alle haben, nicht?). Nur so viel: Sie werden weniger, und das hat einiges mit Selbsterfahrung, Selbstakzeptanz und auch Selbstliebe zu tun. »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« heißt es in der Bibel (Matthäus 22,39). Da würden manche schön aus der Wäsche schauen. Von der Selbstliebe bin ich noch weit entfernt. Ich mag mich ganz gern und werde mir in langsamen Schritten auch etwas sympathischer, aber es ist ein mühevoller, beschwerlicher Weg, der viel mit Veränderung zu tun hat.

Und es geht – auch wenn ich das früher fallweise gerne spöttisch kommentiert habe – im Leben um Liebe. Und nur darum. Es geht um die selbstlose, verzeihende, hingewandte Liebe, die bereit sein muss, Schranken zu überwinden und Verfehlungen zu verzeihen. Bedingungslos. Liebe hat nichts mit jenem Zustand zu tun, in dem ich etwas beweisen muss. In dem ich Liebe vorgaukle und vor allem den anderen zeige: »Schaut her, da gibt es jemanden, der mich liebt!« Tut sie beziehungsweise er das tatsächlich? Wie viel ist diese Liebe bereit zu geben oder geht es mehr ums Nehmen? »Liebe« hat auch viel mit »Nicht-allein-sein-Können« zu tun. Ich habe Menschen kennengelernt, die alleine nicht überlebensfähig sind. Die allein gelassen wie aufgescheuchte Küken durch die Gegend stolpern, angsterfüllt, fahrig, unsicher, fast ferngesteuert. Kaum ist dann jemand da (»Ja, ich liebe dich aus ganzem Herzen!«), der sie oder ihn hält, stützt, führt, leitet … und vor allen Dingen finanziert, geht es diesen bedauernswerten Geschöpfen vermeintlich gut. Ein Trugschluss? Wie wird das (Lebens-) Spiel ausgehen? Egal. Nicht meine Sache. Gott sei Dank. Es geht um Liebe. Seid lieb! So lautet ein oft wiederkehrender Satz im fantastischen Buch Gott bewahre meines Lieblingsautors John Niven. Es geht um Liebe, um die bedingungslose, verzeihende Liebe. Nicht nur in Nivens Buch. Das ist ein wunderschönes Lebensmotto, finde ich. »Seid lieb!« Zu den anderen und vor allem zu euch.

»Seid lieb!« Zu den anderen und vor allem zu euch.

60 IST DAS NEUE 40?

Jetzt schreibt er also ein Buch über das Altern. Beziehungsweise über die mögliche Panik davor. Ja, liebe Leserin, das tut er, und danke, dass du wieder ein Buch von mir gekauft hast. Das mittlerweile vierte. Und danke für die vielen Zuschriften, Karten, Briefe und E-Mails, die ich dankbar gelesen habe, auch mit Stolz, weil ich offensichtlich etwas berühre und bewege.

Warum also ein Buch über das Thema Altern und die Angst, ja sogar Panik davor? Unter anderem, weil ich dieser Tage meinen 60. Geburtstag (nicht) feiere und damit in den erlauchten Kreis der – das hängt jetzt von der Definition ab – Älteren, der Alten, der »Silver Generation« (das ist ein charmanter Blödsinn, da gehöre ich schon seit 20 Jahren dazu) aufgenommen werde. »60 ist das neue 40«, las ich unlängst wieder. Feststellungen wie diese lassen mich elektrisiert auffahren. Genau dieser Satz hat mich auf die Idee gebracht, dieses Buch zu schreiben. 60 ist das neue 40? Was für ein unfassbarer Schwachsinn. Warum soll/muss ich mich mit 60 wie 40 fühlen? Warum dieses, mir krankhaft erscheinende, Streben nach einer nie mehr wiederkehrenden Juvenilität, warum dieses andauernde Betonen, wie jung und fit wir nicht wären und uns demnach auch fühlten. Nur keine Schwächen zeigen! Nur nicht zugeben, dass wir auch müde, schwach, faul oder träge sind und uns kränklich fühlen! Das gehört doch zum Leben dazu. Übrigens habe ich mich auch als Kind und Jugendlicher manchmal schwach gefühlt. Vor allem als Pubertierender war ich sehr träge. Das lag aber vermutlich bis sicher an meiner Lebensführung, wenn du verstehst … da geht es fast allen Leidensgenossinnen gleich.

Ich möchte gerne wissen, ob sich alle Mitmenschen derart jung und fit fühlen, wie sie es tagtäglich behaupten. Warum tut man das? Warum kann ich mich nicht einfach den Gegebenheiten des Dahin-Reifens, des Alterns angleichen? Und mich mit ihnen abfinden? Ja, sie akzeptieren. Etwas anderes bleibt uns doch gar nicht übrig, oder? Wir sollten akzeptieren, annehmen, dass wir endliche Wesen sind. Vom ersten bewussten Atemzug bis zu unserem letzten. Und der letzte Schnaufer wird garantiert kommen. Die Frage ist nicht das Ob, es geht um das Wann, und auch und vor allem um das Wie, wenn man egoistisch denkt. Ich bin überzeugt davon, dass wir ein vorbestimmtes Ablaufdatum haben. Von irgendeiner höheren Macht gelenkt, bestimmt, festgelegt. Wann auch immer dieser Moment kommen wird, ein wenig fürchte ich mich davor, aber nicht vor dem Sterben an sich, sondern vor der Art und Weise. Wird es schmerzvoll sein, mühsam, von Krankheit und Leiden geplagt? Werde ich alleine sterben? Wird jemand an meiner Seite sein? Und wer soll das sein? Die ehemals geliebten Exfrauen? Nein, eher nicht. Die Kinder? Ich weiß nicht so recht. Wie wird das Loslassen funktionieren? Werden mich, so ich geistig dazu noch in der Lage bin, Gedanken quälen wie »Das hättest du noch machen sollen« oder »Das hättest du keinesfalls tun sollen!«, »Diesen Menschen hättest du mehr lieben sollen«, »Du hättest zärtlicher und zugänglicher sein sollen«? Was wird auf uns zukommen? Bei näherer Betrachtung handelt es sich hierbei um eher sinnloses Gedankengut.

Der Moment des Abschieds wird bei der einen früher, viel zu früh fallweise, bei der anderen später kommen. Da nützt die ganze Diskussion rund um das Durchschnittsalter der Österreicherin, des Österreichers leider gar nichts. Die Lebenserwartung in 35 Industriestaaten dürfte bis 2030 generell weiter steigen. Auch in Österreich wird es einen Anstieg geben – auf 81,40 Jahre bei Männern und 86,22 Jahre bei Frauen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie in der Fachzeitschrift The Lancet. Den größten Anstieg, auf eine Lebenserwartung von über 90 Jahren, können Frauen in Südkorea erwarten. »Bis zur Jahrhundertwende haben viele Wissenschaftler geglaubt, dass die Lebenserwartung niemals die 90 Jahre übersteigen wird. Unsere Vorhersagen einer steigenden Lebenserwartung beleuchten unsere Erfolge für die öffentliche Gesundheit und die Gesundheitsversorgung«, sagte Studienautor Majid Ezzati vom Imperial College in London.2

Ich habe vor Kurzem einen Spruch gelesen: »Ich bin nicht 60. Ich bin 18 mit 42 Jahren Erfahrung.« Teilweise stimmt das: Der Geist bleibt jung, meistens, wenn man von Krankheiten verschont bleibt (die Dankbarkeit dafür dürfte sich durchaus verbreiten), und der Körper, die Hülle, die uns zusammenhält, altert. Völlig normal, und niemand bleibt davon verschont. Der biologische Reifezustand, wie ich gerne sage. Aber die Realität ist: 60 ist 60 und 40 ist 40. Das kann man sich ausrechnen oder gerne auch nachschauen, in der Geburtsurkunde.

Warum also dieser Wahn, sich jünger machen zu wollen? Ich weiß, dass sich viele Menschen jünger fühlen als ihr Umfeld, egal ob sie 40, 50, 60 oder 70 sind. Wenn ich meinen Ex-Schwiegervater Stefan anschaue … der gute Mann ist mit bald 90 noch ein Hammer. Er selbst fühlt sich jung – na ja, jung, aber vital, wissbegierig, neugierig und körperlich und geistig hochaktiv. Der Vergleich mit unseren Eltern gibt uns recht. Meine waren mit 60 viel älter, als ich es heute bin. Optisch und von der Einstellung her. Ich führe ein anderes Leben als die Generationen vor mir, ich fühle mich nicht gebrechlich (außer ich stürze auf nicht gestreuten Innenhöfen und breche mir die Haxen), ich bemühe mich, meine Gesundheit zu erhalten, meine Mobilität, meine Fitness – aber ich bin 60. Und das ist gut so. Ich kenne 30- und 40-Jährige, die älter sind. Bei denen es körperlich und von der Vision beziehungsweise deren Umsetzung her relativ traurig ausschaut. Wer aktiv ist, ist noch lange nicht am Ende.

Wer aktiv ist, ist noch lange nicht am Ende.

Ja, die Ablaufuhr tickt – doppelt so lange wie bis jetzt werde ich garantiert nicht mehr leben, aber warum verknüpft man mit dem Ableben immer etwas Schreckliches? Wir alle haben ein Ablaufdatum, manchmal scheint mir, dass das nicht allen bewusst ist. Das Thema Tod wird beiseitegeschoben, es wird verdrängt. Faktum ist: Wir alle werden sterben. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Wie wir freilich auf diesen Tag zugehen, das liegt bei uns. Die Grundeinstellung, die Bereitschaft zur Selbstannahme, zur Selbstversöhnung, der Wille, Baustellen im Leben auszuräumen, sie zu erledigen, sie abzuhaken und vor allem rechtzeitig für uns vorzusorgen, in welcher Form auch immer – das alles liegt bei uns. Körperliche Vorsorge, finanzielle Vorsorge, rechtliche Vorsorge, Maßnahmen zu ergreifen, geistige und geistliche Vorkehrungen zu treffen – all das kann von uns geplant und realisiert werden, solange wir in der psychischen und physischen Verfassung sind. Tun wir es, solange wir dazu in der Lage sind und nur wir die Regisseure unseres Lebens sind. Lassen wir uns nicht ein Leben lang von den anderen vorschreiben, was wir zu tun hätten! Werfen wir – zumindest – einen Teil unserer Ängste und Bedenken über Bord. Wir werden es uns selbst danken!

Auf Aussagen oder Reaktionen wie »Du redest dich leicht« oder »Du schreibst dich leicht« reagiere ich mittlerweile gelassen. Leicht? Leicht war in meinem Leben gar nichts. Es ist durch verschiedene Reparaturen, Umarbeitungen, Wandlungen leichter geworden. Unbeschwerter. Verträglicher und irgendwie schwereloser ist es geworden, seitdem ich keine wie immer gewünschte oder geartete Rolle mehr spiele und seitdem ich vermehrt zu meinen Gunsten agiere. Nicht nur zu meinen Vorteilen, selbstverständlich nicht, aber ich bin der wichtigste Mensch in diesem Dasein und ich werde in meinem Leben erfreulicherweise immer wichtiger. Vor allem jetzt im Alter. Und das ist schön! Aber leicht? Ich war am Rande des Aufgebens. Ich wollte nicht mehr beziehungsweise ich konnte nicht mehr. Konnte nicht? Wer von uns stand auf dem Brückengeländer? Ich. Gott sei Dank habe ich es auf der richtigen Seite wieder verlassen. Aufgrund meines veränderten Denkens, meiner korrigierten Einstellung mir selbst gegenüber. Aufgrund der Versöhnung mit mir, des Annehmens meiner guten und auch meiner dunklen Seiten. Wenn du zur eigenen Veränderung bereit bist, wird es mit Sicherheit schmerzhaft und mühsam. Vor allem die Folgen, die du dir in deinen kühnsten (Alb)träumen nicht ausmalen kannst. Es ist schmerzlich, beschwerlich, traurig, beklemmend. Du wirst möglicherweise das Gefühl haben, dass die vielen Steine und Felsbrocken auf deinem Weg unüberwindlich sind. Eine Neuerung in deinem Leben wird ohne Schmerz(en) nicht möglich sein. Veränderung tut prinzipiell mehr oder weniger weh und muss meiner Meinung nach auch wehtun. Aber: Das Ausräumen der Hindernisse, der Umgang damit, wird zu deiner persönlichen Reform, deiner Neugestaltung beitragen.

Eine Neuerung in deinem Leben wird ohne Schmerz(en) nicht möglich sein.

Ich wünsche uns aus ganzem Herzen, dass unser Dasein, unser Leben, vor allem unsere Lebensqualität, unsere Lebensfreude nicht erst in wenigen Jahren Sinn bekommen, aufkeimen und beginnen. Ich möchte, dass wir jetzt anfangen, im Hier und Jetzt zu residieren, im Heute! Und dass wir nicht ständig mit unserer Vergangenheit hadern. Lassen wir das Gestern, unsere Fehler, auch die Fehler der anderen, die Kränkungen, die Beleidigungen und Befindlichkeiten hinter uns. Reden wir mit den Menschen, mit denen wir noch Rechnungen offen haben, treten wir ein in den Dialog mit uns selbst, schließen wir die Themen, die uns belasten, egal ob bewusst oder unbewusst, die auftauchen, wenn wir in der dafür notwendigen Nachdenkphase sind, sanft und harmonisch ab. Schieben wir die wichtigen Inhalte nicht mehr auf. Erledigen wir es jetzt! Leben wir nicht nach oft gehörten Aussagen wie »In der Pension, da gönne ich mir dann dies und jenes« oder »Wenn die Kinder aus dem Gröbsten heraußen sind, unternehmen wir gemeinsam etwas«. Ich kenne »Kinder«, die sind mit 50 noch nicht aus dem Gröbsten »heraußen«. Und vor allem lasst uns nicht am Alleinsein verzagen. Das Alleinsein, zumindest das temporäre Alleinsein, hat ungeahnte Qualitäten. Du kannst nicht allein sein? Experten sagen, dass man dagegen etwas unternehmen kann … Sich einsam zu fühlen, heißt nicht unbedingt allein zu sein, sondern vielleicht nicht allein sein zu können oder zu wollen. Auch ein Migräneanfall ist noch kein Burn-out. Ich habe diesbezüglich sehr viel erlebt, viel gelesen und recherchiert, mit Experten, mit zahlreichen Betroffenen gesprochen. Und ich habe als viel erlebender Mensch und auch als Lebensberater und akademischer Mentalcoach gute und hilfreiche Tipps und Anregungen für dich, wie »es« vielleicht funktionieren kann. Damit dein Leben trotz fortgeschrittenen biologischen Reifezustands (= Alters) lebenswert ist oder wird. Es gibt unzählige Ratgeber und gescheite Bücher, und wenn du aus diesem einige Botschaften mitnimmst in dein Dasein und sie auch anwendest, dann wird etwas mit dir geschehen. Das wünsche und verspreche ich dir.

DU WIRST DICH NOCH WUNDERN …

»Du wirst dich noch wundern!« klingt nach leichter Drohung. Unterschwellig zumindest. »Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist!« Das erinnert uns doch an etwas. Ja richtig! Dieser Satz ist 2016 einem der Kandidaten für das höchste Amt im Staat im Wahlkampf in einem der vielen, zumeist lähmenden TV-Duelle herausgerutscht. Oder er hat es absichtlich gesagt. Ist ja egal. Als ich um die 30 Jahre alt war, hat meine Mutter mich unter anderem mit dem häufig verwendeten Satz »Du wirst dich noch wundern!« genervt. Sie meinte damit, dass ich mich wundern würde, wie schnell und schneller die Zeit vergeht, je älter ich werde. Ich musste jedes Mal milde lächeln und dachte in Richtung meiner Mama: Na ja, du hast vermutlich viel versäumt in deinem Leben, zahlreiche Vorsätze nicht realisiert, dir viele Wünsche nicht erfüllt, das ist die Frustration des »Mittelalters« (sie war damals 66 – da fängt das Leben doch erst an, oder?), die dich umfängt, und je älter du wirst, desto intensiver werden die Gefühle des Versäumt-Habens und ähnliche gespürte Defizite. Vermeintliche. »Du wirst dich noch wundern!«, meinte sie oft und öfter. Und ich habe mich tatsächlich gewundert.

Wenn ich zurückdenke, kommt mir das Zeitvergehen, das überraschend schnelle Vorbeiziehen von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren, gefühlt als Fünfjahres-Sprünge vor. Nicht nur mir scheint, dass die Zeit beziehungsweise das Zeitempfinden ein anderes, ein Differenzierteres geworden ist. Es hat sich in eine Achterbahnfahrt light verwandelt. Und heute, mit 60 Jahren, rast die Zeit dahin, auch wenn ich mir meine persönlichen Zeitinseln nicht nehmen lasse, sie im Gegenteil erweitere. Auch wenn ich in der Lage bin, zu entspannen, zu ruhen, innezuhalten, nachzudenken. Also nicht einfach dahinzuleben oder -zuvegetieren … nein, ich lebe meine Zeit bewusst, und trotzdem geht es so schnell dahin. Und ja: Es ist meine Zeit. Die Endlichkeit des Daseins wird mir immer bewusster. Nicht zuletzt deshalb, weil sich regelmäßig und immer öfter Bekannte, Freunde, Verwandte von dieser Erde verabschieden. Sei es durch Krankheit, manchmal durch Unfälle, relativ gehäuft durch plötzlichen Herztod oder Aneurysma. Unlängst sagte ein Bekannter in meinem Alter: »Die Einschüsse kommen näher.« Ich verstand nicht gleich, was er damit meinte, aber er hatte natürlich recht: Je älter wir werden, desto mehr Menschen sterben in unserem Umfeld, auch wenn man es nicht wahrhaben will. Die Einschüsse kommen näher und vor allem unerwartet.

Wie bei meinem Freund Christian, der mich 44 Jahre begleitet hat. Vom Gymnasium über die Maturareise, das Studium, diverse Weltreisen und unzählige, auch alkoholgeschwängerte, Treffen, die allesamt lustig, bereichernd und erfüllend waren. Keine Minute war es mit ihm langweilig. Genau das haben wir oft angesprochen – wir sind uns nicht auf die Nerven gegangen. Vielleicht auch, weil wir keine Konkurrenten waren, weil wir uns nichts beweisen mussten und weil wir kompatibel waren. Dabei hat man mich mit ihm in der 5. Klasse (zwangs-)zusammengesetzt, weil die Professoren wussten, dass wir uns, ich drücke es gelinde aus, nicht sehr sympathisch waren. Dieser Zustand, diese Einstellung zueinander, hat sich freilich geändert und war auf Dauer gesehen für einige Menschen in unserem gemeinsamen Umfeld ein fataler Irrtum. Nicht umsonst bezeichnete uns meine Mutter nicht selten als »Duo infernale«. Sie hatte ja so recht, die gute Frau. Christian und ich näherten uns anfangs einander sehr vorsichtig und misstrauisch an, wie zwei Raubtiere, und entdeckten nach reiflicher, gegenseitiger Überprüfung eine geradezu symbiotische Übereinstimmung, was unter anderem Menschen, Lebensthemen, Schule, Universität oder Arbeit betraf. Spannend war, dass wir monatelang in der Schule, obwohl in derselben Bank sitzend, kein Wort miteinander gesprochen haben. Wir mochten uns einfach nicht. Ich erinnere mich an die ominöse Lateinprüfung – ein Vokabelcheck würde man heute sagen –, Frau Dr. M. rief mich auf, man musste in der Bank verharren, aber aufstehen. Sie wollte gewisse Termini von mir übersetzt wissen, und ich hatte, wie öfters, keinen blassen Schimmer. Plötzlich hörte ich Christians Stimme in meine Richtung den Lösungssatz raunen. Blitzartig schossen mir Gedanken durch den Kopf wie »Kann ein Mensch derart schlecht sein, derart fies, dass er dir die falsche Lösung einsagt?«. Ja, er könnte. Christian war es nicht. Frau Dr. M. wollte noch vier weitere Vokabeln übersetzt haben, Christian war ein perfekter Souffleur und ich setzte mich wieder, um ein wenig in seine Richtung zu rutschen, nachdem wir extrem auseinandergerückt waren, um ja keine wie immer gearteten Berührungspunkte zu haben. Ich sagte zu ihm: »Danke, das war sehr nett von dir.« Er schnoddrig darauf: »Jössas, du kannst ja sprechen.«

Das war der Anfang. Wir haben die halbe Welt gemeinsam bereist, Tausende Stunden miteinander verbracht, und das seit unserem 15. Lebensjahr. Unfassbare Erlebnisse durften wir teilen, viele Höhen und Tiefen unseres Lebens haben wir erleben dürfen oder müssen. Christian wusste mehr von mir, mehr über mich, als alle Lebensabschnittspartnerinnen zusammen. Er war ein cooler Hund. Im Oktober 2016 ist er beim Frühstück vom Sessel gefallen. Tot. Schnell, überraschend und unerwartet. Einen Tag davor haben wir noch telefoniert und über die Intensität des Lebens gesprochen.

Sein plötzlicher Tod hat mich sehr erschüttert und tut es fallweise immer noch. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass wir dies und das und jenes miteinander unternehmen sollten. Wie in der angeblich so guten, alten Zeit … Wir haben unsere Pläne, meist wegen eines höchst intensiven beruflichen Engagements, immer wieder hinaus- und aufgeschoben. Das war der Fehler. Und das kannst du auf das ganze Leben, privat, beruflich, deinen Ich-Bereich betreffend, projizieren. Hör auf, deine Wünsche hinauszuschieben, deine Pläne aufzuschieben und in eine ferne Zukunft zu transferieren. Vielleicht hast du keine lang andauernde Zukunft mehr. Den Zeitpunkt des Abschieds kennen wir nicht. Gott sei Dank!

Hör auf, deine Wünsche hinauszuschieben, deine Pläne aufzuschieben und in eine ferne Zukunft zu transferieren. Vielleicht hast du keine lang andauernde Zukunft mehr.

Mir kommt oft vor, dass sich viele Menschen der Tatsache nicht bewusst sind, dass wir alle ein endliches Dasein haben. Dass wir alle sterben werden. Der Tod wird als etwas Schreckliches empfunden und aus unserem Leben verbannt. Ich erinnere mich an die durchaus liebe Tante P. und ihre Aussage: »Wenn Kinder da sind, darf man nicht übers Sterben und den Tod reden!« Wie bitte? Es ist ein Unsinn der Sonderklasse, dass man heute, im 21. Jahrhundert, das Thema Tod von Kindern fernhält und sie vermeintlich schützen möchte. Schützen? Wovor? Sterben gehört zum Leben, der Tod ist ein natürlicher Teil unseres Lebens und muss als solcher gewürdigt werden. Und doch werden Geheimnisse, das Unheimliche, das Unendliche schamhaft oder angstvoll verbannt. Die Ursache liegt vielleicht darin, dass man den Tod nicht erklären will.

Sterben sei ein natürlicher Teil des Lebens und gehöre dazu, sagt die Psychotherapeutin Marina Gottwald aus Oberösterreich, die viel mit Kindern arbeitet. Ihre Empfehlung ist es, das Kind mitzunehmen, unabhängig vom Alter. Je früher sich Kinder mit dem Tod beschäftigen, umso selbstverständlicher wird der Umgang damit. Damit Sterben für den Nachwuchs nicht zum Tabuthema wird, können kleine Anlässe genutzt werden, wie zum Beispiel ein toter Vogel auf der Wiese, den man begräbt. So verbindet man den Tod mit einem Abschiedsritual.3

Ich erinnere mich, dass wir in meiner Kindheit einen Wellensittich hatten, mit dem schrecklichen Namen »Pipsi«, ein wunderbarer Vogel mit buntem, bläulichem Gefieder, sehr zutraulich, ein sehr liebes und geliebtes Tier. Als der Kleinpapagei eines Tages verendete, ich war circa zehn Jahre alt, war die Trauer riesengroß. Nicht nur bei meiner Schwester und mir, auch bei den Großen. Wir legten ihn in ein buntes Osterei – du kennst diese geschmacklosen Pappendeckelhüllen mit Ostermotiven drauf – in ein Ostergrasbettchen (im Februar!) und begruben ihn – verbotenerweise im nahe gelegenen Park. Durch dieses Ritual hatte ich einen Bezug zum Thema Ableben oder »Gehen« und es verlor seinen Schrecken. Ich war natürlich betroffen oder traurig, wenn ein naher Verwandter oder Freund starb. Ich erinnere mich auch genau daran, wie meine Oma starb. Die Mutter meines Vaters. Eine herzensgute Frau. Sehr traurig war ich, aber ihr Tod hatte nichts Schreckliches an sich. Es war der natürliche Lauf der Dinge. Verstehst du, was ich meine? Meine Eltern haben mir auch nie Unsinnigkeiten nähergebracht wie »Die Oma ist auf eine lange Reise gegangen« oder »sanft eingeschlafen«, wie es manche Zeitgenossen tun. Das hat sicher keine positiven Auswirkungen auf Kinder. Sie könnten die Endgültigkeit des Todes missverstehen, weil sie glauben, dass man von einer Reise wieder zurückkehrt. Noch problematischer ist die Sache mit dem »Einschlafen«. Kinder könnten sich, wenn ihnen dieses Bild vermittelt wird, vor dem Einschlafen fürchten. Warum, kannst du dir selbst ausmalen.

Das Thema Tod rückt in unserer Leistungsgesellschaft immer mehr in den Hintergrund. Der Tod hat nur mehr ganz wenig Platz. Erinnerst du dich? Früher gab es viel mehr Trauerrituale als heutzutage. Man ist viel öfter zu Allerheiligen und/oder Allerseelen an das Grab seiner Lieben oder auch weniger Lieben gegangen und danach mit der Familie und den Verwandten zusammengesessen. Ich habe heute noch die Atmosphäre am Wiltener Westfriedhof in Innsbruck klar und deutlich im Kopf, als mein Vater, der nicht unbedingt ein großer römischer Kathole war, mich schon Tage vor Allerheiligen mitgenommen hat, um das Grab seiner Mutter und Tante (wer da sonst noch aller ruhte, weiß ich gar nicht mehr) zu schmücken und ihnen so ein würdiges Andenken zu bescheren. Und dann der Aufmarsch der Tausenden Gläubigen und Heuchler am Allerheiligentag, dieses geschäftige Treiben, diese teilweise gespielte Andacht und fallweise tiefe Trauer – das hatte schon was. Apropos gespielt: Durch den blechernen Lautsprecher der Friedhofsbeschallung schepperte Wir sind nur Gast auf Erden, ein Lied, das es erst seit 1935 gibt (Text: Georg Thurmair, Musik: Adolf Lohmann). »Wir sind nur Gast auf Erden« – ja, das sind wir. Und wir wandeln auch ohne Ruh’, mit mancherlei Beschwerden der ew’gen Ruhe zu. Das tun wir. Der Text geht so weiter: »Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein. In diesen grauen Gassen will niemand bei uns sein. Nur einer gibt Geleite, das ist der Herre Christ. Er wandert treu zur Seite, wenn alles uns vergisst.« Mir gefiel dieses Lied immer schon, es hat etwas Majestätisches, Melancholisches, Hymnisches. Stell dir vor: ein Zehnjähriger, dem das gefällt … verrückt. Damals schon einen Huscher. Gut so.

Meine Eltern haben mir Trauer gut vorgelebt, sie haben ihre Trauer gezeigt und auch fallweise Kerzen für die verstorbenen Lieben zu Hause angezündet. Das hatte etwas Beruhigendes und Schönes. Das mache ich übrigens heute noch – ich gedenke meiner verstorbenen Lieben und das ist ein wohliges, harmonisches Gefühl. Sie sind nach wie vor da.

Das Leben sollte keine Reise sein mit dem Ziel, attraktiv und mit einem gut erhaltenen Körper an unserem Grab anzukommen. Wir sollten lieber seitlich hineinrutschen, Schokolade in der einen Hand, Martini in der anderen, unseren Körper total verbraucht, schreiend: »Wow, was für eine Fahrt!«Anonym

DAS LEBENSBAND

Vielleicht langweile ich dich (falls du meine vorigen Bücher gelesen hast), wenn ich neuerlich das »Lebensband« erwähne. Die durchschnittliche Lebenserwartung des österreichischen Mannes liegt laut Statistik Austria bei (ich runde marginal auf) 80 Jahren, jene der Frauen bei 85. Wie gesagt: durchschnittliche Lebenserwartung! Vielleicht nimmst du einmal ein Schneider-Maßband zur Hand, es symbolisiert in diesem Fall dein Lebensband, und schneidest dein Alter von 0 bis zu deiner jetzigen Anzahl an Lebensjahren ab. In meinem Fall 60 Jahre, also 60 Zentimeter. Und dann von hinten, von den 100 Zentimetern ausgehend, zurück bis zu deiner durchschnittlichen Lebenserwartung … und jetzt stellst du dir die Frage: Wie viele Zentimeter (Jahre) bleiben übrig? Durchschnittliche Lebenserwartung wie geschrieben, es kann viel früher zu Ende sein, aber auch viel länger dauern.

Entscheidend ist die Antwort auf die Frage: Werden – statistisch betrachtet – die letzten Lebensjahre qualitativ die besten oder zumindest sehr gute sein? Eher nicht. Wann soll die Veränderung zu deinen Gunsten beginnen? Wann startest du, etwas für dich zu tun und nicht immer für andere? Wie schnell vergeht für dich gefühlt ein Jahr? 365 Tage, 12 Monate, 52 Wochen. Rasend, nicht? Wie viele qualitativ »gute« Jahre haben wir noch? Es ist es wert, darüber zu reflektieren. Ich hör’ dich schon sagen: »Man kann ja ohnehin nichts machen, das ist das Schicksal, viele werden krank, gebrechlich, die Mobilität geht verloren …« Ja, das stimmt. Unsere Mobilität geht verloren, wenn wir nicht mobil bleiben. Wenn du dich nicht bewegst, wenn du resignierst und dich in Selbstmitleid ergehst. Dann wirst du – sagt man »alt« dazu? Andere sagen vielleicht brutal wertlos, unnütz, eine Belastung. Das möchten wir nicht, oder? Deutlich möchte ich darauf hinweisen, dass Menschen, die das Schicksal in Form einer schweren Krankheit oder einer wie auch immer definierten Katastrophe ereilt, hier nicht gemeint sind. Ich bitte um Verständnis dafür. Ich meine uns »Durchschnittliche«, bequem Werdende, uns sich den Genüssen hingebende und oft disziplinlose Menschen. Aber wir haben es doch verdient, wir haben geschuftet, uns aufgeopfert, alles gegeben und jetzt müssen wir uns doch auch einmal »etwas gönnen«. Wie bitte? Etwas gönnen? Das sollten wir tagtäglich tun, auch wenn wir pflichtbewusst, anständig und arbeitsam sind. Wir haben nur dieses eine Leben! Und es ist völlig wurscht, woran du glaubst! Ob an den lieben Gott, an Jesus, an Maria, an die Heiligen, an Buddha, ob du Jude, Hindu, Muslim bist. Es ist egal und bedeutungslos. Ich glaube nicht daran, dass wir wiedergeboren werden – und falls ja, was ändert das an unserem jetzigen Dasein? Und vor allem: Was würde ich anders machen? Würde ich etwas anders machen? Oder würde ich weiter verharren, verleben, aufschieben, planen und nicht realisieren? Was würde ich tun? Wir sollten die positive und klare Einstellung des »Im Hier und Jetzt«-Lebens präferieren, meinst du nicht?

Etwas gönnen? Das sollten wir tagtäglich tun, auch wenn wir pflichtbewusst, anständig und arbeitsam sind. Wir haben nur dieses eine Leben!

Mein sehr geschätzter Bekannter, Univ. Prof. DDr. Siegfried Kasper, Chef der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der MedUni Wien, meinte unlängst in einem Gespräch, dass es in seinem Freundeskreis bei Treffen eine diesbezügliche Regel gäbe: Jeder darf nur über ein (gesundheitliches) Leiden sprechen und vor allem nur über ein Ereignis aus der Vergangenheit. Das wurde mit großem Erstaunen aufgenommen (»Was sagt er jetzt, der Psychiater?«), dann aber waren alle froh, auch wenn sie fallweise wieder »zurückfallen«. Dann sagt der Professor: »Gehen wir wieder in die Zukunft.« Das ist genial, findest du nicht? Auf meine Frage, warum er diese Regel eingeführt habe, meinte Prof. Kasper: »Schauen Sie, es wird gut aufgenommen, sonst würde sich die Gruppe ja permanent nach unten ziehen, wenn man nur über Krankheiten, Unglücke, Tod und dergleichen spricht.«

Der deutsche Bestsellerautor und weltweit bekannte spirituelle Lehrer Eckhard Tolle meint dazu: »Mache es dir zur Gewohnheit, deine Aufmerksamkeit von Vergangenheit und Zukunft abzukoppeln, wann immer diese nicht mehr benötigt werden. (…) Wenn es schwierig für dich ist, direkt in die Gegenwart zu gehen, dann beobachte zu Anfang die Gewohnheit deines Verstandes, vor dem Jetzt zu fliehen. (…) Durch Selbstbeobachtung kommt (…) mehr Gegenwärtigkeit in dein Leben (…) [wenn] du erkennst, dass du nicht in der Gegenwart bist, bist du gegenwärtig. Wann immer du in der Lage bist, deinen Verstand zu beobachten, bist du nicht länger in ihm gefangen.«4

ES GEHT MIR VON TAG ZU TAG BESSER …

Unangenehmerweise ertappe ich mich immer öfter bei dem Gedanken, wie viel Zeit, wie viel Lebenszeit mir noch bleibt, bei gedanklichen Verstrickungen, die das schnelle, immer rascher erscheinende Verfliegen der Zeit betreffen, dass die Minuten, Stunden, Tage, Monate, die ich er- und verlebe, unwiederbringlich sind. Dass die Lebensuhr tickt und irgendwann stehen bleibt.

Als ich vor einigen Tagen an die verschiedenen Jahreszeiten dachte, überlegte ich mir, wie viele Sommer mir noch bleiben würden. Die Frage ist, ob solche Überlegungen klug sind. Ob das meiner Lebensqualität etwas bringt. Ich denke schon, dass die eigene Akzeptanz, die Annahme der persönlichen Licht-, aber auch Schattenseiten eine tiefere Selbstannahme bewirken. Es geht nicht um den eigenen Perfektionismus, es geht auch nicht darum, dass wir allen Prüfungen und Herausforderungen des Lebens mühelos begegnen sollen. Es geht um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, es geht um unsere Stärken, aber auch um unsere Ängste, um die Selbstzweifel und um unsere Fehler. Ja, wir haben Fehler und dürfen solche auch machen. Wenn wir liebevoll, geduldig(er) mit uns umgehen, dann können wir wahrhafte Beziehungen auch im Außen leben und anderen Menschen mit Liebe begegnen.

Als Mann bist du seit Kinder- oder Jugendtagen gewöhnt, Unsicherheiten, Schwächen, Unzulänglichkeiten zu überspielen oder gar zu ignorieren. Wir Männer definieren uns über Anerkennung, Lob, Bestätigung zumeist von außen. Es ist wichtig, was andere über uns denken und sagen, denn auch in diesem Zusammenhang geht es um unsere Ängste, um unsere Befindlichkeiten, Sehnsüchte und – da haben wir sie wieder – um die Selbstannahme.

Ich hatte früher große Angst zu versagen, im privaten und auch im beruflichen Bereich. Die eigene Ich-Rolle hatte ich verdrängt beziehungsweise war mir ihrer nicht bewusst. Wichtig war das Außen. Das hat sich erfreulicherweise geändert. Natürlich sind die Selbstzweifel nach wie vor vorhanden, aber sie werden weniger. Ja, ich bin so, wie ich bin, und nachdem ich zu ständiger Veränderung bereit bin, wird es von Tag zu Tag in jeder Hinsicht ein wenig besser und besser. So lautet mein Mantra, das sich eingebrannt hat: »Es geht mir von Tag zu Tag in jeder Hinsicht besser und besser.« Es stimmt, aber nur dann, wenn ich nicht aufhöre, daran zu arbeiten, dieses anstrebenswerte Lebensziel zu erreichen, und viel zu investieren.