Keltenfluch. Mord im Schwarzwald - Christoph Morhard - E-Book

Keltenfluch. Mord im Schwarzwald E-Book

Christoph Morhard

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Beschreibung

Ende der 90er-Jahre: Ein grausamer Ritualmord im idyllischen Schwarzwald. Die Polizei steht vor einem Rätsel und bei den Einheimischen herrscht Angst vor dem äußerst brutalen Killer. Leon, Elena und Nathan haben sich eigentlich auf die Herbstferien gefreut. Aber unaufhaltsam werden sie immer weiter in die mysteriösen Vorgänge um den Mordfall hineingezogen. Verbirgt sich in den dunklen Schatten des dichten Waldes wirklich ein schreckliches, uraltes Geheimnis? Aus anfänglicher Neugier wird schnell blutiger Ernst.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Epilog

Prolog

Die Stille ließ das pulsierende Blut in den Ohren hämmern. Kein Laut im fahlen Licht des abklingenden Tages. Nicht mal ein Rauschen der Blätter im Wind war zu hören. Der Wald ruhte in völliger Stille. Auf einer Lichtung stand eine männliche Gestalt mit massigem Körperbau. Ihr Gesicht war unter einer dunklen Kapuze verborgen. Der Mann registrierte die Ruhe mit Wohlwollen. Nichts, was diesen besonderen Moment störte. Er lächelte und ließ die friedvolle Stimmung der kleinen Lichtung auf sich wirken. Dann neigte er den Kopf und betrachtete sein Werk. Es war noch nicht vollendet, aber er war zufrieden mit dem, was er vor sich sah. Er hatte sich große Mühe gegeben. Alles sah sehr ordentlich aus. Der Mann mochte Ordnung. Das Ergebnis seines Schaffens erfüllte ihn mit einem Gefühl tiefer Befriedigung. Kurz spielte er mit dem Gedanken, noch ein wenig diesen intimen Moment zu genießen. Aber die aufkommende Dunkelheit begann sein Werk bereits zu bedecken. Er musste sich beeilen, wenn er fertig werden wollte, bevor es völlig dunkel wurde. Wie um ihn zu bestätigen, trillerte ein Vogel in der Ferne. Kein fröhliches Zwitschern, eher klang es nach einer eindringlichen Aufforderung. Dem Mann lief ein Schauer über den Rücken und er wurde leicht nervös. Die Mächte, mit denen er im Bunde war, verärgerte man nicht. Er atmete ein paarmal tief ein, um sich zu beruhigen. Anschließend lauschte er. Alles lag wieder in friedvoller Stille. Beruhigt griff der Mann in seine Jackentasche und ging langsam in die Hocke. Er ließ behutsam ein Skalpell in seine Hand gleiten. Vorsichtig entfernte er die Schutzhülle. Dann vollendete er sein Werk.

Sonntag

Karl-Heinz, fahr vorsichtig, da vorne kommt gleich der Parkplatz.« »Mmh.« Linda kannte dieses spezielle »Mmh«. Mehr ein tiefes Brummen als ein wirkliches Wort. Ihr Mann war offensichtlich genervt von ihrem Kommentar. Allerdings noch nicht genug, um einen Streit zu provozieren. Sie ließ es auf sich beruhen und lächelte still. Schließlich wusste sie, dass er Wandern eigentlich hasste und nur ihr zuliebe mitkam. »Wir sind spät dran, meinst du, die anderen warten schon?«, fragte sie stattdessen. »Natürlich, die kommen schließlich immer mindestens eine halbe Stunde zu früh. Wir dagegen sind jedes Mal pünktlich und damit die Letzten. Vermutlich machen sie das absichtlich, damit sie uns unter die Nase reiben können, wie lange sie schon gewartet haben.« Linda seufzte innerlich. Heute war er besonders schlechter Stimmung. »Das ist Quatsch und das weißt du«, erwiderte sie milde. Karl-Heinz bremste und bog langsam auf den Feldweg ein. Es versprach ein schöner Tag zum Wandern zu werden. Am Himmel zeigten sich nur ein paar Schäfchenwolken. Laut Wetterbericht würde es warm werden, aber nicht heiß. Passend zu diesem schönen Herbsttag leuchteten die verbliebenen Blätter an den Bäumen in warmen Rottönen. Vor ihnen kam der Wanderparkplatz in Sicht. Wie an einem späten Sonntagnachmittag zu erwarten, war er gut gefüllt. Der rote Minivan von Mayers wartete anklagend mit offenem Kofferraum. Nicht weit davon parkte das Auto der Kortecs. Die beiden schlenderten bereits mit Rucksack und Wanderstöcken über den Parkplatz. Linda schmunzelte. Sie waren tatsächlich die Letzten. Wie zur Bestätigung drehte sich Karl-Heinz zu ihr und verdrehte die Augen. Sie hielten am nächsten freien Parkplatz und stiegen aus. Ohne viele Worte setzten sie sich an den Rand des Kofferraums und zogen ihre Stiefel an. Karl-Heinz ächzte vernehmbar, als er sich bückte, um die Schuhe zu schnüren. »Fährst du heute zurück?«, fragte er. Auch das war ein altes Ritual zwischen ihnen. Er ging zähneknirschend mit auf die Wanderung. Dafür durfte er beim anschließenden Abendessen mit den anderen Männern trinken. Sie fragte sich, ob sie wohl mehr Rituale hatten als die anderen Ehepaare. Waren sie langweilig geworden? Ach, egal. Alles in allem war sie ganz zufrieden damit, wie die Dinge standen. »Natürlich, Schatz, kein Problem.« Und das war es eigentlich tatsächlich nicht. Seit einigen Jahren hatte sie eine empfindliche Verdauung. An manchen Tagen musste sie aufpassen, was sie zu sich nahm. Seit dem Morgen verspürte sie wieder dieses verräterische leichte Ziehen. Wenn sie heute Alkohol trank, würde das nur mit einer schlaflosen Nacht auf der Toilette enden. Die beiden Eheleute standen auf und gingen zu ihren Freunden. Ein sanfter Windhauch wehte zu ihnen und trug den leicht modrigen Geruch des Herbstes mit sich. Der Parkplatz lag mitten im Wald und der Boden war dick mit bunten Blättern bedeckt. Obwohl einige Autos auf dem Parkplatz standen, war außer der Gruppe niemand zu sehen. Gabi rief Karl-Heinz und Linda von Weitem zu: »Da seid ihr ja endlich! Wir wollten schon ohne euch los.« Linda wusste, dass ihr Mann gerade erneut die Augen verdrehte. Bevor er etwas antworten konnte, rief sie zurück: »Bei eurem Tempo wär das auch besser gewesen. Wir wollen ja vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.« Gabi und die anderen lachten herzlich. Sie kannten sich schon lange und auch Karl-Heinz mochte die Freunde trotz seiner grummeligen Art sehr gerne. Als sich alle am Rand des Parkplatzes versammelt hatten, schüttelten sie einander die Hände und tauschten die üblichen Floskeln aus. Dann kam Michael zur Sache: »Ich habe uns eine schöne Runde ausgesucht. Zweieinhalb Stunden strammer Marsch, dann kommen wir auch noch zeitig in den Biergarten.« Michael war wie immer ihr Tourguide. Alle nickten zustimmend und schulterten ihre Rucksäcke.

Linda bildete mit Karla den Schluss der Gruppe. Der Naturpfad schlängelte sich durch einen schönen, herbstlichen Mischwald. Hier war die Luft feucht und etwas kühler, aber immer noch sehr angenehm. Die beiden Frauen unterhielten sich angeregt über Alltägliches, wie meistens auf ihren Wanderungen. Karla unterbrach sich, als sie über einige Wurzeln hinwegsteigen mussten. Der Weg wurde steiler und Linda geriet ein bisschen außer Atem. Das Ziehen in der Bauchgegend machte sich wieder bemerkbar. Sie versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, um ihre Verdauung zu beruhigen. »Jedenfalls ist er in letzter Zeit zunehmend gereizt«, setzte Karla ihren Bericht zum Wohlbefinden ihres Mannes fort. Linda nickte, hörte aber nur mit einem Ohr zu. Kalter Schweiß brach ihr aus. Verdammter Mist, ausgerechnet jetzt musste ihr Darm rebellieren. Konzentriert setzte sie einen Fuß vor den anderen und hoffte, sie werde keine Bauchkrämpfe bekommen. Karlas Stimme verschwamm zu einem konstanten Summen im Hintergrund. Linda kämpfte dagegen an, aber sie wusste schon, dass sie verloren hatte. Sie tastete nach ihrer Handtasche und öffnete sie. Als ihre tastende Hand eine volle Packung Taschentücher fand, atmete sie erleichtert aus. Karla berichtete unbeirrt von Martin und seinem bevorstehenden Ruhestand. Linda fasste sie am Arm. »Ich brauche mal eine kurze Pause. Ich glaub, ich hab mir was eingefangen. Würdest du zu den anderen vorgehen und sie bitten, kurz auf mich zu warten?« »Natürlich, was ist denn los? Du bist ja ganz blass!«, erwiderte Karla erschrocken. »Nichts Schlimmes. Ich brauche nur einen Moment.« »Okay, kein Problem«, erwiderte Karla zögernd. »Wir bleiben in der Nähe. Ruf bitte, falls du was brauchst.« Linda nickte dankbar und wartete, bis Karla hinter der nächsten Biegung verschwunden war. Die ersten Wellen eines Bauchkrampfes machten sich bemerkbar und sie presste eine Hand auf ihren Unterleib. Sie sah sich um. Der Weg führte mitten durch den Wald, links und rechts gesäumt von dichtem Unterholz. Sie würde mindestens ihre Bluse kaputtmachen, wenn sie hier für etwas mehr Abgeschiedenheit hindurchwollte. Aber ein Stück bergab zweigte ein noch schmalerer Pfad vom Hauptweg ab. Beim Hochlaufen hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Er war teils überwuchert und deshalb nur schwer zu erkennen. Von hier sah es so aus, als ob er zwischen den hohen Bäumen tiefer in den Wald führte. Sie machte sich auf den Weg und hoffte, dass der Pfad nicht nach ein paar Metern in einer Sackgasse enden würde. Die Bauchkrämpfe wurden stärker und sie presste ihre Hand fester gegen ihren Leib. Nach ein paar weiteren Schritten hatte sie den Pfad erreicht. Er führte tatsächlich tief in den Wald. Trotz ihrer Bauchschmerzen zögerte sie kurz.

»Wartet!«, rief Karla den anderen zu, die bereits ein gutes Stück vorangegangen waren. »Jetzt wartet doch!« Endlich hatten die Freunde sie gehört und blieben stehen. Mit schnellen Schritten schloss sie zu ihnen auf. »Was ist denn los?«, fragte Karl-Heinz. »Linda meinte, wir sollen kurz auf sie warten. Sie braucht eine Pause.« »Was fehlt ihr denn?«, fragte Karl-Heinz plötzlich besorgt. »Ich weiß nicht. Sie war auf einmal ganz blass und meinte, sie hat sich was eingefangen«, erwiderte Karla. »Ich geh mal nach ihr sehen. Wir sind gleich wieder bei euch«, meinte Karl-Heinz. »Ist es was Ernstes?«, fragte Gabi besorgt. »Nein, ich denke nicht. Sie hat nur seit einigen Jahren einen empfindlichen Magen«, meinte Karl-Heinz und machte sich auf den Weg. Er eilte den Pfad zurück, auf dem sie gekommen waren. Karl-Heinz wusste, was Linda fehlte. Reizdarm war die Diagnose, die vor einigen Jahren gestellt worden war. Seitdem achtete sie sehr genau auf ihre Ernährung und das half ihr ziemlich gut. Sie hatte eigentlich kaum noch Beschwerden. Ausgerechnet heute musste sie einen Rückfall erleiden, schoss es Karl-Heinz durch den Kopf. Er wusste, wie sehr sie sich auf den heutigen Tag gefreut hatte. Er ging etwas langsamer, die anderen waren schon nicht mehr zu sehen. Von Linda war allerdings auch nichts zu entdecken. Es gab nur ihn, den schmalen Wanderweg und die herbstlichen Bäume mit dem dichten Unterholz. Hier konnte sie eigentlich nicht den Weg verlassen haben. Langsam wurde er doch ziemlich unruhig. »Linda!«, rief er. »Linda, wo bist du denn?«

Linda ging auf dem schmalen Pfad langsam tiefer in den Wald. Ihre Bauchkrämpfe hatten nachgelassen. Aber irgendwas zwang sie geradezu, dem engen Weg zu folgen. Sie konnte es sich selbst nicht so genau erklären. Es war wie ein innerer Zwang, der sie beinahe roboterhaft einen Schritt vor den anderen setzen ließ und jeden Gedanken an ihre Freunde weiter vorne im Wald beiseitewischte. Die Luft hier im Unterholz war unangenehm feucht und ihre Bluse begann klamm zu werden. Beinahe wie ein dünner Film, der sich auf alles legte. Der leicht modrige Geruch war auch um ein Vielfaches stärker, unangenehmer. Die Bäume wuchsen nicht besonders hoch, trotzdem bildeten ihre Kronen ein geschlossenes Dach und ließen nur wenig Sonnenlicht durchscheinen. In der dämmrigen Stimmung verschmolzen die gewundenen, moosbedeckten Stämme mit dem Unterholz und wirkten wie eine massive, dunkle Wand. Trotz der milden Herbstluft fröstelte Linda. Weiter vorne wuchsen hohe Gräser auf dem Pfad, aber sie waren niedergetrampelt. Offenbar war vor kurzem jemand hier entlanggekommen. Linda wunderte sich, dass sich jemand hier entlanggequält hatte. Immerhin, ihre Bauchschmerzen waren inzwischen verschwunden. Aber Linda bemerkte das kaum. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Plötzlich krachte etwas im Unterholz rechts von ihr.

Karl-Heinz hatte noch ein paarmal nach Linda gerufen, aber keine Antwort erhalten. Er spähte angestrengt nach vorne. Es schien so, dass ein Pfad in den Wald führte. Seltsam, der war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Langsam ging Karl-Heinz auf den Pfad zu. Es war ein Trampelpfad, der teilweise bereits von Gestrüpp überwuchert wurde. Zögerlich machte Karl-Heinz ein paar Schritte in den Wald hinein. Der schien hier dichter zu sein, mit jedem Schritt wurde ein bisschen mehr vom Tageslicht verschluckt. Er blieb stehen. Es war lächerlich, aber der Weg war ihm unheimlich. Karl-Heinz spähte nach vorne. Nichts zu sehen außer dichtem Wald. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Linda hier entlangginge.

Erneut ein krachendes Geräusch. Linda zuckte zusammen und blieb stehen. Sie spähte nach rechts. Nichts. Es war wohl nur ein Tier, das durch das Unterholz gebrochen war. Aber das Knacken hatte sie aus ihrer Trance gerissen. Sie schaute sich genauer um und nahm endlich ihre Umgebung richtig wahr. Der Weg war hier sehr schmal. Alles war in graues Zwielicht getaucht. Fast, als hätte sie einige Stunden verloren und es wäre plötzlich nicht mehr Nachmittag, sondern schon früher Abend. Verwirrt wollte sie gerade zurückgehen, als sie noch etwas bemerkte. Vor ihr auf dem Weg war eine kaum sichtbare dunkelrote Spur auf dem Waldboden. Linda drehte sich um und realisierte, dass die Spur den ganzen Weg entlangführte. Das hatte sie vorher gar nicht gesehen. Ob das Blut war? Linda zögerte. Alles in ihr schrie danach umzukehren. Aber vielleicht stammte die Spur von einem verletzten Tier? Sie würde es sich nicht verzeihen können, wenn sie das einfach ignorierte. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, erst zu den anderen zu gehen. Aber das würde zu lange dauern. Sie schüttelte unbewusst den Kopf und langsam folgte sie der Spur. Schritt für Schritt tiefer in das Dunkel des Waldes.

Karl-Heinz blieb wie erstarrt stehen. Er hatte einen lauten Schrei gehört. War das Linda gewesen? »Linda!«, brüllte er nun seinerseits und starrte wild um sich. »Karl-Heinz«, glaubte er eine leise Antwort zu hören. Es schien aus dem Wald zu seiner Rechten zu kommen. Aber hier war nur dichtes Unterholz, unmöglich, dass Linda da drin war. Hatte sie etwa doch den seltsamen Pfad von vorhin genommen? Karl-Heinz drehte sich um und rannte zu der Abzweigung. »Linda!«, rief er noch mal laut. Keine Antwort. Aber die Richtung des Pfades stimmte ungefähr mit derjenigen überein, aus der er ihre Stimme gehört hatte. Sonst hatte er keine Abzweigung gesehen, also rannte er den Pfad entlang. Zumindest versuchte er es. Der Pfad war aber so schmal und von kleinen stacheligen Sträuchern überwuchert, dass er nur quälend langsam vorankam. Um ihn herum verblasste das Tageslicht zu einem düsteren Grau. Es war, als würde der Wald das Licht verschlucken. »Linda!«, rief er wieder. »Karl-Heinz, komm schnell!«, hörte er eine gepresste Antwort von weiter vorne. Er nahm alle Kräfte zusammen und ignorierte die schmerzhaften Kratzer, die ihm das Gestrüpp beigefügt hatte. Es schien, dass es vorne wieder etwas heller wurde. Tatsächlich, weiter vorne öffnete sich der Weg zu etwas, das wie eine Lichtung aussah. Keuchend erreichte Karl-Heinz den Rand dieser Lücke im Baumbestand. Dort stand Linda vornübergebeugt und schien sich zu übergeben. Karl-Heinz eilte zu ihr und strich ihr behutsam über den Rücken. »Geht’s dir so schlecht?«, fragte er. Linda räusperte sich und erhob sich dann langsam. Sie starrte ihn mit entsetzten Augen an. Dann deutete sie nur mit der Hand auf die Mitte der Lichtung. Karl-Heinz drehte sich um und nahm diese nun zum ersten Mal wahr. In der Mitte war ein kleiner Hügel zu sehen. Darauf schien etwas zu liegen. Etwas, das aussah wie eine menschliche Gestalt. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Karl-Heinz langsam darauf zu.

Montag

Leon blieb kurz stehen und fuhr sich müde über die Augen. Aus irgendeinem Grund hatte er schlecht geschlafen. Es wurde Zeit, dass die Herbstferien begannen. Der schlanke Junge mit den kaum zu bändigenden dunkelbraunen Haaren gab sich einen Ruck und ging weiter die Straße lang. In einiger Entfernung sah er schon die einzige Bushaltestelle im Ort. Die große, leicht übergewichtige Person, die dort stand, konnte nur sein Freund Nathan sein. Er hatte seine übliche Pose eingenommen: die Hände in den Hosentaschen und den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Bei Nathan schien es immer so, als ob ihm seine Körpergröße peinlich wäre und er versuchte, sich deswegen kleiner zu machen. Dazu hatte er meist dunkle, immer ein wenig abgetragen wirkende Kleidung an, die stets ein bisschen zu groß war. Leon vermutete, er versuchte damit sein Übergewicht zu verstecken. »Morgen!«, rief Leon ihm zu. Nathan hob den Kopf, lächelte und winkte. Seine außergewöhnlichen, eisblauen Augen blitzten in der Morgensonne. »Hast du die Mathehausaufgaben gemacht?«, fragte Leon, kaum dass er bei ihm war. »Grimminger bringt mich um, wenn er rausfindet, dass ich schon wieder nichts dabeihabe«, fügte er noch hinzu. Das war natürlich eine Übertreibung – allerdings nur eine kleine. Oberstudienrat Dr. Grimminger war der gefürchtetste Lehrer des ganzen Gymnasiums. Und das nicht nur, weil er Mathematik unterrichtete. »Klar. Willst du abschreiben?«, fragte Nathan. Leon seufzte erleichtert. »Du rettest mir das Leben! Dann fang ich gleich an.« Er setzte sich auf die schmale Bank der Bushaltestelle und holte sein Matheheft heraus. Als Nathan ihm seine Hausaufgaben gab, blätterte Leon rasch durch das Heft. »Vier Seiten? Im Ernst? Und du hast das alles gemacht?«, fragte Leon. »Ja, ich fand es eigentlich nicht so schlimm. Außerdem hatte ich ja sonst nicht viel zu tun am Wochenende«, erwiderte Nathan leicht vorwurfsvoll. »Schon gut, tut mir leid. Ich war mit den Jungs vom Fußball unterwegs und hab vergessen mich zu melden. Wir machen einfach diese Woche was.« Nathan zuckte nur mit den Schultern. Kurz darauf hielt der Schulbus. Leon klemmte sich die Hefte unter den Arm und sie stiegen ein. Das Dorf, in dem Nathan und Leon lebten, Wolfsberg, war erst der zweite Halt auf der morgendlichen Route des Busses. Der erste Halt war Gaisbach. Selbst nach den Maßstäben des Schwarzwaldes ein winziges Dorf, das abgeschieden am Ende eines Seitentals lag. »Eingekeilt zwischen Bigfoot und den Schwarzwald-Barbaren«, wie Elena die Lage ihres Heimatdorfes beschrieb. Das Mädchen mit den langen, dunkelroten Haaren und den Sommersprossen hatte bereits auf der Rückbank des Busses Platz genommen. Sie trug trotz der herbstlichen Temperaturen ein leichtes Sommerkleid und lächelte den zwei Jungen zu. Außer den dreien war an diesem Tag noch niemand im Bus. Leon und Nathan setzten sich nach hinten zu Elena auf die breite Sitzreihe vor dem Heckfenster. Kaum, dass er sich hingesetzt hatte, machte Leon sich sofort wieder an die Arbeit. »Aha. Ausnahmsweise mal keine Mathehausaufgaben gemacht?«, fragte Elena spitz. »Nein, ich habe meine Zeit sinnvoll verbracht«, gab Leon knapp zurück. »Was ist denn mit dem heute los?«, wandte sich Elena an Nathan. »Mmh«, Nathan fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Meine Diagnose lautet: Er hat panische Angst vor Grimminger.« Elena lachte laut auf, während Leon nur abfällig grunzte. »Nun«, begann Elena, »dann wollen wir uns doch auf positive Dinge konzentrieren, quasi als Therapie für unseren Angstpatienten. Eine Woche noch, Jungs, dann sind endlich Herbstferien.«

Die nächsten Minuten scherzten Elena und Nathan weiter auf Leons Kosten. Dieser gab vor, die beiden nicht zu hören, und schrieb stoisch die Hausaufgaben ab. Der Bus folgte währenddessen den engen Straßen zwischen den Dörfern des Schwarzwaldes. In regelmäßigen Abständen öffneten sich die Türen an den Haltestellen und nach und nach füllte sich der Bus mit Schülern. Die ruhige Atmosphäre war erst lautem Gemurmel und schließlich dem üblichen Chaos wild durcheinanderbrüllender Jugendlicher gewichen. Erneut hielt der Bus mit einem Quietschen an. Ein schmächtiger Junge betrat den Bus durch die hintere Tür und ging zur letzten Reihe. »Morgen, Alex!«, begrüßte Nathan ihn. »Morgen!«, Alex zwängte sich zwischen ihnen durch und setzte sich. »Habt ihr es schon gehört?«, fragte er aufgeregt. »Gehört? Was denn?«, fragte Elena und blickte ihn aufmerksam an. »Oh Mann, ihr lebt ja echt hinterm Mond in euren Kuhdörfern«, stöhnte Alex. »Blödsinn, was ist denn los?«, fragte Elena. »Jemand wurde ermordet«, flüsterte Alex langsam und ernst. Diesen Worten folgte kurze Stille. Sogar Leon schaute von seinen Heften auf. »Was?«, fragte Nathan schließlich verwirrt. »Ermordet? Hier?« »Ja. Anscheinend irgendwer von außerhalb. Vermutlich ein Tourist. Die Leiche wurde gestern Nachmittag bei einem Wanderweg nicht weit weg von euren Kuhdörfern gefunden. Da war jede Menge Polizei. Spurensicherung und so. Habt ihr das denn nicht mitbekommen?« »Nein«, meinte Leon überrascht. »Wie jetzt, ermordet? Und woher weißt du davon?«, fragte Elena und konnte kaum mehr auf ihrem Platz sitzen. »Ihr wisst doch, dass mein Vater Arzt ist. Er hatte gestern Abend Dienst und wurde an den Tatort gerufen. Ich hab belauscht, wie er alles meiner Mutter erzählt hat«, erklärte Alex. Er genoss die Aufmerksamkeit sichtlich. »Weiß man, wer der Mörder ist?«, fragte Leon. »Soweit ich weiß, nicht, aber das musst du schon deinen Bruder fragen, der ist doch bei der Polizei. Ich hoffe aber, sie finden den Täter schnell, bevor er noch mehr Leute umbringt.« »Noch mehr umbringt? Wieso das denn? Jetzt erzähl schon, was du weißt, und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen«, zischte Elena. »Also gut«, Alex lehnte sich gemächlich zurück und machte eine künstlerische Pause. »Wie gesagt, mein Vater hatte gestern Dienst. Er wurde von der Einsatzzentrale zum Wanderparkplatz bei Gaisbach geschickt. Dort wartete bereits die Polizei auf ihn und führte ihn einen alten Pfad zu einer kleinen Lichtung hinauf. Anscheinend ein altes Keltengrab. Dort war dann die Leiche.« Alex pausierte. »Mein Vater meinte, es war schrecklich.« Er hielt erneut inne. Inzwischen hatten auch einige andere Schüler mitbekommen, was Alex erzählte, und eine Blase der Stille breitete sich im hinteren Teil des Busses aus. In den Reihen vor ihnen hatten sich die Schüler zu ihnen umgedreht. Alle hingen an Alex’ Lippen. »Der Leichnam war grauenhaft zugerichtet. Die Gliedmaßen, also beide Arme und Beine, waren mit glatten Schnitten vom Körper abgetrennt worden. Die Schnitte hat der Mörder ausgebrannt, wie um die Blutung zu stoppen. Es könnte also sein, dass das Opfer noch lebte, als ihm Arme und Beine abgeschnitten wurden.« Von einer der Sitzreihen vor ihnen kamen würgende Geräusche und Alex machte wieder eine kurze Pause. Dann fuhr er mit ernster Stimme fort: »Die abgeschnittenen Gliedmaßen wurden dann wieder an den Körper gelegt, und zwar seltsamerweise verkehrt herum. Die Arme an die Stelle der Beine und umgekehrt. Der Bauch des Opfers war aufgeschnitten. Mit zwei großen Schnitten, die wie ein auf dem Kopf stehendes Kreuz geformt waren. Die Gedärme waren entfernt und anscheinend verbrannt worden. Oberhalb des Kopfes waren noch die verbrannten Überreste zu sehen. Am Kopf selbst waren die Augen herausgestochen und durch schwarze, glatt polierte Steine ersetzt.« Stille folgte. »Du willst uns doch verarschen«, meinte Leon schließlich. Alex blickte ihn ernst an: »Nein«, sagte er dann fest.

Wieder folgte Stille, während der Bus sanft schaukelnd der Straße folgte, die sich durch das Tal wand. An den Fenstern zogen bunt gefärbte, herbstliche Bäume und gemähte Wiesen vorbei. Die Heuballen auf den Wiesen schimmerten leicht vom Morgentau. Der Himmel war von hohen Schleierwolken bedeckt. Von Zeit zu Zeit überholte der Bus einen Traktor und schüttelte sich dabei widerwillig. Im Inneren herrschte geschockte Stille, nur unterbrochen von einigen gezischten Unterhaltungen. Einige der Schüler tippten auf ihren Handys – auch im Schwarzwald waren die 2000er Jahre angebrochen –, aber niemand redete mehr laut. Es war fast, als hätten alle Angst, der Mörder würde sonst auf sie aufmerksam. Leon schüttelte leicht den Kopf, dann fing er wieder an, seine Hausaufgaben abzuschreiben. »Wie kannst du jetzt Hausaufgaben abschreiben?«, fragte Elena und sah ihn lange an. »Wenn ich das nicht fertig krieg, bin ich das nächste Opfer«, antwortete Leon leise und ohne aufzusehen. Elena zog eine angeekelte Grimasse und wandte sich an Alex. Sie sprach ebenso leise wie die anderen im Bus: »Ich versteh das alles nicht. Wer sollte sowas tun? Das ist doch völlig verrückt!« »Genau. Deswegen tippe ich auf einen irren Massenmörder.«

Während sich die Jugendlichen flüsternd unterhielten, stoppte der Bus an der vorletzten Haltestelle. Einige weitere Schüler stiegen lärmend ein. Als hätten alle nur auf ein Signal gewartet, stieg die Lautstärke rapide an. Einer der Schüler, die durch die hintere Tür des Busses einstiegen, war Michael. Er war groß und breit für einen Zehntklässler und hatte zusammen mit seinen Freunden Spaß daran, die Schüler der unteren Jahrgänge zu quälen. Insbesondere Nathan war häufig ein Opfer ihrer Sticheleien. Michael hatte ein geradezu comicartiges Schweinchengesicht mit kleinen Augen und einer platten Nase. Seine blonden Haare waren zu einem kurzen Bürstenschnitt geschoren. Trotz der herbstlichen Kühle trug er nur ein abgerissen aussehendes, schwarzes T-Shirt. Er sah sich kurz suchend um und entdeckte dann Nathan und Leon in der letzten Reihe. Grinsend kam er auf sie zu und drängte sich brutal auf den letzten freien Platz in der Reihe zwischen Nathan und Leon. Dabei achtete er darauf, Leon anzurempeln, damit der beim Abschreiben sein Heft verschmierte. Leon seufzte, verkniff sich aber einen Kommentar. Enttäuscht wandte sich Michael an Nathan. »Guten Morgen, Dickerchen. Na, bist du heute Morgen auch gut aus dem Bett gerollt?« Nathan sagte nichts und blickte starr geradeaus. Michael knuffte ihn in die Seite: »Was ist denn los mit dir, wünschst du keinen guten Morgen mehr? Sei mal ein bisschen höflicher!« »Lass ihn in Ruhe, du nervst«, mischte Elena sich ein. »Oho, hast du heute deine Freundin als Beschützerin mitgebracht? Das flößt mir natürlich enormen Respekt ein!« Michael lachte gehässig über seinen Scherz. Danach herrschte kurz Stille und Wortfetzen aus den Unterhaltungen der anderen drangen zu ihnen nach hinten. Mehrfach fiel das Wort »Serienmörder«. Michael runzelte die Stirn und wandte sich an Nathan: »He, Dickerchen, wovon quatschen die denn alle?« »Hör halt zu, dann weißt du es«, sagte Leon an Nathans Stelle. »Wenn ich von dir was hören will, sage ich Bescheid«, zischte Michael. Er blickte Nathan an: »Und?« Nathan sah immer noch nach vorne und erwiderte knapp: »Es hat einen Mord gegeben.« »Hier bei uns? Krass, erzähl!« Nathan blickte hilfesuchend zu Alex, der rechts von ihm saß. Der nickte und beugte sich nach vorne, um Michael die Geschichte zu erzählen. Diesmal nicht ganz so dramatisch wie vorher, aber immer noch mit genügend Details, sodass allen erneut ein Schauer über den Rücken lief. Michael hörte zu, ohne Alex ein einziges Mal zu unterbrechen. Als Alex geendet hatte, öffnete Michael schließlich den Mund, um etwas zu sagen. Aber da hielt der Bus an der Schule und alle sprangen auf, um auszusteigen.

Leon, Nathan und Elena stiegen gemeinsam mit den anderen aus dem Bus aus. »Was haltet ihr denn von der Geschichte?«, fragte Elena, während sie Richtung Schule liefen. »Keine Ahnung. Vermutlich hat Alex wie immer übertrieben, aber das mit dem Mord scheint wohl zu stimmen. Ich werde heute Nachmittag mal meinen Bruder anrufen. Er darf mir eigentlich nichts von seiner Arbeit erzählen, aber vielleicht bekomm ich trotzdem was raus«, meinte Leon. »Kennt ihr eigentlich das Keltengrab, das Alex erwähnt hat? Ist doch schon seltsam, dass der Mord ausgerechnet da passiert ist«, sagte Nathan. »Stimmt, das ist schon komisch. Vielleicht hast du ja recht mit deiner Ritualmord-Theorie. Von dem alten Keltengrab hab ich tatsächlich schon mal gehört. Mein Opa ist doch im Heimatverein. Es gibt in unserer Gegend nur ein Keltengrab und das ist wirklich in der Nähe des Wanderparkplatzes. Ich kann mich noch an den komischen Namen erinnern: Hexenbuckel«, sagte Elena. »Hexenbuckel«, murmelte Leon nachdenklich. »Kommt mir bekannt vor, ich glaub, da war ich schon.«

Das Hölderlingymnasium, in dem die drei die achte Klasse besuchten, war am Ortsrand von Schönbronn gelegen, einer beschaulichen Stadt mit 35 000 Einwohnern mitten im Schwarzwald. Schönbronn war trotz seiner geringen Größe das Regionalzentrum der Gegend. Die bei Touristen beliebte Region war dünn besiedelt. Viele Schüler kamen aus den umliegenden Dörfern und hatten teilweise einen Schulweg von mehr als 20 Kilometern. Das Schulgebäude war ein moderner, mehrstöckiger Bau in Rot-Grau. Direkt nebenan befanden sich die Sporthalle in Holzbauweise und ein angeschlossener Sportplatz. Das ganze Areal war großzügig mit Hecken, Sträuchern und auch einigen großen Laubbäumen bepflanzt. Dementsprechend lagen jetzt auch überall bunte Blätter herum, die sich den Bemühungen des Hausmeisters und seines Laubbläsers widersetzt hatten. Zu Beginn der ersten Stunde strömten die fast 1 000 Schüler in Richtung Eingang. Leon und seine Freunde ließen sich von der Masse über den Schulhof treiben. »Verdammt!«, stieß Leon plötzlich laut hervor. »Was ist los?«, fragte Nathan. »Bei dem ganzen Stress hab ich vergessen, Mathe fertig abzuschreiben«, stöhnte Leon. Elena und Nathan blickten ihn mitleidig an. Der Tag begann mit einer Doppelstunde Mathe bei Oberstudienrat Dr. Grimminger, besser bekannt als die Geißel von Schönbronn.

»Guten Morgen«, keifte die dürre Gestalt des Mathematiklehrers. »Guten Morgen«, kam es lethargisch zurück, bevor die Schüler sich setzten. Das Männlein mit der randlosen Brille und der spiegelnden Glatze stellte seine lederne Aktentasche vorne auf das Pult und kramte darin herum. Er zog ein ledernes Notizbuch hervor. Der Lehrer blätterte kurz darin und räusperte sich leicht. Leon, der neben Nathan in der ersten Reihe saß, rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. »Wir sind bei linearen Gleichungen. Das Handwerkszeug jedes Mathematikers. Und wie das bei einem Handwerk nun mal so ist, muss man vor allem üben, um es zu beherrschen. Oder vielleicht ist Handwerk nicht der passende Vergleich. Vielleicht sollten wir eher von Musik sprechen. Natürlich kann jeder, der Noten lesen kann, auch die einzelnen Noten einer Partitur von Mozart benennen. Aber um sie richtig zu verstehen, sie auf einem Instrument zum Leben zu erwecken, muss man sein Instrument perfekt beherrschen. Und hierfür braucht es tausende und abertausende Stunden Übung.« Leons Gedanken schweiften ab. An einem Tag wie heute konnte er Grimmingers geschwurbelten Monologen nicht folgen. Vorher hatte er gar nicht so richtig realisiert, was Alex erzählt hatte. Ein Mord bei ihnen im Wald! Quasi um die Ecke! Und dann auch noch auf eine Art und Weise, wie man sie höchstens in einem Horrorfilm sah. Ob er sich Sorgen um seine Familie machen musste? Ob seiner Mutter oder seinem Vater etwas passieren könnte? Oder vielleicht sogar seinem Bruder? Der war schließlich Polizist und geriet beim Versuch, den Mörder festzunehmen, vielleicht in Gefahr? Und was war mit seinen Freunden? Mit Elena? Die wohnte nicht weit weg vom Tatort. »Also holt eure Hefte raus«, tönte die grelle Stimme des Oberstudienrates. Leon schreckte aus seinen Tagträumen hoch, als hätte ihm jemand einen elektrischen Schlag versetzt. Nathan, der neben ihm saß, hatte bereits die Seiten mit den Hausaufgaben aufgeschlagen. Grimminger ging unaufhaltsam durch die Reihen und prüfte die Hefte. Bei Leon angekommen, fragte er kritisch: »Hier fehlt die Hälfte. Was ist mit dem Rest?« Leon wurde rot, brachte aber keinen Ton heraus. Nach einigen unangenehmen Sekunden gab Grimminger das Heft zurück und ging dann weiter durch die Reihen. Leon atmete aus. Er war überrascht, so glimpflich davongekommen zu sein. Wenig später war Grimminger fertig. Anscheinend hatten alle anderen ihre Hausaufgaben fertiggestellt, jedenfalls gab der Oberstudienrat keine weiteren Kommentare ab.

Der Lehrer ging zurück zu seinem Pult und setzte sich. Er schlug die Beine übereinander und lächelte leicht. »Da unser Freund Leon ja zu Hause leider keine Zeit zum Üben zu haben scheint, denke ich, wir sollten ihm hier die Gelegenheit dazu geben.« Grimmingers Lächeln wurde breiter. »Leon, würdest du bitte an die Tafel gehen? Wir werden das Gelernte heute noch an ein paar speziellen Fällen vertiefen und du kannst der Klasse bestimmt zeigen, wie man an die Lösung herangeht.« Leon lief es kalt den Rücken herunter. Er hatte keine Ahnung von linearen Gleichungen, und Mathe war ohnehin nicht seine Stärke. Das würde eine Katastrophe werden. Mit weichen Knien stand er auf und ging umständlich zur Tafel. Der Weg dehnte sich scheinbar ins Unendliche. Schließlich war er an der Tafel angekommen. So musste sich ein Häftling fühlen, der zu seiner Exekution läuft, schoss es Leon durch den Kopf. Er ergab sich seinem Schicksal, griff nach einem Stück Kreide und sah den Mathematiklehrer an. Dieser setzte gerade zum Sprechen an, unterbrach sich dann aber und blickte stattdessen streng in die Klasse. In der hinteren Reihe, in der Nähe von Elena, war Unruhe ausgebrochen. Unter Grimmingers strengem Blick wurden die Schüler wieder still. »Also«, setzte er von Neuem an, »wir beginnen mit einer einfachen linearen Gleichung mit zwei Unbekannten.« Er unterbrach sich wieder. Erneut war lautes Gemurmel in der Klasse zu hören. »Was ist denn heute los?«, rief Grimminger verärgert. Sein Gesicht färbte sich rot und es kündigte sich einer seiner berüchtigten Wutausbrüche an. »Haben Sie es denn noch nicht gehört?«, fragte jemand schüchtern aus der letzten Reihe. »Wovon gehört?«, fragte Grimminger scharf zurück. »Na von dem Mord!«, kam die Antwort. Der dürre Mann mit seiner randlosen Brille stutzte. »Mord?«, fragte er.

Alex war in einer anderen Klasse, deswegen musste jemand anderes die Geschichte erzählen. »Also, wir haben gehört, dass …«, begann Elena. Sie wurde während ihres Vortrags häufiger von anderen Schülern unterbrochen, die auch noch etwas hinzufügen wollten, und die Geschichte wurde immer wilder. Grimminger hörte trotz des etwas konfusen Vortrags mit den vielen Zwischenrufen ruhig zu und stellte nur ab und an eine Frage. Leon stand während der ganzen Zeit an der Tafel. Kaum traute er sich zu hoffen, dass er doch nicht vorrechnen müsse. Als Elena ihren Bericht beendet hatte, fragte Grimminger: »Und wer, sagt ihr, hat euch das alles erzählt?« »Alex aus der Parallelklasse«, platzte es aus Elena heraus. »Alexander Richter aus der 8b?«, fragte Oberstudienrat Grimminger. »Ja«, bestätigte Elena, aber diesmal deutlich zögerlicher. Der Lehrer wandte sich an Leon, der immer noch an der Tafel stand: »Setz dich.« Dann blickte er streng in die Klasse. »Ich bin gleich wieder zurück. Ihr verhaltet euch so lange still und löst die Aufgaben 1 bis 5 auf Seite 67 im Buch.« Dann verließ er ohne ein weiteres Wort mit schnellen Schritten die Klasse. Nathan knuffte Leon in die Seite. »Nicht zu fassen, was du für ein Glück hast!« »Scheint so. Aber noch mal mach ich den Fehler nicht. Lass uns schnell die Aufgaben lösen, bevor er zurückkommt.« Nathan grinste: »Wieso ›wir‹? Ich kann mich nicht erinnern, dass er was von Gruppenarbeit gesagt hat.« »Ich lach mich tot. Jetzt erklär mir schon, wie das geht«, brummte Leon als Antwort. Nathan beugte sich über sein Buch und fing an, die Aufgabe abzuschreiben. »Denkst du, Alex kriegt Ärger?«, fragte er Leon. »Wenn er die Geschichte erfunden hat, vermutlich schon«, meinte dieser, über sein Heft gebeugt. »Also los«, sagte Leon dann auffordernd. Nathan ließ sich nicht noch mal bitten und ging mit Leon flüsternd die Aufgaben durch. Er war schon immer einer der besten Schüler in Mathematik gewesen und hatte ein besonderes Talent, schwierige Dinge zu erklären. In der Klasse herrschte konzentriertes Gemurmel, nur ab und zu von einer gezischten Unterhaltung unterbrochen. Nach einigen Minuten wurde die Tür aufgestoßen und Grimminger betrat wieder den Raum. Nach einem kurzen Blick auf die Bankreihen ging er zielstrebig zu seinem Pult. Er stützte sich mit den Händen darauf ab und wandte sich an die Klasse: »Ich habe mit dem Direktor gesprochen«, begann er. Die Klasse lauschte atemlos. »Es hat tatsächlich einen Mord gegeben. Aber natürlich sind die Gerüchte, die sich darum ranken, völlig übertrieben. Wir möchten nicht, dass ihr euch an diesen wilden Spekulationen beteiligt!« Der Lehrer machte eine kleine Pause. »Wir möchten euch allerdings eindringlich bitten, in den nächsten Tagen vorsichtig zu sein. Die Polizei hat sich noch nicht geäußert, aber es kann sicher nicht schaden, etwas aufmerksamer zu sein. Also vermeidet unnötige Wege und haltet euch auf dem Weg zur Schule, wenn möglich, immer in Gruppen auf.« Wieder pausierte Oberstudienrat Grimminger. Er nahm seine Brille ab und spielte mit dem Gestell. Dann seufzte er. »Ich persönlich habe ja die Devise: Arbeit ist die beste Ablenkung. Aber mir ist durchaus klar, dass ich von euch heute keine sonderliche Aufmerksamkeit mehr erwarten kann. Deswegen werden wir die restliche Stunde etwas vom üblichen Lehrplan abweichen.« Ein Raunen ging nach diesen Worten durch die Klasse. Grimminger wedelte beschwichtigend mit den Armen und es kehrte wieder Ruhe ein. »Der Medienraum ist frei und dort werden wir uns ›A Beautiful Mind‹ ansehen. Kommt mit.«

Nach dem Ende der Doppelstunde Mathematik läutete der Schulgong zur großen Pause. Leon ging mit einigen anderen Schülern der 8a in Richtung Pausenhof. »Mann, hast du ein Glück. Grimminger war kurz davor, dich in der Luft zu zerreißen!« Andreas klopfte Leon freundschaftlich auf die Schulter. Der Angesprochene lächelte breit. »Ach Quatsch! Die Aufgaben hätt ich doch mit links gelöst und ihr hättet noch was lernen können.« »Schwätzer!« »Blödmann!« Noch einige andere Komplimente wurden darauf freundschaftlich ausgetauscht. Draußen zerstreute sich die Gruppe und Leon und Nathan standen kurz allein auf dem Hof. Aber da hatte Elena sie schon entdeckt und kam auf sie zu. Ihre Haare wehten leicht im Wind. Ihre grünen Augen leuchteten in der Morgensonne. »Na, was bekomme ich?«, fragte sie. »Wofür?«, entgegnete Nathan verwirrt. Elena sah ihn durchdringend an. »Na dafür, dass ich Leon den Arsch gerettet habe!«, lachte Elena. »So ein Blödsinn!«, warf Leon ein. »Ach ja? Und wer hat Grimminger gerade noch rechtzeitig abgelenkt, damit du nicht an der Tafel hingerichtet wirst?« Leon winkte ab und murmelte etwas Unverständliches. »Na ja, schon gut, dafür hat man ja Freunde. Du wirst dir schon was einfallen lassen, wie du das wiedergutmachen kannst.« Elenas Lächeln konnte ganze Gletscher schmelzen lassen und Leon ließ sich zu einem einigermaßen aufrichtig klingenden »Okay, du hast was gut« hinreißen. Elena blickte wieder Nathan an und sagte: »Habt ihr noch was Neues erfahren?« »Ich nicht«, meinte Nathan knapp, »du etwa?« Elena schüttelte den Kopf. »Nein, niemand scheint wirklich was zu wissen. Du wolltest doch deinen Bruder anrufen«, sagte sie zu Leon gewandt. »Ja, nach der Schule. Jetzt sei doch nicht so neugierig.« »Seid ihr etwa nicht neugierig? Davon abgesehen frag ich mich auch, was das für uns bedeutet.« Nathan nickte. »Daran hab ich auch schon gedacht.« Leon starrte die beiden ratlos an. »Für uns bedeuten? Wovon sprecht ihr?« »Na ja, wenn hier wirklich ein verrückter Mörder rumläuft, sind wir doch alle in Gefahr. Wer weiß, ob er noch mal zuschlägt. Und nicht nur wir sind in Gefahr, sondern auch unsere Familien. Wer weiß, wen es als Nächstes treffen könnte. Denk doch mal an deine Mutter. Geht die nicht immer in den Wald zum Joggen? Bestimmt will die jetzt nicht mehr allein raus. Und wenn die Erwachsenen nicht mehr allein rausgehen, heißt das, wir dürfen das auch nicht mehr.«

Der Rest des Schultages verlief halbwegs normal – zumindest in Anbetracht der Umstände. Auch im Kollegium hatte sich der Mord inzwischen herumgesprochen. Die Tat war das einzige Gesprächsthema. In dieser aufgeladenen Atmosphäre waren die Unterrichtsstunden wenig produktiv und zogen sich schier endlos in die Länge. Aber irgendwann war es geschafft und Leon, Nathan und Elena saßen im Bus nach Hause. Das Wetter hatte sich eingetrübt und die hohen Schleierwolken waren einer geschlossenen Wolkendecke gewichen, die den Himmel in ein leichtes Hellgrau tünchte. Die Schüler im Bus waren ungewöhnlich still. Den ganzen Tag war der Mord das alles beherrschende Thema gewesen. Aber nun schien vorerst alles gesagt und jetzt war es an der Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Während der Bus sich die schmalen Straßen des Schwarzwalds entlangschlängelte, sahen die Schüler aus den Fenstern und hingen ihren Gedanken nach. Leon hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und starrte träge nach vorne. Das beruhigende Brummen des Busses und die schweigsame Atmosphäre machten ihn schläfrig. In der seltsamen Zwischenwelt, die das Wachsein vom Träumen trennt, kreisten seine Gedanken langsam um den heutigen Tag. Aus irgendeinem Grund drängte sich immer wieder das Wort »Hexenbuckel« in den Vordergrund. Leon kannte den Ort. Er war vor einigen Jahren mal mit seinem Vater im Wald spazieren gegangen und da hatte dieser ihm das Grab gezeigt. Eigentlich sah es nur wie ein flacher Hügel aus und Leon fragte sich, wie man es überhaupt als Grab identifiziert hatte. Leon erinnerte sich noch daran, dass er damals ziemlich enttäuscht gewesen war. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass die Kelten ihre Fürsten und Könige in Hügelgräbern bestatteten. Im Laufe der Jahrhunderte waren diese Hügel dann erodiert und von Pflanzen überwuchert worden. Deswegen waren die Gräber heute oft kaum mehr von der sie umgebenden Landschaft zu unterscheiden. Das hatte Leon damals fasziniert. Die Kelten umgab sowieso etwas Mystisches. Soweit Leon wusste, war über diese Volksstämme verhältnismäßig wenig bekannt, da kaum schriftliche Aufzeichnungen von ihnen existierten.

»Was hast du denn in den Ferien vor?«, riss Nathan, der auf dem Fensterplatz neben Leon saß, diesen aus seinem Grübeln. »Eigentlich noch nichts, wir fahren jedenfalls nicht in den Urlaub, falls du das meinst. Hast du schon was vor?« Nathan lachte bitter. »Na ja, in den Urlaub werden wir wohl auch kaum fahren. Ich nehm an, meine Mutter hat eigene Pläne.« Leon wusste, dass Nathan ein kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter hatte. »Na, dann lass uns doch was machen! Ich versuch meine Mutter zu überreden, dass wir auch mal einen Ausflug machen können. Vielleicht ein Freizeitpark oder so was«, meinte Leon. »Das wär super!«, erwiderte Nathan.

Ein paar Minuten später hielt der Bus in Wolfsberg und Nathan und Leon erhoben sich, um auszusteigen. Mit den beiden verließen lediglich drei andere Jugendliche den Bus. Wolfsberg hatte nur wenig mehr als 100 Einwohner. Das malerische Dorf bestand hauptsächlich aus alten Bauernhäusern, die aber inzwischen als Wohnhäuser dienten. Es gab nur noch wenige echte Bauernhöfe in der Gegend und diese wurden meistens auch nur im Nebenerwerb betrieben. Außerdem hatte sich vor einigen Jahren am anderen Ortsende ein Hotel angesiedelt, das »Sterne-Wellness im Schwarzwald« versprach. Davon abgesehen gab es noch ein paar Ferienhäuser. Der Tourismus im Schwarzwald nahm seit Jahren mehr und mehr zu. Die Bushaltestelle befand sich direkt am Ortseingang. Wolfsberg lag am unteren Ende eines schmalen Seitentals. Von hier führte die Straße noch ein Stück in das Tal hinein, um schließlich in Gaisbach, dem Heimatdorf von Elena, zu enden. Während die anderen Schüler sich direkt auf den Weg nach Hause machten, blieben Leon und Nathan noch kurz stehen und sahen dem wegfahrenden Bus nach.

Leon nestelte sein Handy aus der Tasche, wartete dann aber noch unschlüssig. Er mochte seinen Bruder sehr, wusste aber auch, dass der ihm eigentlich nichts erzählen durfte. Obwohl er äußerst neugierig war, war es Leon unangenehm, anzurufen und ihn nach dem Mord zu fragen. Nathan drehte den Kopf und blickte Leon an. »Willst du lieber allein telefonieren?«, fragte er. Leon schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nötig.« Er fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen braunen Haare und gab sich einen Ruck. »Ich weiß gar nicht, welche Schicht er hat, aber ich versuch es einfach mal.« Er hielt das Handy ans Ohr und sein Bruder Thomas nahm bereits nach dem dritten Klingeln ab. »Hallo Leon, was gibt’s denn?«, fragte er freundlich. »Bist du gerade bei der Arbeit?«, fragte Leon. »Nein, ich hatte Frühschicht.« »Störe ich dich gerade bei irgendwas?«, erkundigte sich Leon. »Jetzt drucks nicht so herum und sag endlich, was los ist«, hörte Leon seinen Bruder durch das Telefon. »Also, ein Schulkamerad hat uns heute erzählt, dass bei uns ein Mord passiert ist, und da wollte ich …« Leon ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und schaute dabei zu Nathan. Dieser lächelte und zeigte Leon den Daumen nach oben. Thomas seufzte. »Du weißt doch, dass ich nicht über die Arbeit sprechen darf.« »Ja, natürlich«, sagte Leon schnell. »Aber ich dachte halt, falls wir alle in Gefahr sind, sollten wir das wissen«, setzte er hinzu. »Gefahr? Wieso das denn?«, fragte Thomas zurück. »Na ja, wegen dem verrückten Massenmörder natürlich«, antwortete Leon. Am Telefon folgte kurzes Schweigen. »Wieso Massenmörder? Was genau hat denn dein Mitschüler erzählt?«, fragte Thomas darauf.

Elena schaute aus dem Fenster und betrachtete das schmale Seitental, an dessen Ende ihr kleines Heimatdorf lag. Sie konnte verstehen, dass viele Touristen hier gerne zum Wandern herkamen. Es war traumhaft schön. Der Herbst mit seiner Farbenpracht tauchte die umliegenden Wälder in Pastellfarben. Seltsam, dass ihr das gerade heute auffiel. Schließlich fuhr sie die Strecke beinahe jeden Tag. Die Bremsen des Busses quietschten und er hielt an der letzten Haltestelle seiner Route: Gaisbach. Elena winkte dem Busfahrer im Vorbeigehen zu und murmelte ein leises »Tschüss«. Dabei fiel ihr wieder einmal auf, dass sie ihn zwar beinahe täglich sah, aber nicht einmal seinen Namen wusste. In Gaisbach kannte sie jeden Einwohner und in den umliegenden Dörfern zumindest die meisten. Der Busfahrer war allerdings nicht aus der Nähe. Vermutlich kam er aus Schönbronn. Das schien dann wohl die Anonymität der Stadt zu sein. Zumindest hatte sie gelesen, dass das in Städten normal sei. Elena verbrachte einen großen Teil ihrer Freizeit mit Büchern. Die Geschichten erweckten in ihrer Fantasie weit entfernte Länder und exotische Städte zum Leben. In vielen dieser Bücher fühlten sich Menschen einsam, obwohl sie von abertausenden Menschen umgeben waren. Elena fiel es immer ein wenig schwer, sich das vorzustellen. Aber vermutlich war das so ähnlich wie mit dem Busfahrer. Man teilte einen Aspekt seines Lebens und wusste doch überhaupt nichts voneinander. Nicht einmal den Namen. Die heutigen Ereignisse hatten ihre Spuren hinterlassen und Elena war trübsinniger Stimmung. Sie fragte sich, wie ihre Eltern wohl auf die Situation reagieren würden. Es waren ja bald Herbstferien. Ob sie da überhaupt nach draußen durfte? Sie atmete tief den Duft der herbstlichen Landluft ein. Mit einem mulmigen Gefühl machte sich Elena dann auf den Weg nach Hause.

Nachdem Thomas ihn gefragt hatte, was sein Mitschüler ihm denn erzählt habe, berichtete Leon, was er heute gehört hatte. Nur die dramatischen Ausschmückungen ließ er aus. Thomas hatte nicht nach dem Namen des Mitschülers gefragt, insofern würde Alex wohl keine Schwierigkeiten bekommen. Nachdem Leon geendet hatte, schwieg Thomas erst mal. Dann war ein lautes »Scheiße!« durch das Telefon zu vernehmen. »Was ist denn?«, fragte Leon. »Wir wollten eigentlich möglichst viel von dem Fall vertraulich behandeln. Aus ermittlungstaktischen Gründen, wie wir sagen. Das heißt, wir wollen möglichst viele Dinge haben, die außer uns nur der Täter wissen kann. Das hilft uns oft, den Täter zu überführen oder ihm ein Geständnis zu entlocken. Aber anscheinend hat irgendjemand geredet und es sind fast alle Details schon an die Öffentlichkeit gelangt. Außerdem wird das jede Menge Spekulationen anheizen. Die Presse wird jetzt erst recht auf die ganze Sache aufmerksam werden. Das entwickelt sich zu einer Katastrophe.« Thomas klang frustriert. »Tut mir leid!«, sagte Leon und meinte das ehrlich. Er hatte nicht gewollt, dass sein Bruder Probleme bekommen würde. »Du kannst ja nichts dafür. Im Gegenteil, danke, dass du mir das erzählt hast. Dann sind wir zumindest nicht überrascht.« Leon fühlte sich durch die Worte seines Bruders ein bisschen besser. Er und sein Bruder hatten trotz des Altersunterschieds ein gutes Verhältnis und sein Bruder nahm sich so viel Zeit für ihn, wie er konnte. »Aber du hast ja angerufen, weil du mehr von mir wissen wolltest, richtig?«, fragte Thomas. Nach dem, was Leon gerade von Thomas gehört hatte, ruderte er ein wenig zurück und murmelte nur: »Nein, so wichtig ist das nicht.« »Kein Problem, alles gut«, beschwichtigte Thomas. »Ich kann dir sowieso nicht viel erzählen, aber das hast du ja eh schon gewusst. Allerdings solltest du die Gerüchte, die du gehört hast, ernst nehmen. Wer immer das auch getan hat, ist definitiv eine sehr gestörte Person. Es wäre gut, wenn wir alle in nächster Zeit besonders gut auf uns aufpassen.« »Das heißt, ihr wisst noch nicht, wer der Täter ist?«, fragte Leon. Thomas seufzte. »Wir arbeiten mit Hochdruck an dem Fall. Aber bisher haben wir keine heiße Spur. Ich denke, es wird jemand von außerhalb gewesen sein. Aber dass jemand ausgerechnet hier so was tun sollte, leuchtet mir absolut nicht ein. Hat denn einer deiner Klassenkameraden was Ungewöhnliches erzählt? Vielleicht von jemandem, der gerade zu Besuch daheim ist oder so?« »Du meinst, jemand aus der Schule könnte was damit zu tun haben?« Nathan, der neben ihm stand, starrte ihn bei diesen Worten erschrocken an. »Nein, keine Sorge. Ich will nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« Leon dachte nach, aber ihm fiel nichts ein. »Mir ist nichts aufgefallen. Soll ich denn auf irgendwas achten?«, fragte Leon. Er war plötzlich begeistert von der Aussicht, dass er seinem Bruder beim Lösen eines Falles helfen konnte. »Bloß nicht!«, wiegelte Thomas ab. »Am meisten hilfst du mir, wenn du gut auf dich aufpasst! Halt dich in der nächsten Zeit von Leuten fern, die du nicht kennst. Ich schau demnächst bei euch vorbei und besprech das dann auch mit Mama und Papa.« »Ist okay«, murmelte Leon. »Und pass du auch auf dich auf!«, gab er Thomas noch mit, bevor sie sich verabschiedeten. »Und?«, fragte Nathan angespannt. »Wird etwa jemand aus der Schule verdächtigt?« »Nein, mein Bruder wollte nur sicherheitshalber nachfragen«, gab Leon zurück. »Und was hat er sonst erzählt?«, fragte Nathan. »Nicht viel. Die Geschichte von Alex scheint wohl mehr oder weniger zu stimmen. Und wir sollen vorsichtig sein.« »Na, dann wissen wir immerhin, dass Alex nicht übertrieben hat«, sagte Nathan. »Ja, scheint so. Mal schauen, was meine Eltern zu all dem sagen.« Die beiden Freunde gingen ein paar Schritte schweigend nebeneinander her. Kurz darauf kamen sie an die Abzweigung zu Nathans Zuhause. »Okay, ich geh dann auch mal heim«, verabschiedete sich Nathan. Dann setzte er noch hinzu: »Pass auf dich auf!« »Mach ich, du auch!«, gab Leon zurück und winkte Nathan hinterher. Bevor er den Weg fortsetzte, nahm er noch sein Handy aus der Tasche und schrieb Elena wie versprochen eine kurze SMS.

Elenas Handy gab ein kurzes Ping von sich und vibrierte in ihrer Hosentasche. Schnell holte sie es heraus und blickte auf das Display. Es war tatsächlich eine Nachricht von Leon. »Habe mit Thomas telefoniert. Was Alex erzählt hat, stimmt. Wir sollen vorsichtig sein!« Es war eine typische Leon-Nachricht. Kurz und auf das Wesentliche beschränkt, fast wie ein Telegramm. In ihren Gedanken erschien ein Bild von Leon, wie er als Mann vor 150 Jahren ausgesehen haben könnte. Ein schlanker Mann mit Spitzbart, runder Brille und Melone, der im Postamt ein Telegramm aufgibt. Trotz der Ernsthaftigkeit der Nachricht musste Elena bei der Vorstellung lächeln. Inzwischen war sie zu Hause angekommen. Ein schönes altes Bauernhaus. Ihre Mutter hatte den Weg zur Haustür mit Blumenkübeln verschönert und trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit blühten noch einige Pflanzen. Wie immer sog Elena den Duft durch die Nase ein. Der Blumenduft vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, das sie mit ihrem Zuhause verband. Das Auto ihrer Mutter stand in der Einfahrt, deswegen verzichtete sie darauf, den Schlüssel herauszukramen, und klingelte stattdessen. Kurz darauf flog die Haustür auf und ihre Mutter erschien. »Da bist du ja endlich!«, rief ihre Mutter. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht! Hier ist etwas ganz Schlimmes passiert! Ein Mord!« Elenas Mutter war völlig aufgelöst. Die recht kleine und rundliche Frau mit den rotblonden Haaren umarmte Elena an der Haustür. »Ich weiß«, presste Elena hervor, die vom Gefühlsausbruch ihrer Mutter überwältigt war. »Komm rein! Solange hier ein Mörder rumläuft, ist man ja draußen nicht sicher! Da dürft ihr in nächster Zeit auf keinen Fall allein raus!« »Ach Mama«, seufzte Elena. Seit Elenas jüngere Schwester geboren worden war, hatte ihre Mutter nicht mehr gearbeitet und sich ausschließlich um ihre »Mädels« gekümmert. Elena liebte ihre Mutter, aber ihre extreme Fürsorglichkeit war manchmal schwer zu ertragen. Allerdings musste sie zugeben, dass sie selbst ein bisschen beunruhigt und deswegen nicht wirklich verärgert über die etwas übertrieben scheinende Vorsicht war.

Leon bog in die Auffahrt seines Zuhauses ab. Seine Eltern waren bei der Arbeit, er war also allein. Er sperrte die Haustür auf und ging in die Küche, um sich eine Fertigpizza in den Ofen zu schieben. Anschließend begab er sich in sein Zimmer und holte seine Schulsachen heraus. Er hatte sich vorgenommen, heute gleich seine Hausaufgaben zu erledigen. Als er alles vorbereitet hatte, hörte er schon das Klingeln des Backofens. Trotz allem war auf Leons Magen Verlass, der vor Hunger knurrte. Nachdem er die Pizza gegessen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um sich mit Englisch zu beschäftigen. Leon lehnte sich bequem zurück und schlug das Schulbuch auf. Irgendein Text über das Schulsystem in den USA. Nicht sonderlich motiviert, begann Leon zu lesen. Nach ein paar Minuten blickte er gedankenverloren aus dem Fenster. Irgendwo dort draußen befand sich der Hexenbuckel. Wie es da wohl jetzt aussah? Es war schließlich schon Jahre her, dass er mit seinem Vater dort gewesen war. Er hing einige Zeit seinen Gedanken nach, dann blickte er wieder auf sein Buch. Allerdings hatte er keinerlei Erinnerung mehr daran, was er gerade gelesen hatte. Aber Leon schüttelte den Kopf. Heute würde er definitiv alle seine Hausaufgaben schaffen! Er gab sich einen Ruck und las den Text von Neuem. Am Ende war das Ergebnis dasselbe. Leon saß in einen Tagtraum vertieft am Tisch und starrte nach draußen in Richtung Hexenbuckel. Mühsam zwang er seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Er konnte sich aber heute einfach nicht konzentrieren! Vielleicht half es, wenn er das Radio einschaltete? Leon suchte einen Sender, auf dem gerade keine Werbung lief. Anschließend setzte er sich und nahm zum wiederholten Mal das Buch in die Hand. Dabei wanderte sein Blick wieder nach draußen. In der Richtung des Waldes hatten sich dunkle Wolken am Himmel gebildet. Es würde wohl bald anfangen zu regnen. Leon überlegte, ob der Regen wohl eventuell noch vorhandene Spuren des Mordes wegschwemmen würde. Nachdem er einige weitere Minuten seinen Gedanken nachgehangen hatte, musste Leon sich eingestehen, dass es momentan sinnlos war, an seinen Hausaufgaben zu arbeiten. Er räumte seine Sachen zu einem ordentlichen Stapel zusammen und überlegte, was er tun sollte.