Khryn - Judith Sabo - E-Book

Khryn E-Book

Judith Sabo

0,0

Beschreibung

Eigentlich wollte Olivia ihren Freunden endlich ihr Vampirsein offenbaren, aber ein Flugzeugabsturz macht ihr einen Strich durch die Rechnung und sie stranden auf einer einsamen Insel im Pazifik. Unvorhersehbare Ereignisse führen zum Tod einer Freundin, was einen tiefen Keil in ihre Clique treibt. Schnell merkt Olivia durch den Verrat eines Freunds, dass sie nicht die Einzige mit Geheimnissen ist. Verzweifelt zieht sie sich zurück, wo ihr unerwartete Verbündete beistehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 702

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Olivia

Olivia

Olivia

Olivia

Olivia

Wayne

Olivia

Cassandra

Wayne

Olivia

Wayne

Cassandra

Wayne

Olivia

Wayne

Olivia

Cassandra

Olivia

Wayne

Olivia

Olivia

Wayne

Olivia

Wayne

Olivia

Cassandra

Olivia

Wayne

Olivia

Cassandra

Olivia

Wayne

Olivia

Wayne

Cassandra

Olivia

Olivia

Cassandra

Olivia

Epilog

Prolog

Mondlicht erhellte die noch feuchte Straße, die durch einen scheinbar endlosen Wald führte. Der Geruch von Regen erfüllte die drückend warme Nachtluft und irgendwo im Wald schrie eine Eule.

Von einem Ende der Straße hörte man Motorengeräusche. Eine Limousine näherte sich mit stechendem Licht. Es war ein mattschwarzer Bentley mit getönten Scheiben, der alles Licht um sich herum zu verschlucken schien. Nur das silberne Kühlergitter glitzerte im Schein des Vollmonds.

Der Wagen wurde langsamer und bog auf einen unscheinbaren Feldweg. An der Stelle, wo sich Weg und Straße trafen, stand ein altes morsches Holzschild, auf dem einmal Oldford Castle gestanden hatte. Je weiter die Limousine sich von der Straße entfernte, desto düsterer und dunkler wurde der Wald.

Im Schatten der Bäume tastete sie sich mit hellem Lichtkegel voran. Der Feldweg war bedeckt von nassem Laub und kleineren Ästen. Teilweise hatte das Regenwasser, das durch das dichte Blattwerk gelangt war, trübe Pfützen gebildet. Junge Sprösslinge von Bäumen wuchsen am Rande des Weges. Der Bentley beschleunigte und hinterließ nur den Wind, der die Pflanzen zum Wackeln brachte.

Nach etwa zwei Meilen wurde der Wald spärlicher und nun drang Licht durch die Blätter zum Boden. Das Gelände stieg jetzt etwas an. Der Fahrer der Limousine trat stärker aufs Gaspedal, sodass das Wasser in den Pfützen noch mehr spritzte. Ab hier ging der Feldweg in eine geteerte Straße über.

In der Ferne konnte man auf der rechten Seite ein schwaches Licht erkennen. Dort wurden die Bäume von der Mauer eines Anwesens abgelöst.

Die Limousine fuhr bis zu einem großen eisernen Tor, wo sie einbog, und in den Hof glitt, bei dem es sich um einen großen runden Platz handelte. In dessen Mitte stand ein einfacher Brunnen mit einem Podest, auf dem ein Engel eine Waage hielt. Um den Platz herum standen einige Büsche und vereinzelt kleinere Bäume. Über den Baumkronen des Waldes außerhalb der Mauer stieg Dunst auf. So auch bei den verdorrten Pflanzen, die den Platz umgaben und dem Anwesen eine düstere Atmosphäre verliehen.

Gegenüber dem Tor auf der anderen Seite des dunklen Hofes befand sich ein großes Herrenhaus. Mit den Erkern und Türmen ähnelte es schon mehr einem alten Schloss, das seit Jahren nicht mehr betreten worden war.

Der Wagen fuhr um den Brunnen und hielt vor der großen massiven Treppe. Das Motorengeräusch verstummte und es wurde fast lautlos. Doch die Stille wurde gleich darauf von einer Autotür durchbrochen.

Der Fahrer war aus der Limousine gestiegen und ging nun um den Wagen herum, um seinen Fahrgast aussteigen zu lassen.

Langsam öffnete er eine der hinteren Türen und ein anderer Mann trat heraus. Gegen ihn wirkte sein Chauffeur klein, ja fast mickrig. Der Fahrgast war ein älterer stattlicher Mann mit einer gewissen Ausstrahlung von Autorität und Selbstbewusstsein.

Nachdem er seinem Fahrer befahl, im Wagen zu warten, strich er seinen langen schwarzen Mantel glatt und ließ die Wagentür zufallen. Als der Chauffeur so tat wie geheißen, stieg er entschlossen die steinerne Treppe zum Herrenhaus hinauf. In seiner rechten Hand hielt er einen Gehstock mit Adlerkopf, auf den er sich stützte. Der Aufgang vor der Tür wurde von beiden Seiten durch das weiche Licht zweier Laternen erhellt. Über ihm am Himmel durchzogen Blitze das Firmament und in dem Moment, in dem er zum dritten Mal an dem alten Türklopfer in Form eines Löwen klopfte, donnerte es in einigen Meilen Entfernung.

Ein kleiner Mann mit Buckel im Frack öffnete ihm. Zuerst nur einen Spalt, doch als er sah wer draußen stand, begrüßte er den Gast freundlich: »Ach, Sie sind es, Mister Surrock. Willkommen im Oldford Castle. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.«

Surrock wurde von dem Butler ins große Foyer geführt und er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Als erstes fiel ihm der prächtige Kronleuchter auf, der an der Decke zwischen zahlreichen kunstvollen Reliefarbeiten angebracht war. An den Wänden hingen Gemälde von Männern in prunkvollen Rahmen. Auf dem Boden lag ein großflächiger dunkelroter Teppich, unter dem der Holzboden bei jedem Schritt knarzte. Links und rechts führte jeweils eine Holztreppe in den ersten Stock.

Sie nahmen die rechte Treppe nach oben, die sie in einen längeren Gang führte. Am Ende war ein Fenster, verdeckt durch einen Vorhang. Nur ein dünner Spalt, durch den man Bäume im Wind schaukeln sah, blieb offen. Immer wieder wurde der Wald vom Licht des Gewitters erhellt. Jedes Mal, wenn der Himmel aufblitzte, warfen die Vorhänge lange Schatten. Wortlos ging Surrock hinter dem Butler durch den kühlen dunklen Gang. Vor dem Fenster bogen sie links in einen helleren Korridor. Gelbe

Lampenschirme dämmten das helle Licht, sodass der Gang in einem angenehm warmen Ton erstrahlte. Vor einer Doppeltür aus Ebenholz machten sie Halt.

Surrock schritt durch eine der Türen, die ihm der Butler aufhielt. Der Raum, den sie betraten, hatte dicke Wände aus Backstein. An der linken Wand befand sich eine alte Holztür. Daneben waren Regale voller alter Bücher und Artefakte hinter einem Schreibtisch. An der gegenüberliegenden Wand hing neben einem weiteren Gemälde eines älteren Mannes eine Weltkarte, auf der bestimmte Punkte in Amerika, Europa und Australien rot oder blau markiert worden waren. Surrock warf einen kurzen Blick darauf und schritt dann weiter in den Raum.

An der Wand direkt vor ihm loderten Flammen in einem großen Kamin. Davor, in der Mitte des Raumes, standen zwei Kanapees mit dunklem Holz und weinroten Bezügen. Dazwischen war ein alter länglicher Teetisch, auf dem ein leeres Glas und eine Flasche Scotch standen.

Links und rechts neben dem Kamin waren jeweils ein Fenster, durch die man nach draußen in den Hof sah.

Vor einem der Fenster stand ein Mann mit einem halbvollen Glas und blickte hinaus. Sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe.

»Danke, Gerald«, sagte er, ohne seinen Blick von draußen abzuwenden. Er trank in Ruhe seinen Scotch leer und drehte sich dann ruhig um. Gleich darauf wandte er sich wieder an Gerald: »Nehmen Sie doch meinem Gast die Jacke ab.« Der Butler hustete. »Verzeihen Sie. Natürlich, Sir Oldford«, erwiderte er und trat hinter Oldfords Gast, um ihm die schwere Jacke abzunehmen.

Darunter trug Surrock einen schwarzen Anzug mit einer dunkelblauen Krawatte. Er sah dem Butler kurz nach, wie er aus dem Raum ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, kam Oldford näher. »Setzen Sie sich«, meinte er dann und deutete mit einer Hand auf eines der Kanapees. Er nahm die Flasche und füllte sein Glas bis zur Hälfte. »Scotch?«, bot er an und nahm das Glas, das schon auf dem Tisch gestanden hatte. Surrock setzte sich ihm gegenüber und lehnte seinen Gehstock neben sich an die Sitzfläche. Ohne ein Wort nahm er das Glas entgegen und lehnte sich zurück. Er zeigte keine Absicht zu trinken und sah stattdessen noch einmal auf die Weltkarte mit den Markierungen.

»Wie ich sehe, hat sich ihre Organisation schon weltweit ausgebreitet«, stellte Surrock zufrieden fest. »Dank dem Budget, das sie uns bereitgestellt haben, war es uns erst möglich neue Standorte zu errichten und alte zu restaurieren«, erwiderte Oldford und setzte sich Surrock gegenüber.

»Wie sieht es mit ihren Vorhaben aus? Hatten Sie schon erste Erfolge?«, fragte Surrock. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er Resultate erwartete. Daher war er nicht erfreut, als ihm Oldford erzählte, dass es dafür noch zu früh sei.

»Wir sind noch immer in der Anfangsphase. Unserer Organisation fehlen Mitglieder, aber inzwischen machen wir Fortschritte. Die Rekruten erhalten zunächst eine Ausbildung mit unserer Ausrüstung. Wir können sie wohl schlecht ohne Erfahrung mit unseren Geräten oder Nahkampf zu Zielobjekten schicken«, rechtfertigte sich Oldford darauf. »Sie werden hier mit speziellem Training geschult. Auch mein Sohn unterzieht sich dieser Ausbildung.« Die Antwort Oldfords schien Surrock zu besänftigen, jedenfalls für einen Moment.

»Ich stehe hinter Ihnen und Ihrer Sache, der Ausschuss, mit dem ich zusammenarbeite, allerdings nicht. Für sie ist es nur eine Verschwendung von Forschungsgeldern, aber ich will Ihnen den Geldhahn nicht zudrehen müssen. Wenn Sie mir also nicht bald Ergebnisse liefern können, kann ich Ihnen nicht versprechen, dass sie weiterhin auf unsere Unterstützung zählen können«, sagte Surrock mit Nachdruck und nahm schließlich doch einen Schluck Scotch.

Durch eines der Fenster drang das grelle Licht der Blitze und fiel auf seine grau melierten Haare. Auf einmal wirkte er nicht mehr stattlich, sondern klein und alt. Seine pergamentartige Haut war über die Jahre von äußeren Einflüssen alt und gezeichnet worden.

Plötzlich war es als würde die Temperatur im Raum um einige Grad sinken. Oldford hatte sein Glas mit Wucht auf den Tisch gestellt und war aufgestanden.

»Glauben Sie überhaupt noch daran!?«, rief er entrüstet. »Glauben Sie noch daran, dass meine Organisation der Menschheit hilft? Ich habe jahrelang daran gearbeitet so weit zu kommen und Sie sagen mir, dass Sie mich nicht mehr unterstützen wollen, so kurz vor unserem Ziel. Wir müssen handeln, solange wir noch können.« Oldford lief aufgebracht zu seinem Schreibtisch, ohne auf eine Antwort von Surrock zu warten.

»Ich verstehe Ihren Drang zur Eile und unterstütze Sie so gut ich kann, aber das wird dem Ausschuss nicht reichen. Sie wollen stichfeste Beweise dafür, dass die Gefahr real ist, denn im Moment ist das alles nur…Wie soll ich sagen? Surreal? Auch für mich«, erwiderte Surrock vorsichtig. Oldford hielt kurz inne. Dann griff er zum Hörer.

»Das wird sich jetzt ändern. Ich werde ihnen einen Beweis liefern und Sie werden es mit eigenen Augen sehen«, sagte er entschlossen und wählte. »Gerald, sagen Sie William, er soll alles vorbereiten. Wir haben heute einen Gast.«

Währenddessen war in einem anderen Raum des Oldford Castle ein Dinner für Zwei vorbereitet. Der Saal war ebenfalls prunkvoll ausgestattet und auch hier schmückten Reliefs die Decke. An den Wänden hingen Kunstwerke. Die meisten waren von unbedeutenden Künstlern und nicht sonderlich wertvoll. Nur eines stach heraus und es war von unschätzbarem Wert. Es zeigte eine Klippe aus hellem Gestein und das Meer. Wellen wurden gebrochen und die Gischt spritzte gegen die Felsen. Im Hintergrund konnte man die Sonne sehen, die nah am Horizont war und den Himmel orange färbte. Das ganze Bild war sehr detailreich, aber wenn man es von nahem betrachtete, sah man nur einzelne Pinselstriche.

»Das wirkt so lebendig«, meinte die junge Frau, die gedankenverloren einige Minuten vor dem Bild gestanden hatte. So wie der Mann, der gerade den Raum betrat, war sie nicht älter als zwanzig. Er lächelte als er sie sah und kam zu ihr herüber.

»Von wem ist das?«, wollte sie wissen. William zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau«, erwiderte er.

»Sicher ein Rembrandt«, rief sie freudig und löste ihren Blick vom Bild. »Nein, es ist vieles, aber kein Rembrandt«, lachte William. »Es passt eher in die Zeit des Impressionismus.«

Die junge Frau sah ihn erstaunt an. »Rembrandt war der einzige Künstler, der mir eingefallen ist. Freut mich, dass es dich amüsiert. Seit wann hast du Ahnung von Kunst?«, fragte sie und spielte an einer ihrer blonden Haarsträhnen.

»Mein Vater findet es wichtig, dass ich mich mit Geschichte und unter anderem auch mit Kunstgeschichte befasse«, seufzte er. »Bitte lass uns nicht darüber reden. Ich leide schon genug«, fügte er hinzu und grinste. Sie lächelte ebenfalls.

»Komm, lass uns essen«, meinte sie, setzte sich dann gegenüber von William und bestaunte die Anzahl an Gabeln und Löffeln. Der Tisch war im Gegensatz zum Rest des Zimmers spärlich und einfach dekoriert. Die Servietten waren simpel gefaltet und in der Mitte stand lediglich ein kleines Teelicht.

»Ich fasse es einfach nicht, dass du mich in diesen Palast, der noch dazu deinem Vater gehört, zum Essen einlädst. Du weißt, mir hätte auch ein Date in einem Restaurant für Normalsterbliche gereicht.« William sah sie verträumt an, bis sie vom Tisch hochsah. Er wollte sich nichts anmerken lassen und blickte kurz zum Fenster.

»Ziemlich heftig der Sturm draußen. Wenn es bis später nicht besser wird, kann ich Gerald fragen, ob er ein Zimmer für dich herrichtet«, meinte er und sah ihr wieder ins Gesicht. »Also, natürlich nur wenn du willst«, ergänzte er nervös.

Das Essen wurde serviert und die beiden unterhielten sich, bis plötzlich Gerald ins Zimmer trat. »Es tut mir leid zu stören, aber Ihr Vater verlangt nach Ihnen, William«, meinte er und stellte sich an die Tür. »Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin«, erwiderte dieser und stieg wieder in die Konversation mit seiner Freundin ein. »Aber Ihr Vater…«, begann der Butler.

»Nicht jetzt, Gerald«, unterbrach ihn William. Die Miene des Butlers verzog sich und er kam wütend zum Tisch. »William James Oldford, Sie kommen jetzt sofort mit. Er will, dass Sie es vorbereiten«, rief Gerald. Der junge Mann hielt kurz inne und sah dann zum Butler. »Jetzt?«, wollte er wissen. Gerald nickte und ging zur Tür, um sie zu öffnen. William wandte sich an seinen Gast. »Es tut mir leid, aber ich muss weg. Es dauert nicht lange.«

»Schon ok«, erwiderte sie, schien aber trotzdem enttäuscht zu sein. »Geh nur, William James«, fügte sie hinzu und begann zu lachen. Willams Mund verzog sich noch zu einem Lächeln.

»Bereiten Sie ihr bitte einen Raum vor, Gerald. Ich finde den Weg allein zu meinem Vater«, war das Einzige, was die junge Frau noch hörte, bevor er den Raum verließ. Nun saß sie allein in dem prunkvollen Saal und wirkte irgendwie fehl am Platz. William war ihr einziger Anker, den sie in dieser Welt der Reichen hatte. Nach wenigen Minuten stand sie auf und sah sich noch einmal die Gemälde an. Die Bilder faszinierten sie und sie verbrachte eine Ewigkeit damit, in sie einzutauchen. Inzwischen war eine Stunde vergangen und Gerald kam zurück.

»Wir haben Ihr Zimmer fertiggestellt«, sagte er. »Entschuldigen Sie die Verspätung, aber wir haben nicht oft Gäste.« Die junge Frau erwiderte nichts darauf, nahm ihren Rucksack und folgte dem Butler. Wie auch Surrock führte Gerald sie nach oben, bog aber in einen anderen Gang ab und blieb schließlich vor einer Tür stehen.

»Wann kommt er zurück?«, fragte sie auf einmal. »Das ist schwer zu sagen«, antwortete Gerald und öffnete die Tür.

»Und was macht er?«, erkundigte sie sich dann. »Es liegt nicht an mir, Ihnen das zu sagen«, entgegnete der Butler. Sie trat in das Zimmer und stellte ihre Tasche ab. »Können Sie mir überhaupt irgendetwas sagen?«, fragte sie empört und wirbelte herum. Gerald ging wieder hinaus.

»Das meiste, was hier passiert, bekomme ich selbst nicht mit. Alles andere unterliegt Geheimhaltung. Daran werden Sie sich gewöhnen, wenn Sie hier mit William zusammen sind«, meinte Gerald ruhig und ging. Kurz stand sie perplex da, stürmte dann aber zur Tür und rief: »Was meinen Sie damit?« Aber der Butler war schon um die Ecke gegangen.

Sie schloss leise die Tür und zog sich in ihr Zimmer zurück. Wie alles in diesem Palast, so fand sie, war auch dieser Raum prunkvoll eingerichtet. Wenn man von den moderneren Geräten absah, hätte dieses Zimmer auch so vor zweihundert Jahren existieren können. Die Kommode sowie Stühle, Tisch und Himmelbett waren aus dunklem Holz. Der Bezug des Bettes war cremefarben, ebenso die Vorhänge.

Die junge Frau lief zum Fenster und sah hinaus. Regen klatschte gegen die Scheibe. Die Bäume des Waldes wurden vom peitschenden Wind hin und her geworfen und als Blitze den Himmel erhellten, war sie froh, dass William ihr ein Zimmer besorgt hatte. Sie hatte sich zwar nicht direkt darauf eingestellt, hier zu übernachten, hatte aber trotzdem Schlafkleidung für den Fall dabei, die sie neben einem Notizbuch aus ihrem Rucksack zog. Sie wechselte ihre Kleidung und setzte sich im Schneidersitz aufs Himmelbett. Das Notizbuch lag nun in ihren Händen und sie begann zu zeichnen.

Irgendwann wurden ihre Augenlider schwer und sie schlief ein, neben ihr das Notizbuch, das offen da lag und eine Zeichnung von William zeigte.

Als sie aufwachte, war es still. Kein Wind. Kein Regen. Kein Sturm. Es war morgens und Licht drang unter den zugezogenen Vorhängen ins Zimmer. Die junge Frau stand auf, schlüpfte in ihre Alltagskleidung und richtete das Zimmer so her, wie sie es vorgefunden hatte. Dabei fand sie einen Zettel mit einer Notiz auf dem dunklen Tisch.

Es tut mir leid. Wirklich. Das musst du mir glauben. Du hast geschlafen, als ich fertig war und ich wollte dich nicht wecken.

Es wartet ein selbstgemachtes Frühstück auf dich, wenn du wach bist. -W

Völlig unerwartet überkam sie Wut, woraufhin sie den Zettel zerknüllte und in dem Mülleimer warf, den sie aber nicht traf. Sie bückte sich, um den Papierball aufzuheben und bemerkte dann kleine rotbraune Tropfen auf dem hellen Teppich. Die Spur führte zum Tisch und sie war sich sicher, dass sie am Abend davor noch nicht da waren. Mit einem Finger fuhr sie über einen etwas größeren Tropfen und betrachtete ihn. Es war geronnenes Blut.

Schnell stand sie auf, warf ihr Notizbuch in den Rucksack, packte ihre Jacke und ging hinaus auf den Gang. Sie spurtete zur Treppe. Unten im Foyer rannte sie in Gerald hinein. »Da sind sie ja, Miss…«, begann er. »Oh, Gott es tut mir leid«, flüsterte sie, da es ihr sichtlich unangenehm war. »Da bist du ja«, rief eine andere Stimme. Es war William, der gerade aus einem der Räume im Erdgeschoss kam. »Komm, dein Frühstück wird kalt.« Gerald hob ihre Jacke auf und reichte sie ihr.

»Willst du mich verarschen?«, richtete sie sich an William. »Du gehst in der Mitte unseres Dates und lässt mich dann einfach sitzen.« William wollte etwas erwidern, aber sie war noch nicht fertig.

»Sag mal, bist du so bescheuert oder denkst du echt, dass es mir nichts ausmacht, dass du dauernd irgendwo hinmusst. Du hast nie wirklich Zeit, immer kommt irgendwas dazwischen. Du lässt mich warten und wenn du zurückkommst, wirkt es so als wärst du lieber woanders.« William trat näher und wollte ihre Hand nehmen.

»Es tut mir leid«, kam von ihm. Sie schlug seine Hand weg.

»Nein, lass es einfach. Ich habe es so satt«, knurrte sie und wandte sich an Gerald: »Können Sie mich von hier wegbringen?« Gerald nickte, sah dann aber zu William. »Nein, Gerald können Sie nicht. Ich kann das machen«, meinte er.

»Gerald, bringen Sie mich nach Hause. Ich hab genug von dir, William James«, fauchte sie und zog den Butler hinter sich zur großen Eingangstür. »Aber…«, fing William an, wurde dann aber von jemand anderem unterbrochen.

»Nein, lass sie, William. Wütende Frauen sind schwierig.« Oldford war die andere Treppe hinuntergekommen und beobachtete, was sich in seinem Foyer abspielte.

»Ach, als ob du dich damit auskennst!«, schrie ihn William an. »Sie wäre ohnehin nur eine Ablenkung für dich geworden«, meinte Oldford und lief die Treppe weiter hinunter in den Keller.

»Sie kann dich hören, alter Mann«, rief William ihm nach. Gerald verließ das Haus mit Williams Gast und die Tür fiel ins Schloss.

»Du solltest dir noch diesen hässlichen Blutfleck aus dem Gesicht waschen, ehe du dich aus dem Haus begibst«, rief Oldford noch nach oben. William sprang zum nächsten Spiegel und musste feststellen, dass sein Vater Recht hatte. »Verdammt!«, schrie er und schlug mit seiner Faust gegen das Glas einer Vitrine, das daraufhin zerbrach.

1 Olivia

»Da bist du ja!«, rief eine Stimme quer durch den Eingangsbereich des Washington Dulles International Flughafens. Es war Cassandra, meine beste Freundin. Ich hätte sie zwischen den Menschen einer französischen Reisegruppe fast nicht erkannt, wäre mir nicht ihr auffälliges Gepäck ins Auge gefallen. Sie rannte mir mit ihrem riesigen rosa Koffer, einer vollen Reisetasche und einer mittelgroßen Handtasche entgegen.

»Wo warst du denn?«, fragte ich, als sie endlich vor mir stand und zu Atem kam. »Entschuldige, aber ich konnte meinen zweiten Bikini einfach nicht finden«, erwiderte sie kleinlaut. So war Cassandra eben. Verplant, unpünktlich und unordentlich.

Auf dem Weg zum Check-in, bei dem unsere Clique warten sollte, kamen wir an vielen Reisenden vorbei. Darunter waren mehrere Eltern mit ihren Kindern, die in ihrem Leben vermutlich noch nie einen Flughafen betreten hatten und nun alles kommentieren mussten. Ich war kein Kinderfreund und versuchte die nervigen Stimmen in den Hintergrund zu drängen. Stattdessen dachte ich an unseren gemeinsamen Urlaub und an mein Geheimnis, das ich meinen Freunden anvertrauen wollte.

Meine Clique bestand aus neun Personen. Unsere Freundschaft begann in der High School. Damals lernten Cass und ich Jason und Nell kennen. Und so kam über die Jahre immer jemand zur Clique dazu. Ein Jahr danach kamen Will und dessen Kumpel Simon dazu. Wieder ein Jahr später nahmen wir Claire und Megan in unseren Kreis auf. Das neueste Mitglied war Kaylee, die erst vor anderthalb Jahren zu uns gestoßen war. Doch seit der High School waren inzwischen zwei Jahre vergangen und unsere Wege würden sich aufgrund unterschiedlicher Interessen trennen.

Simon wollte Informatik studieren, Megan Lehrerin werden und Nell hatte Pläne als Umweltaktivistin. Cass war noch unentschlossen und half ihrem Vater in seiner Firma aus. Jason wollte erst die Welt bereisen und dann in das Berufsleben starten. Eigentlich waren wir eine ganz normale Gruppe von Freunden, die sich auf einen letzten gemeinsamen Urlaub freute. Das Einzige, was nicht normal war, war die Tatsache, dass sie mit einem Vampir befreundet waren. Das war mein Geheimnis.

Auf die Frage was ich studieren wollte, konnte ich nichts antworten, da ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Schließlich hatte ich eine Ewigkeit Zeit.

Auf den Vorschlag von Claire hatten wir uns einen Urlaub nach Hawaii gebucht. Sie wollte unbedingt einmal dorthin, da ihre Familie hawaiianische Wurzeln besaß. Wir hatten gegen zwei Wochen am Strand entspannen und vielleicht ein bisschen die Inseln anschauen nichts einzuwenden und so war es beschlossen.

Die Schlange beim Check-in war nicht sonderlich lang, weswegen wir unsere Freunde gleich fanden. Megan winkte uns freudig her. »Was hat da so lange gedauert?«, fragte Will ungeduldig, als wir ihnen entgegenkamen. »Tut mir leid, das war meine Schuld«, meinte Cass und stoppte neben Nell, die gerade von ihrem Handy hochsah. Ich begrüßte Nell und Claire mit einer Umarmung und gesellte mich zu ihnen. »Pünktlichkeit und du waren noch nie Freunde«, warf Jason lachend ein.

Wir gaben unsere Koffer ab und checkten ein. Der Flug nach Los Angeles, wo wir anschließend in einen Flieger nach Honolulu umsteigen würden, zog sich etwas, aber wir hatten jede Menge Gesprächsstoff. Megan und Simon, die sich in den vergangenen Monaten nähergekommen waren, wollten eine wunderschöne Bucht im Osten von Honolulu besuchen. Nell wollte unbedingt mit Delfinen schwimmen und Cass würde mit Claire wohl den ganzen Tag am Strand verbringen, um sich zu sonnen. Die Jungs waren ganz wild auf Beachvolleyball und surfen. Meine Vorfreude hielt sich in Grenzen, weil ich etwas ganz anderes im Sinn hatte. Dieser Urlaub würde alles für mich ändern, denn ich hatte beschlossen der Clique endlich zu erzählen, dass ich ein Vampir war. Eigentlich müsste dann eine große Last von mir fallen, andererseits sorgte ich mich darum, wie sie es aufnehmen würden. Wie würden sie wohl reagieren, wenn ich ihnen sage, dass ich mich von Blut ernährte? Sollte ich vielleicht doch einen Rückzieher machen und einfach den Urlaub genießen?

Als wir in Los Angeles ankamen, hatten wir noch jede Menge Zeit, da unser Anschlussflug erst in etwa zwei Stunden starten würde. Daher erkundeten wir in unseren gewohnten Grüppchen den Flughafen. Unser einziges Pärchen in der Clique, Megan und Simon, erklärten sich bereit, auf unser Handgepäck aufzupassen, während der Rest in alle Richtungen ausschwärmte, um die Läden unsicher zu machen. Claire, die ziemlich modeverrückt war, sah sich mit Nell im Schlepptau die Klamotten in diversen Schaufenstern an. Will und Jason verschwanden in Richtung einer Snackbar, während sie eifrig über die neuesten Techniktrends diskutierten. Cass steuerte mit mir und Kaylee auf ein nahes Café zu.

Beim Betreten kam uns Kaffeeduft entgegen. Im Vergleich zum Terminal war dieser Ort fast menschenleer. Vereinzelt saßen Reisende mit dampfenden Heißgetränken vor sich an den Tischen und warteten wie wir auf ihren Flug. Wir setzten uns an einen Tisch direkt am Fenster. Von hier aus konnte man die Flugzeuge auf der Landebahn beobachten.

Kaylee ging zur Theke und bestellte uns drei Cappuccinos. Einen Moment später kam sie fröhlich zurück und stellte die Tassen vor uns auf den Tisch. Cass kramte schon in ihrem übergroßen Geldbeutel nach Geld, um es unserer Freundin zu geben, doch Kaylee lehnte ab. »Wisst ihr was? Ich lade euch ein!«, meinte Kaylee und nahm einen Schluck.

Während die beiden über Schuhe redeten, starrte ich aus dem Fenster. Ich war mit meinen Gedanken wieder bei meinem Geheimnis. Um mich abzulenken, beobachtete ich die Flugzeuge draußen. Obwohl ich nicht darüber nachdenken wollte, schweiften meine Gedanken immer zurück. Daher war ich dankbar, dass Cass mich irgendwann aus den Gedanken holte: »Erde an Oliv. Dein Cappuccino wird kalt. Oder willst du ihn nicht trinken?« Ich wandte mich vom Fenster ab und sah meine Freundin an. Etwas Herausforderndes lag in ihrer Stimme, was mich kurz irritierte. »Äh, ja schon…ich trinke ihn«, stammelte ich vor mich hin. Tatsächlich war die Tasse vor mir schon lauwarm, als ich schließlich begann zu trinken.

Ich hasste das Gefühl, wenn alles, was ich aß oder trank, in meinem Mund zu Asche wurde. Als Vampir konnte ich mich ausschließlich von Blut ernähren. Das war einer der Nachteile, wenn man ein Vampir war. Man konnte nichts Normales essen. Trotzdem nahm ich mir vor, mich so normal wie möglich zu verhalten und dazu gehörte leider auch Cappuccino zu trinken und Burger zu essen. Ich wollte einfach nicht auffallen. Meine Freunde kannten mich nur als die lebensfrohe Olivia, die trotz ihrer hellen Haut nur selten Sonnenbrand bekam und die nie auch nur einen Kratzer hatte.

Vampire konnten sich zwar verletzen, heilten aber mit normalem Blutkonsum so schnell, dass man teilweise sogar zuschauen konnte. Je mehr Blut ein Vampir zu sich nahm, desto größer die Kraft und desto schneller der Heilungsprozess. Deshalb sorgte Mom auch immer dafür, dass wir genug Blut im Haus hatten. Als ein Vampir, der im Krankenhaus arbeitete, kam sie gut an unsere Nahrung.

Mom und Dad waren ein paar Monate vor meiner Geburt nach Washington gezogen. Jetzt, nach fast einundzwanzig Jahren, würde ich mir meine eigene Wohnung suchen und Mom konnte mit Dad umziehen, sodass nicht auffallen würde, dass sie nicht älter wurden. Personen, die in diesem Zeitraum verwandelt wurden oder schon von Geburt an so waren, alterten nur bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr. Menschen, die nach dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr verwandelt werden, blieben so alt, wie am Tag ihrer Verwandlung. Meine Eltern kämen damit klar, wenn ich es meinen Freunden erzählen würde, solange diese es geheim hielten. Und genau das hatte ich nun schon seit einigen Monaten vor. Ich hatte bis jetzt nur den richtigen Augenblick abgewartet und dieser Urlaub schien mir eine Chance zu sein, die ich nutzen musste.

Irgendwann meinte Kaylee sie müsse kurz weg, da sie sich noch etwas aus einem der Geschäfte besorgen wollte, und ließ uns allein. Ich saß nun also gegenüber von Cass und ärgerte mich, dass ich keinen Cappuccino trinken konnte. »Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte Cass plötzlich und sah mich besorgt an. Ich schluckte eine letzte Portion Asche und musste husten. »Wirst du krank? Du bist ganz blass«, meinte Cass dann. »Cass, du kennst mich jetzt wirklich lange genug, um zu wissen, dass ich immer blass bin und nie krank werde«, erwiderte ich darauf. »Woran das wohl liegt?«, murmelte sie mit einem wütenden Unterton. Jetzt war ich verwirrt. Wusste sie es bereits? Immerhin war sie meine beste Freundin. Tief in meinem Inneren wollte ich, dass sie es wusste. Bis auf dieses Geheimnis verheimlichte ich ihr nichts. Doch das würde als Entschuldigung leider nicht reichen. Am meisten fürchtete ich mich vor Cass’ Reaktion. Ich hatte mit der Wahrheit einfach zu lange gewartet. Jetzt würde ich um einen Streit nicht mehr herumkommen.

Während ich in meine Gedanken versunken war, musste ich wohl so einen schuldbewussten Gesichtsausdruck gezeigt haben, dass ihr sofort aufgefallen war, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. In mir kam plötzlich Panik auf, was sie ebenfalls bemerkte. Wir schwiegen einige Minuten. Cass schien auf eine Reaktion zu warten, doch ich brachte keinen Ton heraus. Nervös spielte ich an meiner Kette. Sie war ein Weihnachtsgeschenk von Cass von vor ein paar Jahren. Seitdem trage ich sie fast jeden Tag.

Cass’ Blick fiel darauf und sofort verzog sich ihre Miene. Sie lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Nun konnte man ihr ihre Verärgerung auch ansehen und ich war mir sicher, dass sie etwas ahnte. Nach einigen angespannten Minuten stand sie auf, nahm ihren Geldbeutel und ihre Tasse und lief mit schnellem Gang zur Theke. »Warte…!«, rief ich und sprang auf. Nachdem Cass an der Theke ihre Tasse abgestellt hatte, wurde sie noch ein bisschen schneller und verließ dann das Café. Ich folgte ihr nach draußen, wo ich schließlich stehen blieb. »Jetzt warte doch!«, rief ich erneut und hoffte, sie würde reagieren. Tatsächlich wurde sie langsamer und blieb stehen. Ein kurzer Moment verstrich, bevor sie sich stürmisch umdrehte und mich wütend anschaute. »Hast du ernsthaft gedacht ich würde nichts merken? All die Jahre hast du uns angelogen! Ich dachte wir würden uns alles erzählen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht«, erwiderte sie und kam langsam auf mich zu. Sie machte eine kurze Pause, in der sie sich etwas beruhigte. »Hör zu, ich weiß nicht was du bist oder was du verbirgst, aber ich kann dir sagen, dass ich es satthabe«, zischte sie. Ich wollte etwas sagen, doch sie war noch nicht fertig: »Ich hoffe du hast eine gute Erklärung, ansonsten würde ich jetzt gerne gehen.« Komplett überrollt von Cass’ Ansage suchte ich verzweifelt nach einer geeigneten Erklärung. In meinem Kopf hatte ich für dieses Szenario schon einige Sätze parat gehabt, doch diese waren jetzt verschwunden und ich machte den dümmsten Zug, den ich hätte machen können. In meiner Erklärungsnot brachte ich die Standard-Antwort: »Es tut mir leid! Ich wollte es euch ja erzählen, aber…« An dieser Stelle kam ich ins Stocken. »Aber was?«, fragte Cass genervt, doch ich brachte kein Wort heraus. Sie brodelte förmlich vor Wut. Mit geballten Fäusten fauchte sie: »Weißt du was? Ich habe jetzt echt genug!« Mit diesen Worten ließ sie mich wie einen Volltrottel vor dem Eingang des Cafés stehen und verschwand irgendwo zwischen den Reisenden. Jetzt hatte ich es wirklich verbockt und das ausgerechnet vor unserem Urlaub.

Ich musste dort wohl einige Minuten gestanden haben, denn irgendwann stand Kaylee neben mir. »Los komm! Wir sollten langsam mal zum Gate«, meinte sie und zog mich an einem Arm. Ich folgte ihr brav durch das längliche Terminal. »Wo ist Cass?«, fragte Kaylee plötzlich. Ich zuckte nur mit den Schultern und hoffte, wir würden Cass am Gate treffen. Das taten wir auch. Jeder der Clique stand schon in der Schlange für die Sicherheitskontrolle, außer uns. Während Claire, Megan und die Jungs schon relativ weit vorn in der Schlange standen, hatten wir uns zu Cass und Nell nach ganz hinten gestellt. Cass schenkte Kaylee kurz ein Lächeln und zeigte mir ihre kalte Schulter. Nell verhielt sich so wie immer und streckte mir meine Tasche entgegen. Ich nickte ihr dankend zu, da ich noch immer sprachlos war. Es machte mich echt fertig, dass Cass es so erfahren hatte.

Irgendwann öffneten die Sicherheitsleute eine weitere Sicherheitsschleuse, sodass sich unsere Schlange auf die zwei Schleusen verteilte und wir recht schnell nach vorne kamen. Gerade als wir unser Handgepäck auf das Laufband des Scanners legten, gingen parallel neben uns Claire und Will durch die Körperscanner. Bei Will piepste der Apparat und Jason, der schon wieder seine Tasche nahm, scherzte: »Hey, Will, du hast mir gar nicht erzählt, dass du kriminell bist. Und das nach jahrelanger Freundschaft.« Will lachte, während er sich von einem Sicherheitsbeamten abtasten lies. Ich musste auch schmunzeln, doch Cass sah mich bitterböse an. Dieser zweite Satz von Jason war es, der Cass zum Brodeln brachte, das war mir bewusst. Ich hätte es ihr sagen sollen, schon vor Jahren. Doch jetzt musste ich mit den Konsequenzen leben.

Im Flugzeug angekommen setzte sich jeder an den Platz, der ihm zugewiesen war. Es war mit einem Gang in der Mitte und insgesamt etwa hundert Plätzen deutlich kleiner als die Maschine, mit der wir nach Los Angeles gekommen waren.

Ich ging zu meinem Platz ganz hinten und um ehrlich zu sein, war ich froh, nicht neben Cass zu sitzen und mich rechtfertigen zu müssen. Stattdessen saß ich zwischen Claire und Nell, die sich den Fensterplatz gekrallt hatte. Der Platz neben ihr kam mir da gerade recht. Nell war eher der ruhigere Typ. Sie war intelligent und immer, wenn man einen Rat wollte, kam man zu ihr. Außerdem liebte sie die Natur und konnte es kaum erwarten, in Hawaii die bunte Unterwasserwelt zu genießen.

Neben mir befand sich der Gang und auf der anderen Seite saß Claire neben einem Mädchen in unserem Alter mit weißblonden Haaren. Nell wandte sich zu mir und fragte: »Hast du Kaugummi?« Natürlich hatte ich keinen. Claire hatte die Frage ebenfalls gehört und streckte mir einen entgegen, den ich an Nell weiterreichte. »Was ist eigentlich mit Cass los? Sie wirkt so anders, wütend irgendwie«, wollte Claire wissen. »Keine Ahnung. Mir ist nichts aufgefallen«, log ich. »Du warst doch vorher mit ihr unterwegs. Ist da was passiert?«, fragte sie erneut. Sie schien sich ja echt Sorgen zu machen. Ich schüttelte den Kopf und hoffte, sie würde mich nicht weiter mit Fragen löchern, was sie zum Glück nicht tat.

Die Triebwerke starteten und das Flugzeug bewegte sich Richtung Rollfeld. »Jetzt geht’s los!«, rief einer der Typen, die vor Claire saßen, dem weißblonden Mädchen zu. Der eine am Gang hatte ein Fußballtrikot an und sein Kumpel trug eine Baseballkappe. Die drei schienen sich zu kennen und ebenfalls einen Ausflug unter Freunden zu machen.

Vor mir saßen Jason und Will und redeten über Basketball. Simon, der mit Megan vor ihnen saß, beteiligte sich an ihrem Gespräch. Cass und Kaylee hatten sich in ihrem Sitz etwas gedreht, um mit Megan hinter ihnen zu plaudern, wobei sich Cass nicht wirklich daran beteiligte. Als sich unsere Blicke zwischen den Sitzen trafen, sah sie schnell weg. Ich fühlte mich echt mies deswegen. Wie konnte ich nur so dumm sein und mein Geheimnis so lange mit mir herumtragen, ohne es mit meiner besten Freundin zu teilen? Das Flugzeug hob ab.

Ich schloss die Augen und tat so, als ob ich dösen würde. Dabei dachte ich an all die schönen Dinge, die ich mit Cass erlebt hatte. Vor einigen Jahren war ich mir sogar sicher, ich müsste es ihr erzählen, doch ich hatte zu lange gezögert. Einige Wochen darauf war Cass’ Mutter an Krebs gestorben und ich wollte sie nicht mit noch einer schwerwiegenden Nachricht belasten. Dass ich ihr es nicht damals vor dem Tod ihrer Mutter erzählt habe, bereute ich bis heute.

Einige Zeit später holte mich Nell aus meinen Gedanken: »Sorry, dass ich dich wecke, aber möchtest du was trinken? Die Stewardess kommt gleich.« Ich rieb mir die Augen und sah auf. Die Stewardess stand schon relativ in der Mitte des Flugzeugs. Wir saßen ganz hinten und würden wohl noch kurz auf die sie warten müssen.

»Meine Damen und Herren, wir befinden uns jetzt im Luftraum westlich von California über dem Pazifik. Verbleibende Flugzeit noch etwa vier Stunden und achtzehn Minuten. Aktuelle Uhrzeit am Zielort: 4.17Uhr. Voraussichtliche Ankunft etwa 10.35Uhr.« Nell neben mir seufzte. Die Gespräche vor uns waren immer noch im Gange, bloß hatte sich das Thema von Basketball zu Fußball geändert. Claire neben mir unterhielt sich jetzt mit der Blonden und ihren zwei Freunden.

Nach wenigen Minuten kam die Stewardess mit ihrer rollenden Theke neben uns und fragte, ob wir etwas zu essen oder zu trinken wollten. Nell bestellte ein Wasser. Claire einen Orangensaft. Ich nahm nichts. Als ich mich gerade wieder halbdösend in meinen Sitz lehnte, kam die Stewardess grinsend zurück. Sie drückte mir eine Cola in die Hand. »Ich hab nichts bestellt«, erwiderte ich. »Oh, Schätzchen, ich weiß, aber der äußerst attraktive junge Herr dort« – sie zeigte auf einen wirklich gutaussehenden Typen, der vor dem mit der Baseballkappe saß und mich angrinste – »bat mich, Ihnen dieses Getränk zu geben mit den Worten, ich zitiere: ›Geben Sie doch bitte dieser schlafenden Schönheit eine Cola‹.« Ich wurde rot. Nell verschluckte sich an ihrem Wasser und Claire starrte mich an. »Na, dieser Urlaub fängt ja schon gut an!«, meinte Claire dann. Man konnte ihr aber ansehen, dass sie vor Neid platzte. Ich bot ihr meine Coke an. Sie nahm sie dankbar an und winkte dem Typ zu. Dieser jedoch drehte sich weg, als er Claire mit der Cola in der Hand sah. Ich stöhnte und lehnte mich zurück. Ich musste noch etwa sechs Stunden durchhalten und dann würde ich mich im Hotel an den Pool legen und dort entspannen.

Um noch etwas zu schlafen, stopfte ich mir Ohrstöpsel in die Ohren und schloss die Augen. Nach wenigen Minuten war ich tatsächlich eingeschlafen.

Durch eine Erschütterung wurde ich wach. Eine Frau weiter vorne im Flugzeug schrie auf. Plötzlich brach lautes Gemurmel aus.

»Was ist los?«, fragte ich Nell. Sie starrte mich geschockt an und zeigte aus dem Fenster. Draußen waren durch den peitschenden Regen Rauchschwaden zu sehen. Das konnte schon mal nichts Gutes bedeuten. Das Triebwerk am rechten Flügel unseres Flugzeugs sah übel aus, schien aber noch zu funktionieren. Grelle Blitze leuchteten immer wieder auf. Eine Durchsage folgte: »Wir haben einen technischen Defekt und werden daher notlanden müssen. Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren und die Schwimmweste, die unter ihrem Sitz angebracht ist, vorsichtshalber anzulegen.« Das Gemurmel wurde nur noch lauter, aber jeder tat wie geheißen und legte die Weste an. Claire neben mir versuchte sichtlich nicht in Panik auszubrechen. Nell war vergleichsweise ruhig und sah angespannt aus dem Fenster. Der Typ im Fußballtrikot versuchte seine blonde Freundin zu beruhigen. Die Stewardess rannte herum und kontrollierte, ob alle ihre Westen angelegt hatten. Wenn nicht, dann half sie jedem, der noch Hilfe brauchte. Eine weitere Erschütterung war zu spüren. Das Triebwerk explodierte. Nun konnte der Pilot das Flugzeug nur noch schlecht halten und wir gingen in einen holprigen Sinkflug über. Sauerstoffmasken fielen aus den Fächern über uns. Das Licht begann zu flackern und aus dem Gemurmel wurden regelrechte Panikschreie. Nell hob sich mit beiden Händen an der Armlehne zwischen uns. In Claires Gesicht spiegelte sich Todesangst wider und ihr schossen Tränen in die Augen. Aus unserem leichten Sinkflug wurde ein regelrechter Sturzflug. Ich wusste nicht, wie lange wir uns in diesem Zustand befanden, jedenfalls fühlte es sich an wie Stunden.

Alle schrien wild durcheinander.

Dann wurde alles schwarz.

2 Olivia

Ich wachte auf. Mein Gesicht war voller Sand und ich spürte Wasser an den Füßen. Ich konnte Meeresrauschen hören. War das ein Traum? Ich öffnete die Augen, sah aber nur verschwommen. Nach ein paarmal Blinzeln konnte ich wieder klar sehen. Ich wollte mich aufrichten, konnte aber nicht. Wie benommen lag ich da.

Ich brauchte Blut! Immerhin konnte ich den Kopf heben, um mich umzusehen. Neben mir lagen weitere Menschen. Ich wusste nicht ob verletzt oder tot, jedenfalls schlugen meine Vampirsinne Alarm. Ich roch es. So viel Blut. Sein starker metallener Geruch erfüllte die Luft. Es rief nach mir, denn ich roch nur noch Blut. Jeder Tropfen verströmte ihn, den unwiderstehlichen Duft meiner Nahrung.

Als ich mich gerade mit meiner letzten Kraft dem Verlangen hingeben wollte, trat jemand in mein Blickfeld. Die Person kam auf mich zu und bückte sich zu mir herunter. Ich sah hoch und musste feststellen, dass es der letzte Mensch auf dem Planeten ist, den ich jetzt sehen wollte. »Hallo, Schönheit«, begrüßte er mich und grinste. Ich wurde sofort wieder rot. »Ich bin Wayne«, stellte er sich vor und drückte mir einen Strohhalm in den Mund.

»Trink das, dann geht es dir besser.« Na toll, jetzt auch noch Asche im Mund. Aber wenn ich nichts annehmen würde, wäre das schon irgendwie verdächtig. Also zog ich am Strohhalm und war überrascht. Ich schmeckte Blut und es schmeckte so gut, wie ich es schon lange nicht mehr getrunken hatte. Langsam spürte ich die Kraft in meinen Körper zurückfließen. Es war nicht genug, aber es reichte aus, um mich langsam aufzurichten. Mein tiefes Verlangen war zwar noch nicht gestillt, aber ich konnte nun wieder an etwas anders als Blut denken. »Woher weißt du…?«, fragte ich Wayne verwirrt. »In dem Café, in dem ihr wart. Am Flughafen. Da war ich auch. Du hast dein Getränk ja nur schwer herunterbekommen. Der Streit mit deiner Freundin. Die helle Haut. Es hat alles gepasst«, erwiderte er leise und half mir auf die Beine.

Ich sah ihn kurz misstrauisch an, beschloss dann aber nicht darauf einzugehen, dass er mich beobachtet hatte. Jetzt konnte ich ihn endlich genau betrachten. Er hatte braune Haare und ebenso makellose Haut wie ich. An seinem Arm trug er eine alte Uhr und ein Lederarmband. Mit seiner kurzen weiten Hose und dem sportlichen T-Shirt sah er lässig und trotzdem cool aus. Mein Verdacht bestätigte sich, als er den Rest aus dem Becher mit dem Strohhalm trank. Er war ebenfalls ein Vampir.

»Was genau ist passiert?«, platzte ich heraus, als ich mich so umsah. »Beim Aufprall gab es eine riesige Explosion im vorderen Bereich des Flugzeugs. Sie hat alle, die im vorderen oder mittleren Teil saßen, sofort getötet. Ich verbringe gerade meine Zeit damit, Leichen und Verletzte herauszutragen und weit genug vom brennenden Wrack in den Sand zu legen«, begann er zu berichten, doch ich unterbrach ihn: »Wo sind die Überlebenden?« Ich hatte Angst, dass einer meiner Freunde es nicht geschafft hatte. Er zeigte in eine Richtung und wollte noch etwas sagen, aber ich war schon unterwegs. Ich bahnte mir meinen Weg durch verbrannte leblose Körper. Angst und Unbehagen stiegen in mir auf. Was ist, wenn meine Freunde es nicht geschafft haben?

Der Sand war heiß und ich nahm zum ersten Mal die Umgebung richtig wahr. Links neben mir befand sich dichter Dschungel mit hohen Bäumen und anderen verschiedenen Pflanzen. Rechts von mir war eine wunderschöne Bucht, die in den Ozean mündete. Das Einzige, was störte, war das Flugzeugwrack, von dem schwarze dicke Rauchwolken ausgingen. Das Heck lag im Wasser, während das Vorderteil einige Dschungelbäume niedergemäht hatte. Der mittlere Teil lag quer auf dem Strand und versperrte mir den Weg auf die andere Seite. Vor dem Wrack auf meiner Seite hatte Wayne wohl die ganzen Verletzten in Sicherheit gebracht. Zu meinem Entsetzen konnte ich diese an einer Hand abzählen. Irgendwo unter ihnen erkannte ich Nell, Claire und Jason. Ich rannte zu ihnen und kniete mich neben sie in den Sand. Jason stöhnte und richtete sich langsam unter Schmerzen auf. Als er mich sah machte er ein lächelndes Gesicht. Ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen. »Wie geht es dir, Jase?«, fragte ich, als wir uns wieder lösten. »Könnte besser sein«, erwiderte er matt und deutete auf sein Bein. Ein riesiger tiefer Kratzer zog sich von seinem Knöchel bis zum Knie hinauf. Blut, rief mein inneres Verlangen wieder. Kurz starrte ich nur auf seine Wunde, bis ich den Gedanken an Blut weiter in den Hintergrund schieben konnte. »Alles okay? Bist du verletzt?«, wollte er dann wissen. Natürlich hatte ich keine Verletzungen. Vampire waren da recht zäh.

Und hätte ich Kratzer gehabt, dürften diese auch schon verheilt sein, dank dem Blut, das mir Wayne gegeben hatte. »Ich glaube ich habe mir die Schulter geprellt und mein Arm tut auch höllisch weh«, log ich und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich hatte Glück, denn Jason kaufte mir meine Lüge ab. Er schien unter Schock zu stehen.

Plötzlich vernahmen wir eine schwache Stimme: »Wo sind wir?« Es war Claire. Schnell schritt ich zu ihr und ließ mich nieder. Sie lag vom Schmerz gekrümmt im Sand. Der Anblick war nicht schön, aber ich war froh sie so zu sehen, anstatt tot. Als sie mich sah, lächelte sie. Ich half ihr sich zu setzen, doch sie tat sich schwer. Eine Hand drückte sie sich auf die Rippen. »Verdammt tut das weh!«, stöhnte sie. Als Claire schließlich neben mir und Jason saß, betrachtete sie die nahe Umgebung und sah die vielen Toten und Verletzten. Ihr Gesichtsausdruck wechselte schlagartig.

Sie schaute uns voller Angst an und fragte: »Wo sind die anderen?« Tatsächlich fehlten Simon, Megan, Will und Kaylee. Und Cass. Sofort sprang Jason mit schmerzerfülltem Gesicht auf. »Sie sind noch im Flugzeug!«, rief Jason und humpelte los. Schnell folgte ich ihm, um ihn zu stützen. Er sah mich dankbar an. »Jase, bleib hier! Du kannst kaum laufen«, meinte ich dann. Er wollte mir widersprechen, sah dann aber ein, dass er wohl keine große Hilfe darstellen würde. Er blickte noch einmal zu mir, als er sich abwandte und meinte leise: »Oliv, da gibt es noch etwas, das ich loswerden will…« »Ich bin mir sicher, das hat noch etwas Zeit«, erwiderte ich und sprintete los zum Wrack.

Vampire konnten übernatürlich schnell sein. Dad nannte es immer ›Flashen‹. Ich dachte immer, weil er zu viele Superheldenfilme gesehen hatte, aber es hatte sich herausgestellt, dass es eine der offiziellen Bezeichnungen dafür war. Ich wusste nicht, ob es einen einheitlichen Begriff dafür gab. Jedenfalls war Flashen nur auf kurze Strecken und nach genügend Konsum von Blut möglich. Letzteres hatte ich jedoch nicht und so musste ich in meinem normalen Tempo rennen.

Je näher ich kam, desto mulmiger wurde mir, da mir erst jetzt die Ausmaße des Absturzes bewusstwurden. Ich näherte mich der abgebrochenen Tragfläche. Dort, wo sie eigentlich hätte befestigt sein sollen, war das Flugzeug beim Aufprall wohl auseinandergebrochen. Der Spalt war jedoch zu klein, um ins Innere zu gelangen. Beim Versuch ihn etwas weiter mit Vampirkraft zu vergrößern, schnitt ich mich an einer scharfen Kante und das Teil bewegte sich keinen Millimeter. Ich war noch zu schwach.

Inzwischen war ich von Rauch umgeben und konnte nicht mal mehr bis zu Jason sehen. Das Einzige was ich sah, war die rußige Außenwand des Flugzeugs. Anhand dieser tastete ich mich langsam in Richtung Bug vor. Auf Höhe des Cockpits ging der sandige Boden schließlich in Matsch über und auch der Rauch wurde immer dichter. Als ich schließlich ganz vorne angekommen war, hörte ich Stimmen von der anderen Seite des Flugzeugs.

Einen Moment später schon trat ich komplett aus dem Rauch auf den Strand und sah dort vier Personen. Zwei davon lagen im Sand und ich befürchtete schon das Schlimmste, als ich auf sie zu steuerte. Eine Person war Simon, der sich gerade umdrehte als ich kam. Er schien erfreut mich zu sehen, doch sein Blick war ernst.

In seinen Augen lag Trauer und ich begriff sofort. Megan lag im Sand. Ihre Haare waren völlig verklebt mit Blut. An ihrem linken Arm hatte sie eine großflächige Brandwunde. Es musste sie stark getroffen haben, denn auch ihr linkes Bein war verletzt.

Neben Megan war Kaylee. Diese lag unnatürlich krumm da. Beide waren bewusstlos.

Will kniete dicht bei Kaylee im Sand und versuchte ihre Wunden zu säubern. Er sah nur kurz auf, als ich kam. Doch wir waren noch nicht vollständig. Ich musste nicht lange überlegen, eine fehlte noch. »Wo ist Cass?«, fragte ich aufgebracht. Nach kurzem Zögern sah Will erneut auf und schüttelte den Kopf. Ich spürte die Tränen in mir aufsteigen. »Sie steckt im Flugzeug unter einem Teil fest. Wir konnten ihr nicht helfen«, erklärte Simon und sah mich mit trauriger Miene an.

Dann lief eine Kettenreaktion in meinem Gehirn ab. Als eine der wenigen Überlebenden, die beim Absturz nicht verletzt wurde, war ich die Einzige, die Cass jetzt noch retten konnte. Allerdings würde meine Tarnung auffliegen. Das war im Moment ein eher kleineres Problem. Doch um das Flugzeugteil anzuheben, benötigte ich Kraft und das bedeutete Blut, viel Blut.

»Es tut mir leid!«, sagte ich auf einmal. Will sah mich verwirrt an. »Was tut dir leid?«, fragte Simon. »Das!«, meinte ich und stürzte mich mit Vampirtempo auf ihn. Ich verbiss mich an seinem Hals. Er war völlig überrumpelt. Will kam ihm zur Hilfe.

»Was zur Hölle? Ich wusste es«, rief dieser, aber in meinem Rausch nahm ich ihn nicht wahr. Wieder erfüllte der bezaubernde Geschmack von Blut meinen Mund. Ich sog so lange bis ich mich kräftig genug fühlte. Jedoch befahl mir mein Verlangen noch mehr zu trinken. Blut. Ich kämpfte gegen meine Begierde an und riss mich erfolgreich von Simon los, der unter mir immer schwächer geworden war.

Mit Vampirtempo raste ich zum Flugzeug zurück. Hinter mir fiel Simon bewusstlos in den Sand. Es hörte sich hart und kalt an, aber im Moment war mir das egal. Ich wollte nur noch Cass retten.

Auf dieser Seite des Wracks war es deutlich einfacher, hineinzugelangen. Hier war die Spalte an der Bruchstelle im Mittelteil etwas größer, sodass ich hineinklettern konnte. Im Inneren stank es nach verbranntem Fleisch und Rauch. Alles war voller Ruß. In den Sitzen direkt links von mir waren noch Menschen. Es musste eine Familie gewesen sein. Am Fenster saß wohl ein Kind, dessen Leiche mich nun mit offenem Mund vor Angst anzuschreien schien. Die Mutter saß im Sitz daneben und man konnte sehen, dass ihre verbrannte Hand die Hand der männlichen Leiche neben ihr umklammerte. Ich ertrug es nicht länger mich hier umzusehen, aber ich musste, ich würde Cass sonst nicht finden. Im Mittelgang traf ich Wayne, der gerade einen weiteren Körper nach draußen trug. Ich wusste nicht, ob diese Person noch lebte oder nicht. Jedenfalls hatte ich kurz Hoffnung, dass es Cass war.

Doch mein Verstand führte mir vor Augen, dass es sich dabei nicht um Cass handeln konnte, da sie mit uns hinten gesessen war. Wayne kam von vorne. Wie benebelt drehte ich mich um und rannte in Vampirtempo zu den Plätzen, die Cass und Kaylee gehört hatten. Und dort fand ich sie auch, festgeklemmt unter ihrem Vordersitz, der sich beim Aufprall aus seiner Halterung gelöst hatte und nun auf Cass’ Füßen lag. Ich räumte also alle Teile aus dem Weg, sodass ich genug Platz hatte, um richtig an sie heranzukommen. Mit meiner Vampirkraft war das kein Problem.

Eines nach dem anderen nahm ich in die Hand und warf sie weg wie Kissen.

Als ich schließlich direkt neben ihr stehen konnte, sah ich ihre schwere Verletzung. Ein spitzes Metallteil hatte sich in ihren Bauch gebohrt. Ich würde es nicht herausziehen können, ohne dass Cass verblutete. Wenn ich es jedoch nicht entfernen würde, konnte die Wunde nicht richtig heilen. Kurzerhand beschloss ich, sie erst von allem loszubekommen, sodass ich sie später heraustragen konnte. Während ich mich um den Sitz kümmerte, hörte ich Cass auf einmal mit röchelnder Stimme. »Ich wusste, dass du nicht normal bist.« Schnell wandte ich mich Cass zu. »Ich hole dich hier heraus!«, versicherte ich und fing an, den Gurt, mit dem sie immer noch angeschnallt war, abzureißen. »Du…du bist ein Vampir, oder?«, fragte sie leise und riss die Augen auf, als sie meinen mit Blut verschmierten Mund sah. »Spar deine Kraft!«, erwiderte ich. Ich wünschte, ich hätte es ihr gleich als sie am Flughafen sauer geworden war, erzählt. Doch wegen meiner Sturheit musste sie es nun hier unter diesen Umständen erfahren.

Endlich hatte ich sie ganz von anderen Behinderungen befreit und nahm sie langsam und vorsichtig hoch, um zurück nach draußen zu gehen. Bei jeder größeren Bewegung, die ich machen musste, um den Spalt wieder zu erreichen, ächzte sie unter den Schmerzen. Als ich schließlich draußen war, verlor sie das Bewusstsein. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich vom Flugzeug entfernte, wurde ich schneller. Ich legte sie dann neben Kaylee, Megan und Simon. »Du bist ein Monster!«, rief Will und wollte sich auf mich stürzen. Ich wich jedoch schnell aus und flashte mit meinem Vampirtempo hinter ihn. »Ich will dir nicht wehtun!«, rief ich. »Und was ist mit Simon?«, fragte er. In meiner ganzen Sorge um Cass hatte ich Simon völlig vergessen. Dieser lag ein bisschen entfernt von Megan und Kaylee.

Aus Moms Erste-Hilfe-Kurs für Menschen wusste ich wie ich alle menschlichen Verletzungen behandeln konnte. Man tropfte den Verletzten Vampirblut in den Mund. Je nach Stärke der Verletzung mehr oder weniger. Die Heilung war jedoch abhängig von der Menge des menschlichen Blutes, das der Vampir, dessen Blut als Heilmittel verwendet wird, zuvor getrunken hatte. Hier gilt: Je mehr, desto wirksamer. Jedoch muss man bei diesem Verfahren äußerst vorsichtig vorgehen, denn das verabreichte Vampirblut darf nur im Verdauungstrakt des jeweiligen Verletzten sein. Wenn aber Vampirblut in menschliche Blutbahnen gelangen würde, würde sich der Verletzte in einen Vampir verwandeln.

Ich tröpfelte Simon schließlich ein paar Tropfen von meinem Blut in den Mund. Dann ging ich weiter zu Kaylee und Megan, während ich inständig hoffte, dass sie keine inneren Verletzungen hatten. Inzwischen war Megan wieder bei Bewusstsein, jedoch rührte sie sich nicht. »Sag Simon, dass ich ihn liebe!«, krächzte sie, als ich gerade Kaylee behandelte. Ich kroch zurück an Megans Seite. »Nein, du sagst es ihm selber. Du darfst nicht sterben«, flüsterte ich ihr verzweifelt zu. Ich tropfte erneut etwas Blut in ihren Mund. Plötzlich wurde ich von hinten gepackt. »Du hast genug angerichtet! Sie was du mit Simon getan hast, du Monster!«, rief Will entrüstet. Er warf mich in den Sand. Ich hätte mich wehren können, aber etwas hinderte mich daran. »Es tut mir leid. Aber ich habe keine andere Lösung gefunden, um Cass zu retten. Ohne mich hätten wir sie verloren!«, schrie ich ihn an. Doch dann kamen wieder meine Schuldgefühle hoch, die ich, seit ich aufgewacht war, erfolgreich verdrängt hatte. Doch Will setzte noch einen drauf: »Wieso liegt Cass dann im Sterben? Sie hat ein verdammtes Bruchstück im Bauch und du sagst mir du hättest sie gerettet!« – er machte eine kurze Pause – »Ich hätte wissen müssen, dass man euch Blutsauger nicht trauen kann.«

Jetzt war ich verwirrt. Wusste er etwa schon vorher, dass es Vampire gab? Wieso hat er das nie zur Sprache gebracht? Das hätte es mir leichter gemacht mein Geheimnis mit der Clique zu teilen. Doch er hatte Recht. Noch hatte ich Cass nicht gerettet. Sie war zwar nicht mehr in diesem Flugzeug, aber noch nicht außer Lebensgefahr. Ich würde das Teil in ihrem Bauch Stück für Stück entfernen müssen, ohne dass sie verblutet oder die Wunde nicht heilen konnte.

Dunkelrotes Blut rann über meine Hand und tropfte in den Sand. Ich bewegte mich schnell auf Cass zu. Als ich bei ihr war, war ich bereit ihr mein Blut zu geben. Doch Will stieß mich von ihr weg. Dann sah ich alles wie in Zeitlupe. Das Blut von meiner Hand flog in einem leichten Bogen in die Luft. Es spaltete sich in verschiedene Tropfen auf. Und genau einer landete ausgerechnet in Cass’ Wunde.

»Nein!«, rief ich und stieß Will aus dem Weg. Schnell flashte ich zurück zu Cass und tropfte ihr mein Blut in den Mund. Ich wollte nicht, dass Cass’ ein Vampir wird. Jedenfalls nicht ohne ihre Einwilligung. »Was hast du getan!?«, schrie ich Will an.

So sehr mich der Gedanke auch anwiderte. Ich musste mein Blut aus ihrer Blutbahn entfernen. Ich fing an von ihrem Blut zu trinken. Blut! Mein inneres Verlangen meldete sich wieder. Es wollte mehr. Ich sog und meine Kraft wuchs. Aber irgendwann konnte mein Hunger nicht mehr gestillt werden. Mein Blut hatte sich zu schnell mit Cass’ gemischt. Das wusste ich, da es mich nicht mehr sättigte. Ich konnte mein Blut nicht mehr aus ihr saugen. Cassandra würde sich nun in einen Vampir verwandeln.

Ohne dass ich es gemerkt hatte, war Will von hinten gekommen und hatte mir etwas kleines Spitzes in den Rücken gestochen. Ich wusste nicht, was es war, aber als ich mich umdrehte, sah ich ihn eine leere Spritze halten. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht zulassen, dass ein Blutsauger meine Freunde umbringt«, meinte er ruhig und funkelte mich böse an. »Dieses Gift wird dich innerhalb kürzester Zeit unschädlich machen!«, fügte er selbstsicher hinzu. Was war nur mit Will geschehen? Er war völlig verändert. Es war, als würde ich ihn nicht mehr kennen. Woher hat er die Spritze? Seit wann wusste er über Vampire Bescheid? Und diese verächtliche Art wie er uns Blutsauger nennt. Warum hatte er so einen extremen Hass auf Vampire?

Die Einstichstelle an meinem Rücken brannte. Was war das für ein Gift? Wieso hatte ausgerechnet Will es? Es schwirrten so viele Fragen in meinem Kopf. »Wieso tust du das? Ich wollte Cass helfen!«, krächzte ich, als ich merkte wie meine Kraft mich verließ. Mir wurde schummrig und ich fiel auf die Knie. Will kam näher und sah zu mir herunter. »Weißt du, ich dachte du wärst anders. Aber ihr seid alle gleich. Unberechenbar und gefährlich. Deshalb habe ich mich einer Organisation angeschlossen, die dafür sorgt, dass ihr zerstört werdet.« Er erzählte noch mehr, aber ich bekam nur die Hälfte mit, denn das Gift verbreitete sich in meinem Körper und sorgte dafür, dass ich nicht mehr klar denken konnte. »Die Cadelani werden sich wieder erheben!«, beendete Will seine Rede, doch ich registrierte es nur nebenbei. Ich lag inzwischen wie betäubt vor ihm im Sand und hatte starke Schmerzen. Mein Körper fühlte sich einfach nur an, als würde ich gerade lebendig geröstet werden. Mein Kopf hatte so einen enormen Druck, dass ich glaubte, er würde gleich platzen. So wollte ich nicht sterben.

Ich war unfähig irgendetwas zu tun. Doch mein Körper kämpfte dagegen an. Ich spürte die Kraft zurück in meinen Körper fließen.

Irgendwie hatte er es geschafft, sich vom Gift zu regenerieren. Als ich stark genug war, erhob ich mich langsam wieder und stand nun direkt vor Will. Ich beachtete ihn nicht, denn ich starrte auf meine verletzte Hand. Die Wunde, die ich mir vorher selbst zugefügt hatte, schloss sich in Sekundenschnelle. Ich hatte keine Ahnung, warum sie so schnell heilte, denn normalerweise dauerte es wenige Stunden. »Wie…wie ist das möglich?«, stammelte Will neben mir tonlos. Er hatte kurz zuvor gesagt, dass mich das Gift umbringen würde, doch ich fühlte mich wie neu geboren.

So viel Kraft floss nun durch meine Adern. Das Gift hatte mich nur kurz geschwächt und dann stärker gemacht.

Meine Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Ich hörte alles im Umkreis von einer Meile, sah so scharf wie nie zuvor und hörte von hier den Atem von Jason auf der anderen Seite des Wracks.

Doch ich war nicht mehr ich selbst, denn ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Blut! Ich sah meine Umgebung, ich sah Kaylee. Ich stapfte durch den Sand zu meinem wehrlosen Opfer, doch Will stellte sich mir in den Weg. Mit einer einfachen Handbewegung schlug ich ihn aus dem Weg und er flog einige Meter über den Strand. Die Kraft in mir war berauschend, wie eine Droge. Jetzt war der Weg frei und ich flashte den Rest. Kaylee lag ungeschützt neben Megan. So zerbrechlich. Blut!

Wild vom Blutdurst stürzte ich mich auf sie. Das warme klebrige Blut erfüllte meinen Mund mit einem köstlichen Geschmack.

Es war ein Genuss und ich war so lebendig wie schon lange nicht mehr. Leider war dieses Gefühl von Macht viel zu schnell vorbei.

Als Kaylee blutleer war, wandte ich mich Megan zu. Doch noch bevor ich ihr Blut schmeckte, kam ich wieder zu mir. Ich konnte endlich wieder normal denken. Bei Kaylees Anblick erschrak ich und ließ sie schnell los. Jetzt erst wurde mir klar, was ich getan hatte. Aber es war zu spät. Was hatte dieses Gift nur mit mir angestellt?

3 Olivia

Ich saß inmitten von bewusstlosen Freunden und einer Toten. Der Grund dafür war ich, wie mir jetzt wieder bewusst wurde. Ich hatte Will einige Meter über den Strand geschleudert. Dann hatte ich versucht Cass zu retten und es nicht geschafft, sondern nur schlimmer gemacht. Nur Megans Zustand war nicht mein Verdienst. Das war dieser verdammte Flugzeugabsturz.

Doch am meisten bereute ich, dass ich Kaylee einfach ermordet hatte. Als mir Will dieses Mittel injiziert hatte, wurde mir zuerst so übel, dass ich wirklich dachte, ich würde es nicht überleben.