Kim Stanley Robinson. Erzähler des Klimawandels - Fritz Heidorn - E-Book

Kim Stanley Robinson. Erzähler des Klimawandels E-Book

Fritz Heidorn

0,0

  • Herausgeber: Hirnkost
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Durch Geschichten schaffen wir Bedeutung, also sind die Geschichten, die wir uns erzählen, wichtig." Kim Stanley Robinson Mit "Das Ministerium für die Zukunft" von Kim Stanley Robinson erschien 2021 ein Roman, der wie kein anderer Fiktion und Realität zusammenbringt. Schon viele Jahre beschäftigt sich der Autor mit dem Klimawandel, ist mit seinen Science-Fiction-Szenarien so nah am Puls der Zeit wie kaum ein realistischer Roman und gibt seinen Leserinnen und Lesern mögliche Zukünfte und kreative, aber auch wissenschaftlich fundierte Ideen an die Hand, um das Beste für unsere Zukunft daraus zu ziehen. Gemeinsam mit dem Klimahaus Bremerhaven und dem Autor Fritz Heidorn entstand die Idee zu einem abwechslungsreichen Porträt über den Erzähler des Klimawandels, das durch zehn exklusiv für dieses Buch ins Deutsche übertragene Kurzgeschichten ergänzt und durch einen Zustandsbericht über die Klimalage in Deutschland abgerundet wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 429

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kim Stanley Robinson – Erzähler des Klimawandels

Originalausgabe

© 2022 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

[email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage März 2022

Die Veröffentlichung der Kurzgeschichten von Kim Stanley Robinson erfolgte mit freundlicher Genehmigung der LOTTS AGENCY LTD, Brooklyn/New York. Die einzelnen Rechteinhaber bzw. Quellen der englischsprachigen Originalveröffentlichungen werden im Anhang genannt.

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Lektorat: Melanie Wylutzki

Layout: benSwerk

Druck: Druckerei Lokay e. K., Reinheim

ISBN:

print: 978-3-949452-31-4

epub: 978-3-949452-32-1

pdf: 978-3-949452-33-8

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren:https://shop.hirnkost.de/

Dieses Buch wurde klimaneutral gedruckt.

Höchste ÖkoeffektivitätCradle to Cradle® zertifizierteDruckprodukte von Lokay

Heidorn • Robinson

Kim Stanley Robinson –Erzähler desKlimawandels

Dieses Buch ist aus einer Zusammenarbeit zwischen den Autoren, dem Verlag und dem Klimahaus Bremerhaven hervorgegangen. Es stellt den Versuch dar, Science-Fiction-Literatur zum Klimawandel mit der Präsentation der Geschichte und den zukünftigen Auswirkungen des Kli-mawandels, wie diese im Klimahaus präsentiert werden, zu verbinden. Ziel ist es, Menschen aller Altersgruppen für das Thema »Auswirkungen des Klimawan-dels« zu sensibilisieren. Literatur öffnet die Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser, das Klimahaus zeigt Mög-lichkeiten für die Besucherinnen und Besucher auf, um die Aus-wirkungen des menschenge-machten Klimawandels zu verstehen und ihnen zu begegnen.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Ein Liebesbrief an den Planeten

In die Zukunft reisen

VERBINDUNGEN

Vorbemerkung

Schriftsteller und Leser – Leserinnen und Schriftstellerinnen

Verbindungen

Interkulturelle Diskurse über Gewalt und Gewaltlosigkeit

Zukunft

KLIMAWANDEL GESTERN UND HEUTE

Gestern

Heute

Klimawirkungs- und Risikoanalyse in Deutschland

Hitzewellen und Starkregen

Andere Zeiten, anderes Handeln

Internationale Klimawandel-Forschung

Klimawandel und Literatur

Erzählungen zum Klimawandel

Science-Fiction als Realismus unserer Zeit

Story: Das versunkene Venedig

KIM STANLEY ROBINSON – DER MENSCH UND SEIN WERK

Über Kim Stanley Robinson

Prägung

Story: Gratlauf

Das Narrativ persönlicher Erfahrungen von Extremsituationen

Die Kontroverse über John Muir

Story: Muir auf Mount Shasta

EINFÜHRUNG IN DIE WERKE VON KIM STANLEY ROBINSON

Kriterien zur Einordnung der Werke von Kim Stanley Robinson

Das Denken des Unmöglichen

Transparenz, Transzendenz und Handlungsanregung

Denkvergnügen

Wissenschaft als utopischer Weg

MOTIVE IN KIM STANLEY ROBINSONS WERK

Musik, Kunst und Kultur

Story: Rückkehr nach Dixieland

Story: Der Paukist der Berliner Philharmoniker, 1942

Wissenschaft und Natur

Story: Gletscher

UTOPIE

Eine Geschichte der Utopie

Erzähler der Utopie

Story: Dystopien – jetzt!

Die MARS-Trilogie

Story: Die Entdeckung des Lebens

Utopischer Raum Antarktis

Wissenschaft und Politik

Story: Der entfesselte Prometheus, endlich (und keine Sekunde zu früh)

Blick in die Vergangenheit und in andere Kulturen

Story: Der Traum von Vinland

Der politische Gegenwartsschriftsteller

Der Erzähler des Klimawandels

Essay: Mein Interesse am Klimawandel

Leben in einem Science-Fiction-Roman

New York 2140

Roter Mond

Das Ministerium für die Zukunft

Ein literarisches Gespräch

Eine Ausstellung erzählt vom Klima

ANHANG:

Literatur und Quellen

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Stichwortverzeichnis

VORWORT

Visionen zu Realität, Hoffnungen zu Wirklichkeit, Zukunft zur Gegenwart – Über die Entstehungsgeschichte und das Vermittlungskonzept des Klimahauses Bremerhaven

Arne Dunker

Gegenwart – was ist das schon? Dieser winzig kleine Moment zwischen fünf Milliarden Jahren Erdgeschichte und einer womöglich noch längeren Zukunft. Eine Minute, ein Tag, ein Jahr, in dem sich alles vereint. Alles Ererbte, Erlebte, Gelernte, alle Erfahrungen, Erkenntnisse und Gefühle. In jener Gegenwart, sei sie auch noch so kurz, treffen wir auf der Basis unserer genetischen, kulturellen und persönlichen Geschichte bewusst oder unbewusst eine Vielzahl von Entscheidungen mit Wirkung auf unsere ganz persönliche Zukunft und das Ergebnis nennen wir Leben.

Das Dilemma daran ist, dass wir, so genau wir die Vergangenheit analysieren mögen, die Zukunft nur vage antizipieren können. Zumindest sobald wir den Rahmen der physikalischen Gesetze verlassen. Das Leben wird nun mal vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Schon deshalb hat die Zukunft in uns immer eine hohe Faszination ausgelöst, und zwar im Großen, wenn uns beispielweise Science-Fiction-Romane in eine Welt von morgen entführen, ebenso wie im Kleinen. Jede Wette, jedes Fußballspiel, jedes Rendezvous zieht seinen Reiz aus der Ungewissheit über das, was dabei herauskommt – egal wie genau wir die Mannschaften analysiert oder unser »Blind Date« ausgesucht haben.

Es ist die Vorstellungskraft des Menschen, die Fiktion, die wie ein Super-reaktor immer neue Abbilder unserer Erfahrungen und Prägungen erzeugt, die manche »Zukünfte« nennen und uns bewusst oder unbewusst tagein, tagaus Tausende von Entscheidungen treffen lässt. Im Winter 2000/2001 hatte ich einen Plural von »Zukunft« noch nie gehört – die Rechtschreibprüfung streicht es mir an und der Duden weist die Form noch heute als »selten« aus. Kann es denn wirklich mehrere davon geben? Muss es dann nicht zwangsläufig auch mehrere Realitäten, Paralleluniversen und mehrere … ähm … na, Sie wissen schon – die Mehrzahl von »Gegenwart«, geben?

Damals stand ich mit anderen vor der Herausforderung, die Zukunft der Stadt Bremerhaven neu zu denken. Wie kann man einer krisengebeutelten Stadt mit einer Touristenattraktion neue Impulse geben?

Die Antwort lautete: Klimahaus Bremerhaven. Und sie war ebenso naheliegend wie anspruchsvoll. Bremerhaven ist Sitz des Alfred-Wegener-Instituts als eine der führenden Klimaforschungseinrichtungen weltweit. Durch die Lage an der Nordseeküste sind hier die Kräfte der Natur in besonderer Weise spürbar. Nicht umsonst wurde Bremerhaven zu einem Zentrum der Windenergiebranche. Auch diese Entwicklungen waren von Fiktion und Vision befeuert. Aber wie nun mit einem abstrakten Konstrukt langfristiger Wetterbeobachtungen – nichts anderes ist Klima – einen tourismuswirtschaftlichen Impuls für die Seestadt Bremerhaven auslösen? Noch dazu auf Basis eines privatwirtschaftlichen, sprich kostendeckenden Betriebs?

Ein Liebesbrief an den Planeten

Klimawandel und Klimaschutz waren Anfang der 2000er nicht im öffentlichen Bewusstsein und schon gar nicht populär. Der Standort war vielversprechend, beim Management gab es erste Erfahrungen mit dem Science Center »Universum« in Bremen und so kristallisierte sich der Fokus auf ein visionäres Konzept mit einer Wahrzeichenarchitektur und mit einem spektakulären Ausstellungserlebnis, das dem didaktischen Anspruch und der gesellschaftlichen Relevanz des Themas Klima ebenso genügte wie dem Freizeitbedürfnis von Jung und Alt.

Unterschiedlichste Interessenlagen trafen zusammen, Stadtentwicklung, Wirtschaftspolitik, private Investitionen in angrenzende Einzelhandels- und Hotelprojekte, Betreiberinteressen, künstlerische Gestaltungsansprüche, bauliche Zwänge, Skepsis von Wissenschaft und Bevölkerung. Am herausforderndsten, um nicht zu sagen am nervenaufreibendsten war es, das gestalterisch und inhaltlich detailliert durchdachte Ausstellungskonzept einer Reise um den Globus durch die Klimazonen dieser Erde und zu den Menschen, die dort leben, mit einem rudimentären Architekturentwurf in Einklang zu bringen. Letzterer erwies sich bis weit über die spätere Baugenehmigung hinaus als große Bürde und wurde lange Zeit von gestandenen Ingenieuren als »nicht baubar« beschrieben.

Bezeichnend war, dass, so unterschiedlich die Hintergründe der Beteiligten auch waren, jeder Einzelne seine mal mehr, mal weniger klare, aber in jedem Fall starke Vision vom Klimahaus hatte.

Wie die elektrischen Teilchen in einer Gewitterwolke rieben wir uns kontrovers und donnergrollend in unzähligen Baubesprechungen, um dann mit dem entladenden Blitzschlag der Eröffnung am 27. Juni 2009 alle Energie in den Betrieb des Klimahauses und immer mehr auch in den Einsatz gegen die Globale Erwärmung zu stecken.

Eine fast neunjährige Planungsgeschichte und die Zukunftsvision eines Hauses, in dem die ganze Dimension des Themas Klima erfahrbar wird und in dem Menschen ein neues Verständnis für die Zusammenhänge auf unserer Erde entwickeln, kamen schließlich in »dieser« Gegenwart im Moment der Fertigstellung zusammen. Es war kein anderer als Sir Bob Geldof, der als Ehrengast die Magie des Augenblicks spürte und in Worte fasste: »Diese Ausstellung ist ein Liebesbrief an den Planeten.« Ein Satz, in dem sich die Spannungen, die persönlichen Entbehrungen, die bis an die Grenzen des physisch und mental Leistbaren gehenden Strapazen auflösten, weil Geldof mir und vielen Hundert Anderen ins Gesicht sagte, wofür wir geschuftet hatten. Gleichzeitig offenbarten Geldofs Worte die Bedeutung und das Potenzial, die im Klimahaus stecken und weit über die Grenzen Bremerhavens hinauswirken.

Das Klimahaus machte binnen kürzester Zeit aus Visionen Realität, aus Hoffnungen Wirklichkeit und aus Zukunft Gegenwart. Die leeren Parkhäuser füllten sich, die Hafenrundfahrten waren fast ausgebucht, die Außenwahrnehmung der Seestadt änderte sich und die Bevölkerung blickte mit Stolz in das neue Gesicht der Stadt. Die Skepsis löste sich auf und Identifikation entstand. Erstmals gab es eine symbiotische und nahtlose Verbindung von Erlebnis und Wissensvermittlung und Schulklassen bekamen ein nie gewesenes Verständnis von globalem und emotionalem Lernen.

In die Zukunft reisen

Unzählige Veranstaltungen haben seitdem im Klimahaus stattgefunden. Politiker kamen und gingen. Wissenschaftler, Denker und Kreative brachten ihre Gedanken ein und nahmen neue Impulse mit. Unter ihnen auch Kim Stanley Robinson, der im März 2017 sein damals in Deutschland noch unveröffentlichtes Buch New York 2140 vorstellte und mir die Kraft von Science-Fiction nahebrachte. Ein Genre, das ich als Kind der 1970er immer mit STAR WARS und RAUMSCHIFF ENTERPRISE, mit Laserkanonen und Reisen mit Lichtgeschwindigkeit verband.

Der Austausch mit Kim Stanley Robinson, der sich intensiv mit der Herausforderung Klimakrise befasst hat, verdeutlichte, wie essenziell es ist, in Zukünften zu denken. Wer heute handeln will, muss nicht an morgen, sondern in morgen denken. Dabei ist Fiktion und ein Denken jenseits des Alltäglichen ein zwingend notwendiges Mittel. »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind«, wusste schon Albert Einstein. Wir können die großen Probleme unserer Zeit nur bewältigen, wenn wir das Bestehende weiterdenken, wenn wir die Phantasie spielen lassen und Bilder entwickeln, die uns Lust auf eine bessere Welt im Morgen machen.

Es ist das Potenzial von Science-Fiction, uns zugleich die Dimension der Bedrohung und die Chance, sie zu überstehen, vor Augen zu führen. Vielleicht liegt genau hier das Erfolgsrezept des Klimahauses: die Welt in ihrer faszinierenden Vielfalt zu zeigen, die Geschichte weiter zu erzählen, wenn wir nicht handeln, und Perspektiven aufzuzeigen, wenn wir handeln.

Climate Imagination ist ein mächtiger Schlüssel für die Bewältigung der Klimakrise. Kim Stanley Robinson hat das früh erkannt. Es ist sein Verdienst, dass wir in die Zukunft des Klimawandels reisen können. Die Entscheidung wie wir dann leben wollen, müssen wir heute treffen.

Arne Dunker ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und war Mitentwickler des Klimahauses Bremerhaven. Er ist heute geschäftsführender Gesellschafter der Klimahaus Betriebsgesellschaft sowie Vorstand der Deutschen KlimaStiftung mit Sitz in Bremerhaven.

VERBINDUNGEN

Vorbemerkung

Fritz Heidorn

Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben in der Regel eine sehr innige Verbindung zu ihren Figuren, die manchmal unbewusst, manchmal bewusst geschaffen werden und in einem jeweils ganz eigenen Universum existieren, das aus den Köpfen der Autorinnen und Autoren mehr oder weniger glanzvoll nach draußen strahlt und interessierte Menschen nach genau diesem Lesestoff greifen lässt. Doch auch die schillernden, selbst geschaffenen Universen lassen Schreibende nicht vergessen, wie schwierig der Weg zur Publikation ist. Und wie lang der Weg der Ideen zu den richtigen Leserinnen und Lesern. Beim Lesen entsteht oft die Neugier, welchem Kopf die phantastischen Ideen entsprungen sind, doch die Informationen über das Privatleben von vielen Autorinnen und Autoren sind spärlich. Umso größer ist das Glück, dass ich Kim Stanley Robinson näher kennenlernen durfte, wovon an dieser Stelle berichtet werden soll.

Schriftsteller und Leser – Leserinnen und Schriftstellerinnen

Viele Leserinnen und Leser nehmen ein Buch zur Hand, um neue Welten, das Unbekannte, kennenzulernen. Manchmal vielleicht auch, um mehr über diejenigen herauszufinden, die die Romane geschrieben haben. Denn die Neugier, herauszufinden, wer und wie dieser ideenreiche, wortgewandte Mensch ist, der sich diese anderen Welten erdacht hat, mag mit der Zeit wachsen.

In der Science-Fiction bieten sogenannte Conventions Gelegenheit, Lesende und Schreibende auch im echten Leben zusammenzuführen. Die »Star Wars Conventions« oder die »Star Trek Conventions« sind durch die Kostüme der Teilnehmenden legendär geworden, die »World Science Fiction Conventions« durch die Lesungen und die Möglichkeit, berühmte Autorinnen und Autoren treffen zu können. Solche Treffen enden oft in enttäuschender Ernüchterung oder in totaler Begeisterung, manchmal entstehen auch neue Mythen oder passieren wahre Geschichten. So wird über die gemeinsame Fahrstuhlfahrt eines Fans und Nachwuchsautoren und dem berühmten Herausgeber eines Science-Fiction-Magazins berichtet: Der Fan beklagte sich darüber, dass er unzählige Manuskripte bei Verlagen eingereicht und sich immer nur Absagen eingehandelt habe. Er fühle sich mittlerweile wie eine Ratte in einer Rattenfalle oder einem Hamsterrad, das sich ewig weiterdreht. Darauf der berühmte Herausgeber: »Only the persistent rat will be published.« – »Nur die ausdauernde Ratte wird publiziert!«

Verbindungen

Es gibt bestimmte Romane, die auch meine Neugier an dem Autor haben wachsen lassen. Wie gern hätte ich den Menschen kennengelernt, der Mitte der 2000er mit Forty Signs of Rain, Fifty Degrees Below und Sixty Days and Counting die SCIENCE IN THE CAPITAL-Trilogie verfasst hatte. Im Herbst 2007 hatte ich dann das große Glück, Kim Stanley Robinson persönlich zu treffen und über Klimawandel-Szenarios der nahen Zukunft zu sprechen. Ich hatte mir von Hannes Riffel, der damals Eigentümer der Otherland Buchhandlung in Berlin war, die E-Mail-Adresse von Robinson besorgt und ihn angeschrieben. In seiner Antwort lud er mich tatsächlich zu sich nach Davis, Kalifornien, ein. Ich war seinerzeit in ein Sozialforschungsprojekt zum Thema »Klimawandel-Adaptation von Zielgruppen in Norddeutschland« eingebunden und wollte die Visionen eines Schriftstellers zu diesem Thema kennenlernen.

Interkulturelle Diskurse über Gewalt und Gewaltlosigkeit

Besonders intensiv haben wir uns über Das Ministerium für die Zukunft ausgetauscht. Ich durfte das Manuskript zum Jahreswechsel 2019/2020 lesen und habe Stan Robinson mehrere Anregungen über das Leben in Indien sowie über interkulturelle Ansichten über Gewaltlosigkeit mitgeteilt. Besonders wichtig war mir, ihm eine Rückmeldung zu einer zentral wichtigen Person der Erzählung zu geben: Der Inder Badim hat eine Führungsposition im Zukunftsministerium in Zürich, das von Mary Murphy, einer der beiden Hauptfiguren, geleitet wird. Die beiden merken irgendwann in einem Gespräch, dass sie mit ihren Vorstellungen über eine gerechte und rechtskonforme Verteilung der Aufgaben für die Abwehr des Klimawandels nicht mehr weiterkommen. Obendrein werden sie mit den Terroraktionen der »Kinder von Kali« konfrontiert, die wesentlich erfolgreicher in der öffentlichen Wahrnehmung sind als sie selbst. Mary verzweifelt fast und schlägt Badim, halb im Scherz, vor, dass sie eigentlich einen Geheimdienst für die Erledigung der Drecksarbeit gründen müssten, um voranzukommen. Badim antwortet ihr, dass er einen solchen schon längst ins Leben gerufen, aber vor ihr verheimlicht habe, um sie nicht in eine moralische Mitverantwortung zu zwingen. Badim ist es, der im Kapitel 78 über »sein brennendes Verlangen nach Gerechtigkeit« und die Gründe dafür spricht, als er mit den »Kindern von Kali« in seinem Heimatort zusammentrifft.

Wie wichtig diese Rückmeldung ist, zeigt das vorliegende Buch, das das Ergebnis eines fünfzehnjährigen Gedankenaustauschs zweier Menschen ist, eines Kaliforniers und eines Norddeutschen, und aus deren Interesse an Zukunftsthemen eine Freundschaft entstanden ist. Deshalb bitte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, um Verständnis und Nachsicht, wenn ich im Buch parteiisch bin und an der einen oder anderen Stelle vielleicht etwas zu positiv mit den Werken meines Freundes Kim Stanley Robinson umgehe.

Zukunft

Kim Stanley Robinsons Romane, insbesondere Das Ministerium für die Zukunft, kreisen um das Thema Zukunft oder besser gesagt, um unterschiedliche Möglichkeiten von Zukunftsgestaltung, um Zukünfte, in literarischer Form dargeboten. Und zwar bewusst mit der Hoffnung versehen, positive Beiträge zur Gestaltung von guten Zukunftsmöglichkeiten für alle Menschen leisten zu wollen. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches sind also parteiisch für ein humanes Zukunftsprojekt und wollen sich mit Untergangsprophezeiungen oder Horrorszenarien nicht lange beschäftigen. Das Zeitalter des Anthropozäns verlangt unsere Stellungnahme, unser Engagement, unsere Zukunftshoffnung – und vor allem unser aktives Eingreifen.

Es freut mich besonders, in diesem Buch nicht nur über Kim Stanley Robinson zu schreiben, sondern ihn auch selbst zu Wort kommen lassen zu dürfen, sei es im Interview, durch Zitate, aber auch in zehn seiner exklusiv für diese Ausgabe neuübersetzten Erzählungen, die als Beispiele seiner Erzählkunst unterschiedlichen Themenschwerpunkten seines Schaffens zugeordnet wurden. Es wird deutlich, dass Kim Stanley Robinson nicht nur ein ausgewiesener, wissenschaftlich orientierter Science-Fiction-Autor von Rang ist, sondern ein Schriftsteller der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Werk, insgesamt betrachtet, sehr vielfältig ist und sich durch Betrachtungen wissenschaftlicher, kultureller und politischer Probleme von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die nahe Zukunft auszeichnet. Robinson schreibt über Leitideen ethischer und philosophischer Betrachtungen der Entwicklungen der Menschheit mit dem Schwerpunktthema des Anthropozäns, dem Klimawandel. Der Autor Robinson sollte allerdings nicht auf diesen Schwerpunkt festgelegt werden, denn die vorgestellte Auswahl seiner Kurzgeschichten in diesem Buch zeigt seine Bandbreite, Vielfalt und narrative Intensität, wie sie beispielsweise in den beiden Storys über Musik auf ganz besondere Weise zum Ausdruck kommt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine vergnügliche und anregende Reise durch das literarische Werk von Kim Stanley Robinson, den Erzähler des Klimawandels und vieler andere philosophisch bedeutsamer Zukunftsthemen.

KLIMAWANDEL GESTERN UND HEUTE

Wetteraufzeichnungen sind mindestens seit dem Mittelalter bekannt. Besonders die Temperaturwerte und die Niederschlagsmengen wurden meist von Mönchen oder Hofastronomen gemessen, notiert und bewertet. Allerdings vermischten sich mit solchen Messungen auch die subjektiven Einschätzungen der Wetterbeobachter über zu kalte oder zu warme Tage. Dennoch bieten die historischen Wettertagebücher relativ gute Aussagen über die jahreszeitlichen Wetteränderungen sowie die Witterungsverläufe und werden als Grundlage für Klimadaten und die Auswirkungen des Wetters auf die Ernte verwendet.

Zur historischen Wetterbeobachtung und Einschätzung des Klimageschehens werden sogenannte Proxydaten (lat. proximus: der Nächste) herangezogen. Man unterscheidet biologische Proxydaten wie Ernteertragszahlen, der Eintritt von Blühzeiten, Erträge der Heuernte und Baumringe von physikalischen Proxydaten wie Vereisungen, Starkregenfällen und Hochwassern. An der Ausprägung von Baumringen beispielsweise lässt sich ablesen, ob ein Jahr eher kalt und trocken oder eher warm und feucht war. Ein besonderer Zusammenhang besteht zwischen dem Einfluss der Witterung und der Qualität und Ertragsmenge im Weinbau, in dem Frostschäden oder Hagelschlag enormen Schaden anrichten können. In den deutschen Weinregionen spielen Wetteraufzeichnungen schon seit langer Zeit eine wichtige Rolle, um die Geschichte und die Zukunft regionaler Weinbaugebiete zu bewerten.

Die längste phänologische Beobachtungsreihe stammt allerdings aus dem japanischen Kyoto. Dort wird der Zeitpunkt der Kirschblüte seit dem Jahr 705 schriftlich festgehalten. Aus den Aufzeichnungen lässt sich sowohl die Kleine Eiszeit zwischen den Jahren 1500 und 1600 belegen, als auch die Warmzeit zwischen 900 und 1300. Der Blühbeginn der Kirsche lag im Mittel zwischen dem 102. und dem 108. Tag nach Jahresbeginn. Seit 1950 treiben die Blüten immer früher aus. Die Kirschblüte beginnt seitdem fast immer kurz vor dem 100. Tag nach Jahresbeginn.

Gestern

Schon immer gab es Veränderungen und Umschwünge im Klima und Wetter, allerdings nicht in der heutigen von Menschen verursachten Form, sondern als natürlichen Klimawandel. Und damit sind nicht nur die großen Eis- und Warmzeiten mit ihren verheerenden Folgen gemeint. Wie Wetteraufzeichnungen der vergangenen tausend Jahre in Deutschland und Mitteleuropa zeigen, fand in dieser Zeit ein deutlicher Klimawandel statt, und die meteorologischen Veränderungen hatten schwerwiegende Folgen für die menschliche Kultur, die Landwirtschaft, die Nahrungsmittelproduktion, die Kleidung, den Hausbau, ja auf die Lebensweise der Menschen ganz allgemein. Der Geschichtsforscher Wolfgang Behringer vertritt in seinem Buch Kulturgeschichte des Klimas, wie andere Forscher auch, die Ansicht, »dass die natürlichen Wandelbarkeiten des Klimas seit der Kleinen Eiszeit, also vom 15. bis in das 19. Jahrhundert, in direktem Zusammenhang mit kulturellen Veränderungen der Menschheit stehen.« (Behringer 2007)

Es folgte eine globale Abkühlung, zu deren Ursache es mehrere Theorien gibt: Forscher gehen von einer verstärkten vulkanischen Aktivität im Vorfeld, einer verringerten Sonnenfleckaktivität oder der Wiederbewaldung landwirtschaftlicher Flächen aufgrund eines starken Bevölkerungsrückgangs aus. Diese Kleine Eiszeit zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert brachte eine allgemeine Abkühlung mit sich, die zu kältebedingten Krankheiten und Hungersnöten führte, aber auch positive Entwicklungen nach sich zog. In der warmen Zeit hatte sich die Anopheles-Mücke über die Alpen bis nach England verbreitet und mit ihr kam die Malaria. Im Verlauf der Kleinen Eiszeit zog sich die Krankheit nach Nordafrika zurück und hat heute ihre nördlichste Verbreitung im Irak bzw. südlich der Sahara. Insgesamt führte die Abkühlung zu einer neuen Alltagsorganisation, in deren Verlauf Hausbau, Heizöfen und Kleidung für Wärme in den langen Winternächten sorgten und die zunehmenden Erkältungskrankheiten bekämpften.

Das Hochmittelalter war die Zeit der Wikinger. Die gefürchteten »Nordmänner« überfielen seit der Mitte des neunten Jahrhunderts regelmäßig England, Schottland, Irland und Wales und besiedelten die Shetland-Inseln, die Orkneys und die Hebriden. Die Wikinger waren aber nicht nur kühne Seefahrer und Krieger, sie betrieben Ackerbau und Viehzucht als Grundlage ihrer Kultur. Im Jahre 865 wagte sich der Wikinger Floke Vilgardson bis auf die Insel »Eisland« oder Island vor. Im 10. Jahrhundert lebten bereits 60.000 Einwohner auf Island und betrieben Ackerbau und Viehzucht. Die hochmittelalterliche Warmzeit hatte im Norden früher als im Zentrum Europas eingesetzt und die Besiedlung begünstigt. Das Leben auf Island in dieser Zeit war nicht nur durch ein wärmeres Klima begünstigt, sondern hatte auch andere Vorteile: Während im übrigen Europa die Bauern den Feudalherren untertan und abgabepflichtig waren (»der Zehnte«), genossen die Isländer ihre Freiheit.

Von Island aus segelten die Wikinger weiter westwärts. Erik der Rote kam im Jahre 985 mit 25 Schiffen, Siedlern, Saatgut und Vieh nach »Grünland«, heute Grönland genannt. In der Warmzeit war auf Grönland sogar Getreideanbau möglich und die Schiffspassage dorthin war ganzjährig eisfrei. Erik der Rote hatte zwei dauerhafte Siedlungen gegründet, im Süden und im Westen. Heutige Ausgrabungen lassen auf die Existenz von circa 450 Bauernhöfen schließen. Von Grönland aus führten die Wikinger weitere Entdeckungsfahrten aus, die sie schließlich sogar bis nach Amerika brachten. Leif der Glückliche, der Sohn Eriks des Roten, entdeckte die heutigen Baffin Islands. Das heutige Labrador in Kanada lieferte dringend benötigtes Holz, das auf Grönland nicht zu finden war. Ab dem Jahr 1005 begannen die Wikinger unter Führung von Thorfinn Karlsefni mit der Besiedlung Nordamerikas.

Der Klimaumschwung im Norden Europas setzte den Besiedlungen der Wikinger ein Ende und zerstörte ihre Lebensgrundlagen auf Grönland und in Amerika. Um 1350 war die westliche Siedlung auf Grönland bereits verlassen. Die letzte Nachricht von der Siedlung im Süden erreichte die Wikinger in Norwegen im Jahre 1410. Das Klima in Grönland hatte sich deutlich verändert und war kälter geworden. Dies ist jedoch nicht der einzige Grund für das Ende der Wikinger auf Grönland. Ein weiterer Grund für ihr Scheitern ist ihre mangelnde Anpassungsfähigkeit. Während die von Norden kommenden Inuit (Eskimos) an das Leben in der Kälte gut angepasst waren, indem sie Jagd und Fischfang betrieben, brachen Ackerbau und Viehzucht der Wikinger in der Kälte zusammen.

Die Kulturgeschichte des Klimas kennt viele Beispiele, in denen Kälte und Dürre den Tod menschlicher Zivilisationen bedeuten. So auch am Beispiel der Wikinger, die in der Warmzeit des 9. Jahrhunderts erfolgreich nach Nordwesten segelten und in der Kaltzeit des 14. Jahrhunderts ihre dortigen Siedlungen verlassen mussten. In Italien blühte zu dieser Zeit die Renaissance und auf Grönland starben die Wikinger als Folge von Klimawandel und mangelnder Anpassungsfähigkeit.

Heute

Inzwischen werden die globalen Monitoring-Prozesse zur Dokumentation des Klimawandels auf der Erde von den Erdbeobachtungsmissionen der NASA und der ESA erfasst und von wissenschaftlichen Organisationen der UNO zusammengefasst und ausgewertet. Die computergestützten Vorhersagen beziehen sich auf mittelfristige globale Wetterveränderungen und auf langfristige Klimaänderungen, wobei besonders auf vulnerable geografische Regionen wie die Südseeinseln oder Küstenregionen geachtet wird. Die Vorhersagen sind mittlerweile recht präzise geworden und lassen Warnungen und Handlungsempfehlungen für Länder und Regionen zu. Wir wissen also mit großer Wahrscheinlichkeit, was auf uns zukommen wird, wenn wir dieses tun oder jenes unterlassen. Und wir wissen auch, wie wir uns vorbereiten können, zumindest insoweit, dass wir verschiedene Risikopfade verstehen und uns darauf einstellen können.

Deutschland wird 2050 jedenfalls ein anderes Land sein – ein heißeres. Hitze- und Dürresommer wie 2018 und 2019 werden Mitte des Jahrhunderts normal sein, ebenso extrem milde Winter wie jener 2019/20. Es wird immer öfter Sturzregen und Überflutungen geben, und doch vielerorts viel trockener sein als heute. Es wird mehr Unwetter geben und höhere Sturmfluten an den Küsten. Unser Leben wird 2050 unsicherer sein – und was dies für die sicherheitsfixierten Deutschen bedeutet, kann man nur ahnen. (Reimer/Staud 2021)

Den schlimmsten Fall für unser Land, eine um vier Grad Celsius erhöhte Erwärmung für den Fall, dass die Menschheit nichts tut, um den Ausstoß von klimaschädlichen Gase zu begrenzen, schildern die Journalistinnen der ZEIT Andrea Böhm, Christiane Grefe, Kerstin Kohlenberg und Petra Pinzler unter der Überschrift »Glühende Landschaften« in der Online-Ausgabe vom 27.11.2019 als eine Katastrophe in einer völlig anderen Welt: Unvorstellbare Hitzewellen, Wüsten in weiten Teilen von Afrika und am Amazonas, ausgetrocknete Flüsse im Süden von China und Millionen geflüchteter Menschen. Die restliche Menschheit würde sich in den letzten bewohnbaren Regionen der Welt zusammenballen, in Kanada, Nordeuropa und Nordrussland.

Doch bleiben wir optimistisch und erinnern an das epochale Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimawandel vom 29.4.2021, in dem das oberste deutsche Gericht der Bundesregierung das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens als Staatsziel für verfassungsrechtlich verbindlich erklärte und die Bundesregierung verpflichtete, die Klimapolitik nachzubessern. Insbesondere müssen klare Klimaschutzplanungen für den Zeitraum nach 2030 festgelegt werden, um den kommenden Generationen eine lebenswerte Zukunft zu sichern.

Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, »dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 (Klimaschutzgesetz <KSG>) über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen.« (Bundesverfassungsgericht 2021)

Nun sind die Bundesregierung und alle staatlichen Stellen im Frühjahr 2021 aufgefordert, die Ziele staatlichen Handelns weitreichender zu formulieren. Allerdings wird die Zielformulierung allein nicht ausreichen, vielmehr sind konkrete Umsteuerungen und Taten gefordert, und zwar sofort. Viele Experten halten die Energiewende und die Verkehrswende hin zur stärkeren Nutzung von erneuerbaren Energien für das entscheidende Instrument bei der Frage, ob die Beschränkung des Klimawandels gelingen kann. Die Stiftung Klimaneutralität und der Thinktank Agora Energiewende rechnen vor, was konkret geschehen muss, um die neuen Klimaziele der Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu erreichen. Danach müssen in der Nord- und Ostsee bis zum Jahre 2030 neue Windparks mit 25 Gigawatt Leistung entstehen – derzeit gibt es Windparks mit einer Leistung von 9 Gigawatt. Auf der Landfläche Deutschlands müssen in jedem Jahr 1.200 neue Windräder aufgestellt werden. Aktuell gibt es insgesamt 28.000 Windräder auf deutschem Boden. Die installierte Leistung von Solarzellen müsste sich verdreifachen, auf insgesamt 150 Gigawatt. Die Zahl der Elektroautos muss bis zum Jahre 2030 auf 14 Millionen anwachsen, alle angetrieben von grünem Strom aus emissionsfreier Produktion. Die Anzahl der Wärmepumpen in Häusern muss anwachsen auf sechs Millionen Einheiten und somit auf das Sechsfache des aktuellen Standes.

Klimawirkungs- und Risikoanalyse in Deutschland

Mitte Juni 2021 wird in Deutschland eine neue Studie zu den Wirkungen und den Risiken des Klimawandels in Deutschland veröffentlicht, erstellt im Auftrag der Bundesregierung von einem wissenschaftlichen Konsortium und unter Einbindung von Expertinnen und Experten aus 25 Bundesbehörden sowie Institutionen im Behördennetzwerk »Klimawandel und Anpassung«. Die Ergebnisse sollen zur Weiterentwicklung der Deutschen Anpassungsstrategie eingesetzt werden. Sie sind jedoch alarmierend, denn die Risiken durch den Klimawandel nehmen in den nächsten Jahrzehnten bedrohlich zu und werden sich als Hitzewellen, Trockenheit und Starkregen in allen Landesteilen äußern. Der Vorstand Klima und Umwelt des Deutschen Wetterdienstes, Tobias Fuchs, sagt dazu:

Der Klimawandel schreitet weiter voran. Die Zunahme der Treibhausgaskonzentrationen ist bisher ungebremst. Das hat Folgen. So ist die durchschnittliche Jahrestemperatur in Deutschland seit 1881 bereits um 1,6 Grad gestiegen – stärker als weltweit. Die Auswirkungen spüren wir hierzulande. Zum Beispiel hat sich die Zahl der Hitzetage mit Höchsttemperaturen über 30 Grad Celsius fast verdreifacht und die Winterniederschläge stiegen um 27 Prozent. Und wie sieht unsere Klimazukunft aus? Wenn der schlechteste Fall unseres Szenarios eintritt, dann erwarten wir für Deutschland einen Anstieg der mittleren Lufttemperatur bis zur Mitte des Jahrhunderts zwischen 2,3 und 3 Grad – im Vergleich zum frühindustriellen Zeitalter. Steigen die Treibhausgasemissionen kontinuierlich an und stabilisieren sich zum Ende des 21. Jahrhunderts auf einem sehr hohen Niveau, könnten die Temperaturen hierzulande bis 2100 um 3,9 bis 5,5 Grad steigen. (Umweltbundesamt 2021)

Auch in dieser Studie zeigt sich die dringende Notwendigkeit von Handlungszwängen, aber auch von Handlungsoptionen, die die Menschheit (hier die Menschen in Deutschland) noch immer hat.

Im Juli 2021 veröffentlicht ein vierzigköpfiges interdisziplinäres Team vom Hamburger »Exzellenzcluster CLICCS (Climate, Climatic Change, and Society)« eine Studie mit zwei generellen Nachrichten zum Stand der Klimawandel-Forschung: Die Szenarien für den Worst Case mit fünf oder mehr Grad Celsius Temperaturerhöhung auf der Erde der nahen Zukunft seien »unplausibel« und damit vom Tisch. (Klimafakten 2021, CLICCS 2021)

Allerdings sei es ebenfalls unplausibel, dass die Menschheit die im Pariser Klimaabkommen vorgesehene 1,5-Grad-Grenze der Erwärmung einhalten und sich bis zum Jahre 2050 aus der Abhängigkeit von Kohle, Gas und Erdöl befreien werde. Die Gründe für diese Unfähigkeit liegen nach Meinung des Expertenteams in der fehlenden gesellschaftlichen Transformation. Es habe sich nicht genug getan, um die notwendigen neuen radikalen Regeln, Verfahren und Maßnahmen im sozialen Miteinander zu implementieren. Das Forschungsteam identifiziert zehn gesellschaftliche Treiber, die in Richtung der nötigen Transformation gehen: eine bedeutsame internationale Klimapolitik, Klimaklagen, Gesetzgebung und Regelsetzung durch Staaten oder Staaten-Verbünde wie den »Green Deal« der EU, Initiativen über nationale Grenzen hinweg, das Schaffen von Wissen, zum Beispiel über »Geschichten des Gelingens«, die »Divestment-Bewegung«, die dem fossilen Energiesektor die Finanzmittel entziehen will usw. Diskutiert werden auch weiterhin Fragen der »sozialen Kipppunkte« mit wirkungsvollen Handlungsoptionen wie klimagerechte Neuorientierungen bei Bildung, Normen und Werten, im Finanzmarkt, bei der Steuerung öffentlicher Gelder, den finanziellen Anreizen bei einer dezentralisierten Energieerzeugung sowie bei neuen Konzepten für Leben, Wohnen und Verkehr.

Hitzewellen und Starkregen als Zeichen des Klimawandels der Gegenwart

Im Juli 2021 nehmen die Berichte über den sich verstärkenden Klimawandel in vielen deutschen Leitmedien drastisch zu. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG druckt in ihrer Ausgabe vom 9. Juli 2021 eine umfangreiche, zweiseitige Recherche über die Zunahme der Klimasituation in vielen Ländern der Erde ab, unter dem Titel: »Und es wird noch heißer«. In derselben Ausgabe findet sich außerdem ein Bericht über eine aktuelle Studie der Initiative World Weather Attribution Initiative, an der die deutsche Forscherin Friederike Otto, Leiterin des Environmental Change Institute der Universität Oxford, führend mitarbeitet. Die Computersimulationen der Gruppe belegen, dass die gegenwärtigen Hitzewellen in den USA und in Kanada mit mehr als hundert Waldbränden in British Columbia und mit einer gemessenen Temperatur von 49,6 Grad Celsius in Lytton, Kanada, auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Durch den Klimawandel seien diese Hitzewellen 150-mal wahrscheinlicher geworden als in allen zuvor gemessenen Zeiträumen. Es sei möglich, dass das Klimasystem schon eine Schwelle überschritten habe, bei der schon geringe globale Erwärmungen zu einem schnelleren Anstieg extremer Temperaturen führen könnte. Der Bericht lässt sich im Internet unter dem Titel »Western North American extreme heat virtually impossible without human-caused climate change« finden. (Worldweather Attribution 2021)

Andere Zeiten, anderes Handeln

Wir wissen durch die Forschungsarbeiten des IPCC, des Intergovernmental Panel on Climate Change, und die regionalen Klimafolgenstudien in Deutschland (Umweltbundesamt 2008) zunehmend mehr über den anthropogen verursachten Klimawandel, seine Folgen und die globalen Klimaschutzpolitiken (Germanwatch 2008) sowie die notwendigen Anpassungsmaßnahmen. In der vom Bundeskabinett am 17. Dezember 2008 beschlossenen »Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel« wird konstatiert, dass »Wissenslücken und große Unsicherheiten [bestehen], wie sich unser Klima zukünftig im Einzelnen verändern wird.« (Bundesregierung 2008) Die Bundesregierung will sich bei der Abschätzung der Folgen nicht auf ein Szenario oder Modell festlegen, sondern von einem »Multimodellansatz« ausgehen. Wir wissen noch nicht genug darüber, wie Menschen, Gemeinschaften, Ökonomien oder verschiedene Kulturen auf den Klimawandel reagieren werden. Die Faktenlage des Klimawandels wird zunehmend zur Gewissheit, die Anpassungsoptionen dagegen liegen noch im Ungewissen, während der Anpassungsdruck bereits vorhanden ist.

Eine Anpassungsdebatte zum Klimawandel muss verschiedene, als unterschiedliche Zukünfte verstandene Entwicklungsszenarien mit Foresight- und Backcasting-Instrumenten generieren oder mithilfe literarischer Visionen in die Zukunft schauen. Wichtig ist, dass eine Variabilität von Zukünften erforscht wird, die alternative Entwicklungsstränge berücksichtigt, nachdem die Kulturgeschichte des Klimawandels bereits ausreichend bearbeitet worden ist (Behringer 2007). Interessant sind auch Rückblicke aus möglichen Zukünften auf »die Jahre des Klimawandels«, verstanden als das Aufzeigen von Pfaden für Veränderungsmanagement in der Gegenwart.

Die wissenschaftlichen Fakten und Szenarien zum Klimawandel sind bekannt. Die ersten katastrophalen Ereignisse des menschengemachten Klimawandels sind in manchen Teilen der Welt bereits Realität geworden. Die fiktionalen Beschreibungen von schlimmsten und besten Lösungen sind in der Literatur veröffentlicht und mehr oder weniger breit rezipiert worden. Die Anregungen für individuelles Handeln sind in der Öffentlichkeit schon lange weit verbreitet und werden von den Aktivistinnen und Aktivisten der Jugendbewegung »Fridays for Future« besonders heftig zur Umsetzung angemahnt.

Wir befinden uns in einer Zeitenwende, auf deren Brisanz die Literatur bereits frühzeitig aufmerksam gemacht hatte.

Internationale Klimawandel-Forschung

Am 9. August 2021 erscheint der erste Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates IPCC, herausgegeben von der Arbeitsgruppe I mit dem Titel »Klimawandel 2021: Naturwissenschaftliche Grundlagen des Klimawandels«. Darin wird der aktuelle Wissensstand der naturwissenschaftlichen Klimaforschung dargestellt und bewertet. Der Bericht hat einen Umfang von 3.949 Seiten und wurde von einem Kernteam von 721 international renommierten Forscherinnen und Forschern aus insgesamt 90 Ländern erarbeitet, darunter 39 Deutsche. In dem Bericht, zu deren Leitautorinnen auch Friederike Otto gehört, werden drastische Veränderungen des Wettersystems der Erde der Gegenwart beschrieben, die den Extremwetterkatastrophen der nahen Zukunft in Robinsons Buch entsprechen. Hitzewellen, Starkregenniederschläge, Dürren, tropische Wirbelstürme haben sich drastisch verstärkt und sind bereits Teil unserer Gegenwart geworden, nicht nur ein erschreckender Ausblick in die Zukunft. Für mögliche Klimazukünfte sagt der Bericht noch weitaus dramatischere und unumkehrbare Veränderungen voraus. Die Fiktionen der Schriftsteller sind bereits bittere wissenschaftlich bewiesene Realität geworden (IPCC 2021).

Klimawandel und Literatur

Die Literatur hat diejenigen, die Bücher zu dieser Thematik lesen, bereits frühzeitig auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam gemacht. Seit mehr als dreißig Jahren widmet sich auch Kim Stanley Robinson diesem Thema in Kurzgeschichten und mit mehreren Büchern sowie durch seinen letzten Roman Das Ministerium für die Zukunft. Dieser Roman hat besonders in Kreisen der Wissenschaft Gehör gefunden und ist von mehreren Kritikern als Meisterwerk bezeichnet worden. Der ZEIT-Journalist Maximilian Probst würdigt das im Oktober 2021 in Deutschland erschienene Buch von Robinson mit einer ausführlichen und sachkundigen Kritik, die bezeichnenderweise nicht im Feuilleton der ZEIT erschien, sondern in der Rubrik »Wissen«.

Probst zitiert in seinem Essay »Die Zukunft ist schon da« die Klimaforscherin Friederike Otto, die das Environmental Change Institute der University of Oxford leitet und dort Extremwetterphänomene erforscht, mit dem Kommentar zu Robinsons Buch: »Mir fehlt da fast schon die Fiktion. Das Buch beschreibt weitgehend meinen Arbeitsalltag.« Die Journalisten der Webpage klimafakten.de hatten am 3. Oktober 2021 unter der Überschrift »Climate Science meets Climate Fiction« ein moderiertes Videogespräch zwischen Friederike Otto und Kim Stanley Robinson organisiert, in dem die beiden ihre Standpunkte im Grenzbereich von Naturwissenschaft und literarischer Fiktion ausgetauscht haben. Das Video findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=hs02Mg3eYHU, abgerufen am 25.10.2021. Der ZEIT-Journalist Maximilian Probst zitiert mit Ulrike Niemeier vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie eine weitere Klimaforscherin, die das Geoengineering-Experiment, das Robinson in seinem Buch der indischen Regierung zuschreibt, als »durchaus realistisch« einschätzt. Auch wenn andere Kritiker, wie beispielsweise der amerikanische Politologe Francis Fukuyama die von Robinson in seinem Buch beschriebenen neuen Zusammenarbeiten der Staaten der Erde als »lächerlich unrealistisch« bewerten, bleibt für Maximilian Probst als Fazit des Buches von Robinson:

Diese Zukunft wird bei allem Schrecken, der realistischerweise zu erwarten ist, von Robinson durchaus hoffnungsvoll geschildert. Das ist die Errungenschaft seines Romans. Er zeigt uns, dass der Horizont offen vor uns liegt. (Probst 2021)

Niemand weiß ganz genau, wie sich das Klima in der Zukunft entwickeln wird. Wird der Klimawandel »besseres« Wetter und Sonnenschein am Strand von Norddeutschland von März bis Oktober bringen? Italienische Nächte in Norwegen? Oder doch eher: Mistwetter überall, Hitzewellen, Dauerregen, Sturmfluten, Überschwemmungen? Mit solchen Extremwetterereignissen und Verschiebungen werden wir künftig öfter zu kämpfen haben.

Weit wichtiger ist aber eine andere Veränderung, auf die sich die Menschen einstellen müssen: Der Klimawandel wird die Anbaugebiete für pflanzliche Lebensmittel und die Zentren der Viehwirtschaft verschieben. Damit einhergehend werden Klimaflüchtlinge versuchen, dorthin zu gelangen, wo es noch Lebensmittel und frisches Wasser gibt. Es werden Auseinandersetzungen und Konflikte um Ressourcenverteilung und die Nutzung urbaner Gebiete auf der Erde entstehen. Klimaflüchtlinge werden dorthin gehen, wo der Meeresspiegel nicht droht, die Küstenregionen zu überschwemmen. Oder dorthin, wo ganz neue technische Lösungen einen anderen Lebensstil der Menschen ermöglicht haben.

Die Niederländer beispielsweise dachten schon früh darüber nach, wie sie mit schwimmenden Häusern ihren Lebensraum erhalten können. Das wird wohl notwendig, wenn man bedenkt, dass 24 Prozent der Landesfläche der Niederlande unter dem Meeresspiegel liegen. Der Weltklimarat IPCC hat berechnet, dass etwa sechs Prozent der Landesfläche der Niederlande noch in diesem Jahrhundert im Wasser versinken könnten. Ein Architekturbüro in Belgien bietet bereits im Jahre 2009 eine ökologische Ecopolis für Klimaflüchtlinge als Planungsgrundlage für die Zukunft an. Lilypad ist eine schwimmende Riesenstadt für 50.000 Einwohner, die dort alles vorfinden, was der Mensch braucht: Wohnen, Arbeiten, Geschäfte, Unterhaltung. Im Herzen der Insel befindet sich eine Regenwasserlagune, aus der Trinkwasser zubereitet wird. Obst und Gemüse werden auf Terrassenfeldern in der Stadt angebaut. Die Energie wird aus Sonne, Wind und Wasser gewonnen. Hier ist die Zukunft bereits Wirklichkeit geworden, jedenfalls in den Plänen der Architekten.

Erzählungen zum Klimawandel

Seit einigen Jahren wird der Klimawandel als Thema in der Literatur neu kontextualisiert und in Studien analysiert. Sie kursieren manchmal unter dem Stichwort »Ecocriticism«, einem interdisziplinären Ansatz, in dem die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur beschrieben und analysiert werden. Astrid Bracke, Dozentin für englische Literatur an der De HAN University of Applied Sciences en Nijmegen, Niederlande, hat eine der ersten Studien über diese neu aufkommende Literaturgattung verfasst: Climate Crisis and the 21st-Century British Novel. Sie untersucht zwölf Werke, die das wachsende kulturelle Bewusstsein an der Klimakrise reflektieren.

Harald Welzer schreibt in seinem Buch Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird:

[…] das gesamte Problem des Klimawandels [sei] als ein kulturelles [zu] definieren, mit dem für eine bessere Gesellschaft gestritten werden soll und in der das Kriterium der Reversibilität eine entscheidende Rolle spiele. Nicht bessere Technik könne das Problem lösen, sondern die Verständigung über eine neue kulturelle Teilhabe an den Risiken und Chancen des Klimawandels. Die Teilnahme an einem solchen kulturellen Diskurs in die nahe und weitere Zukunft müsse mit der Methode der antizipierten Retrospektion (Alfred Schütz) vorgenommen werden – oder in der grammatischen Form des Futurum II ausgedrückt: Es wird gewesen sein! (Welzer 2008)

In der Literaturstudie Anthropocene Fictions. The Novel in a Time of Climate Change untersucht Adam Trexler 2015, unterstützt durch einen Forschungsauftrag des »European Social Funds« der europäischen Kommission für die University of Exeter in Großbritannien, die literarische Umsetzung des Klimawandels als das lang andauernde Erbe unserer Zeit und analysiert zahlreiche Erzählungen, die den menschengemachten Klimawandel im Zeitalter des Anthropozäns als Kernthema behandeln.

Im Berliner Hirnkost Verlag erschien 2020 eine Anthologie Der Grüne Planet. Zukunft im Klimawandel mit Erzählungen deutscher Autorinnen und Autoren über mögliche Zukünfte im Zeichen der Erderwärmung, herausgegeben von Hans Jürgen Kugler und René Moreau, die auch die Zeitschrift »EXODUS – Magazin für Science-Fiction-Stories und phantastische Grafik« verantworten.

Am 1. Juli 2021 veröffentlichte die ZEIT ein Interview mit dem an der renommierten schwedischen Universität Lund lehrenden Sozialwissenschaftler und Klimaaktivisten Andreas Malm, der mit Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen ein brisantes Buch vorgelegt hat, über Fragen von notwendiger Gewalt gegen Sachen, um die Klimaerwärmung noch stoppen zu können. Gegenüber dem Journalisten Maximilian Probst erwähnt Andreas Malm, dass er Wissenschaftler und Aktivist sei: »Für mich ist die Idee einer wertfreien Sozialforschung überholt. Ich kann nach Objektivität streben und zugleich einen subjektiven politischen Standpunkt vertreten.« Er begründet die Notwendigkeit des Einsatzes von Gewalt gegen Sachen, nicht gegen Menschen, mit der Tatsache, dass sich die Verhältnisse nicht von selbst ändern und dass sich »ExxonMobil oder Shell […] nicht von selbst abschaffen oder auf ihre Gewinne verzichten« werden. Malm antwortet auf die Frage, was seiner Ansicht nach passieren müsste, damit CO2-Emissionen als Gewalt aufgefasst werden:

Malm: Es gibt einen simplen Zusammenhang, den Kim Stanley Robinson in einem Roman beschrieben hat: Eine hyperletale Hitzewelle tötet Millionen Menschen. Danach gibt es keinen Zweifel mehr, dass CO2-Emissionen eine Form von Gewalt sind. Verschiedene Gruppen beginnen daraufhin, fossile Infrastrukturen rund um die Welt zu sabotieren.

ZEIT: Robinson ist ein Science-Fiction-Autor!

Malm: Ja, das geschilderte Szenario entspringt seiner Vorstellungskraft. Aber es hilft uns, zu fragen: Muss es wirklich so weit kommen? Müssen wir erst auf eine Katastrophe von genozidalem Ausmaß warten, bevor wir den Gewaltcharakter von CO2-Emissionen begreifen? (ZEIT 2021)

Der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson wird von Andreas Malm als moralische Unterstützungsinstanz für Klima-Aktionsgruppen wie Fridays for Future und viele andere angeführt, die sich für das Klima einsetzen.

Science-Fiction als Realismus unserer Zeit

Kim Stanley Robinson ist als philosophisch gebildeter und politisch interessierter Schriftsteller daran interessiert, Erzählungen über die Entwicklung der Menschheit in den nächsten denkbaren Zukunftsvariationen zu schreiben. Science-Fiction in der Definition von Robinson ist naturwissenschaftlich basiert, technologisch interessiert, wenn auch darauf nicht der Fokus der Handlung liegen muss, ethisch, moralisch, politisch und philosophisch begründet – und – nicht zuletzt, auf gute Entwicklungen hin ausgerichtet. Science-Fiction kann die Zukunft nicht voraussagen, aber Entwürfe für denkbare, machbare, vorstellbare Szenarien liefern, die eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit besitzen. Robinson bezeichnet Science-Fiction als »Realismus unserer Zeit« und sagt, dass »wir in einem großen Science-Fiction-Roman leben, den wir alle gemeinsam schreiben«. Er führt weiterhin aus, dass wir uns mit einigen »fundamentalen Problemen« konfrontiert sehen, die in der »mittleren Zukunft« liegen, also in den nächsten 100 oder 200 Jahren. Robinson bezeichnet diese Zeitspanne, in der er bevorzugt seine Erzählungen ansiedelt, als »Zukunftsgeschichte«. Diese Future History ist nicht planbar und verläuft nicht gradlinig, sondern ist komplex, kontrovers und widersprüchlich. Wohlgemerkt: Es geht ihm um die Darstellung von gesellschaftlichen Widersprüchen, die zu Problemen führen, die gelöst werden müssen. Das Thema Klimawandel ist das zentrale dabei, aber nicht das einzige. Der Kern seiner Erzählungen ist immer wieder: Widersprüche aufzeigen, Probleme benennen, Probleme lösen, Zukunft gestalten.

Robinson sagt in einem Interview mit Richard Lea »Science-Fiction: the Realism of the 21st Century«, erschienen im GUARDIAN:

Ich glaube, ich schreibe Science-Fiction, weil ich das Gefühl habe, dass, wenn man realistisch über unsere Zeit schreiben will, Science-Fiction einfach das beste Genre ist, in dem man das tun kann. Das liegt daran, dass wir aktuell in einem großen Science-Fiction-Roman leben, den wir alle gemeinsam schreiben.

Man schreibt innenpolitischen Realismus, und man ist in einem winzig kleinen Teil einer viel größeren Realität gefangen. Man schreibt Science-Fiction und schreibt tatsächlich über die Realität, in der wir uns wirklich befinden, und genau das sollten Romane tun.

Wir mögen uns in einem sehr steilen Moment des technologischen und historischen Wandels befinden, aber das bedeutet nicht, dass er so steil bleiben oder sich sogar beschleunigen wird. Praktische und theoretische Zwänge, die selbst über Probleme wie den Klimawandel, mit denen wir jetzt kämpfen, hinausgehen, werden uns schließlich bremsen. Ich gehe davon aus, dass es einige fundamentale Probleme gibt, die uns davon abhalten werden, die Dinge viel spektakulärer zu tun, als wir es jetzt tun. (Lea 2015)

Wie Robinson in einem Interview mit Tasha Robinson ausführt, unterscheidet er zwischen zwei unterschiedlichen Arten der Science-Fiction. Space Operas beispielsweise, die in ferner Zukunft spielen und uns in unerreichbare Winkel des Universums führen, seien im Prinzip nichts anderes als Magie. Aber »Stoffe, die etwa hundert, maximal zweihundert Jahre in der Zukunft angesiedelt sind, in denen unterschiedliche Zukunftsszenarien dargestellt werden[, nenne er] Future History, und das ist mein Wohlfühlgebiet gewesen.« Viele seiner Romane wie New York 2140 spielen in der nahen Zukunft und er »fände es toll, wenn mehr Leben in diesen Bereich käme, sodass die Leute anfangen zu sehen, wie wichtig das, was wir jetzt tun, für die nächsten paar Hundert Jahre ist, und diese riesige Bandbreite an Möglichkeiten erkennen. Ich würde also sagen, mehr Future History.« (T. Robinson 2020)

Das versunkene Venedig

von Kim Stanley Robinson

Als Carlo Tafur sich aus dem Schlaf hochgerappelt hatte, plärrte das Baby bereits laut, der Teekessel pfiff und der Geruch von Ofenrauch erfüllte die Luft. Kleine Wellen schwappten ein Stockwerk tiefer gegen die Wände. Der Morgen dämmerte gerade. Widerwillig befreite er sich aus seinen Laken und stand auf. Er tapste durch das andere Zimmer seines Zuhauses, ohne seine Frau und sein Kind zu beachten, und ging zur Tür hinaus aufs Dach.

Bei Morgengrauen sieht Venedig immer am besten aus, dachte Carlo, während er in den Kanal pisste. Im blassvioletten Licht konnte man sich ausmalen, dass die Stadt noch immer so war wie seit jeher, dass schon bald an diesem schönen Sommermorgen Horden von Touristen den Grand Canal fluten würden … natürlich musste man über die behelfsmäßig zusammengezimmerten Hütten auf den Dächern in der Umgebung hinwegsehen, um sich dieser Phantasie hinzugeben. Um die Kirche herum – San Giacomo di Rialto – waren selbst die obersten Stockwerke aller Gebäude geflutet, weshalb man die Ziegeldächer hatte aufreißen und auf den Dachbalken Hütten hatte errichten müssen, die aus allerlei aus dem Wasser gefischten Material bestanden: Holz, Ziegel, Stein, Metall, Glas. Carlos Zuhause war eine dieser Hütten und bestand aus einem wilden Durcheinander von Holzbalken, Kirchenfensterglas von der San Giacometta und platt gehämmerten Abflussrohren. Er warf einen Blick darauf und seufzte. Am besten war es, den Blick über den Rialto in die Ferne schweifen zu lassen, wo die rote Sonne über den Kuppeln von San Marco loderte.

»Du musst dich heute mit diesen Japanern treffen«, sagte Carlos Frau Luisa von drinnen.

»Ich weiß.« Es kamen nach wie vor Besucher nach Venedig, so viel stand fest.

»Und beleidige sie nicht und rudere dann weg, bevor du bezahlt worden bist«, fuhr sie deutlich vernehmbar fort. »Wie bei diesen Ungarn. Es ist völlig egal, was sie sich von unter Wasser holen, weißt du. Das ist die Vergangenheit. Dort unten hat eh keiner was von dem alten Zeug.«

»Halt die Klappe«, sagt er müde. »Ich weiß.«

»Ich muss Ofenholz und Gemüse und Toilettenpapier und Socken für das Baby kaufen«, sagte sie. »Die Japaner sind deine besten Kunden; behandele sie lieber gut.«

Carlo trat zurück in den Schuppen und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Zwischen einem Stiefel und dem anderen hielt er inne, um eine Zigarette zu rauchen, die letzte, die sie da hatten. Während er rauchte, starrte er seine Bücherstapel auf dem Boden an, seine Bibliothek, wie Luisa sie sardonisch nannte; alles Bücher über Venedig. Sie waren zerfleddert, eselsohrig, angeschimmelt und von der Feuchtigkeit so verzogen, dass kein einziges sich mehr richtig zuklappen ließ. Jede einzelne schimmelige Seite war so wellig wie die Lagune an einem windigen Tag. Sie boten einen jämmerlichen Anblick, und Carlo versetzte dem nächsten Stapel einen leichten Tritt mit seinem kalten Stiefel, als er ins andere Zimmer zurückkehrte.

»Ich geh dann mal«, sagte er und gab erst seinem Baby und dann Luisa einen Kuss. »Ich komme spät nach Hause – sie wollen nach Torcello.«

»Was wollen die denn da?«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollen sie es bloß mal sehen.« Er zog den Kopf ein und trat durch die Tür nach draußen.

Unter dem Dach gab es einen kleinen, rechteckigen Bereich, in dem die Boote aus der Nachbarschaft festgebunden waren. Carlo ließ sich von den Kacheln auf den schmalen Schwimmsteg rutschen, den er und seine Nachbarn zusammen gebaut hatten, und ging zu seinem breiten Segelboot mit dem Segeltuchverdeck. Er trat hinein, knotete es los und ruderte es aus auf den Grand Canal hinaus.

Sobald er auf dem Kanal war, nahm er die Ruder aus dem Wasser und ließ das Boot stromabwärts treiben. Der große Kanal folgte seit jeher dem natürlichen Verlauf der Wasserstraße zwischen den Wattebenen der Lagune hindurch. Für eine Weile hatte man ihn gezähmt, aber nun war er wieder ein Fluss, dessen Ufer aus Ziegeldächern und Steinpalästen bestanden, mit Hunderten von Zuflüssen. Im frühen Morgenlicht arbeiteten die Leute auf ihren Dachhäusern. Die, die Carlo kannten, winkten ihm mit Hammer oder Seil in der Hand, und riefen Hallo. Carlo hob der Form halber ein Ruder in ihre Richtung, bevor die Strömung ihn weitertrug. Es war leichtsinnig, so nah am großen Kanal zu bauen, dessen Strömung inzwischen stark genug war, um die alten Gebäude umzureißen, was sie oft genug auch tat. Aber das mussten die Leute mit sich selbst ausmachen. Genaugenommen waren sie alle hier in Venedig leichtsinnige Narren.

Dann war er im Becken von San Marco und ruderte hinüber, zur Piazetta hinter dem Dogenpalast, der auch mit zwei Stockwerken noch imposant war, und auf die Piazza. Wie üblich herrschte reger Verkehr. Es war der einzige Ort in Venedig, an dem noch wie früher die Massen zusammenströmten, und Carlo mochte ihn eben deshalb, obwohl er ebenso laut fluchte wie alle anderen auch, wenn die Gondeln vor ihm vorbeizogen. Er bahnte sich einen Weg zum Fenster der Basilika und ruderte hinein.

Unter dem blaugoldenen Glanz der Kuppeln war es laut. Der Großteil der Wasserfläche in den Innenräumen war von einem Schwimmdock bedeckt. Carlo machte daran fest, hievte seine vier Tauchflaschen aus dem Boot und kletterte dann selbst hinterher. Mit zwei Flaschen in jeder Hand überquerte er das Dock, auf dem der Fischmarkt gerade in vollem Gange war. Es wurden Paletten voller Meeräschen, Lagunenhaie, Thunfische, Rochen und Plattfische angeboten. Auf Tabletts häuften sich Muscheln, deren Schalen im Sonnenlicht glänzten, das durch das bunt verglaste Ostfenster fiel. Männer und Frauen zogen lebende Krebse aus Löchern im Dock und setzen dabei in den mit Beute vollgestopften Fallen darunter ihre Finger aus Spiel; Oktopusse färbten ihre Wassereimer dunkel, Schwämme schwitzen Schaum; Fischer brüllten Preise und stellten lautstark die Frische der Produkte ihrer Nachbarn infrage.

Inmitten des Fischmarkts hatte Ludovico Salerno, einer von Carlos besten Freunden, seinen Stand mit Tauchausrüstung. Carlos zwei japanische Kunden warteten dort. Er begrüßte sie und reichte seine Tauchflaschen Salerno, der sich daran machte, sie aus seiner Maschine aufzufüllen. Sie sprachen in schnellem, saloppem Italienisch miteinander, während die Flaschen sich füllten. Als sie fertig waren, bezahlte Carlo und führte die Japaner zurück zu seinem Boot. Sie stiegen ein und verstauten ihre Rucksäcke unter der Segeltuchplane, während Carlo die Tauchflaschen an Bord zog.

»Wir sind bereit bei Torcello zu reisen?«, fragte einer, und der andere lächelte und wiederholte die Frage. Sie hießen Hamada und Taku. Sie hatten ein paar Witze darüber gemacht, dass der Name von letzterem so ähnlich wie der von Carlo klang, aber Taku war derjenige, der weniger Italienisch sprach, weshalb die geistreiche Unterhaltung schnell ein Ende fand. Sie hatten ihn vor vier Tagen an Salernos Stand angeheuert.

»Ja«, sagte Carlo. Er ruderte von der Piazza hinunter und durch Seitenkanäle vorbei am Campo Santa Maria Formosa, der fast so voll wie die Piazza war. Dahinter waren die Kanäle leer, und nur dann und wann störte ein Dachhaus das Bild überfluteter Ruhe.

»Dieser Teil der Stadt Venedig hier nicht viele Menschen leben«, bemerkte Hamada. »Nicht Häuser auf Häuser.«

»Das ist wahr«, antwortete Carlo. Als er an San Zanipolo und dem Krankenhaus vorbei ruderte, erklärte er: »Wir sind hier zu nah am Krankenhaus, wo zu viele Erreger aufbewahrt wurden. Krankheiten, Sie wissen schon.«

»Ah, das Krankenhaus!« Hamada nickte, und Taku tat es ihm nach. »Wir sind bei Venedigreise vor dieser hier in Krankenhaus geschwommen. Bergen viele schöne Statuen aus den untersten Zimmern.«

»Steinlöwen«, fügte Taku hinzu. »Viele Steinlöwen mit Flügeln in Zimmern unter Zwanzig-Vierzig-Wasserlinie.«

»Na so was«, sagte Carlo. Steinlöwen, dachte er, aufgestellt am Eingang zum teuren Eigenheim irgendeines japanischen Geschäftsmanns auf der anderen Seite der Welt. Er versuchte, sich abzulenken, indem er die wunderbar gesunden, maskenhaften Gesichter seiner beiden Passagiere betrachtete, die über die geteilte Erinnerung lachten.

Dann waren sie über den Fondamente Nuove, den Nordrand der Stadt hinaus, und in der Lagune. Von Norden kam leichter Wellengang. Carlo ruderte ein bisschen nach draußen und stand dann auf, um das eine Segel des Bootes zu hissen. Der Wind kam von Osten, sie würden also bald in Torcello sein. Hinter ihnen bot Venedig in der Morgensonne einen wunderschönen Anblick, als wären sie kilometerweit von der Stadt entfernt, sodass ein Horizont aus Wasser ihnen teilweise die Sicht versperrte.

Die beiden Japaner hatten aufgehört zu reden und blickten nun über die Reling. Sie befanden sich über dem Friedhof von San Michele, begriff Carlo. Unter ihnen lag die Insel, die über Jahrhunderte hinweg der Hauptfriedhof der Insel gewesen war; sie segelten über ein Feld von Grüften, Mausoleen, Grabsteinen, Obelisken hinweg, das bei Ebbe zuweilen zu einer Gefahr für die Schifffahrt wurde … man sah gerade genug von den bizarren weißen Blöcken, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass es sich bei ihnen in Wirklichkeit um das Resultat architektonischen Denkens bei Fischen handelte. Carlo bekreuzigte sich kurz, um Eindruck bei seinen Kunden zu schinden, und setzte sich dann an die Pinne. Er zog das Segel straff, und sie krängten leicht und klatschten durch die Wellen.