Kinder der Stadt - Olga Bach - E-Book

Kinder der Stadt E-Book

Olga Bach

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Beschreibung

Olga Bach erzählt mit leise durchtriebenem Humor und luzidem Blick von drei ungleichen Freund:innen, die durch das Theater zueinanderfinden, von einem scheinbar simplen Auftrag, der grandios zu scheitern droht, und von der emanzipatorischen Kraft der Kunst. Zur Eröffnung eines Museums sollen der Regisseur Orhan und die Dramatikerin Irina eine Performance entwickeln, in der sie sich mit den vielfältigen Identitäten der Berliner Nachwende-Generation auseinandersetzen. Schnell getan, gut bezahlt, denken sie sich. Da die Museumsleitung »Ost-Biografien« vertreten sehen will, bitten sie ihre Freundin Maria, mitzumachen. Als Jugendliche lernten sie sich am Theater kennen, durchstreiften die sich rasant wandelnde Stadt und realisierten erste gemeinsame Projekte – bis zu einer Auftragsarbeit vor sieben Jahren, die alles veränderte. Beim Schreiben der Texte versucht Irina nun zu verstehen, was damals geschehen ist, zu ordnen und zusammenzuhalten, was ihr in der Gegenwart zu entgleiten droht. Denn während die Eröffnung aufgrund der Pandemie immer wieder verschoben wird, die Museumsleitung mehr und mehr inhaltliche »Vorschläge« macht und ihr exzentrischer Vater das Gedächtnis verliert, bringt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lang unterdrückte Konflikte ans Licht.

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Seitenzahl: 354

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Olga Bach

Kinder der Stadt

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Olga Bach

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

EINS

November 2019 

September 2006 

November 2019 

Kinder der Stadt

September 2006 

Dezember 2019 

Kinder der Stadt

Januar 2020 

Kinder der Stadt

Januar 2020 

Oktober 2006 

Januar 2020 

Berlin, November 2006 

März 2020 

April 2020 

ZWEI

März 2007 

April 2020 

Kinder der Stadt

Mai 2007 

Mai 2020 

Juni 2020 

Juli 2007 

Kinder der Stadt

August 2020 

Februar 2008 

DREI

September 2020 

Kinder der Stadt

März 2008 

September 2020 

Kinder der Stadt

Oktober 2020 

August 2012 

Kinder der Stadt

Oktober 2020 

Kinder der Stadt

Oktober 2020 

VIER

Oktober 2020 

Kinder der Stadt

Herbst 2012 

November 2020 

September 2013 

November 2013 

FÜNF

April 2021 

Kinder der Stadt

Juli 2021 

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Für Marianna

Inhaltsverzeichnis

EINS

November 2019 

Orhan nimmt das bunte Tuch vom Hals und wickelt es sich um den Kopf. Wer soll er sein: Grace Kelly oder seine Großmutter? So wendet er sich in Richtung Pankstraße. Er wiegt sich in den Hüften und winkt den Autos zu, wirft Kusshände, als wären die Vorbeifahrenden gute Bekannte. Oder seine Fans. Eine ältere Frau bleibt stehen und mustert die seltsame Dame entgeistert.

Als Orhan die Bäckerei betritt, nimmt er das Tuch ab, küsst mich und verkündet stolz: »Ich bin mit der S-Bahn gekommen. Seit drei Tagen fahr ich kein Taxi mehr. Gott, ist das langsam.«

Vor der Auslage lässt er sich vom Verkäufer den Belag der Brötchen beschreiben. »Magst du auch noch was, Irina?«, fragt er mich, ohne sich umzudrehen.

»Ich nehme einen Kaffee. Warum müssen wir die überhaupt so früh treffen?«

Wie so oft antwortet er nicht auf meine Frage, hält mir nur sein riesiges Sandwich hin. »Hier. Damit du mal ein bisschen zunimmst.«

Jetzt betritt Günther, der Lichtdesigner, fahl wie der Tod, den Backshop. Ich sehe ihn normalerweise nicht tagsüber, sondern nur nach Sonnenuntergang in Bars. Auch Orhan und Günther küssen sich zur Begrüßung auf den Mund. Nun kommt Lukas, der Schauspieler, herein, den Schal bis über die Nase gezogen. »Warum müssen wir die so früh treffen?«, faucht der dritte Nachtvogel.

»Irina«, Orhan dreht sich wieder zu mir, »kannst du kurz für uns zusammenfassen, was dieses Museum ist und was wir da heute machen sollen?«

»Warum denn ich? Du hast die Anfrage von denen bekommen.«

»Aber ich hab dir doch das Informationsmaterial weitergeleitet.«

»Die PDF von vorgestern Nacht? Das waren 120 Seiten.«

Orhan zuckt mit den Schultern. »Also. Ich kenn eigentlich nur den Kommunikationsleiter. Noch von früher aus München. Er hat grad erst da angefangen und uns der Direktorin vorgeschlagen. Zur Eröffnung des Museums kommen wichtige Leute aus der Politik. Die wollen das Event groß aufziehen.«

»Und wann soll das stattfinden?«

»Im Mai.«

»Ist das nicht ein bisschen kurzfristig?«

»Es ist ja nicht viel Aufwand. Das Programm soll nur etwa eine Stunde gehen. Vielleicht eine Pressekonferenz davor. Und das Budget ist ordentlich.« Orhan wendet sich an Lukas: »Wir stellen dich heute als unseren Produzenten vor.«

Lukas erstarrt. »Ich hab doch gar keine Ahnung von Produktion.«

Orhan zieht den Teller mit dem Sandwich wieder zu sich heran. »Es geht am Ende eh nur um Budgetpläne.«

»Wir müssen das selbst produzieren?«, frage ich.

»Sonst hätten sie eine Ausschreibung machen müssen. Weil auch öffentliche Gelder verwendet werden. Aber das meiste Geld kommt von einem Stifter, ich glaub, er ist Amerikaner.« Er schaut auf seine Apple Watch. »Wir müssen los. Irina, hast du schon bezahlt?«

Ich krame überrascht nach meinem Geldbeutel. Sonst zahlt Orhan doch für alle.

Vor der Tür windet sich der Schauspieler den Schal wieder ums Gesicht, Orhan zurrt die Kapuze seiner Jacke so zu, dass nur noch Augen und Nasenspitze hervorschauen, und ich setze meine Pelzmütze auf. Die hat mir meine Mutter Maya geschenkt. Nur der Lichtdesigner steht kahl da, schweigt viril und raucht jetzt im Gehen eine seiner selbst gedrehten Zigaretten ohne Filter.

»Irina, warum bist du eigentlich immer die einzige Frau?«, fragt Orhan. »Kannst du Frauen an deiner Seite nicht ertragen?«

»Was ist das denn jetzt für ein Quatsch?«

»Hast du überhaupt Freundinnen?«

»Ja, das weißt du doch. Susanne zum Beispiel. Und Bianca. Und Maria …«

»Aber Maria ist nicht in Berlin.«

»Aber warum muss meine Freundin denn in Berlin sein?«

Das Amtsgericht Wedding links mit Stufengiebeln, Erkern und Zinnen: Neugotisch, höre ich den inneren Zoba sagen.

Orhan und ich streiten uns bis zur Böttgerstraße über die Frage, ob ich Frauen neben mir nicht aushalte.

Lukas deutet begeistert auf das Gebäude links mit den exzentrischen Treppen und Terrassen: »Ist es das?«

Orhan schüttelt den Kopf. »Aber unseres wurde auch von einem Stararchitekten entworfen.«

Vor uns ragt der Humboldthain in die Höhe, seit Kurzem sind die Bäume entlaubt, darüber thront der Flakturm. Links liegt der Fernbahnhof Gesundbrunnen. Unter der Hochstraße Bahngleisgewirr. Ein ICE gleitet in Richtung Süden davon. Abrissunternehmen, Sperrmüllentsorgung. Vor einem unauffälligen Haus bleiben wir stehen. Sandsteinfarbene Fassade, schmale Fenster. Orhan klingelt, und eine Tür öffnet sich automatisch. Stylischer Sichtbeton im Eingangsbereich. Der Boden ist mit einer Plastikplane abgedeckt. Hinter Glas sitzt der Pförtner in Uniform, berlinert über seine Sprechanlage. Man meldet uns an.

»Wie heißt dieses Museum noch mal?«, flüstert der Schauspieler.

»Museum für Identität und irgendwas anderes noch«, flüstere ich.

Dann warten wir. Der Pförtner schweigt, alle schweigen. Bis endlich eine der Glastüren aufgeht und uns ein Mann mit ausgestreckten Armen entgegenkommt. Das muss der Kommunikationsleiter sein. »Orhan! Wie wunderbar!«

Orhan stellt uns vor. »Und das ist Irina Funke. Unsere Autorin.«

»Toll. Wir freuen uns wirklich sehr. Meine Chefin erwartet euch schon im Konferenzraum.« Und an den Pförtner gewandt: »Die Gäste müssen sich noch eintragen, haben Sie vielen Dank.« Nacheinander beugen wir uns über das Papier, während der Kommunikationsleiter weiterredet. »Entschuldigt die Unordnung, wir sind ja noch mittendrin, uns hier einzurichten.« Dann zwinkert er. »Meine Vorgesetzte wartet zwar, aber wir haben sicher noch Zeit für eine kleine Führung.«

Wir haben Mühe, ihm zu folgen.

»Das ist der Verwaltungsbereich, dort drüben wird das Forschungszentrum seine Büros bekommen.«

Unfertige Büros, auch hier ist der Boden ausgelegt mit Plastikplanen, Kisten stapeln sich, es riecht nach Gips. Dann hält der Kommunikationsleiter seinen Chip ans Lesegerät neben einer meterbreiten Stahltür. »Hauptfigur des Geschehens ist gerade die Architektur. Was ihr hier alles veranstalten könntet!«

In Zeitlupe öffnet sich die Stahltür – dahinter erscheint ein endloser Raum.

Wie kann dieses von außen so klein wirkende Haus eine so große Innenfläche haben?

Der Kommunikationsleiter hebt die Arme: »Das ist das Foyer. Darüber sind drei weitere Stockwerke. 3000 Quadratmeter Ausstellungsfläche.«

Galerien, Schrägen, frei schwebende Treppen und Rampen aus Glas. Lukas macht mit gewichtiger Produzentenmiene Fotos und Günther wirkt gänzlich unbeeindruckt, zieht sich die Lederjacke aus und hängt sie sich über den Arm. Unendlich weit weg von uns ist ein Technikteam damit beschäftigt, Kabel zu verlegen.

Womit ist dieser Stifter so reich geworden?

Die anderen steigen bereits eine der Freitreppen hinauf, ich haste hinterher. »Kanntet ihr den Stararchitekten vorher? Du, Orhan? Er realisiert vor allem Projekte in China.«

Im obersten Stock mischt sich Tageslicht mit diffusem künstlichen Licht, dessen Quelle ich nicht sehe.

»Auf dem Dach wird eine komplexe Urban-Gardening-Struktur angelegt. Mit Kaninchenställen. Der Ort soll auch ein Treffpunkt für die Jugend aus der Umgebung werden. Das ist dem Stifter besonders wichtig«, erklärt der Kommunikationsleiter.

Durch eine meterlange Glasfront geht der Blick in Richtung Humboldthain.

Orhan tritt ans Fenster und schaut über die Stadt. Vorhin noch Grace Kelly, jetzt breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen. Die Kleidung ganz in Schwarz, wahrscheinlich Yamamoto.

»Günther, könnte man von hier aus auch die Bäume da im Park anleuchten?«

»Klar.«

Der Schauspieler tritt an den Kommunikationsleiter heran, räuspert sich und setzt mit tiefer Stimme an: »Wegen der Budgetpläne …«

Aber der Kommunikationsleiter schaut auf die Uhr. »Verzeihung, jetzt sollten wir wirklich in den Konferenzraum gehen.«

Kurz darauf stehen wir wieder im ersten Stock vor einer Stahltür.

Der Kommunikationsleiter stößt sie auf. Die Museumsdirektorin ist habilitierte Soziologin. Das habe ich auf der Webseite gelesen. Weiße Haare, weißer Schal über grauem Tweed-Kostüm, die Augen sehr ernst hinter der Brille. Sie ist genauso groß wie ich. Das passiert mir selten bei einer Frau.

»Entschuldigen Sie die Unordnung!«

Ich sehe mich um. Auf dem Tisch steht Mineralwasser in kleinen Flaschen, daneben eine Thermoskanne und ein Teller mit sorgsam geschichteten Keksen. Notizblöcke liegen aus.

Die Direktorin streicht sich die Bluse glatt und sieht uns abwartend an.

Der Kommunikationsleiter setzt sich schwungvoll und bedeutet uns, ebenfalls Platz zu nehmen. »Ich denke, es macht Sinn, wenn ich erst einmal kursorisch das Museum beschreibe.« Er hat rote Flecken im Gesicht.

Meterweit voneinander entfernt sitzen wir stumm da. Seltsam zwergenhaft sieht man an diesem Tisch aus.

»Das Museum für Identität und Wiedervereinigung widmet sich der Postwendezeit mit besonderem Fokus auf die Hauptstadt«, beginnt er seinen Vortrag.

Günther schnappt sich eine der Wasserflaschen, öffnet sie geräuschvoll und nimmt einen tiefen Schluck.

»Damit schließen wir eine erinnerungspolitische Lücke in Berlin. Wir beschäftigen uns mit dem, was gerade erst zu Erinnerung geronnen ist und gleichzeitig als unmittelbare Vergangenheit im Jetzt fortwirkt.«

Lukas nickt bei jedem Satz bedächtig und zieht einen der Notizblöcke zu sich heran.

»Wie ihr sicher schon gehört habt, sprach man in den 90ern vom Ende der Geschichte. Nun – wir wissen inzwischen, dass das nicht stimmte. Was aber ist Geschichte seit 1990? Sicher ist, es ist die Geschichte einer Auflösung. Stabiles wurde fragil. Terror, Finanzkrise, Klimawandel, Europa in der Krise, Flucht, Populismus, Krieg. Es ist aber auch, positiv gewendet, die Geschichte einer Öffnung. Fluide winden sich Identitäten um historische Wegmarken, durchwirken sich gegenseitig und beanspruchen erstmals Anerkennung. Wir als Stiftung kreisen um Fragen wie: Was bedeutet es heute, seine Identität, kollektiv und individuell, vereinigt, aber doch differenziert in einer Stadt wie Berlin zu verorten? Was ist der gemeinsame Nenner in der neuen Multiperspektivität? Und wie können wir uns erinnerungspolitisch darauf verständigen? Bedeutet Pluralisierung notwendigerweise Fragmentierung? Hören wir uns noch gegenseitig zu? Ihr seht, eine Frage reiht sich an die nächste. Wir sind nicht nur Museum, sondern auch offenes Labor, Forschungszentrum und Diskussionsforum. Im Austausch mit den Akteuren dieser Stadt.«

Wir Theaterleute schweigen und lächeln, nur Günther bleibt steinern.

»Vielleicht möchten Sie etwas ergänzen?«, fragt der Kommunikationsleiter seine Chefin.

Die richtet sich auf. Sie wirkt irgendwie unfertig als Direktorin. Als müsste sie noch in die Rolle hineinwachsen.

»Sicherlich geht es darum, eine Lücke hier in Berlin zu schließen«, sagt sie langsam. »Aber das ist nicht alles. Sie werden wahrscheinlich wissen, dass dieser Ort von einem Philanthropen gestiftet wurde. Seine Großeltern sind damals aus dem Wedding in die USA emigriert, um ihren Verwandten zu folgen, die es dort zu etwas gebracht hatten. Er will zu diesem Kiez, dem Ort, an dem seine Großeltern aufgewachsen sind, etwas beitragen. Wir agieren damit lokal, sind aber gleichzeitig global vernetzt und wollen über Berlins Grenzen hinaus bekannt werden.«

Orhan schaut versonnen aus dem Fenster. Irgendwann muss einer von uns etwas sagen. Ich räuspere mich: »Haben Sie denn schon konkrete Vorstellungen, was die Performance angeht? Der Stiftungszweck ist ja eher … weit gefasst.«

Der Kommunikationsleiter schlägt enthusiastisch die Beine übereinander. Wie sein Gesicht wohl aussieht, wenn er nicht lächelt? »Irina, danke, dass du das ansprichst. Wir haben dich, Orhan, angefragt, natürlich zuallerst wegen deiner spektakulären Bildsprache. Nur ein Regisseur wie du kann diese immense Fläche bespielen. Aber du bist auch ein zur Wende geborener Berliner und stehst mit deiner Identität für die Diversität, von der ich gerade sprach. Du, ihr«, der Kommunikationsleiter nimmt Orhan, Günther, Lukas und mich in einer Geste zusammen, »seid eine offene Auseinandersetzung mit unserer Ausstellung, einfach, weil ihr seid, wer ihr seid.«

»Günther, bist du nicht in den 60ern irgendwo bei Landshut geboren?«, fragt Orhan.

Der Lichtdesigner nickt.

Orhan lehnt sich vor. »Weil du von Multiperspektivität sprachst: Ich stelle mir die Performance ohne Zentralperspektive vor. Als eine Abfolge von Bildern, um die das Publikum frei herumgehen kann. Ohne aber mit den Performern interagieren zu können. Wir beginnen unten im Foyer mit dem ersten Bild. Von dort morpht sich eins ins nächste, bis ganz oben. Ich werde ein Streichorchester einsetzen, die Musikerinnen überall verteilen. Günther macht eine komplexe Lichtinstallation, die die Umgebung mit einbezieht. Die Geschichte vom Haus sollten wir auf jeden Fall einbauen. Irina, du kannst mit dem Museum im Austausch bleiben, was den Text angeht.«

»Toll, toll!«, ruft der Kommunikationsleiter und schaut zur Direktorin.

Sie nickt langsam. »Herr Stern, es ist ein Experiment, für Sie wie für uns. Wir im Museumskontext folgen sicherlich anderen Logiken als Sie am Theater. Wir müssen die empfindlichen Belange der verschiedenen Beteiligten berücksichtigen. Es gibt natürlich viele Details zu besprechen. Aber wir freuen uns sehr darauf.«

 

Kapuze zugezurrt, Schal umgeschalt, selbst gedrehte Zigarette, Pelzmütze. Der Kommunikationsleiter steht noch kurz mit uns auf dem Bürgersteig vor dem Eingang, er zittert in seinem eher schlecht sitzenden Anzug. Und endlich lächelt er nicht mehr. Seine Stimme ist hier, außerhalb der Museumsräume, plötzlich viel ruhiger. Er lässt sich vom Schauspieler eine Filterzigarette geben. Nimmt ein, zwei nachdenkliche Züge und sagt schließlich: »Ich muss es wahrscheinlich nicht erwähnen. Aber Ost-Identitäten dürfen auf gar keinen Fall unter den Tisch fallen. Wir haben Akteure aus den Neuen Bundesländern im Stiftungsrat. Das bleibt unter uns, aber auf das Thema reagiert der Rat der Foundation sehr empfindlich.«

»Klar, wir verstehen, danke für den Hinweis.«

Freundliches Verabschieden. Hochstraße, Gleise, Züge. Orhan wendet sich in Richtung Gesundbrunnen. »Ich nehm jetzt die S-Bahn nach Hause und koche eine Hühnersuppe für Barne. Der liegt krank im Bett. Sehen wir uns heute Abend in der Ankerklause?«

×

Diner-Sitzecken, federnde Bänke mit dunklem Lederbezug, dazwischen Tische mit Chrombeinen und schwarzer Platte. Vor den Fenstern ziehen Menschengruppen über die Kottbusser Brücke. Ein, zwei Mojitos, Jukebox, eine Zigarette nach der anderen, Freunde kommen und gehen, quetschen sich auf die Bänke. Basti klaut wie immer Salzstreuer. Gegen Mitternacht treffen Orhan und ich uns in einer Klokabine. Er hat sein Handy auf dem Spülkasten abgelegt und legt uns zwei Lines. Von hier oben kann ich die kahlen Stellen erkennen, die der kreisrunde Haarausfall hinterlassen hat.

»Es ist schon absurd«, sagt er, während er das Kokain mit zwei Sparkassen-Karten klein hackt. »Dieses Museum labelt mich queer und divers. Während ich am Theater schon zu den alteingesessenen Männern gehöre, die langsam mal Platz für Neue machen sollen. Ausgerechnet ich. Jetzt brauchen wir nur noch einen Ossi.«

»Maria ist eine Ossi«, sage ich. »Maria mit ihren DDR-Eltern, die jetzt für die Linke arbeitet. Das passt doch perfekt.«

»Meinst du, sie würde wieder mit uns arbeiten?«

»Vielleicht nicht. Ich frage sie.«

»Wir machen bestimmt wieder ein Meisterwerk«, sagt er und zieht dann seine Line. Er klingt beinahe traurig.

»Orhan?«

»Ja?«

»Hast du Geldsorgen?«

Er richtet sich auf und reicht mir den eingerollten Schein. »Ich hab einfach zu viele Fixkosten. Und dann noch das ganze Geld, was ich meiner Familie gebe …«

Zwei Uhr nachts. Wir fahren mit einem Uber die Sonnenallee hoch. Hinter dem S-Bahnhof biegen wir links ab. Im Hotel Estrel gibt es Stars in Concert. Die Poster kennt jede Berlinerin. Dahinter, finster, das Gewerbegebiet. Wir halten und gehen über Kopfsteinpflaster. Hier im Hinterhof befinden sich ein KfZ-Betrieb, ein Poledancestudio und ein Schrottplatz. Wir schauen uns kurz um. Unsere Freunde sind noch nicht angekommen. Orhan wirkt angespannt. Der Türsteher nickt und wir betreten das Fabrikgebäude.

»Irina, ich wollte immer schon, dass du einmal meine Geschichte schreibst. Vielleicht ist jetzt der Moment gekommen«, sagt Orhan noch zu mir.

Dann verliere ich ihn in der Menge.

Sergio. Immer gibt es auf diesen Partys einen Antonio, Sergio oder Matteo. Seit zwei Tagen wach. Geht später noch in die Rummelsburger Bucht. Programmierer, DJ, Kellner. Hat vor acht Jahren eine Eigentumswohnung mit dem Geld seiner Eltern gekauft. Ihr Wert hat sich seitdem vervierfacht. Der Fotojournalist an der Bar arbeitet für die WELT, ist gerade erst aus Nordsyrien zurückgekehrt. Wir setzen uns ins räudige Treppenhaus auf Bürostühle und nehmen Ketamin. Immer wieder gehen Leute die Treppen hoch oder runter.

»Seid ihr eine Reisegruppe?«, rufe ich ihnen hinterher.

Er zeigt mir Fotos auf seinem iPhone: »Diese Frau versteckt sich vor den Bomben.«

Irgendwann fotografiert er mich, ich kann meine Augen nicht offen halten.

»Das war eine Reise, sechs Wochen Nordsyrien! Aber das hier, das ist auch eine Reise.«

Stunden später warten Orhan und ich schweigend vor dem Club. Über uns der graue Himmel. Ich nehme ihm die Brille ab, um seine Augen besser sehen zu können. Er lässt es zu. Die Haut ist trocken und rot. Ich kann seinen Blick nicht deuten, er schaut weg. Mein Herz verkrampft sich.

»Mach dir keine Sorgen! Mir geht es gut«, sagt er und steigt in ein Uber.

Zum Abschied küssen wir uns nicht auf den Mund.

In Tempelhof riecht es im Treppenhaus schon nach deutschem Mittagessen. An den Haustüren Willkommenskränze. Gäste sehe ich nie.

Vor dem Spiegel erschrecke ich mich. Alles voller Blut? Nein. Es ist der Lippenstift. Warum noch mal gibt es in Clubs keine Spiegel? Ein Ohrring fehlt. Funkelnde Fliegen. Ich steige in die Badewanne, hocke mich hin und lasse heißes Wasser über meinen Kopf fließen. Was wird Maya sagen? Sie hat mir die Ohrringe gerade erst zu meinem 29. Geburtstag geschenkt. Ich könnte sie einfach noch mal kaufen, dann merkt sie es nicht. Ich muss sie nur unauffällig fragen, wo sie sie herhat. Ich wasche meine Haare mehrmals.

Im Schlafzimmer ist das Bett leer. Gabriel ist nicht da. Ich weiß schon jetzt, nach drei Stunden werde ich aufwachen und nicht wieder einschlafen können.

×

Seit nun fast einem Jahr arbeitet Gabriel in der Klinik in Schleswig-Holstein, das ist Teil seiner Ausbildung zum Psychotherapeuten. Ich stelle mir vor, wie er vor unserem Bett umhergeht. Er hat das Porträt seines großen Bruders auf dem Unterarm, er hat es sich vor acht Jahren stechen lassen. Kurz nachdem sein Bruder gestorben ist. Wir hatten uns gerade kennengelernt.

[Irina]

G, wie gehts dir? Vermiss dich hier.

Seit fast 24 Stunden liege ich im Bett. Ich schaue mir Fotos an. Ein Selfie von uns beiden. Blauer Himmel hinter uns, wir lächeln. Ich habe sein T-Shirt um meinen Kopf geschlungen. Warum, weiß ich nicht mehr.

[Gabriel]

Hi Eule – freu mich schon auf unser Nest. Wie wars im Museum?

Es ist ja gar nichts passiert. Trotzdem fühle ich mich, als müsste ich etwas geheim halten. Gabriel schläft in einem Zimmer neben der Klinik. Zum nächsten Supermarkt läuft er eine halbe Stunde. Die anderen Auszubildenden haben Eltern aus Algerien, dem Kosovo und der Türkei. Es können sich nicht alle leisten, ein Jahr lang unbezahlt in den Großstädten zu arbeiten.

Zoba. Der Name meines Vaters leuchtet auf meinem Display auf. Ich gehe ran.

»Irina, mein Reh, wie siehst du aus?«

»Ich glaube, ich sah schon mal besser aus«, sage ich kratzig.

»Wann kommst du?«

»In zwei Stunden geht mein Zug.«

»Mach dich auf was gefasst! Ich bin entsetzlich gealtert. Kaum wiederzuerkennen.«

»Ach Quatsch. Ich meld mich, wenn ich zwischen Hannover und Bielefeld bin.«

»Adieu.«

Ich ziehe Gabriels Jeans und Orhans Mantel an. Setze mir Mayas Pelzmütze auf. 1378 Seiten Die Wohlgesinnten liegen in meinem Koffer. Nach Effingers nun die Täter.

Ordensmeisterstraße Richtung Tempelhofer Damm. Die Kastanienbäume stehen kahl vor dem Plattenbau aus braunkörnigem Beton. Ein alter Mann hat darin neulich seine junge Geliebte ermordet. Berlins größtes Bräunungscenter.

Das Ullsteinhaus, auf der anderen Seite des Teltowkanals, vor berlingrauem Himmel. Die riesigen goldenen Zeiger am Turm sind stehen geblieben. Warum funktionieren in dieser Stadt so viele Uhren nicht?

Zwei Männer aus Ägypten führen den kleinen Backshop unten am Gleis vom U-Bahnhof Ullsteinstraße, sie sind immer gut gelaunt. Die extreme Sommerhitze von 2019 war noch weit in den Herbst hinein dort unten eingeschlossen. Wie viele Jahre meines Lebens habe ich in der U-Bahn verbracht? Seit meinem zwölften Geburtstag mindestens eine Stunde am Tag. Es müssen Jahre sein. Ich schreibe Gabriel.

In den Waggons sitzen Arbeiter, mittelalte Leute, die auf ihren Smartphones bunte Spiele zocken, Schülerinnen, die nicht in der Schule sind, mit sich selbst sprechende oder sich gegenseitig anschreiende Besoffene, Rentnerpaare in heller C&A-Kleidung, die sich schweigend, aber einvernehmlich über die anderen ärgern.

[Gabriel]

17 Jahre mal 365 sind 6205 Tage plus 4 Tage wegen Schaltjahre, also 6209 Stunden, geteilt durch 24 sind 258.71 Tage, geteilt durch 30,5 sind 8,48 Monate. So viel bist du U-Bahn gefahren.

Im ICE schreibt der Mann neben mir auf seinem Laptop über das Motiv der Jukebox in den Filmen von Aki Kaurismäki. Ich schlafe ein, wache in Wolfsburg wieder auf. Das fette Wappen des VW-Konzerns. Beim Hinausschauen muss ich die Augen zusammenkneifen. Ein Jahr habe ich nur auf Buchseiten geschaut. Schönfelder, Sartorius, Trojan, Münchner Kommentar, Palandt, Staudinger, Münch/Kunig, Pieroth/Schlink, Roxin, Beck’sches Examinatorium. Tausende Falllösungen. Tausende Karteikarten.

Stellen Sie den Prüfungsablauf des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV dar. Bei einer OHG haften gem. § 128 HGB alle Komplementäre akzessorisch mit ihrem Privatvermögen für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft. Wie ist dies bei der GbR? Sofern eine Haftung besteht: Wird auf Erfüllung gehaftet? Erläutern Sie das Konzept vom »Täter hinter dem Täter«. Welche Fallgruppen gibt es?

Ich muss rülpsen, die Attacke ist aber zum Glück nach wenigen Minuten wieder vorbei. Vor einem Jahr hat das angefangen. Als ich begonnen habe, für das Staatsexamen zu lernen. Und als Gabriel und ich zusammengezogen sind. Mehrmals am Tag rülpse ich wie vom Teufel besessen. Das Internet nennt mein Problem »Aerophagie«. Ich war bei einer Logopädin, die mich aber nach zwei Sitzungen bei einer Psychotherapeutin besser aufgehoben sah. Aus Zeitmangel habe ich mich nie um einen Termin gekümmert.

Ich öffne meinen Koffer. Die Wohlgesinnten. Ein roter Ziegel, so wie der Schönfelder.

 

Bielefeld Hauptbahnhof. Alle haben es eilig, der Bahnsteig leert sich schnell. Ein Schaffner steht in einiger Entfernung am Gleis, er schaut konzentriert an mir vorbei. Die Treppen hinab, ein langer unterirdischer Gang. Hoffentlich stimmt es nicht. Hoffentlich ist er nicht alt geworden. Rolltreppe hoch, da steht er, direkt beim Bahnhofscafé. Und hebt begeistert die Arme. Er ist nicht alt, er ist der Alte.

»Irina!«

»Zoba!«

Wir tänzeln langsam aufeinander zu, halten uns an den Unterarmen, er studiert mein Gesicht, bevor ich ihn an mich ziehe und umarme. Manchmal muss ich bei diesen Begrüßungssituationen weinen, vor Freude und Rührung, über ihn, über uns zwei.

»Chapeau, Chapeau zum Staatsexamen! Die Juristin und Dramatikerin! Schreibt Stücke und juridiert!«

»Du siehst gar nicht älter aus!«

»Nicht?«

Er fährt sich durch die Haare. »Ach, dein Vater ist schrecklich gealtert. Ich bin im 80. Jahr! Komm, wir holen uns einen Cappuccino und schauen Leute an!«

Er trägt die halb offenen Lederpantoffeln, die er oft anhat, wenn er mich abholt. Als wäre er überall zu Hause. Zerschlissene Kordhosen, hellblauer Seemannspullover, die uralte zweireihige Jacke aus dickem Stoff mit hohem Kragen. Wie gut er immer noch aussieht. Maya sagte einmal: »Er hat mir sein Profil hingehalten. Angeschaut hat er mich nicht.«

Die buschigen Augenbrauen wachsen wild, er muss sie sogar ab und zu vom Barbier in Melle stutzen lassen. Darunter vom Alter verschwommene Augen. Sie waren einmal braun. Mit denen verfolgt er jetzt begeistert das Kommen und Gehen. Ein behinderter Mann bittet uns, seine Cola zu öffnen. Es macht ZISCH, alles spritzt, die Frau hinter der Theke ruft streng: »Reinhard, hast du wieder deine Flasche geschüttelt?«

Wir wischen alle gemeinsam die Cola von den Tischen.

Zobas Renault Espace parkt im absoluten Halteverbot vor dem Bahnhof. Keine der Türen lässt sich verschließen. Der Schlüssel steckt, wie so oft.

Es ist sein vierter Espace. Das Modell kauft er seit Jakobs Geburt.

»Jakob kommt später. Er konnte meinen Zug nicht nehmen.«

»Ach, Jakob, der Ästhet, herrlich.«

Im Inneren riecht es herb, nach Kohl oder Holz vielleicht, jedenfalls nicht städtisch. Alles braucht seine Zeit. Jetzt müssen wir erst einmal sitzen, im Auto, vorm Bahnhof.

»Ich war noch auf dem Hardigen, hab Holz von Leo geholt, für den Kamin.«

Der Espace ist vor allem zum Transport von Sachen gut.

»Hat er dich nicht neulich angeschrien: Hau bloß ab!?«

»Doch.«

»Habt ihr euch vertragen?«

»Nein.«

»Wieso bist du dann wieder zu ihm gegangen?«

»Er war gar nicht da.«

»Also hast du dir das Holz einfach so genommen?«

»Na hör mal, ist doch mein Zwilling, der Leo!«

Wenn ich nicht die Stiefel anhätte, würde ich die Füße auf dem Armaturenbrett ablegen. »Ich hab grad im Zug ein Buch angefangen, über einen Mann im Zweiten Weltkrieg, der ist 1914 geboren, genau wie Dankmar. Und er war 1941 auch in der Ukraine und später im Kaukasus. Nur ist der Protagonist, Dr. Aue, bei der SS und nicht bei der Wehrmacht. Sehr verstörend bisher.«

»Wir waren ja schon in der Ukraine, auf Dankmars Spuren, du und ich.«

»Ich weiß.«

Zoba tätschelt das Lenkrad. »So weit sind wir damit schon gekommen.«

Dann startet mein Vater den Wagen. Wir verlassen Bielefeld in Richtung Werther, links von uns der Teutoburger Wald.

Irgendwann werden die Straßen einspurig, führen an Feldern vorbei.

Wir fahren im Schneckentempo, 20 km/h. Zoba erzählt. Nein, er quatscht mich zu. Seine beiden Brücken in Berlin-Mitte, am Bodemuseum und Berliner Dom seien eine »Venezianisierung der Spree«. In Oldenburg seien »die Silberlinden die Skulpturen meiner Brücke. Inzwischen weiß man’s ja, die wahren Heiligen sind die Bäume!« Er spricht von sich in der dritten Person. »Die Fouqué-Brücke in Brandenburg, vom Architekten Z.S.«

Ich schaue in die Weite, auf Gehölze, Pfützen, einen einsamen Reiher.

»Bei der Jannowitzbrücke braucht Berlin noch eine Brücke. Da am Märkischen Ufer. Weißt du, welche Stelle ich meine?«

»In Richtung Fischerinsel?«

»In Richtung Fischerinsel! Man müsste die beim Bausenat überzeugen. Dass da eine Brücke fehlt. Eine Fußgängerbrücke mit einer Bar in der Mitte. Wo die Leute saufen können. So wie’s sich gehört.«

Er wird noch Pläne schmieden, wenn er auf dem Totenbett liegt.

»Hanno Rauterberg beschwert sich immer über das zeitgenössische Bauen. Da hab ich ihm mein Material zu den Brücken geschickt. Das sollen sie in ihrer nächsten Ausgabe drucken.«

»Wer ist Hanno Rauterberg?«

»Der vom Feuilleton der ZEIT.«

»Aber das ist doch ein Wochenblatt. Da ist bestimmt schon alles belegt. Gib’s doch lieber der FAZ! Wir könnten das Maria schicken.«

»Maria ist bei der FAZ?«

»Maria war bei der FAZ.«

»Maria war bei der FAZ …«

»Jetzt arbeitet sie für Die Linke.«

»Und Orhan. Wie geht’s dem?«

»Er ist überarbeitet und scheint Geldprobleme zu haben. In ein paar Monaten hat er sein Operndebüt. An der Deutschen Oper.«

»Orhanito. Der Zauberer. Ist an seinen eigenen Manierismen erstickt.«

»Bei so vielen Premieren im Jahr kann nicht jede gut sein …«

Kurz hinter einem Wäldchen halten wir an und lassen die Fenster herunter, um den Regen zu hören.

»Der Regen tut der Landschaft gut«, sagt Zoba und schließt die Augen.

»Gibt es hier auch zu wenig Regen? Ich dachte, nur im Osten bei uns.«

»Überall.«

Wir schleichen weiter, analysieren die Landschaft. Tatsächlich: In den Gehölzen stehen, zwischen noch bunt belaubten Buchen, Erlen und Eichen, ganze Gruppen toter Fichten. Ab und zu überholen uns hupende Autofahrer. Auf einem Feld sehen wir ein Reh. Die Sonne bricht hervor.

»Dieses Braun von diesem Feld, was für ein Braun! Und darüber, das Grün vom anderen Feld! Und dieses Haus da hat eng zusammenstehende Augen.«

»Du meinst die Fenster? Krass, wie lang die Schatten sind!«

»Der Schatten ist der Bote des Lichts. Ich hab mich eine Zeit lang nur mit Schatten beschäftigt …«

 

Zoba wohnt am Rand eines Dorfes in einem Museum, dem Dankmar-Schreiner-Museum. Ein altes Ackerbürgerhaus, dessen Innenraum er komplett neu gestaltet hat. Beim Eintreten ruft er sein obligatorisches »Hallo, Bilder! Irina ist da!«

Überall hängen die Gemälde seines Vaters. Gespachtelte Landschaften, fein gepinselte Blumen, strenge Stillleben. Keine Porträts. Es stehen welche von Zobas Brüdern, seiner Schwester, seiner Mutter und Zobas erster Frau in einer Kammer. Zoba hat fünf Kinder von vier Frauen, nur mit Maya war er nicht verheiratet, nur mit ihr hat er zwei Kinder, Jakob und mich.

»Hat Dankmar dich nicht gemalt?«, habe ich ihn einmal gefragt.

»Mich hat er nicht gemalt.«

Irgendwann habe ich aber ein Porträt von ihm gefunden, in der Kammer, zwischen den Bildern, die es nicht an die Wand geschafft haben.

»Warum hat er sich umgebracht?«

»Wegen der Farben. Damals haben die Farben Inhaltsstoffe gehabt, die das Nervensystem angreifen. Er hatte schreckliche Kopfschmerzen.«

»Meinst du, er hat die Massenerschießungen auf der Krim mitbekommen?«

»Er war ein friedfertiger Soldat. Er hat die Bevölkerung gemalt. Ustayev, den Tartaren. Wir waren doch da.«

Ich stelle meinen Koffer neben den Eingang und lasse mir von Zoba »Puschen« geben.

»Zoba, ich habe einen Antrag beim Bundesarchiv gestellt. Zu Dankmars Tätigkeit als Wehrmachtsoldat. Aber da kam nur ein Lazarettaufenthalt in der Ukraine raus. Und dass er im Kaukasus stationiert war.«

»Er hat Karten gezeichnet, im Stab. Erschossen hat er niemanden«, sagt Zoba.

»Hat deine Mutter nicht alle seine Tagebücher nach seinem Tod vernichtet?«

»Ja, ich glaube schon.«

Eichenböden, weiß getünchte Wände, die Decke in der großen Halle ochsenblutfarben und von schweren Balken durchzogen. Keine Türen. Unser alter Bechsteinflügel in der Diele. Es ist luftig, still und weitläufig. Grotesk viel Platz für eine Person. Dabei ist Zoba völlig altersverarmt. Er ist einer von Abertausend Selbstständigen, die nicht vorgesorgt haben. Fadenscheinige Kleidung aus dem 20. Jahrhundert, Nudeln mit Ketchup, kein Geld für den Tank nach Berlin. Zum Geburtstag schenkt er mir entweder nichts, wertvolle eigene Sachen aus alten Zeiten oder eine Schale Quark. Dafür lebt er in einem Palast. Wenn ich ihn frage, wie viel Kredit er noch abbezahlen muss, nennt er seit Jahren denselben Betrag.

Ich begrüße einige Bilder, Rittersporn, Malven, Krüge. Gehe die erste steile Treppe hinauf. Hier im »Studio« hängt das Ölgemälde von meinem Urgroßvater, der auch Maler war. Weißes Kleid, weißer Hut, darunter krauses Braun, alles Sfumato: Erna, meine Urgroßmutter. Ernas Vater war Jude, weshalb ihre Tochter, Dankmars Frau, meine Großmutter, nach den Nürnberger Rassengesetzen aus der Kunstgewerbeschule Magdeburg ausgeschlossen wurde.

Ich gehe die zweite steile Treppe hinauf, bis unters Dach. Schaue mir die Balustrade an. Die hat Orhan vor zehn Jahren gezimmert, als er, Maria und ich einen Sommer lang auf Zobas Baustelle mitgearbeitet haben.

Ich verstehe bis heute nicht, wie Orhan das gemacht hat. Er hatte keine Ahnung und keiner hat ihm geholfen. Er hat sich einfach zurückgezogen, laut klassische Musik aus dem Radio gehört und sich an die Arbeit gemacht.

Ich gehe wieder hinunter, lasse mich im »Studio« auf eine der riesigen Liegen sinken. Meine Schläfen pochen, Schmerz hinter den Augen. Nie wieder feiern. Nie wieder Drogen. Zoba wirft eine Decke über mich.

»Ankunft heißt dieses Kapitel.« Er streckt sich auf der zweiten Riesenliege aus, am anderen Ende des Raumes.

»Zoba, wir müssen in einer Stunde schon wieder nach Bielefeld, Jakob abholen.«

»Ach, Jakob, das Sonnenkind. Mit seiner aufrechten Gestalt. Ist der etwa gewöhnlich? Nein! Hauptsache, nicht gewöhnlich.«

Zoba redet von drüben herüber, ich drehe mich um, mit dem Gesicht zur Wand, schließe die Augen, höre nicht mehr richtig zu.

» … Ich wusste, dass es besser ist, wenn ich mich nicht einmische. Kinder gedeihen am besten, wenn man sie in Ruhe lässt. Er kommt schon, wenn er mich braucht.«

»Also 30 Minuten schlafen.«

Hier schlafen wir nachts mindestens neun Stunden und nach dem Frühstück legen wir uns noch einmal hin. Später kommt irgendwann noch die Siesta. Manchmal schlafen wir auch sieben Minuten zwischendurch. Ich träume wüst von Hitler und einem Schwarm Fliegen.

Nach 30 Minuten redet Zoba sofort wieder los.

»Ich hab die legendäre IBA 1987 gemacht, die Internationale Bauausstellung.«

Ich bereue kurz, gekommen zu sein. »Ich weiß.«

»Es ging um Bewahrung, nicht dieses moderne Bauen, das alles trennt. Nein, sich durchdringende Nutzungen! Das alte Kreuzberg 36 sollte abgerissen werden. Dann kamen die Besetzer, da auf der Admiralstraße, und ich hab gesagt: Super! Macht ihr! Und ich habe ihnen etwas Elementares organisiert …« Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er im Liegen den Zeigefinger hebt. »… dass sie eine Mülltonne bekommen. Müll ist ein ganzes Thema für sich … Ich hatte mein Büro am Moritzplatz. Und in dem Gebäude, wo jetzt … Wo jetzt … Wie heißt das Restaurant da unten noch mal, in der Kochstraße?«

»Sale e Tabacchi.«

»Sale e Tabacchi! In diesem Gebäude planten wir die IBA. Und das Haus Huth war eine Topadresse. Zwischen diesen drei Punkten an der Mauer pendelte ich mit dem Fahrrad.« Er schweigt eine Weile. »Deutschland hatte das Dritte Reich verbockt, sich so aufgespielt, war so dominant und anmaßend, da wäre es gut gewesen, der Welt Demut zu zeigen und zu sagen: Es gibt endgültig zwei Deutschlands, Ost und West.«

»Zoba, du bist ja der Heiner Müller des Westens!«, murmele ich und drehe mich um.

 

Zoba sitzt am Eiermann-Tisch und liest Mails. Ich stecke meine Haare mit einer Klammer zusammen. Mein Vater schaut von seinem Mac auf, klatscht die Hände zusammen.

»Bella! Toll, wie du deine Haare so hochträgst!« Er achtet viel auf mein Aussehen. Wäre er ebenso begeistert von mir, wenn er mich nicht schön fände? Ich bin jetzt fast so alt, wie Maya es war, als sie ihn kennenlernte.

»Das Leben ist voller Rückschläge. Hanno Rauterberg hat geschrieben. Er kann meine Brücken nicht unterbringen. Alle meine Arbeiten stehen unter Denkmalschutz, verdammt! Hanno Rauterberg, dieser Spinner!«

»Du hättest ihm einen fertigen Artikel schicken müssen, nicht einfach nur dein Material.«

»Die fleißigen Praktikantinnen können das doch machen.«

»Gib es Maria!«

»Warum Maria?«

»Na, weil die FAZ besser passt.«

»Ist Maria bei der FAZ?«

»Sie war bei der FAZ! Wir müssen jetzt los.«

 

Langsam rollt mein Bruder zwischen den anderen hoch, uns entgegen. Er sieht mich, wir lächeln. Bei keiner anderen Person, die ich liebe, ist es wahrscheinlicher, dass sie ein Leben lang an meiner Seite bleibt. Mein Bruder, der seit 15 Jahren kifft. Der Blick ist vernebelt. Hier in der Bahnhofshalle überragt er alle. Er ist noch viel größer als ich und auch größer als Zoba.

»Hallo, Zoba!«

»Na, mein Sohn!« Zoba nimmt ihn in den Arm, klopft ihm den Rücken ab. Die Verwandtschaft ist offensichtlich.

Jakobs dunkelbraune Lederjacke ist offen, helles Futter, darunter ein blauer Seemannspullover. Der Rücken hat eine leichte Wölbung, wegen der er sich nach dem Abitur ausmustern lassen konnte.

Jetzt umarme ich ihn, mein Kopf verschwindet kurz in seiner Jacke, Jakob hat einen eigenen herben Geruch.

Im Espace mustere ich seinen Hinterkopf. Er zieht die Mütze ab und durchstrubbelt seine platt gedrückten Haare.

Wenn er die Haare wachsen ließe, wären sie gelockt. Aber immer geht er zum selben türkischen Barbier und lässt sie sich kurzschneiden. Die Hände mit den langen, schmalen, weißen Fingern. Wie bei einem Pianisten. Daneben Zobas Pranken am Lenkrad.

»Guck mal, Zoba hat Holz von Leo geklaut.«

»Echt, ja? Geklaut?«

20 km/h.

Zoba singt Melodien in einer fiktiven Sprache. Er legt Jakob sachte die Hand auf den Oberschenkel.

Mein Bruder strahlt immer noch. »Endlich mal wieder auf dem Land!« Aber seine Stimme hat ein unsicheres Timbre. Sie klingt kindlich, künstlich, wenn er mit Zoba spricht. Ich kenne das auch von mir, deshalb stört es mich.

»Musst du gar nicht arbeiten?«

»Doch. Ich habe mir freigenommen.«

Jakob hat im ersten Bewerbungsgespräch seines Lebens zum Abschied gesagt, er werde dann Bescheid geben, ob er den Job annehme. Er wolle sich zunächst noch andere Architekturbüros anschauen.

»Wie soll ich erklären, dass ich so viele Jahre gebraucht hab, um meinen Bachelor zu machen?«, fragte er mich am Tag vor dem Gespräch. Wir saßen bei einem schummrigen Vietnamesen am S-Bahnhof Schöneberg.

»Die fragen das bestimmt gar nicht.«

»Aber was, wenn doch?«

»Hmm. Sag einfach, du warst in einer Selbstfindungsphase. Das stimmt doch auch.«

Nun lässt er sich im Schnitt eine Woche im Monat krankschreiben. Bei der schlechten Bezahlung, Mindestlohn, also neun Euro die Stunde, kann ich es ihm nicht verdenken.

»Ich betreu grad eine Baustelle, in der Friedensstraße am Platz der Vereinten Nationen. Zoba, kennst du die Gesellschaft für Stadtentwicklung? Die machen treuhänderisch so soziale Projekte. Hauptsächlich Bauen im Bestand. So ähnlich wie Simonas Büro. Da in der Friedensstraße kommen subventionierte Atelierräume rein, die kosten dann nur 3,50 pro Quadratmeter. Steht alles unter Denkmalschutz«, sagt Jakob stolz.

»Simona, das war eine wilde Zeit damals in Hamburg«, antwortet Zoba.

»Was ist das denn davor gewesen, Jakob?«, rufe ich von hinten.

»Ganz früher eine Schule. Die wurde aber zerbombt, nur das Lehrerhaus an der Straße steht noch. Dann war es eine Polizeiwache. So typische Berliner Blockrandbebauung. Und ist seit der Wiedervereinigung leer.«

»Onkelchen, Onkelchen, na bravo!« Zoba summt seine Melodie. Hält den Wagen an, der Violenbach fließt.

»Irina, weißt du noch, damals, als wir das Reh sahen?«

»Du meinst, vor zwei Stunden?«

»Ihr habt ein Reh gesehen?«

»Ja, voll süß.«

Wir warten.

»Da, ein Hase!«

Er ist riesig, springt übers Feld, schlägt wilde Haken, verschwindet im Gehölz.

 

In der Küche des Dankmar-Museums trinken wir Herforder Pils. Ich sitze an der üblichen Stelle: mit hochgezogenen Füßen an der Fensterwand, durch die man das Nachbargrundstück sieht. Mein Körper wird durchwärmt von der Heizung, die direkt links von mir an der Wand ist. Zoba sieht neben Jakob fast schmächtig aus. Dämmerung.

»Auftritt: Bauer Wehmer«, sagt er.

Der Nachbar kommt von rechts ins Bild, schiebt eine Schubkarre, verschwindet hinter seinem Haus. Seine geistig behinderte Tochter steht im Hauseingang, sie winkt uns heiter zu, wir winken zurück.

»Sie ist plemplem«, sagt Zoba.

In die Hecke zwischen uns und Bauer Wehmer hat er Meisenknödel gehängt, Spatzen, Amseln, Rotkehlchen, ab und zu ein winziger Zaunkönig. Nichts liebt er so wie die Vögel.

September 2006 

Irina hatte wie so oft verschlafen. Im Bett hatte sie mit der Versuchung gerungen zu schwänzen. Sie hatte sich dann aber doch aufgerafft, bis zur U7 geschleppt, war an dem Dönerladen vorbeigegangen, bei dem sie in der Pause oft ein Saucenbrot holte, und lief nun über den leeren Schulhof. Die erste Stunde war schon zur Hälfte vorüber. Durch die Fensterscheiben sah sie Gymnasiastinnen. Sie ging widerwillig auf den Flachbau zu, in dem ihr Klassenzimmer war.

Das neue Schuljahr hatte gerade angefangen. Die neunte Klasse. Die Wiederkehr des immer Gleichen, dachte Irina. Sie streckte schon die Hand nach der Eingangstür aus, als die sich von innen öffnete und ein Mädchen herausstürmte, an Irina vorbei, die sich verblüfft umdrehte.

Sie sah, wie es seinen Rucksack zu Boden schleuderte. Maria.

Bisher hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie seit einem Jahr in dieselbe Klasse gingen.

Maria war eine von den Unbeliebten. Ein Riesenmädchen, noch etwas größer als Irina, mit einer merkwürdig tiefen Stimme, viel zu wilden Haaren und Kleidung in matschigen Farben. Klassenbeste, Streberin. Die coolen Mädchen hingegen, das waren die mit den bauchfreien Tops, tief sitzenden Jeans, Glitzergürteln, bis über die Hüften gezogenen Tangas und hauchdünn gezupften Augenbrauen. Und vor allem: die mit den Markenklamotten.

Irina wandte sich wieder der Tür zu. Drehte sich dann aber doch wieder um. Maria stand immer noch da, mit dem Rücken zu ihr.

»Hey, alles okay?«, fragte sie.

Maria atmete tief durch, hob den Rucksack auf. »Ich brauch euch alle nicht. Ich mach mein eigenes Ding«, sagte sie und ging, ohne Irina anzusehen, zurück zur Eingangstür.

Irina folgte ihr. Diese Maria kann ja richtig wütend werden, dachte sie. Was meinte sie mit ihr eigenes Ding? Irina wurde nie wütend.

Zusammen betraten sie das Klassenzimmer.

»Oh, was für eine Ehre!«, sagte der schreckliche Mathelehrer vergnügt. »Die eine kommt zurück und die andere kommt überhaupt endlich.«

 

Einige Tage später stand Irina in der Raucherecke zwischen Maria und Mädchen aus höheren Jahrgängen. Sie staunte: Maria war zwar in der Klasse unbeliebt, hatte dafür aber ältere Freundinnen. Zerrissene Strumpfhosen, Miniröcke, die ganz knapp über den Po gingen, Nietengürtel, schwarz-weiß karierte Skaterschuhe, Aufnäher, wild hochgesteckte Haare, abgesplitterter Nagellack. Maria trug ein schwarzes T-Shirt. Eat the Rich, stand unter einem weißen Totenkopf, Gabel und Messer überkreuzten sich statt der üblichen zwei Knochen.

»Willst du auch eine, Irina?«

Gelassen drehte Maria eine Zigarette und reichte ihr das krummschiefe Ergebnis. Die wenigen rauchenden Lehrer gingen auf dem Weg, der zur Realschule führte, auf und ab.

Die Realschule: ein anderer Planet. Kein Kontakt. Obwohl sie direkt ans Gymnasium anschloss. Nur im Winter hatte einmal eine Schneeballschlacht stattgefunden. Die Realschülerinnen hatten die Schneebälle angeblich mit Steinen gefüllt.

Irina kannte Marias Freundinnen nicht. Nervös zog sie an der krummen Zigarette.

Sie inhalierte tief. Neben ihr stand eine Punkerin. Irina sah freche grüne Augen, eine Stupsnase und gepiercte Lippen, dann aber füllte sich das Bild mit gelben Flecken, die immer größer wurden. Ihre Arme und Beine kribbelten heiß.

»Ich … Ich muss mich …«, murmelte sie und ging zu Boden.

»Was macht sie da?«, hörte sie das Mädchen fragen.

Dann kamen Schreie aus der Ferne. Gleichzeitig Flüstern, ganz nah am Ohr. Fleisch stapelte sich auf einem Tisch. Grelle Strudel, Stimmen von überallher. Jemand erzählte eine Geschichte.

»Irina!«

Sie öffnete die Augen. Sah den Himmel und verschwommene Gesichter. Besorgte, auf sie gerichtete Blicke.

»Sie wacht auf!«

Irina ließ sich aufhelfen. Betastete den Stoff ihrer Hose zwischen den Beinen. Gott sei Dank, sie hatte sich nicht eingenässt.

Das Mädchen mit den grünen Augen lachte. »Maria, bringst du am Freitag deinen Witzbold mit in die Köpi?«

 

»Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Du hast gezuckt und so«, sagte Maria, als sie zu zweit zurück in Richtung Flachbau gingen.

»Tut mir leid. Mir passiert das manchmal.«

Sie wurden immer langsamer.

»Was ist die Köpi?« Irinas Neugierde hatte die Scham überwunden.

]»Ein besetztes Haus in Mitte.«

Besetztes Haus schien zu Marias natürlichem Vokabular zu gehören. Irina nickte schnell. »Und was ist da am Freitag?«

»Da spielt ’ne Hardcore Band. Aus Atlanta, glaub ich.«

»Krass. Und du gehst dahin?«

»Mal schauen … Ich muss vielleicht auf meinen Bruder aufpassen.«

»Ach so«, sagte Irina enttäuscht.

Sie waren stehen geblieben. Die letzten Schüler gingen in ihre Klassen.

Erdkunde auf Italienisch. Irina schlief regelmäßig ein. Am Ende der Stunde wurde sie von der Lehrerin freundlich geweckt und darauf hingewiesen, dass sie nun gehen könne. Irina war eine träge, aber gute Schülerin. Die meisten Lehrerinnen mochten sie. Die meisten Lehrerinnen mochten auch Maria, die Einserschülerin. Obwohl sie so aufbrausend sein konnte. »Ich hab heute irgendwie gar keine Lust auf Erdkunde.« Irina hatte nie Lust auf Erdkunde. »Wir könnten auch was … anderes machen.«

Und so schlichen sie sich vom Schulgelände, holten sich ein Saucenbrot für 50 Cent und trotteten zur U-Bahn. Kräuter, Knoblauch, Scharf.

»Wie alt ist dein Bruder eigentlich?«

»Drei.«

»Süß. Und wie heißt er?«

»Josef. Ja, ich weiß, haha.«

Irina lachte laut. »Deine Eltern sind ja witzig.«

»Wir haben nicht denselben Vater.«

»Ich hab auch Halbgeschwister. Tausende. Von meinem Vater. Mein kleiner Halbbruder ist jünger als sein Neffe oder so.«

Sie stiegen in die U7. Parchimer Allee, Blaschkoallee, Grenzallee, Neukölln.

»Hier wohn ich«, sagte Maria, blieb aber sitzen.