Klärschlamm - Antonia Fehrenbach - E-Book

Klärschlamm E-Book

Antonia Fehrenbach

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Beschreibung

Nach 60 Jahren Verbannung kehrt Ernst-August Buck in sein Heimatdorf in Holstein zurück. Wenig später treibt er tot im Schlammturm des Klärwerks. Zurück bleiben nur seine Notizen, die als Erinnerungssplitter die Suche der Schutzpolizistin Franziska Wilde nach dem Mörder vorantreiben. Die Liebe zu einer alten Frau, verbindet sie und den Toten miteinander und verstrickt sie mit den Geschicken der Dorfgemeinschaft, in der es so viele Wahrheiten wie Menschen gibt und ... einen geheimnisvollen Mörder.

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Antonia Fehrenbach

Klärschlamm

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Birne X. / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4334-3

Prolog

Wohin jetzt? Er spürt das Flattern der Worte im Hals. Kein Ton kommt ihm über die Lippen. Mit einem Mal ist er nicht mehr das Kind, das gegen das Grau der Wolken blinzelt und unermüdlich nach der Feldlerche sucht, bis das Bild des zeternden Punktes ihm durch die spaltbreiten Lider schlüpft. Unter den weiten Kreisen des Seeadlers hatte er gejauchzt und die Arme geschwungen, hätte sich, ohne zu zögern, der Luft anvertraut. Misstrauisch blickt er nach oben, in der Hand die Zange mit dem langen Griff. Ihr Gewicht hält ihn am Boden. Er war zum Schuppen hinüber gelaufen, um sie für den Vater zu holen. Sein Blick streift den Zaun. Dort hängt der Stacheldraht lose.

›Hol mir die Zange‹, hatte der Vater gesagt.

Der Junge lauscht dem Nachklang der Worte, erinnert sich nicht, wie lange es her ist. Er will nicht. Nein, nicht hinunter sehen! Er will bei den Wolken bleiben, eine steife, schaumige Masse, bewegungslos und voller Löcher. In den letzten Wochen war so manches heruntergefallen. Erst gestern der leere Benzinkanister, den der Körper des Tieffliegers am helllichten Tag ausspuckte. Nur Amerikaner fliegen bei Tag. Der Behälter schlug auf den Acker und tauchte zwischen die reglosen Wellenkämme der Erdschollen wie in ein schwarz schimmerndes Meer.

Er hatte sich in einer Böschung versteckt, den Hals nach der Stelle des Aufpralls gereckt: Dort drüben musste es sein, gleich hinter der leichten Erhebung des Bodens in der Flucht zum Ende des Knicks, der jenseits des Weges verläuft. Nur einer wie er, der mit dieser offenen Landschaft vertraut ist, erkennt die Muster hinter dem Schwung der Linien, hinter den Bodenwellen und den Winkeln, in denen sie aufeinanderstoßen, sich kreuzen, zuweilen von Zäunen, Hecken und dem Horizont geschnitten. Die Einzelheiten sind ihm mit den Jahren deutlicher geworden, und je älter er wird, umso mehr begreift er ihre Geometrie. Er ist gut im Rechnen. Die Landkarte seiner Heimat kann er hinter geschlossenen Lidern betrachten. Gestern rannte er quer über die noch offene Krume, um Beute zu machen, den Kanister zu holen, bevor die anderen ihn beim täglichen Ausschwärmen fanden, so wie er neulich den Stahlhelm gefunden hatte. Bei der knorrigen Weide am Bachgrund hatte der gelegen, unter einem Hügel aus Laub begraben, wie ein schlafendes Tier. Behutsam hatte er die nassen Blätter von der harten Schale gestrichen. Die Kuppen seiner Finger hatten das Wappen des Luftwaffenadlers berührt, waren jede seiner ausgebreiteten Schwingen nachgefahren und er hatte Herzklopfen bekommen, hatte an Franz denken müssen und seiner Fantasie waren Flügel gewachsen.

Durch den tief schwebenden Nebel steigt der Bruder zum Bach hinab. Er duckt sich, blickt sich um, beginnt, den Soldatenrock aufzuknöpfen. Weiße Haut und wabernder Dunst werden eins, der dunkle Rest zerfällt, ist nur noch ein Punkt. Dann eine vage Bewegung, die sich aus dem Schatten der Böschung löst. Franz ist nackt, bis auf die Stiefel, die zu laufen beginnen, ihn in weiten Sprüngen über die Wiese tragen. Er verschwindet hinter einem Knick, taucht als heller Fleck am Waldrand wieder auf und verliert sich, nur noch ein Lichtstrahl, zwischen den Stämmen der mächtigen Buchen.

Es war ihm wie eine Verheißung gewesen. Der Ort vertraut und doch fremd. Voller Hoffnung waren die Gedanken des Jungen dem Fliehenden gefolgt, denn dieses Sich Entfernen des Bruders hatte ihm keine Angst eingejagt. Er hatte das Zeichen verstanden: Franz kommt bald nach Hause.

Den Helm hatte er an sich genommen und im hintersten Winkel der Scheune unter das lose Heu geschoben. Es war ein besonderer Fund, nicht so alltäglich wie ein Benzinkanister, aus dem sich die Kinder Schuhsohlen schnitten. Einmal war ein ganzes Flugzeug vom Himmel gefallen. Er war nicht hingegangen. Es war zu weit weg gewesen.

Wie alle anderen glaubt auch er an den Sieg. Nur beim Vater ist er nicht sicher.

›Bald ist dieser Irrsinn vorbei‹, sagt er oft.

Er will nur Recht behalten, denkt der Junge, den nichts zweifeln lässt. Nicht die Trecks mit Menschen auf der Flucht, die seit wenigen Wochen durchs Dorf ziehen. Nicht das nun tägliche Schreien der Sirene, wenn sie vor Tieffliegern warnt. Teile stürzen herab, schlagen ins Erdreich, versinken in den Wiesen, rollen in die Gräben. Auch Körperteile. Manchmal ein ganzer Pilot. Hängt er kopfüber am Fallschirm, zieht der Junge es vor, zu Hause zu bleiben. Wenn jedoch die Füße in der Luft zu zappeln anfangen, stürzt er in den Stall, packt die Mistgabel und eilt aufs Feld hinaus. Alle Bauern machen es so.

›Hol mir die Zange!‹ Die Stimme des Vaters ist nur ein fernes Echo.

Es war früh am Morgen gewesen. Der Junge war zum Schuppen hinüber gelaufen, wo das Werkzeug lagert. Aus seinem Mund waren Wölkchen geflogen. Er muss nur die Augen schließen, um alles noch einmal zu sehen, wie in einem sich ständig wiederholenden Traum. …

Die Zange hängt an der Wand über der Werkbank. Er streckt den Arm aus, greift nach dem Werkzeug. Er spürt den Druck der Arbeitsplatte gegen den Bauch. Obwohl er für sein Alter recht groß ist, bleibt es ihm nicht erspart, sich auf die Spitzen seiner Zehen zu stellen. Im nächsten Jahr lange ich hin, tröstet er sich. Wenn er auf etwas vertraut, dann auf seine Größe. Sein Blick fällt auf das kleine Fenster. Sandkrusten kleben am Glas und auf dieser grobkörnigen Leinwand flackert die Landschaft mit dem Vater neben dem Zaun. Der schaut wie er zur Einfahrt hinüber. Auf dem Weg, der zum Hof führt, kommt ein Soldat. Das Damenfahrrad unter ihm quietscht. Über der Schulter hängt ihm das Sturmgewehr, eine Mauser achtundneunzig. Der Mann trägt die schwarze Uniform der Waffen-SS und ein Halfter am Gurt. Das Fahrrad schwankt. Dem Soldaten fällt es nicht leicht, sich auf den schmalen Graten zwischen den Pfützen zu halten. Unsicher hebt er die Hand. Die Finger geschlossen, streckt er den Arm steif voraus zum üblichen Gruß. Er strauchelt, wäre beinahe in eines der Löcher gestürzt. Hastig unterbricht er die Geste und greift an den Lenker. Der Junge lacht. Ein heimliches, freudloses Lachen. Der Soldat hält vor dem Vater. Stramm steht er da, das Fahrradgestell zwischen die Beine geklemmt. Die linke Hand fest am Griff des Lenkers, schnellt sein rechter Arm schräg nach vorne und hoch. Der Arm des Jungen zuckt und der gedrillte Gruß springt ihm ohne einen Laut von den Lippen. Erwartungsvoll bohrt sich sein Blick in den Rücken des Vaters. Der aber lässt die Schultern hängen, rührt sich nicht. Die Hand des Soldaten sinkt langsam nach unten. Seine Augen sind durch den Schirm der Kappe verdeckt, die Lippen ein Strich. Er lässt sich auf dem Damensattel nieder, die Stiefel im matschigen Grund. Schlammspritzer am Schaft.

»Wir werden siegen«, sagt der Fremde.

Der Junge kann alles hören. Nur wenige Meter und ein Bretterverschlag trennen ihn von den Männern.

Der Vater nickt.

»Sicher«, erwidert er.

Der Junge kennt dieses ›sicher‹ wohl gut, dieses überhebliche ›Wir werden uns noch sprechen, Freundchen!‹, das darin mitschwingt, diesen bockigen Hohn, der kein Fortkommen erlaubt, und man verrückt werden kann, weil man es hasst, sich zu fürchten.

Aber der Soldat lässt nicht locker. »Der Endsieg ist unser!« Seine Stimme blitzt auf wie poliertes Metall und das matte Glas des Fensters zittert, erstarrt.

Da schüttelt der Vater den Kopf. »Nein«, sagt er ruhig. »Ihr wisst, dass es vorbei ist.« Weshalb nur ist er nicht bei seiner Lüge geblieben?

Der plötzliche Knall hatte den Jungen unter die Werkbank gescheucht. Irgendwann hatte er ein Quietschen vernommen, beinahe vertraut. Dann leiser werdend, sich entfernend. ›Dat mutt smeert warrn‹, hatte er gedacht und dabei die Stimme des Vaters vernommen. Im Kopf, nicht wirklich. Er hatte gewartet, bis es ganz still geworden war. Steif gefroren war er in den letzten Apriltag hinausgegangen.

Er steht beim Zaun und blickt zu den tief hängenden Wolken hinauf. Bald würde es regnen.

›Kein Wetter für Tiefflieger‹, hatte der Vater noch am Morgen gesagt.

Aus dem Eintrag vom 30. April 2010

… Sie haben mir nicht glauben wollen. Nein, das ist nicht richtig. Es lag kein Zweifel in ihrer Haltung. Sie wollten es nicht hören. …

Primärschlamm: DIE NOTIZEN

Kapitel 1

November 2010

»Ich habe einen Verdacht«, sagt der alte Wildhüter nach langem Schweigen. Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er Gespenster verjagen. Grau ist die Spur, die sie auf seiner Haut hinterlassen.

Soll er doch still sein, denkt Franziska. Sie steckt das Schinkenbrötchen in die Papiertüte zurück. Kein Appetit. Wie ist er nur hereingekommen? Auf einmal sitzt er vor ihr, dieser Leisegang, wie aus heiterem Himmel. Nein, von heiter kann nicht die Rede sein. Draußen dämmert es. Feierabend. Die Kollegen sind nach Hause gegangen. Ihr Blick streift das Kalenderbild über dem Schreibtisch. Die Hamburger Hafen City im Lichterglanz, als sei schon Weihnachten. ›November‹ steht in fetten Lettern darunter. Am Boden, neben dem Stuhl, liegt sein Hund, stiert auf die Brötchentüte. Sabbert.

»Für dich ist das alles bestimmt nicht leicht«, hört sie den alten Mann sprechen und mit brüchiger Stimme fügt er hinzu: »Für mich auch nicht. Das kannst du mir glauben.«

Sie schweigt, spürt seinen forschenden Blick. Dann schaut er zu Boden. Zwischen Händen und Knien hält er ein Heft eingeklemmt. Oder ist es ein Kalender? Sie kann es nicht genau sehen. Was soll er schon wissen? Niemand außer ihr kennt die wahre Geschichte. Was ist schon wahr? Ahnungen. Nichts als Ahnungen. Sie kann den Blick nicht von seinen Händen lösen. Sie leuchten, so weiß sind sie. Alt und makellos. Nein, ihm wird sie bestimmt nichts erzählen.

Auf einmal holt er tief Luft, fängt an, zu reden. »Gestern Nacht bin ich von der Kanzel am Kiefernschlag zu Fuß nach Hause gegangen.« Er macht eine Pause, als lasse er ihr Zeit, sich alles vorzustellen. Den dunkelbraun gebeizten Beobachtungsstand am Rande der Lichtung, den Waldweg und die Bäume. Bei Mondschein werfen sie lange Schatten.

Sie hört ihn atmen, Luft holen. Was will er?

»Ich bin diesen Weg in letzter Zeit öfter gelaufen«, fährt er fort, runzelt die Stirn. »Du fragst mich warum?«

Nein, denkt sie. Ich will es nicht wissen.

»Das habe ich bis gestern auch nicht verstanden«, redet er weiter. »Denn gestern bin ich ihn zum ersten Mal mit wachen Sinnen gegangen.« Er hebt die Nase. »Verstehst Du? Als Polizistin musst du das verstehen.«

Weshalb sitzt er hier, wenn er die Antwort schon weiß, ihr Fragen in den Mund legt, die sie nicht einmal denkt?

Er schüttelt den Kopf. »Weshalb sagst du nichts?« Dann nickt er. »Ja, manchmal fehlt einem einfach der Mut.« Jetzt hält er das Heft in der Hand, hebt es hoch. Wie ein Zeigefinger steht es in der Luft zwischen ihnen. »Ich führe ein Tagebuch über meine Kanzelstunden«, sagt er stolz. »Darin ist ein Eintrag vom 16. Juni. Ich hatte ihn völlig vergessen. Das war vor fünf Monaten gewesen, als dieser Mann bei uns auftauchte. Du weißt schon, wen ich meine. Nicht? Ich meine den Toten, den sie im Klärwerk gefunden haben. Ich will dir vorlesen, was ich damals aufgeschrieben habe.«

Franziska schaut aus dem Fenster. Der Regen hat gerade ausgesetzt. Nur eine Verschnaufpause. Vor fünf Monaten war Sommer, denkt sie.

»Ich weiß, es ist schwer«, lässt er nicht locker. »Aber ich bin ein ehrlicher Mann, so wahr ich Knuth Leisegang heiße. Ich kann mit dieser Lüge nicht leben. Und du? In deinem Beruf?« Das F zischt ihm durch die schmalen Lippen.

Fehler, kommt es Franziska in den Sinn. Versagen.

Er schlägt die Kladde auf, liest. »Gegen halb acht am Abend mache ich mich auf den Weg zur Kanzel am Kiefernschlag. Die Kirrung, die ich vor ein paar Wochen begonnen habe, trägt ihre Früchte. Das Schwarzwild hat angebissen.« Er schaut auf. In seinen Augen steht ein wässriger Glanz. Alte Leute Augen. »Ich locke sie mit Mais«, erklärt er, blättert, liest weiter. »Eine Rotte aus drei Bachen und acht Frischlingen kommt jetzt jeden Abend hierher. Das vierte erwachsene Tier hält sich bisher im Dickicht versteckt. Ich habe es gehört und seinen Schatten gesehen. Ich will wissen, ob es ein Keiler ist. Um acht bin ich auf der Kanzel und warte. Noch ist es laut im Wald. Kein Wind, nur Vogelgesang. Der Kuckuck zieht sich als Erster zurück. Ich lasse den Kopf auf die Arme sinken. Als ich ihn wieder anhebe, ist auch der Zilpzalp verstummt. Ich lausche den Buchfinken. Warten. Immer nur warten. Das ist Stumpfsinn. Wie hältst du das aus? Wie oft werde ich das gefragt? Die, die so fragen, stehen jeden Morgen und jeden Abend mit ihren Autos mindestens eine Stunde im Stau, stehen in Schlangen an der Kasse des Supermarktes, hoffen, dass Ehefrau und Kinder bald kommen. Sie merken nicht einmal, wie viel Zeit sie am Tag mit Warten zubringen. Ich mag es, zu warten. Ich weiß, dass sie kommen werden.« Er schiebt seinen Finger zwischen die Seiten der Kladde, hebt den Kopf. »Warst du schon mal bei einer Drückjagd dabei? Im Sommer mitten am Tag, die Sauen aus dem Mais heraus treiben? Die Luft flirrt heiß und stickig. Du streifst durch den finsteren Maisdschungel, vom Höllenlärm der Hunde schier taub und schickst Stoßgebete nach oben, dass niemand austickt und seine Büchse abdrückt. Du musst wissen: Für schwere Geschosse ist der Mais wie ein Billardfeld. Nur unberechenbar. Nichts für mich. Nicht mehr.« Kopfschüttelnd schlägt er das Heft wieder auf, liest. »In der Ferne fällt ein Schuss. Nicht mein Revier. Ich schaue auf die Uhr. Es ist neun. Zu meinen Füßen schläft Otto. Er träumt und zuckt. Auch ich nicke ein. Durch einen Schritt ins Leere schrecke ich hoch. Ein Traum nur. Die Buchfinken schweigen bereits und aus dem Wipfel der Fichte flötet eine Singdrossel. Die Farben verblassen. Dann ist es still.« Für einen Moment schaut er von seinem Schulheft auf. »Das ist die Zeit des Schwarzwildes. Nichts, das ihr Gehör stören könnte.«

Ehrfürchtig klingt es, denkt sie.

»Um halb zehn kommen sie auf die Lichtung«, fährt er zu lesen fort. »Ich zähle zwei Bachen und acht Frischlinge. Zwei weitere Tiere halten sich in der Deckung der Bäume verborgen. Ich kann sie schnaufen hören. Plötzlich hebt eine der Bachen den Kopf, blickt in meine Richtung, wittert. Dann nimmt auch die zweite Wildsau Witterung auf. Jetzt schauen beide mich an, zögern. Ob sie mich sehen? Auch in der Schonung wird es unruhig. Im Trubel der Aufregung glaube ich, eine Schwanzquaste zu erkennen. Vielleicht ist doch ein Keiler dabei. Aber sicher bin ich mir nicht.« Er schweigt.

Franziska wendet den Kopf. Für einen Augenblick nur sehen sie einander an. Spaltbreit seine Augen. Sie fröstelt.

»Du musst wissen«, sagt er und fährt sich mit der Hand über den Mund. »Ich unternehme nur etwas, wenn ich mir absolut sicher bin.« Dann senkt er wieder den Blick auf das Papier. »Auf einmal stürmen die Schweine laut grunzend in den Wald zurück. Die Frischlinge folgen. Ich beschließe, noch eine Weile zu bleiben. Irgendwann erwache ich von einem Klopfen. Ich blicke in die Finsternis und höre Regen auf das Dach der Kanzel fallen. Otto fiept leise. Kurz nach Mitternacht machen wir uns auf den Heimweg. Dort, wo der Waldweg sich gabelt, fängt der Hund auf einmal an, aufgeregt am Boden zu schnüffeln. Inzwischen fällt der Regen dichter und ich schlage den linken Weg ein, der nach Hause führt. Da jault Otto laut auf und zerrt mich auf den rechten Pfad. Ich leuchte mit der Taschenlampe auf den Boden und entdecke Spuren. Sie kommen direkt aus dem Wald. Der Schuss, durchfährt es mich. Um neun hatte es einen Schuss gegeben. Ich folge dem Hund. Wasser dringt mir in die Schuhe. Bald verliert sich die Spur im schlammigen Grund. Otto hebt die Nase, wittert. Dann hastet er zielstrebig weiter in die eingeschlagene Richtung. Irgendwann wird er langsamer, pendelt, dreht sich im Kreis. Da sind wir schon an der Straße beim Klärwerk angekommen. Ich gebe die Verfolgung auf. Um eins sind wir zuhause.«

Franziska horcht auf. War das alles? Sie spricht die Frage nicht aus, will nicht an den Umschlag mit den Notizen denken, nichts denken, was sie verraten könnte.

»Am nächsten Morgen war alles weg«, sagt er und klappt sein Tagebuch zu. »Im Matsch ersoffen.«

Geräuschlos lässt Franziska die Luft aus den Lungen. Das reicht nicht, denkt sie. Ihr Blick hängt zwischen kalten Regentropfen. Weshalb bloß dieses Theater?

»Es muss schwer für dich sein«, hört sie ihn sagen. »Aber ich weiß, woher die Spuren kamen. Dieses Mal bin ich mir sicher.«

Im Geiste hört sie den alten Steenbeck sprechen, als wäre es erst gestern gewesen. ›Er heißt Buck‹, hatte er gesagt und nach Luft geschnappt. ›Ernst-August Buck. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.‹ Eine Hand hatte auf der Schulter des Jungen neben ihm geruht. Der Alte und das Kind hatten dieselben Augen. Sie waren einem Aufruf im Radio gefolgt und sogleich in die Polizeistation gekommen.

Franziska blinzelt, kann nicht glauben, dass es fast ein halbes Jahr zurückliegt. Angefangen hatte alles im Juni mit diesem Anruf aus Bunsloh. …

Kapitel 2

Juni 2010

Gleich nach dem Anruf rief Franziska die Leitstelle in Bad Segeberg an. »Ein Leichenfund im Klärwerk von Bunsloh«, erklärte sie. »Ich schau mir das mal an. Die Station ist dann nicht besetzt.«

»Brauchen Sie Verstärkung?« Die Kollegin in der Einsatzstelle klang freundlich.

»Vorerst nicht«, erwiderte Franziska. »Es ist ein Fund. Ich kläre das erst einmal ab.« Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, mit der Aufgabe überfordert zu sein.

»Sind Sie die Neue?«

Franziska überlegte kurz. Ihr erster offizieller Arbeitsplatz hatte von Anfang an nichts Neues für sie bedeutet. Ob es daran lag, dass die Gegend ihre Heimat war? »Ich schaffe das schon«, erwiderte sie knapp. Wo nur der Autoschlüssel war? Bestimmt hatte Inge ihn wieder in die Hosentasche gesteckt, anstatt ihn an das Schlüsselbrett zu hängen, wo er hingehörte. »Ingmar Stolte«, murmelte Franziska entnervt. »Das müssen wir dir noch abgewöhnen.« Weshalb musste ihr Chef ausgerechnet jetzt in die Sommerferien gehen? Sie war gerade einmal zwei Wochen im Dienst und neben ihm die einzige Vollzeitkraft in der Polizeistation.

An der Wand im Flur hing eine topografische Karte. Sie warf einen Blick auf den winzigen Kreis am Ortsausgang von Bunsloh, der das Klärwerk markierte. Sie lief in die kleine Küche und öffnete den Schrank mit den Putzutensilien. Dort lag der Ersatzschlüssel. Franziska reckte sich, wischte mit der Hand über die obere Ablage. Ihre Fingerspitzen stießen gegen leichtes Metall. Sie wusste, dass sie gut war im Sich Strecken. Langsam zog sie sich in die Länge, fuhr die Glieder ihrer Finger aus, wie Krallen, stellte sie sich lang und dehnbar vor. Der Schlüssel rutschte tiefer in den Schrank hinein. »Verdammt!«, entfuhr es ihr. In der Ecke stand ein Schemel. Wie ich diese Hilfsmittel hasse! Ich werde nie davon loskommen. Schon als Kind hatte sie nicht ohne sie können. Vor der Musterung zur Schutzpolizei war sie jeden Tag zum Karate gegangen. Das Training hatte sie aufgerichtet. Es war ihr so vorgekommen, als wäre sie dabei gewachsen. Sie hatte sich größer gefühlt und es war ihr gelungen von ihren einhundertneunundfünfzig Komma fünf Zentimetern auf die erforderliche Mindestgröße von eins sechzig zu kommen. Sie hatte es so gewollt. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als damit zu leben, dass für sie hier vieles schwer erreichbar war. Immerhin gab es diesen Schemel in der Station. Sie griff den Ersatzschlüssel und stellte den Hocker zurück. Sie tastete nach der Waffe und dem Handy, die fest in der Koppel steckten, und machte sich auf den Weg zum Auto.

Der Einsatz war dringend, auch wenn scheinbar nichts mehr zu retten war. Hinter dem Ortsausgang schaltete sie das Blaulicht ein und trat das Gaspedal durch. Der Motor reagierte sofort und sie glaubte seine verhaltene Kraft zu spüren, wusste, dass er noch mehr hergäbe, wenn sie es wollte. Auf der Bundesstraße rollte dichter Berufsverkehr. Die verschreckten Bremslichter, während sie in der Siebzigerzone an der Kolonne vorbei rauschte, ließen sie innerlich schmunzeln. Aber sie verzog keine Miene. Sie konnte sogar das Grübchen, das sich ihr beim Lächeln in die linke Wange legte, kontrollieren. Sie hatte es im Spiegel geprüft. Da kam schon die Ausfahrt. Wenige Minuten später bog sie in den Waldweg zum Klärwerk ein.

Ein großer Tanklaster verstellte den Hof. Sie parkte den Wagen am Zaun vor dem Führerhaus, um die Zufahrt für Rettungswagen, Notarzt und wer immer noch kommen müsste, nicht zu blockieren. Zwei Männer standen neben dem Tankfahrzeug und traten von einem Bein auf das andere. Was ging hier vor? Sie brauchte eine Stimme, ein Wort, irgendetwas, das ihr den nächsten Schritt erlaubte. Sie ließ das Fenster herunter. »Moin«, rief sie.

»Moin, moin«, erwiderte der größere der beiden und winkte. Dann schob er die Hand unter den Latz seines Blaumanns. Seine Gesichtsfarbe wechselte von weiß nach rot. Der dicke Typ neben ihm hielt die Arme vor der Brust verschränkt und blies die Backen auf.

Franziska wartete, starrte auf das Vorderrad des Tanklasters, das ihr Blickfeld ausfüllte. Da bemerkte sie die Bewegung. Der Blaumann näherte sich langsam. Er zog ein Bein nach. Bei ihr angekommen, beugte er sich zum geöffneten Wagenfenster hinab. »Ich heiße Gast, Kurt Gast«, sagte er heiser. »Die Leiche. Ich hab sie gemeldet.« Er räusperte sich und deutete nach oben. »Schwimmt im Schlammbecken.«

Franziska löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür und stieg schließlich aus. Kurt Gast war ein Hüne. Sie behielt ihn lieber im Blick, ließ ihn vorausgehen. Er führte sie um ein Gebäude herum bis zu einer Steintreppe.

»Ich gehe nicht oft hinauf«, erklärte Gast, während sie die Stufen betraten. »Hier passiert nichts mehr. Es ist nur ein Sammelbecken für Klärschlamm.« Er sprach kurzatmig. Nach jedem Satz machte er eine Pause, um Luft zu holen. »Eigentlich nur ein Turm. Sechs Meter tief. Alle paar Monate ist er voll. Dann wird der Schlamm abgeholt und zur Aufbereitung an die Elbe gefahren. So wie heute.« Er hob die Schultern, sah sie unschuldig an. »Am Freitag bin ich noch oben gewesen, um mir ein Bild zu machen. Da war alles in Ordnung.«

Die Stufen endeten vor einer Plattform, von der es sich bequem in ein rundes Becken schauen ließ. Eine rostige Leiter tauchte in die schwarz spiegelnde Wasserfläche und in der Mitte trieb … ›Grotesk‹, kam es ihr in den Sinn. Ihre erste Leiche hatte auf einem Sektionstisch in der Rechtsmedizin gelegen. Franziska war noch auf der Polizeischule gewesen, hatte viele Fragen gestellt, um sich von dem Geruch abzulenken, der aus dem eröffneten Körper aufgestiegen war. Der Dunst des Inwendigen war ihr unpersönlich und Ekel erregend vorgekommen. Sie hatte ein Würgen unterdrücken müssen. Als sie jetzt von der Plattform aus auf das Becken schaute, hätte sie beinahe gelacht. Es war ihr, als blickte sie auf die böse Karikatur eines Performancekünstlers, der der Welt zeigen wollte, was er von ihr hielt. Wie eine mit Grünspan gesprenkelte Kuppel wölbten sich zwei Pobacken aus dem Wasser. Doch der Gestank, der davon ausging, ließ ihr das Lachen in der Kehle stocken. Franziska drehte sich weg.

»Nordwind«, sagte Gast als wollte er sich entschuldigen. »Er trägt den Geruch fort von den Häusern und hierher zum Wald herüber. Eigentlich ein guter Tag für die Schlammabfuhr.« Humpelnd stieg er vor ihr die Treppe hinab.

»Haben Sie sich verletzt?«

»Abgerutscht.« Er kniff die Lippen zusammen. »Bin zu schnell nach unten. War erschrocken.« Er wies mit dem Kopf zum Becken zurück. »Ich habe mit allem gerechnet, nur nicht damit.«

Ja, dachte Franziska. Sie rief die Leitstelle an.

Kapitel 3

Sein Büro maß höchstens zwei mal drei Meter. Zwei Stühle, ein Tischchen, ein Wandregal, eine Pinnwand und der Schreibtisch unter dem Fenster. Davor eine Gardine, durch die Hof und Zufahrt gut einzusehen waren.

Gast nahm am Schreibtisch Platz und wies auf den anderen Stuhl an der Seite. »Bitte!«

Franziska zog ihren Notizblock aus der Hosentasche und ließ sich nieder. »Sie arbeiten hier?«

»Das Klärwerk gehört zur Klinik drüben im Forschungszentrum. Ich bin beim technischen Dienst und mache die Überwachung.« Er verzog das Gesicht. »›Für diesen Job solltest du Kurtaxe zahlen!‹ sagt mein Chef.« Es war nicht auszumachen, ob er sich darüber ärgerte oder amüsierte. »Sehen Sie sich um!« fuhr er fort. »Ein ruhiger Ort. Nur Vogelgezwitscher. Keine schlechten Gerüche.« Er hielt kurz inne und hob das Kinn in Richtung Schlammturm. »Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie müssen wissen, ein Klärwerk ist nicht nur Technik. Es lebt!«

Von Verwesung, dachte Franziska. Sie sah, wie er den Arm nach dem Wandkalender ausstreckte und den roten Reiter über das vergangene Wochenende hinweg auf die Achtundzwanzig schob.

»Bald ist Juli«, brummte Gast, »und wir haben immer noch keinen Sommer. Diese Woche fahren wir Klärschlamm.« Er wies aus dem Fenster. Der Dicke lehnte an seinem Laster und ließ die Daumen kreisen. »Um sieben kam Jürgen mit dem Tankwagen.«

»Nachname?«

»Blank. Jürgen Blank. Er fährt für die Firma Mersch. Sie fahren schon seit Jahren für uns. Kurz nach halb sieben habe ich das Tor aufgesperrt.«

»War es verschlossen?«

»Das ist es immer.«

»Der Fahrer hat keinen Schlüssel?«

Gast ließ ein schweres Schlüsselbund auf den Tisch poltern. »Nur ich und mein Chef.«

Franziska notierte. »Erzählen Sie weiter!«, sagte sie.

»Der Tankschlauch hing schon am Becken als Jürgen hier eintraf. Wissen Sie …?« Gast machte eine lässige Geste zum Hof hinaus. »Dies hier ist nur ein kleiner Betrieb. Mein Auto habe ich neben der Straße am Waldrand abgestellt. So ein Laster braucht Platz. Bei den großen Klärwerken läuft das anders.« Er schob beide Hände unter den Latz seines Blaumanns und fiel in ein nachdenkliches Schweigen.

Auf der Pinnwand hinter ihm grinste die Skizze einer menschlichen Fratze. Franziska erkannte darin eines dieser Wechselbilder, die, je nachdem wie man sie drehte, ihren Gesichtsausdruck ins Gegenteil verkehrten. ›Bald ist Freitag‹, stand darunter geschrieben. Auf den Kopf gestellt fielen die Mundwinkel nach unten. ›Montag!‹, lautete dann die Unterschrift. Das Papier war abgegriffen.

»Ist bestimmt nicht einfach«, sagte Franziska und spürte seinen fragenden Blick. »Ich meine, so allein hier.«

Gast wippte leicht vor und zurück. »Aller Anfang ist schwer. Aber mit der Zeit freundet man sich an.« Er lächelte versonnen. »Mit der Einsamkeit.«

Franziska überflog ihre Notizen. »Der Tankwagen kam also um sieben. Wann genau haben Sie die Leiche gefunden?«

»War wohl so gegen halb acht, als wir merkten, dass die Suppe nicht floss. Jürgen hat dann zurückgedrückt.«

Franziska runzelte die Stirn.

»Na, er hat den Hebel umgelegt und ins Becken zurückgepumpt.« Gast holte tief Luft. »Das hat aber nicht viel genützt. Er hat noch Witze gemacht. ›Hast wohl vergessen, deine Karpfen da raus zu holen‹, hat er gefrotzelt. Jo, und dann bin ich auf die Plattform hoch und hab mir das Spiel von oben angesehen.« Er kratzte sich am Kopf. »Wissen Sie, als ich hier anfing, hat es öfter verstopfte Absaugstutzen gegeben. Ich habe damals junge Bäume aus dem Turm gezogen. Aber seitdem …« Er klopfte auf die Schreibtischplatte. »… keine Probleme mehr. Bis heute. Ich frag mich, wie …?«

Dumpfes Motorgeräusch drang vom Hof herüber. Ein kurzer Blick durch die Gardine und Kurt Gast stürmte hinaus. Franziska folgte ihm.

»Was soll das werden?«, rief Gast.

»Zeit ist Geld«, erwiderte Blank. Sein mächtiger Leib glitt aus der Führerkabine des Lasters. In einer Hand schwenkte er ein Drehkreuz und machte sich daran, den Schlauchstutzen vom Tank abzuschrauben.

Gast schüttelte verständnislos den Kopf. Hilfe suchend blickte er sich nach Franziska um.

Sie tat ein paar Schritte auf den Fahrer zu und winkte ihn ins Büro. »Ich brauche Ihre Personalien.«Ein Blick auf die Uhr: kurz nach acht. Bald müsste die Kripo eintreffen.

Der Kriminalbeamte hob abwehrend die Hände. Seine Handflächen leuchteten rosig. »Ich fasse hier nichts an. Das gibt nur Ärger. Da müssen die Kieler ran. War ein Arzt hier? Haben Sie die Personalien der Zeugen?« Er wartete nicht auf ihre Antwort, schob sich das Handy ans Ohr und wandte sich ab. »Die Mordkommission Kiel ist informiert«, rief er ihr zu, während er bereits auf dem Weg zurück zu seinem Wagen war. »Sichern Sie hier alles gut ab! Ich muss wieder los. Ein Einsatz. Sie verstehen?« Er lächelte verlegen. »Mehr kann ich wirklich nicht tun.«

Franziska setzte sich ins Auto. Komischer Kauz, dachte sie. Ihr war wohl bekannt, dass es Kollegen gab, die nicht ›leichenfest‹ waren. Aber dieser Mensch hatte Humor. Den Fundort absichern? So ein Blödsinn! Das hier war keine Freilichtbühne. Es gab weder Indianer noch Touristen, die konservierte Abenteuer suchten. Sie war auf dem Land. Ländlicher ging’s kaum. Mehr Viecher als Einwohner. Zumindest kam es ihr so vor. Erst neulich hatte sie sich mitten auf der Bundesstraße einem ausgebüxten Rind in den Weg gestellt. So Auge in Auge mit der massigen Kreatur hatte sie sich gefragt, wer von ihnen mehr Grund zur Angst haben müsste. An seinem Halfter hatte das lose Ende eines Stricks gebaumelt, das sie sich schon hatte ergreifen sehen, da hatte das Miststück kurz mit den Augen gerollt, war zur Seite gesprungen und in ein Kornfeld gehopst. Gestern hatte sie eine entlaufene Schildkröte ins Tierheim gefahren. ›Landschildkröte‹, hatte ihr die Tierpflegerin erklärt.

Klar. Etwas anderes hätte sie in dieser Gegend nicht erwartet. Vor wem sollte sie den Einsatzort sichern? Franziska blickte nach oben. Ein Eichhörnchen turnte durch das Geäst. Sie hörte den Polizeifunk ab. Als sie sah, wie Blank, ganz in der Nähe neben dem Tankwagen, die Ohren spitze, stellte sie das Funkgerät zurück auf Empfang. Sie hatte ihm untersagt, den Hof zu verlassen, über den nun das Klingeln des Klärwerktelefons hallte wie eine Schulglocke.

»Für Sie«, rief Kurt Gast.

Dumpf fiel die schwere Metalltür zum Büro hinter ihr zu. Der Einsatzleiter der Firma Mersch wollte wissen, wann sein Fahrer weitermachen könnte.

»Das kann ich nicht entscheiden«, erwiderte Franziska.

»Dann geben Sie mir Ihren Chef!«

Der macht Urlaub, kam es ihr in den Sinn und sie spürte den alten Ärger aufsteigen. »Die Kollegen sind unterwegs hierher«, sagte sie. »Sie müssen sich gedulden.« Wie wir alle hier, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Kann ich mir nicht leisten«, knurrte der Einsatzleiter. »Zahlen Sie mir den Ausfall?«

Franziska spürte ein Kribbeln unter der Kopfhaut, ermahnte sich zur Ruhe. »Ich verstehe, dass …« Weiter kam sie nicht.

»Sie kapieren überhaupt nichts!«, fuhr er ihr ins Wort. »Und wenn ich ihn persönlich abholen muss.«

Idiot!, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie riss sich zusammen, legte sich Kreide in die Stimme. »Wir rufen Sie an, wenn wir hier fertig sind.«

Er sagte nichts mehr, hatte aufgelegt.

Ein bläulicher Lichtschein huschte über die Falten der Gardine und weckte jäh ihre Aufmerksamkeit. Draußen im Hof, unmittelbar vor dem Tanklaster, erkannte sie den Notarztwagen und zwischen beiden Fahrzeugen klemmte Blank, hielt sich den mächtigen Leib. Sie eilte hinaus.

»Wo?«, rief der Arzt ihr entgegen.

Erst jetzt sah sie den Rettungswagen, der in der Einfahrt stehen geblieben war. Zwei Sanitäter sprangen heraus.

»An die Arbeit, Jungs!«, grunzte Blank und wies zur Treppe hinüber. »Un pass op, dat ji juch nich vullklackert!«

Kurze Zeit später waren sie wieder unten.

»Mehr kann ich nicht tun«, erklärte der Notarzt, drückte ihr einen Totenschein in die Hand und entließ die Sanitäter. Die Kripo habe sie hoffentlich verständigt. Das Beste wäre, sie riefe gleich die Feuerwehr dazu. Und im Nu waren sie alle wieder weg, als hätte sie nur geträumt.

Franziska setzte sich wieder ins Auto, wartete. Sie dachte an Kaon und sofort begann das Kribbeln im Bauch. Sie ließ das Kinn auf die Brust sinken und sog die Wärme ein, die von dort aufstieg. Sie kannten sich erst seit wenigen Wochen. Ihre Haut duftete seither nach fremden Gewürzen und sie überkam eine schmerzliche Sehnsucht. Es war eine Weile her, dass sie so empfunden hatte. Mit Jochen war es von Anfang an anders gewesen, vertrauter. Sie schnaufte verächtlich. So ein Quatsch! Sie hatte sich nur an Jochens Gemeinheiten gewöhnt. Aber Kaon war … Ja, wie war er eigentlich?

Leises Motorengeräusch ließ sie aufmerken. Im Rückspiegel sah sie zwei Wagen mit Kieler Kennzeichen, die auf das Klärwerkstor zurollten. Endlich, dachte Franziska erleichtert. Schnell stieg sie aus und ging ihnen entgegen. Am Tor blieb sie stehen. Die beiden Zivilstreifen hatten auf der Hälfte des Zufahrtsweges angehalten. Nichts geschah. Typisch Kriminalisten, dachte Franziska. Haben die Ruhe weg. Minuten vergingen. Dann schwangen die Türen des vorderen Wagens auf und zum Vorschein kamen zwei Männer mittleren Alters. Sie schlenderten zum hinteren Fahrzeug hinüber. Es folgte ein kurzes Gespräch durch das Seitenfenster, worauf die zweite Zivilstreife bis fast zur Straße zurücksetzte. Bald darauf kamen zwei jüngere Kollegen, ein Mann und eine Frau, den Zufahrtsweg hinunter. Die beiden älteren Polizisten vertraten sich derweil die Beine. Sie legten die Köpfe in den Nacken, schauten zu den Baumwipfeln hinauf, blickten sich um, lauschten. In der Ferne klopfte ein Specht. Blätter rauschten, untermalt von dem unablässigen Surren des Elektromotors, der die Brücke am Belebungsbecken antrieb. Als die beiden von hinten aufgeschlossen hatten, bewegte sich die Gruppe auf das Tor zu.

Einer der älteren Polizisten streckte Franziska die Hand entgegen und stellte sich vor. »Peter Sand, Mordkommission Kiel.« Er lachte. »Eine Idylle haben Sie hier!«

»Fast«, entgegnete Franziska und wies mit dem Kinn zum Schlammturm hinüber.

»Ich weiß«, seufzte der Kollege. »Leider kein Betriebsausflug.«

Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Aber immer mit der Ruhe!« Er blickte sich um. »Schließlich sind wir kein Rettungsdienst.«

»Nee«, tönte es plötzlich von hinten. »Öffentlicher Dienst!«

Alle blickten zu Blank hinüber, der an seinem Laster lehnte und feixte.

»Was haben Sie gegen Beamte?«, konterte Sand belustigt. »Sie tun doch nichts.«

Die Kollegen schmunzelten, während Blanks Miene sich bedrohlich verfinsterte. Energisch deutete er auf seine Uhr. »Ich werde nach gefahrenen Kilometern bezahlt.«

»Und Sie!« Peter Sand drehte sich blitzartig nach ihm um. »Sie fahren gleich mit der Kollegin auf die Wache und warten bis wir hier fertig sind! Sie werden sich gedulden müssen! Das hier wird nämlich Millimeterarbeit.«

Blank wurde rot. Sein Blick fiel zur Seite. Im selben Moment rollte eine weitere Polizeistreife auf den Hof. Der Tanklaster war endgültig zugeparkt.

Die Kriminalhauptkommissarin drückte Franziska flüchtig die Hand. »Karin Angeloh«, sagte sie knapp. Ihr Gesicht sprach von Spaziergängen am Ostseestrand. Ihr Arm blieb steif wie ein Segelmast. »Lassen Sie uns den Ereignisort begehen!«

Der Tross setzte sich langsam in Bewegung, folgte der Polizeichefin die Treppe zum Schlammturm hinauf. Franziska zählte sieben Personen auf der Plattform. Blank war unten geblieben.

Karin Angeloh warf einen kurzen Blick auf das Becken. »Ist der Bestatter schon da?« Ihr Gesicht verriet keine Regung.

»Schön der Reihe nach«, erwiderte Sand. »Erst müssen wir den Leichnam abschöpfen.«

»Reden wir von Entengrütze?« Karin Angeloh sah ihn ungläubig an. »Habt ihr die Feuerwehr bestellt? Wir brauchen einen Kran.«

»Oder einen Hubschrauber«, entgegnete Sand. »Wir könnten einen Mann von oben ins Becken abseilen. Der Farbe nach zu urteilen, ist der Leichnam ziemlich angegriffen. Wir sollten vorsichtig sein. Wenn etwas abfällt, motzen die Kollegen aus der Rechtsmedizin.« Er dachte kurz nach. »Wir brauchen eine Trage. Von einem Kran halte ich nichts.«

»Vielleicht ist es nur ein A…« Karin Angeloh brach ab. Sie wölbte eine Hand über Nase und Mund. »Woher willst du wissen, dass der Rest noch dran ist?«

»Also ich würde da nicht freiwillig rein steigen«, meldete sich Gast zu Wort. »Ich hatte einen Kollegen, der turnte beim Säubern ständig auf dem Beckenrand herum. ›Mensch, Willi‹, hab ich dem gesagt, ›wenn du da rein fällst. Denk an die Faulgase.‹« Warnend hob er die Hände. »Nicht, dass Ihr Mann da drinnen ohnmächtig wird.«

Sand schüttelte den Kopf. »Atemmaske, Sauerstoffgerät, wir machen das nicht zum ersten Mal.«

Vermutlich hat er Recht, dachte Franziska. Sie hörte ihnen schweigend, aber aufmerksam zu. Dies war nun die Bühne der Kripo. Sie war hier nur Statistin, hatte auf Anweisungen zu warten.

Die Kriminalhauptkommissarin winkte ab. »Hubschrauber ist zu teuer. Oder haben wir es mit Prominenz zu tun?«

Franziska ließ Sand nicht aus den Augen. Er stierte ins Schlammbecken und schwieg, schien seinen Gedanken nachzuhängen.

»Klärt das erst einmal mit der örtlichen Feuerwehr!«, sagte Karin Angeloh. Sie wandte sich an Kurt Gast. »Haben Sie eine Idee, seit wann der Leichnam an der Oberfläche treibt?«

»Am Freitag war da noch nichts«, sagte Gast. »Wir haben vorhin zurückgedrückt, weil der Absaugstutzen verstopft war. Die Leiche muss wohl davorgelegen haben. Zuerst habe ich nur so ein Stoffbündel gesehen, das nach oben trieb. Hab mich schon geärgert, dass hier jemand seine Altkleider entsorgte. Aber dann …«

»Wir müssen den Beckenboden absuchen«, schnitt ihm die Kommissarin das Wort ab. »Wann ist der Topf leer?«

Gast runzelte die Stirn. »Wenn es gut läuft, heute Abend.«

»Das dauert zu lange.«

»Die Turbo-Lösung«, sagte Gast. »Schneller geht’s nicht. Außerdem können wir erst anfangen, wenn die Leiche geborgen ist.«

»Apropos Turbo! Ich muss zurück nach Kiel.« Die Kriminalchefin stand bereits an der Treppe, sah sich noch einmal um. »Und denkt an die Kosten!«, rief sie und eilte die Stufen hinab.

Draußen vor dem Tor wartete bereits der Bestattungswagen.

Peter Sand sah sich suchend um, bis er Franziska erblickte. »Guter Einsatz! Den Rest schaffen wir allein.« Er ging ein paar Schritte, drehte sich noch einmal um und deutete auf Kurt Gast und Jürgen Blank. »Die beiden behalte ich hier. Eigentlich müsste ich sie bis auf weiteres als Zeugen in Ihren Gewahrsam geben. Aber sie sollen uns später beim Abpumpen helfen.« Dann wandte er sich ab und ließ Franziska stehen.

Weshalb war sie auf einmal enttäuscht? Sie war Schutzpolizistin und hatte ihre Aufgabe erfüllt. Was hatte sie erwartet? Informationen? Kooperation in einem ungeklärten Todesfall? Ein lauter Wortwechsel an der Einfahrt riss sie aus ihren trüben Gedanken.

»Und wer zahlt mir den Ausfall?«

Sie erkannte die Stimme sofort. Der Einsatzleiter der Firma Mersch stritt mit zwei Polizisten. Franziska eilte zu ihrem Auto. Am Tor hob einer der Kollegen die Hand, um sie aufzuhalten. Bestimmt wäre er den Job gerne losgeworden.

»Euer Fall«, murmelte sie und winkte freundlich zum Abschied.

Kapitel 4

Die Polizeistation war verwaist, als Franziska gegen Mittag dort eintraf. Sie meldete sich bei der Leitstelle zurück. Dort war kein neuer Auftrag für sie eingegangen. Der Bericht über den Vorfall im Klärwerk war schnell geschrieben. Lustlos zog sie einen Anhörungsbogen von dem Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Ingmar Stolte hatte gut für sie gesorgt. Die Aufgaben, die er ihr aufgetragen hatte, füllten mindestens zwei Wochen. Sie sollte sich mit laufenden Vorgängen vertraut machen: Tankbetrügerei, Einbrüche, Fahrerflucht, eine wilde Müllkippe auf dem Gelände des Golfplatzes. Es fiel ihr schwer, sich darauf einzulassen. Sie hätte sich gerne mit einem Kollegen über die Ereignisse am Vormittag ausgetauscht. Ausgerechnet heute hatte sie eine Doppelschicht. Helga Hansen hatte sie gestern gebeten, ihren Dienst zu übernehmen.

Gegen fünf am Nachmittag hielt Franziska es nicht mehr aus. Sie musste sich bewegen und beschloss, eine Runde Streife zu fahren. Sie mochte diese kleinen Ausflüge in die Umgebung, die es ihr erlaubten, dem Büroalltag zu entkommen. Sie war lieber draußen.

Über die Hamburger Straße floss der abendliche Berufsverkehr. Sie bog in Richtung Bad Segeberg ein und ließ sich eine Weile mit dem Strom der Pendler treiben. Kurz vor dem Abzweig zum Holm setzte sie den Blinker nach rechts und bog in einen Waldweg ein. Unter den Reifen knirschte fester Sand. Sie hatte diesen Richtungswechsel ins Ries nicht geplant. Ries war der Name des Flurstücks, das sich zwischen der Bundesstraße und der Ortschaft Bunsloh erstreckte. Sie kannte sich in der Gegend gut aus. Hier trugen die Äcker, Wiesen, Wälder und Höfe die Bezeichnungen aus früheren Zeiten. Sie waren ihr seit ihrer Kindheit vertraut, halfen ihr, sich zurechtzufinden, wenn sie nach einer Adresse suchte. Man wohnte zum Ries, am Vierth, Zuckerhut oder, wie Sara und Leanthe, an der Wildkoppel. Langsam fuhr sie weiter. Der Weg war eben und fest, schlängelte sich durch Mischwald und an Wiesen vorbei. Kühe hoben die Köpfe und glotzen sie an. Franziska ließ das Fenster herunter. Seit gestern hatte es nicht mehr geregnet, und die Luft war von der aufsteigenden Nässe des Erdreichs satt und schwer. Der leichte Wind, der fast immer hier wehte, war schon dabei, die Schwüle zu vertreiben. Mitten auf dem Weg, kurz bevor er in den Nadelwald einmündete, standen zwei Rehe. Sie hielt an. Es waren noch Halbwüchsige, die eher neugierig als scheu in ihre Richtung schauten. Sie erinnerte sich an die Worte des Wildhüters Leisegang.

›Die Einjährigen sind naiv‹, pflegte er zu sagen. ›Von der Mutter abgestoßen, laufen sie kopflos in der Gegend herum und machen allerlei dummes Zeug. Sie rennen über die Straße und werden nicht selten angefahren, weil die Ricken sich nicht mehr um sie kümmern.‹ Daran solle man immer denken, wenn man im Sommer durch ein Waldstück führe. Der Alte erteilte gern Ratschläge.

Hinter einer Kiefernschonung spürte sie wieder Asphalt unter den Rädern. Sie fuhr jetzt durch Weideland, das sich zu beiden Seiten des Weges erstreckte. Schließlich erreichte sie die Hauptstraße am Bunsloher Hof.

Aus dem Eintrag vom 13. Juni 2010, 13:00

… In der Mitte des ehemals adeligen Gutshofs steht jetzt das Häuschen einer Bushaltestelle. Dahinter liegt der alte Pferdeteich. Um ihn herum ist es still geworden. Seerosen sprießen aus krautstockigem Wasser. Ein Schwanenpaar döst zwischen den Schattenstreifen der Astgerippe. Hansi und Liese. Erstaunlich! Ich kann mich noch an ihre Namen erinnern. Wie alt wird ein Schwan? Bestimmt sind es andere. Aber ich bin noch derselbe. Wirklich? Ich spüre die Wölbung der Pflastersteine unter meinen Sohlen, schiebe die Schuhspitzen bis an die Kante des Wassers heran. Sie stößt gegen das grobe Gestein wie ein zu kurz geratener Saum. Irgendwo weiter hinten surrt ein Elektromotor.

Eine Weile stehe ich reglos am Ufer des Tümpels, im stillen Auge meiner Kindheit, höre wieder das Hü und Ho, mit dem die Männer die Pferde antrieben, das Knirschen und Poltern der Räder und das lustvolle Schnauben der Tiere, wenn sie mitsamt ihrer Gespanne ins Wasser glitten.

Ich schließe die Augen und schicke meinen inwendigen Blick nach rechts zur Burg hinüber. Das erste Gutshaus, die alte Wasserburg, hatte dort gestanden. Eine Feuersbrunst hatte sie vernichtet. Das ist lange her. Ich weiß es nur aus Erzählungen. Auf einmal ist alles wieder da: rechts die Meierei, links die große Scheune und der Pferdestall, gegenüber der Mühlenteich mit der Wassermühle und rechts hinter mir die hohe Mauer, die den Garten von Fräulein Schramm wie eine Festung umschließt. …

Ein Schwertransporter donnerte durch die Dreißigerzone am Bunsloher Hof. Für einen Moment war Franziska versucht, ihm zu folgen. Sie zögerte zu lange. Nur wenige Meter geradeaus weiter lag das Klärwerk. Auf der Höhe der Auffahrt hielt sie an. Rot-weißes Flatterband versperrte die Zufahrt. Das Tor war geschlossen und auf dem Hof war niemand zu sehen. Das gleichförmige Surren des Elektromotors vertiefte die Stille des Ortes. War die Spurensuche schon beendet? Sie sah dem Eichhörnchen hinterher, das unter der Absperrung hindurch und einen Stamm hinauf huschte. Von dort oben hatte es bestimmt einen guten Überblick. Franziska fuhr wieder an. Die Straße führte durch dunklen Wald. Einige der Laubbäume hatten ganz andere Zeiten gesehen.

›Unheimlich war uns der Wald‹, hatte Leanthe einmal gesagt. ›Als Kinder hatten wir Angst, allein hineinzugehen.‹

Das Haus von Sara und Leanthe lag hinter der Kurve. Moos wucherte im brüchigen, tief gezogenen Reetdach und von den Fensterrahmen blätterte der Lack. Krumm und schief schien das Gebäude mit den Jahren tiefer ins Erdreich zu rutschen. Eines Tages werden sie allesamt verschwunden sein. Die Vorstellung versetzte Franziska einen Stich. Das Häuschen schien dünnhäutiger zu werden, regenerierte nicht mehr. Nur seine Wände aus rotem Ziegelstein trotzten der Zeit. Eigenwillig ragten sie aus einem Meer von Blumen und Rabatten, einem Garten, der in der Umgebung seinesgleichen suchte. Er war Leanthes heimliche Leidenschaft, denn sie ließ keinen Fremden hinein. In diesem Jahr war es schlimmer mit ihr geworden. Mürrisch und übellaunig kam sie Franziska oft vor und sogleich war der Ärger über ihren Vater wieder da, weil er von alldem nichts wissen wollte. Ich bin die Einzige, die sich Sorgen macht, stellte sie verdrossen fest.

Sie folgte der Straße, die geradewegs auf das Portal der Dorfkirche zu führte. Der Eindruck verblüffte Franziska jedes Mal aufs Neue. Kurz vor der Kirche bog sich der Asphalt in eine sanfte Rechtskurve. Franziska nahm das Gas weg. In der Haltebucht am linken Straßenrand parkte der rote Volkswagen mit dem Lübecker Kennzeichen. Der Gedanke, dass nur wenige Meter von ihr entfernt Kaon an der Orgel übte, ließ sie für einen Augenblick vergessen, dass sie im Dienst war. Wie wäre es, dem Verlangen einfach nachzugeben? Was hinderte sie daran, anzuhalten, sich in die kleine Kirche zu schleichen und Kaon mit einem Besuch zu überraschen? Und wenn er sie gar nicht bemerkte? Sie hatte es mehrmals erlebt, dass er alles um sich herum vergaß, wenn er Orgel spielte. Seine Musik war eine Konkurrentin, viel zu mächtig, als dass sie es mit ihr aufzunehmen wagte. Sie begleitete ihn seit seiner Kindheit. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich mit ihr zu verbünden. Was wusste sie sonst noch von ihm? Dass er in Lübeck Kirchenmusik studierte und leidenschaftlich Karate betrieb und so ganz anders war als … Sie zögerte. War sie wirklich verliebt?

›Dein Haar sprüht wieder Funken‹, pflegte Leanthe in solchen Zeiten zu ihr zu sagen. ›Wer ist es?‹ Aber Leanthe hatte nichts bemerkt.

Franziska setzte den Blinker nach links und bog auf die Straße nach Tönningstedt ein. Über der Grünfläche im Vorgarten vor dem Haus ihres Vaters schwebte die Langeweile einer Klonkolonie von Grashälmchen. Dahinter, von der Straße nicht einzusehen, stand das Haus, das jetzt ihr gehörte. Einhundertfünfzig Quadratmeter Grundfläche. Zwei Stockwerke. Ein Keller. In den Augen des Vaters sinnvoll angelegt. So war es nun einmal in dieser Gegend. Die großen Grundstücke auf dem Land boten Bauplätze für mindestens zwei Generationen. Das Haus hatte auf sie gewartet. Franziska hatte es wie selbstverständlich angenommen. Weshalb sollte sie fortgehen? Sie wusste, was Heimweh war, hatte es während ihrer Ausbildung in Altenholz und Eutin oft verspürt, allerdings mehr nach Leanthe als nach dem Vater. Am Ortsausgang wagte sie einen Seitenblick auf den Stude’schen Hof. Jochens Motorrad stand vor der Scheune. Niemals! Sie drückte aufs Gaspedal. Dieses Kapitel war abgeschlossen. Endgültig.

Aus dem Eintrag vom 13. Juni 2010, 13:00

… Seit ein paar Wochen schreibe ich an meiner Biografie. Um ehrlich zu sein: Ich lasse schreiben. Ich habe einen jungen Mann dafür engagiert und genieße jedes Mal, wenn er an meinen Lippen hängt. Seine Aufmerksamkeit inspiriert mich, ist Balsam für meine Geschichten, die sich von Mal zu Mal gefälliger miteinander verbinden. Das Buch, das einmal daraus entstehen soll, fordert jetzt schon ein Eigenleben. Ich bin nach Hause zurückgekommen, um mich zu erinnern und erlebe nichts als Enttäuschungen. In meinen Vorstellungen war der Ort meiner Kindheit größer und belebter gewesen. Ich sehe die kleine Kirche in der Mitte des Dorfes stehen. Ihr Backstein schimmert rötlich zwischen den mächtigen Stämmen der Kastanienbäume hindurch. Die Riesen sind gefällt. Ihre Schatten sind in mir lebendig geblieben. …

Kapitel 5

Der Gestank war bestialisch. Franziska drückte sich ein Taschentuch vor die Nase. Was zum Teufel hatte sie geritten, sich das anzutun?

Ein dringender Kurierdienst hatte sie nach Kiel geführt. Dass die Kieler Hals-Nasen-Ohrenklinik, in der sie das Päckchen mit den Proben abgeben sollte, unmittelbar gegenüber der Rechtsmedizin lag, hatte sie nicht gewusst.

Nachdem sie ihren Auftrag in der Klinik erledigt hatte, war sie zum Parkplatz zurückgelaufen.

Dort hatte der Mann sie angesprochen. ›Wollen Sie zu mir?‹

Sie hatte es für eine Anmache gehalten und Lust verspürt, den Typen ein wenig zu foppen. ›Klar‹, hatte sie erwidert.

›Dann bringen wir es hinter uns‹, hatte er gesagt und die Autotür wieder zugeschlagen. ›Ich habe nämlich Feierabend.‹

Einen Augenblick lang hatte sie unschlüssig dagestanden.

›Na, worauf warten Sie?‹, hatte er gefragt und ihren Dienstausweis sehen wollen. ›Es geht doch um die Schlammleiche aus diesem Dorf. Wie heißt es noch mal?‹

Da hatte sie seinen Irrtum begriffen. Ihre Polizeiuniform musste ihn zu diesem Fehlschluss verleitet haben. ›Bunsloh‹, hatte sie erwidert und war ihm wortlos durch das große Rolltor in das Gebäude der Rechtsmedizin gefolgt. Jetzt stand sie in der Leichenhalle und fror. Verdammte Neugier!, verfluchte sie sich. Sie hätte das Mißverständnis noch auflösen können, als der diensthabende Arzt – wie hieß er noch? – einen Hubwagen vor eine der Metallstellagen bugsiert und einen weißen Plastiksack herunter geholt hatte. Sein Name fiel ihr wieder ein. Wurmnest. So jedenfalls hatte er sich ihr vorgestellt.

›Es gibt da etwas, dass Sie interessieren könnte‹, hatte er gesagt und den Reißverschluss des Leichensacks aufgezogen. Franziska starrte den Leichnam an. Sie hatten einen riesigen Frosch aus dem Brunnen gezogen und der Gestank übertraf alles, was sie bisher gerochen hatte. Sie drückte sich ein Taschentuch auf die Nase.

»Hoffentlich enthält es kein Parfüm.« Die Stimme des Arztes drang wie durch eine Nebelwand zu ihr durch.

»Wie bitte?«

»Ich meine Ihr Taschentuch. Düfte sind einprägsamer als wir denken. Bei Ihrer nächsten Erkältung werden sie diesen Toten wieder vor Augen haben, sobald sie sich schnäuzen.«

Franziska schnupperte. Ein Hauch von Menthol kitzelte ihre Nase.

»Lassen Sie es besser weg«, empfahl er. »Zum Glück adaptiert unser Geruchssinn sehr schnell. Sonst könnten wir diese Arbeit nicht machen.«

Sie wünschte sich, dass er endlich zur Sache käme. Sie hatte keine Lust, in einer Dunstglocke aus Faulgasen Wurzeln zu schlagen. »Was wollten Sie mir zeigen?«, fragte sie gereizt.

»Der Körper ist aufgedunsen. Das Braune kommt vermutlich von Farbstoffen im Schlamm. Er ist grün und gebläht, weil er fault. Schwefelwasserstoff, Buttersäure, Methan.«

Franziska erschauderte. So deutlich hatte sie es auch wieder nicht hören wollen. An eine glückliche Wendung dieses Märchens war nicht mehr zu denken. Irgendetwas schien bei der Verwandlung vom Frosch in was auch immer schief gegangen zu sein. Der Stoff seiner Kleider hing ihm lose am Leib. Der Oberkörper war entblößt, die Hose herunter gerutscht. Jemand hatte die Stelle, an der sich sein Geschlechtsteil vermutlich nicht mehr befand, mit einem Papiertuch bedeckt.

Wurmnest zeigte auf den Bauch des Toten. »Sehen Sie die dunklen Linien? Das sind durchschlagende Venennetze. Es weist darauf hin, dass er schon etwas länger im Wasser lag.«

»Stunden? Tage? Wochen?«, hörte Franziska sich ungeduldig fragen. Sie wollte gehen. Weshalb hielt er sie hin?

Nachdenklich schürzte er die Lippen. »Da will ich mich nicht festlegen. Es war recht kühl in letzter Zeit. Vermutlich eine, höchstens zwei Wochen. Er ist ziemlich gut erhalten. Auf jeden Fall nicht kürzer als vierundzwanzig Stunden. Die Leichenstarre war schon gebrochen, als er gestern hier eintraf. Der genaue Todeszeitpunkt wird sich wohl nur durch äußere Indizien ermitteln lassen.« Er sah Franziska auffordernd an. »Sie müssen Menschen finden, die ihn kurz vor seinem Tod gesehen haben.«

Sie schluckte. Der Gestank umnebelte ihre Gedanken. Sie hatte ihre Frage vergessen.

»Merkwürdig ist«, fuhr Wurmnest fort, »dass es keinen Schaumpilz gibt.«

Franziska trat von einem Bein aufs andere. Nun mach’s nicht so spannend, dachte sie. Ihre Unruhe war ihr peinlich und sie versuchte, sich so lässig wie möglich zu geben. ›Schaumpilz‹, sie hatte das Wort schon einmal gehört. In ihrem Mund sammelte sich Speichel.

»Frisch Ertrunkene haben Schaum vor dem Mund, rund und kuppelförmig wie ein großer Champignon«, erklärte er.

Sie erinnerte sich. Es war während ihrer Ausbildung gewesen. Ihnen waren Aufnahmen von Wasserleichen gezeigt worden.

»Aber dass wir hier keinen Schaum sehen, muss nichts heißen«, führte der Rechtsmediziner weiter aus.

Franziska war speiübel. Hier half kein Karategriff. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu überwinden. Nur die Lippen öffnen, einen Spalt breit. Mach schon! Aber der Geruch hatte etwas Stoffliches und die Vorstellung, es in den Mund zu nehmen, widerte sie an.

»Fäulnisprozesse können die Befunde des Ertrinkens überdecken«, hörte sie ihn dozieren. »Die Obduktion wird da mit Sicherheit Antworten bringen.«

Die Wogen der Übelkeit kamen jetzt in kürzeren Abständen. Ob es in der Nähe eine Toilette gab? Sie wollte sich gerade abwenden, da fühlte sie sich an die Schulter getippt.

»Warten Sie!« Wurmnest trat an das Fußende der Bahre. Mit spitzen Fingern ergriff er vorsichtig ein Hosenbein des Toten und klappte es zurück. Ein dünnes leinenähnliches Gewebe, braun wie Packpapier. Es hätte hell gewesen sein können. Über dem Fußgelenk erkannte sie einen bleichen Striemen.

»Das ist ein Abdruck«, erklärte er. »Er verläuft an den Außenseiten beider Unterschenkel, als wären sie miteinander verbunden gewesen.«

»Sie meinen eine Fessel?«

Wurmnest zuckte die Achseln. »Ich dachte, es könnte Sie interessieren. Und noch etwas.« Er zeigte auf den Kopf des Toten.

»Ihm fehlt das linke Ohr.«

Endlich draußen, nahm sie ein paar tiefe Atemzüge. Mit weichen Knien lief sie zum Wagen zurück. Sie fror, rülpste. Peinlich berührt sah sie sich um, stellte erleichtert fest, dass niemand in der Nähe war. Allmählich beruhigte sich ihr Magen. Der Mann ohne Ohr. Sie hatte ihn gesehen. Nur wo? Sie kürzte ab, lief über den Grünstreifen. Ein Zettel flog ihr vor die Füße. Ein weißer Bogen im üblichen Format. Sie hob ihn auf. ›Bitte liegen lassen!‹, stand groß und säuberlich von Hand darauf geschrieben. Franziska blickte sich um. Niemand, den sie darauf hätte ansprechen können. Die Aufforderung war eindeutig und doch überkamen sie Zweifel. Ich hätte es nicht aufheben sollen. Es geht mich nichts an. Ratlos ließ sie das Papier aus den Händen gleiten. Ein Luftzug trug es ein paar Zentimeter vom Fundort weg. Da fiel ihr ein, wo sie den Mann gesehen hatte.

Kapitel 6

»Er hat in der Reihe vor mir gesessen.« Franziska lauschte dem Nachklang der eigenen Stimme. Sie hatte nicht das Gefühl, selbst zu sprechen. Vielmehr sprach es aus ihr heraus, etwas, das sie den ganzen Tag vergeblich versucht hatte, loszuwerden.

Sie saßen auf dem Sofa in Kaons Wohnung und redeten. Er war der Erste, dem sie von ihrem Erlebnis erzählte. Sie stand unter Schweigepflicht und wusste doch, dass es unter Kollegen üblich war, sich mit Partner oder Partnerin zu besprechen. Konnte sie Kaon vertrauen? Sie kannten sich kaum. Nach ihrem Besuch in der Klinik war sie zu einem Verkehrsunfall gerufen worden. Später war sie auf die Polizeiwache zurückgekehrt und hatte dort Helga Hansen abgelöst, die es eilig gehabt hatte, zu ihrem kranken Kind nach Hause zu kommen. Am Abend war sie zu Kaon gefahren. Er hatte den Kopf durch den Türspalt gesteckt und seine rechte Augenbraue war bei ihrem Anblick nach oben geschnellt. In diesem Moment hatte sie sich gefragt, ob es richtig gewesen war, ihn unangemeldet aufzusuchen.

Im Hintergrund spielte vertraute Musik. Franziska hockte auf ihren Fersen, Kaon saß vor ihr im Lotussitz. Er kam aus der Dusche.

Aus seinen Haarspitzen tropfte Wasser und lief in kleinen Rinnsalen die Brust hinab. Sie beugte sich vor, um davon zu trinken. Er trug die Pluderhose mit den weichen Falten. Sie verspürte Lust, ihn auszuziehen.

Kaons Hand schob sich in ihren Nacken, während sie einzelne Wassertropfen von seiner Brust küsste. Er roch ganz frisch.

Seine Finger drehten ihr Spiralen ins Haar. »Ich mag es, wenn du es offen trägst«, flüsterte er.

Sie spürte ein verlockendes Kribbeln im Bauch. Was hatte sie gesagt?

»Wer hat wann und in welcher Reihe vor dir gesessen?«, fragte er als könnte er ihre Gedanken lesen.

Franziska entzog sich seiner Hand und blickte ihn an. Seine Augen waren die eines Unschuldsengels. Wie viele Frauen er im Moment wohl hatte? »Das waren drei Ws in einem Satz«, erwiderte sie. »Zwei zu viel. Wenn ich so fragen würde, dann könnte ich gleich meine Dienstmarke abgeben.«

Er lachte. »Wenn ich so reden würde wie du, dann würde mich die Polizei verhaften.«

»Das kannst du haben. Achtung! Yoi!«, sagte sie und schon begann ihr vertrautes Ritual.

»Hajime!«, erwiderte er.

Sie richtete einen Fauststoß auf seinen Bauch. Im selben Moment schnellte sein Arm vor, wehrte den Angriff ab. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel auf ihn. Er schlang beide Arme um sie, hielt sie fest. Sie lag still und ergeben, fühlte sich herrlich gefangen. Allmählich entspannten sich seine Muskeln. Er löste den Griff. Schade, dachte Franziska. Sie dehnte sich in einen Katzenbuckel und setzte sich auf. »Ich habe den Toten gesehen. Tot und lebendig.« Sie warf das Haar in den Nacken und blickte in Richtung CD-Spieler. »Ist das die Sängerin, die wir neulich bei dem Konzert in der Kirche gehört haben? Wie hieß sie noch? Divina?«

»Divna«, verbesserte er. »Von was für einem Toten redest du?«

»Gestern bin ich zu einer Leiche gerufen worden. Sie trieb im Schlammbecken einer Kläranlage. Du wirst es bald in der Zeitung lesen. Sie liegt in der Kieler Rechtsmedizin. Ich war vorhin dort.«

Kaons Augenbraue wölbte sich bedenklich nach oben.

»Stimmt etwas nicht?« fragte sie unsicher.

Er schüttelte den Kopf. Ein Tropfenregen löste sich aus seinen Haarspitzen, fiel auf seine bloßen Schultern. Ein paar Spritzer trafen ihr Gesicht.

»Der Mann ohne Ohr«, fuhr sie fort. »Erinnerst du dich?« Sie wartete nicht auf seine Antwort, sprach hastig weiter: »Er saß vor mir in diesem Konzert. Ich habe dir erzählt, dass er ständig den Kopf drehte.« Sie bewegte ihren Kopf von rechts nach links und wieder zurück …

»Ich weiß. Es hat dich gestört.«

»… wie ein Radarschirm, der Signale einfängt. Hin und her und her und hin. Ich habe ihn heute wieder gesehen. Er empfängt nicht mehr. Er ist der Tote aus dem Klärwerk.«

Kaon erwiderte nichts. Es war so seine Art, ärgerlich auszusehen, wenn er überlegte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt. »Dann bist du eine Zeugin«, sagte er schließlich.

»Ja, und ich hätte es gleich der zuständigen Stelle melden müssen.«

»Hast du nicht?«

Franziska verneinte mit erhobenem Zeigefinger. »Das ist nicht mein Fall.«

»Das verstehe ich nicht!«

»Die Kieler haben übernommen. Wie soll ich denen erklären, dass ich bei der Leiche war? Ich habe da nichts zu suchen.«

»Weshalb bist du dann dort gewesen?«

»Es ergab sich so.« Sie seufzte. »Das könnte Ärger geben.«

»Und wenn du wartest, bis sie ihren Befund bekanntgeben?«

»Du meinst die Landeslagemeldung.«

Kaon zuckte die Achseln. »Was weiß ich?«

»Das Intranet der Polizei«, erklärte Franziska und schüttelte ablehnend den Kopf. »Das geht nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Erstens weiß ich nicht, wann das sein wird. Außerdem bekommt nicht jede Dienststelle Zugang zu den Daten im Netz und zweitens …« Sie zögerte.

»Zweitens?«, drängte Kaon.

»Zweitens halte ich wichtige Informationen zurück.«

»Wie lange wird es dauern, bis sie die Daten intern veröffentlichen?«

Franziska verdrehte die Augen. »Ich sagte doch, dass es nicht sicher ist, dass …«

»Wie lange?«, unterbrach er sie.

»Ein paar Tage bestimmt.«

»Was sind schon ein paar Tage?«

»Dem Täter könnte es nützlich sein.«

»Täter?« Kaon sah sie neugierig an.

Franziska biss sich auf die Zunge. Sie hatte wieder den Leichnam vor Augen, die weißen Striemen an seinen Beinen. Ich muss aufpassen, was ich sage, ermahnte sie sich. Ihr Blick fiel auf das Hüftband an Kaons Hose.

»Egal«, erwiderte sie und zog an der Schlaufe. Sie gab sofort nach. »Morgen werde ich berichten.« Sie lächelte. Sie wusste, dieses Mal war es ein Grübchenlächeln. Sanft tasteten ihre Finger unter den weichen Hosenbund. Sie spürte Wärme und das Pulsieren seiner Bauchschlagader. Er ließ sich nach hinten fallen und sie legte sich auf ihn. Sein Puls ging jetzt schneller, trommelte gegen ihren Bauch. Er schmiegte sich an sie, suchte mit ihr den gemeinsamen Rhythmus, bis sie ihn fanden. Sachte und mit großer Geduld zog er sie aus.

Sie lag auf dem Rücken. Der Regen aus seinem Haar fiel auf ihre Brüste, sammelte sich in ihren Mulden. Hinter verschlossenen Lidern sah sie den Toten. Aus seinem Ohrloch floss grün schimmernder Schleim. Schnell schlug sie die Augen auf. Kaon lächelte. Dann kam er zu ihr, bis das grauenvolle Bild in ihrem Kopf erbebte und zersprang. Sie flog mit den Splittern.

Sie erwachte sehr früh am Morgen. Eine Drossel saß auf dem Giebel des Nachbarhauses und lärmte. Auf der Digitalanzeige der Stereoanlage leuchteten grüne Ziffern: vier Uhr dreißig. Nur unwillig löste sie sich aus der Wärme seines Körpers, die sie wie eine zweite Haut umfing. Kaon schmatzte und drehte sich auf die Seite. Die Decke verrutschte und entblößte sein Hinterteil. Er schob es über die Kante des Sofas. Schlagartig fiel ihr die Leiche im Schlammbecken ein. Sie war sofort hellwach. Um sieben begann ihr Dienst. Von Lübeck bis zur Polizeistation brauchte sie eine Dreiviertelstunde. Sie hatte noch Zeit. Franziska sammelte ihre Kleider ein und tappte ins Bad.