Winnetod - Antonia Fehrenbach - E-Book

Winnetod E-Book

Antonia Fehrenbach

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Beschreibung

Nele Peters aus Bad Segeberg kehrt von einer Party am Kalkberg nicht nach Hause zurück. Kriminalkommissar Steffen Hinrichs hat einen mörderischen Verdacht: Sie nennen ihn Walker. Alles, was sie von ihm haben, ist sein genetischer Fingerabdruck. Vier Entführungen junger Frauen aus dem Umfeld deutscher Karl-May-Spielorte gehen auf sein Konto. Hinrichs fackelt nicht lange und bezieht direkt Kollegen vom LKA Kiel in die Ermittlungen ein. Doch trotz fiebriger Suche gibt es von Nele zunächst keine Spur. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse …

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Seitenzahl: 380

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Antonia Fehrenbach

Winnetod

Kriminalroman

Zum Buch

Spurlos verschwunden In der Karl-May-Stadt Bad Segeberg ist der Teufel los. Nele Peters ist nach einer Party am Kalkberg nicht nach Hause zurückgekehrt. Kriminalkommissar Steffen Hinrichs hat einen Verdacht: Sie nennen ihn Walker. Alles, was sie von ihm haben, ist sein genetischer Fingerabdruck. Vier junge Frauen aus dem Umfeld deutscher Karl-May-Spielorte gehen auf sein Konto, auch Vanessa Keyser aus Bad Segeberg, die vor drei Jahren spurlos verschwand. Hinrichs entschließt sich, das Kieler LKA in den Fall einzubeziehen, wo sein Ex-Kollege und Freund Maic Lutter die Abteilung der Operativen Fallanalyse leitet. Unterstützung erhält das Duo von der temperamentvollen Annika Liebsch, ehemals Streetworkerin, jetzt Polizistin bei der Kripo. Das Team steht unter Druck, denn die Chancen, Nele bei den hochsommerlichen Temperaturen lebend zu finden, schwinden mit jedem Tag. Die Ermittlungen sind zäh, die Nerven liegen blank, doch dann überschlagen sich die Ereignisse …

Antonia Fehrenbach wurde in Westfalen geboren. Sie ist promovierte Diplom-Biologin und arbeitete viele Jahre in der biomedizinischen Forschung. Ihr Berufsweg führte von Freiburg über Cambridge nach Göttingen und Marburg, wo sie im Jahr 2008 ihren ersten Roman veröffentlichte. Schon während des Studiums schrieb sie für verschiedene Tageszeitungen und Magazine. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie bei Bad Segeberg in Schleswig-Holstein. Sie schreibt Kriminalromane mit regionalem Bezug, begleitet als Ghostwriter autobiografische Vorhaben und übernimmt Auftragsarbeiten. Mit »Winnetod« begibt sie sich hinter die berühmten Kulissen des sagenumwobenen Kalkbergs in der hochsommerlichen Karl-May-Stadt Bad Segeberg.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Der Titel »Winnetod« wurde genehmigt durch den Karl-May-Verlag, Bamberg

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Torsten Schwartz / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7226-8

PROLOG

Boddah, hatte der Typ gesagt. Da war bei ihr der Groschen gefallen. Nele duckte sich tiefer hinter das Mäuerchen. Sie kniete am Boden, drückte den Rücken durch, presste Brust und Stirn so fest auf die Oberschenkel, dass es wehtat. Rotz und Speichel tropften ihr aus dem Gesicht. Sie rang nach Luft, kämpfte gegen den Hustenreiz. Sie war sich nicht sicher, ob nicht ihr Haar, eine Schulter, die Wölbung des Rückens über die niedrige Einfassung aus Stein, von der sie sich Schutz erhoffte, hinausragte. Jenseits verlief der schmale, unbeleuchtete Pfad. Sie war blindlings in ihn hineingestürmt. Sie hatte keine Ahnung, wohin er führte. Jetzt bloß nicht durchdrehen!, ermahnte sie sich. Und auf keinen Fall durfte sie den Kopf anheben. Irgendwo dort draußen im Dunkeln suchte er sie.

Das Kitzeln im Hals ließ allmählich nach. Hatte die Polizistin ihren Notruf überhaupt verstanden? Nele hatte kein klares Wort hervorbringen können, geschweige denn einen verständlichen Satz. Ihre Kehle brannte. Ihre Schläfen pochten. Der Typ hatte sie gepackt, ihr die Luft abgedrückt. Noch immer spürte sie den Druck seiner Hände am Hals. Der Schreck hatte sie für einen Moment gelähmt, und dann hatte sie plötzlich rotgesehen. Sie war nur noch unbändige Wut gewesen. Wie sie es geschafft hatte, sich zu befreien, war ihr ein Rätsel. Da war ein Filmriss in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich nur daran, dass sie losgerannt war.

Nele horchte in die Nacht hinein. Das Martinshorn war inzwischen verstummt. Einen Moment lang hatte sie an Rettung geglaubt. Aber das Heulen der Sirene hatte sich schnell entfernt. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinterhergestürmt. Aber sie hatte sich nicht getraut, hatte nicht gewusst, wohin sie laufen sollte. Die Wege am Kalkberg waren ihr fremd. Es war lange her, dass sie mit den Eltern und Jens die Aufführungen im Stadion besucht hatte. Winnetou, Old Shatterhand … Am besten hatten ihr die Pferde gefallen. Jetzt, nach Mitternacht, war dort niemand mehr.

Wie konnte sie nur so blöd sein, mit ihm zu reden? Boddah! Wenn sie daran dachte, spürte sie wieder den eiskalten Schauer im Rücken. Sogar eine Zigarette hatte sie sich von ihm aufschwatzen lassen. Kaum zu glauben! Kurz zuvor war sie durch die laue Sommernacht getänzelt, betäubt vom Dröhnen der Partymusik. Das alles kam ihr unwirklich vor.

Das Klacken der Haustür, als sie hinter ihr zugefallen war, das gedämpfte Wummern der Bässe draußen auf der Straße. Wegen der Nachbarn mussten Fenster und Türen geschlossen bleiben. Die stickige Luft, die angetrunkenen Typen, das alles hatte ihr keinen Spaß mehr gemacht. Total bekifft hatte Ina ihr zum Abschied einen Kuss auf den Mund gedrückt und war auf die Tanzfläche gehopst. Sie hatte nicht mitkommen wollen. Die Fahrräder waren Nele erst eingefallen, da war die Haustür bereits hinter ihr zugefallen. Sie hatten sie unten in der Stadt am Café Coma zurückgelassen. Sie waren zu faul gewesen, sie die Straße am Kalkberg hochzuschieben. Ina war mit ihrem neuen Rennrad gekommen und hatte darauf bestanden, die Räder zusammenzuschließen. Nele hatte die spiralig gewundenen Kabel der beiden Schlösser vor Augen. Sie schlangen sich um die Felgen ihrer Räder, ihres um Inas und Inas um ihres, verknoteten ihre beiden Schicksale miteinander wie ein ewiges Versprechen. Schöne Freundin!, dachte Nele halb wütend, halb enttäuscht. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Es war nicht fair von Ina, sich so gehen zu lassen, nicht, wenn sie gemeinsam loszogen.

Behutsam drehte sie das Gesicht zur Seite, um besser atmen zu können. Ihr Blick fiel auf ein zerknülltes Papiertaschentuch dicht neben ihrem Knie. Etwas Dunkles klebte daran. Sie musste sich zwingen, nicht aufzuspringen. Angewidert schloss sie die Augen, kämpfte gegen das Würgen im Hals. Sie schwitzte. Ihre Klamotten klebten ihr wie Zellophan an der Haut. Lederimitat. War teuer genug gewesen. Auf das Crop Top war sie besonders stolz. Vor zwei Jahren hatte sie es gegen den Willen der Mutter vom Konfirmationsgeld erstanden. Ein Crop Top mit abgrundtiefem Dekolleté. Zum ersten Mal fühlte sie sich nackt darin. Verletzlich. Und nun kniete sie im Dreck und saute sich ihr kostbarstes Outfit ein. Wenn sie nur wüsste, ob er noch da war, nach ihr suchte.

Sie hätte vorhin ein Taxi rufen sollen. Unschlüssig darüber, wie sie ohne Fahrrad nach Hause kommen sollte, hatte sie vor dem Mora Mora gestanden und dem Stimmengemurmel gelauscht, das aus dem Restaurant gedrungen war. Samstags war das Lokal am Kalkberg bis um 1 Uhr geöffnet. Sie hatte kurz daran gedacht, zu Hause anzurufen. Da war ihr der Streit mit der Mutter wieder eingefallen, und auf einmal hatte Nele keine Lust mehr verspürt, mit ihr zu sprechen, geschweige denn, sie um etwas zu bitten. Sie hätte das Taxi nicht bezahlen können. Einen Augenblick lang hatte Nele darüber nachgedacht, zu Fuß zu gehen. Bis zum Ihlsee schaffte sie es in einer knappen Stunde. Sie trug bequeme Laufschuhe. Auch das Wetter bot keinen Grund für eine Ausrede. Kurz nach Mitternacht war die Luft noch angenehm warm. Ein Jahrhundertsommer!, wie viele behaupteten. Sie fühlte sich zu jung, um das zu beurteilen. Schließlich entschied sie sich gegen einen Fußmarsch und beschloss, zur Party zurückzukehren, um Ina dort loszueisen. Sie wandte sich um und prallte gegen einen Mann. Wie ein Pfahl stand er plötzlich vor ihr, stierte auf sie herab, versperrte ihr den Weg. Keinen Millimeter wich er zurück, murmelte nur eine schlappe Entschuldigung, wenig überzeugend. Nele trat einen Schritt zurück. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie, trug ein weißes Kurzarmhemd mit Kragen und eine helle Leinenhose. Geschniegelt bieder und nicht billig. Den Eltern würde er gefallen.

Plötzlich, als hätte sich ein Schalter umgelegt, wechselte seine starre Grimasse in ein strahlendes Lächeln. »Was muss ich tun, damit du mir nicht mehr böse bist?«, fragte er und wies mit dem Kinn zum Mora Mora hinüber. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

Da hatte sie geglaubt, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Nele kauerte hinter dem Mäuerchen und versuchte, die bedrohlichen Bilder der jüngsten Ereignisse zu verscheuchen. Wäre es klüger gewesen, ihn nicht abzuweisen, seine Einladung anzunehmen? Sie sollte nicht weiter darüber grübeln, sollte nach vorne schauen. Trotz der Wärme zitterte sie. Blöde Kuh!, schimpfte sie sich im Stillen. Weshalb musste sie auch die Zigarette mit ihm rauchen?

»Warte!«, hatte er nicht lockergelassen, die Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes gezogen und aufgeklappt. »Nimm! Wenigstens eine. Tu mir den Gefallen!« Sein Ton war sanft und doch bestimmend gewesen.

Spätestens da hätte sie sich umdrehen und gehen sollen. Aber sie hatte nicht unhöflich sein wollen. Hätte sie denn das, was dann geschah, überhaupt verhindern können? Sie erinnerte sich an diese ungewöhnlich intensiven Augen, zwei Laserstrahler, die unerbittlich in sie eindrangen, als wollte er ihre geheimsten Gedanken erkunden. Allein die Vorstellung von seinen Augen irritierte sie. Dazu die Stimme und dieses geheimnisvolle Schnarren darin, das ihren Unmut über Ina und den Schreck des Zusammenstoßes besänftigte. Wie waren sie nur auf Punkmusik gekommen? Er hatte sie nach ihren Lieblingsbands gefragt. Das hätte sie stutzig machen sollen. Aber da war sie ihm längst auf den Leim gegangen. Sie nannte ihm ein paar Namen: Ana drinks dogpiss, Schleim und schon immer ihr absoluter Favorit, Baby Ari and The Slits. Er kannte sich gut aus. Und diese Augen, so fesselnd, als wollten sie sie verschlingen. Nicht wie die dümmlich verliebte Anmache der Jungen aus ihrer Klasse. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr. Er sah sie an, als wüsste er alles über sie. Unter ihrer Haut begann es zu prickeln. Und dann sagte er Boddah. Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken, und eine Stimme zischelte in ihrem Kopf: Hau ab!

Auf dem Pfad neben dem Mäuerchen näherten sich Schritte. Schwere Schritte. Auf ihrer Höhe hielten sie an. Nele presste die Lippen zusammen. Sie vernahm das Rascheln von Kleidung, dann wieder Schritte, leiser werdend, sich entfernend.

›Boddah!‹ Bestimmt hatte er ihr den Schreck darüber angesehen. Sie hatte den Zigarettenstummel auf den Asphalt geworfen und hastig die Glut ausgetreten. »Ich muss jetzt los«, hatte sie gesagt. »Danke für die Zigarette.«

Von ihm keine Geste, kein Wort. Sie drehte sich um und schlug den Weg in Richtung Party ein. Schau nach vorn!, ermahnte sie sich, als würde der Blick über die Schulter das Unheil herausfordern. Dann Schritte von hinten. Schwere Schritte. Sie rannte los, aber es kam ihr so vor, als kröche sie in Zeitlupe die Straße entlang. Der Augenblick blähte sich auf, eine Zeitblase, in die alles, was folgte, hineinstürzte und sich unheilvoll miteinander verband. Das Knallen ihrer Sohlen auf dem Asphalt. Das Wummern der Bässe. Die Party. Und wenn sie ihr Läuten nicht hörten? Sie sah sich schon mit den Fäusten gegen die Haustür trommeln – da packte er ihren Arm. Sein harter Griff, ihr wildes Gezerre und im Licht der Laterne das metallische Aufblitzen des Messers. Die Bilder brannten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis.

Auf dem Pfad neben dem Mäuerchen war es still geworden. Nele lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Da waren nur die Geräusche der Stadt. Ferne Stimmen und das gedämpfte Rauschen von Automotoren. Sie verspürte ein Kribbeln in den Beinen. Lange könnte sie nicht mehr den Igel machen. Sie musste sich bewegen. Außerdem hatte sie nicht vor, in diesem Dreckloch die Nacht zu verbringen. Sie nahm all ihren Mut zusammen. Zögerlich, ganz langsam hob sie den Kopf.

Sonntag

STEFFEN

Früh um 7 Uhr verließ Steffen Hinrichs das Haus. Zur Polizeiwache waren es nur 15 Minuten Fußmarsch. Die Riihimäkistraße, in der er wohnte, endete in einem Wendehammer. Dort betrat er den schmalen Durchgang und gelangte über einen Nebenweg auf die Fahrstraße. Schräg gegenüber zweigte ein steil nach unten führender Fußweg ab. Er schlängelte sich durch eine überschaubare Grünanlage. Steffen überquerte die Straße und stieg den Pfad zum Park hinunter.

Ein Ziehen im Unterleib zwang ihn, seinen Schritt zu verlangsamen. Er griff in die Hosentasche, zog ein handtuchgroßes, blütenweißes Herrentaschentuch hervor und drückte es sich auf die schweißnasse Stirn. Er schwitzte wie ein Pferd. Dabei hatte er nur eine kurze Strecke zu Fuß zurückgelegt, und der Tag hatte gerade erst angefangen. Der Wetterbericht kündigte für diesen Sonntag Rekordtemperaturen von über 34 Grad Celsius an. Nicht einmal die Nächte brachten Abkühlung. Und das in Schleswig-Holstein! Das grenzte an Ausnahmezustand.

Der Anruf von Rotfuchs hatte ihn vorhin kalt erwischt. Er und Linh hatten beim Frühstück auf der Terrasse gesessen, als sein Diensthandy klingelte. Während er gerade dabei war, sich eine Scheibe Katenschinken in den Mund zu schieben, starrte er auf das summende Telefon, auf dessen Display der Name des Kriminalinspektors leuchtete. Nicht der unvollendete Kauvorgang hinderte ihn daran, den Anruf seines Chefs sofort entgegenzunehmen. Vielmehr fühlte er sich ertappt, denn er und Linh hatten wieder über das schwierige Thema gesprochen. Er war in seinem 61. Lebensjahr. In diesem Alter stimmten sich einige seiner Kollegen auf den vorzeitigen Ruhestand ein. Mit Linh könnte er sich das vorstellen. Sie würden Reisen unternehmen und Linhs Heimat Vietnam besuchen. Sie hatten sich ein Jahr nach Sabines Tod kennengelernt. Damals war er davon überzeugt gewesen, sich nie wieder zu verlieben. Schließlich hatte er es sich doch erlaubt, ins volle Leben zurückzukehren. Und nun beschlich ihn jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er darüber nachdachte, seinen guten Posten bei der Kripo vorzeitig aufzukündigen. Als hätte er seine abtrünnigen Gedanken erraten, rief just in dem Moment sein Vorgesetzter Walter Rotfuchs an, um ihn in die Pflicht zu nehmen. Das ärgerte ihn. Am meisten ärgerte sich Steffen darüber, dass er sich durch solch zufällig zusammenfallende Ereignisse beeindrucken ließ. Er hatte an diesem Wochenende Bereitschaftsdienst. Laut Rotfuchs wurde eine Sechzehnjährige vermisst. Die Eltern zählten zum Freundeskreis seines Chefs, der sich nun vertrauensvoll an ihn wandte. Die Eltern hatten sich bei ihm über Benno Merder beschwert. Der Kollege hatte ihnen die Nachricht wohl etwas zu forsch überbracht. Rotfuchs hatte ihn angewiesen, die Angelegenheit schnellstmöglich zu bereinigen.

Nachdenklich betrachtete Steffen das Taschentuch in seiner Hand. Linh hatte ihn mit diesem überdimensionierten Rotzlappen ausgestattet. Sie war der Ansicht, dass zu einem EKHK, wie die Kollegen seinen Dienstgrad liebevoll abkürzten, einem Ersten Kriminalhauptkommissar, ein besonders großes Taschentuch gehörte. Schließlich sei er Chef. Ja und nein, hatte Steffen entgegnet. Zwar leitete er bei der Segeberger Kripo das Sachgebiet 1, das die Tötungsdelikte bearbeitete, aber in der Diensthierarchie des Hauses standen noch ein paar gewichtige Leute über ihm. Auf seine Frage, ob ein solches Statussymbol in ihrer vietnamesischen Heimat üblich wäre, hatte er nie eine Antwort erhalten.

An einem Abzweig blieb er stehen, drückte den üppigen Stoff zu einem dicken Knäuel zusammen und stopfte ihn in die Tasche seiner Hose zurück. Er hielt die Nase in die milde Morgenluft, die an einem Sonntagmorgen um 7 Uhr noch nicht nach Abgasen stank. Er atmete tief in den Bauch gegen das beklemmende Gefühl in der Leistengegend. Er glaubte, Blumen zu riechen, und er genoss die Stille. Während der Woche beschallte die Bundesstraße diese Seite der Stadt. Am Wochenende war es für gewöhnlich ruhiger. Vom Spektakel am Kalkberg blieben die Bewohner dieses Stadtteils zum Glück verschont. Dennoch vermissten sie über die Sommermonate während der Spielzeit schmerzlich die wohltuenden sonntäglichen Verkehrsflauten, wenn mittags die zahlreichen Besucher der Karl-May-Spiele in die kleine Kurstadt drängten. Sabine und er hatten diesen Umstand erst nach dem Einzug in das gemütliche Häuschen aus rotem Backstein in der Straße mit dem finnischen Namen realisiert, der Steffen an seinen Lieblingsregisseur erinnerte. Der Gedanke an Aki Kaurismäki hatte ihn schließlich bewogen, sich mit der Situation abzufinden und anstatt sich zu ärgern, jedes Jahr, wie es sich für einen echten Westmann gehörte, die Vorstellungen in der Kalkbergarena anzusehen. Das versöhnte ihn mit seinem Schicksal. Nach Sabines Tod hatte er wegen Katrin das Haus behalten. Nachdem seine Tochter ausgezogen war, war Linh bei ihm eingezogen, und es hatte keinen Anlass mehr gegeben, über einen Verkauf nachzudenken. In welchem Jahr das jeweils geschehen war, hatte Steffen sich nicht gemerkt. Jahreszahlen bedeuteten ihm nichts. Auch verwechselte er das Todesjahr seiner Frau mit dem des Retrievers, was Katrin stets mit einer säuerlichen Miene bedachte. Sein Zeitgefühl orientierte sich eben an der logischen Abfolge der Ereignisse, und zwischen Sabines Tod und dem des Retrievers ließ sich partout keine Logik feststellen.

Steffen tat ein paar Schritte und nahm erleichtert wahr, dass das Ziehen im Bauch langsam nachließ. Auch das stand demnächst an. Der Hausarzt hatte ihn ermahnt, den Leistenbruch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, und ihm zu einer Operation geraten. Aber solange es auszuhalten war, sah Steffen keinen Anlass, sich unters Messer zu legen. Zügig setzte er seinen Weg fort. Nach wenigen Minuten hatte er das Ende des Parks erreicht. Für das letzte Stück bis zur Polizeiwache ließ er sich Zeit. Er fühlte sich in der Zwickmühle. Er hatte Benno Merder nicht sofort angerufen, so wie Rotfuchs ihm aufgetragen hatte. Schließlich bemühte sich Steffen, nach allen Seiten loyal zu sein. Es behagte ihm nicht, wenn sein Chef ihn zum Handlanger in einer Angelegenheit von persönlichem Interesse machte. Vermutlich wurde die Sache viel zu hoch gekocht. Ein wenig nüchterne Distanz konnte da nicht schaden. Er würde Benno vom Büro aus anrufen. Es hieß, dass er und seine Teamkollegin noch bei den Eltern seien. Außerdem wollte er sich etwas Vorsprung geben, um auf normale Betriebstemperatur abzukühlen, bevor er die Kollegen von ihrem Einsatz zurückpfiff.

Etwa eine Stunde zuvor …ASTRID

Astrid Peters schlug die Augen auf. Ein hellgrauer Morgen schimmerte durch den Spalt zwischen den beiden blickdichten Vorhangschals und warf einen Lichtstreifen auf das Parkett des Schlafzimmers. Hatte es geläutet? Oder hatte sie geträumt? Astrid lag auf dem Rücken, allein in ihrem großen weißen Bett und rührte sich nicht. So schlief sie ein. So wachte sie auf. Sie liebte diesen Augenblick des Aufwachens. Es war wie ein Auftauchen aus einem tiefen See, wie die Rückkehr von einer Reise in ein fernes Land. Die kleinste Regung würde die Bilder auflösen, ihr die Eindrücke nehmen. Noch waberten sie dicht unter ihrer Haut. Was hatte sie geträumt? Hatte sie überhaupt geträumt? Jeden Morgen dieselbe Frage, und nie fand sie eine Antwort darauf. Sie erinnerte sich nicht, seit wann das so war. Bestimmt hatte sie geträumt. Sie konnte es fühlen, aber es gab keine Bilder, keine Erinnerungen, die sie in ihr Bewusstsein holen, von allen Seiten betrachten, ablegen und wieder hervorholen konnte. Sie hatte die Verbindung zu ihren Träumen verloren. Vielleicht verbargen sie sich auch nur vor ihr. In der Stille des frühen Morgens hoffte sie, wieder Zugang zu ihnen zu finden. Wenn sie sich nicht bewegte und geduldig wartete, würden sie zu ihr zurückkehren. Irgendwann. Bestimmt.

Aus diesem Grund zog sie es vor, allein zu schlafen. Aber sie behielt diese Gedanken für sich, wie sie inzwischen fast alles, was ihr wichtig war, mit niemandem teilte. Sie erinnerte sich nicht, wann das angefangen hatte. Vor zwei Jahren hatte sie Wolfgang gebeten, aus dem gemeinsamen Schlafzimmer im Erdgeschoss auszuziehen. Nach 27 Ehejahren erschien ihr ein solches Verlangen durchaus angemessen. Wolfgang zog in den ersten Stock in das Schlafzimmer ihres Sohnes. Jens war gerade zum Studieren nach Hamburg gezogen. Bald würde auch Nele ausziehen. Dann wären Wolfgang und sie allein so wie früher. Alle gingen, nur sie hatte den Absprung verpasst.

Das Kreischen eines Vogels im Garten holte sie in den Moment zurück. Im Haus war es still. Sonntagsstimmung. Bestimmt war schon 6 Uhr durch. Sie würde aufstehen und ins Bad gehen müssen, um sich zu vergewissern, denn sie hatte alle elektrischen Geräte, auch den Wecker, nach Wolfgangs Auszug aus dem Zimmer verbannt.

Jens’ Zimmer lag neben Wolfgangs Büro, wo er oft bis spät in die Nacht hinein über seinen Bauplänen hing. Astrid hatte ihren Wunsch, allein zu schlafen, damit begründet, nicht zur Ruhe zu kommen, weil sie auf ihn wartete. Sie gab zu, dass es dumm und zwanghaft sei, dass sie es jedoch nicht abstellen könne. Sie erklärte Wolfgang, dass sie das Problem nicht habe, wenn er auf seinen seltenen Dienstreisen außer Haus übernachtete und sie sich dessen gewiss sei, dass er nicht heimkommen würde. Sie war nicht ehrlich gewesen. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen. Widerstandslos war er umgezogen, so wie er all ihre Bitten ohne Murren und Bedauern hinnahm. Wolfgang hatte für alles Verständnis. Der leiseste Hauch von ihr, und er flatterte ihr aus dem Weg wie ein Laken im Wind. Manchmal wünschte sie sich, dass er ihr ein wenig mehr entgegensetzte, eine kleine, nicht unüberwindbare Hürde, die sie nehmen müsste, um sich am Ende doch durchzusetzen. Bestimmt war es ihm nicht egal. Sie gingen eben rücksichtsvoll miteinander um. Früher war es wegen der Kinder gewesen. Inzwischen hatten sie sich darin eingerichtet.

Aus dem Flur ertönte der Gong. Sie hatte also nicht geträumt. Sie lauschte. Im Haus rührte sich immer noch nichts. Astrid rollte sich auf die Seite und schwang die Beine über die Bettkante. Sie richtete sich auf, wartete, bis der leichte Schwindel nachließ, und glitt auf die Füße. Am Fußende des Bettes lag der seidene Morgenmantel. Sie schlüpfte hinein, trat ans Fenster und zog den Vorhang weiter auf. Es war heller, als sie erwartet hatte. Sie spähte in den Garten hinaus, als wollte sie prüfen, wer sich da ankündigte. Ein sinnloser Reflex, denn hier auf der Ostseite war es unmöglich, die nach Norden ausgerichtete Haustür und das Einfahrtstor einzusehen. Vor dem hohen Spiegel am Schrank hielt sie inne, schlang die beiden losen Enden des Gürtels umeinander, zog sie fest, schlang noch einmal und setzte einen glatten Knoten darauf. Mit den Fingern strich sie sich flüchtig durch das kurz geschnittene, pechschwarze Haar. Sie gefiel sich im Dämmerlicht, das ihre schlanke Silhouette und die Konturen ihres Gesichts umspielte und das zunehmend Schildkrötenhafte an ihrer Erscheinung verleugnete. Der Chirurg in der Schönheitsklinik hatte ihr Mut gemacht, aber noch schob sie die Operation vor sich her. Sie hatte Angst, im wahrsten Sinne des Wortes, das Gesicht zu verlieren. Sie war sich der Maskerade durchaus bewusst, der Verfremdung und der Verleugnung eines unerbittlichen Verfalls. Bei anderen Frauen sah sie die Trauer hinter dem gelifteten Lächeln, die müden Augen über herausfordernden Lippen. Sie wollte auf gar keinen Fall einen Zombie aus sich machen lassen. Manchmal, wenn sie ihre Tochter ansah, erkannte sie sich selbst als junge Frau in ihr wieder. Sollte ihr das nicht genügen? Aber diese Piercings und dieses verfilzte Haar … Wenn Nele sich nur nicht so verschandeln würde! In letzter Zeit wich sie Astrid oft aus. Dann fühlte sie sich von ihrer Tochter abgelehnt. Solche Momente taten weh. Astrid seufzte leise. Die Pubertät war eine echte Herausforderung für die Liebe. Unter Neles stiller Verweigerung, etwas von ihrer Jugend mit ihrer Mutter zu teilen, kam sich Astrid wie eine Diebin vor.

Wieder läutete es an der Haustür. Astrid suchte ihre Pantoletten, fand sie jedoch nicht. Unter ihren nackten Füßen schmatzte leise das Nussbaumparkett, während sie durch die Diele zur Sprechanlage tappte.

MERDER

Zum dritten Mal drückte Benno Merder die Klingel. PETERS, stand in Großbuchstaben darüber. Die teure Gegensprechanlage passte zum Rest des Anwesens, sofern es von außen überhaupt einzusehen war. Am Ufer des Ihlsees wohnten die besseren Leute der Stadt. Breitbeinig positionierte sich Merder vor das Auge der Videokamera. In seiner schwarzen Polizeiuniform fühlte er sich einer Begegnung der anderen Art durchaus gewachsen. Er wandte sich an die Kollegin, die hinter ihm stand. »Da macht keiner auf«, brummte er. »Ans Telefon sind sie auch nicht gegangen.«

»Ist ja noch früh«, erwiderte Dortje Feindlich gelassen. »Sonntags um 6 Uhr spring ich auch nicht gleich beim ersten Klingeln aus dem Bett, wenn ich frei habe.«

»Gut zu wissen«, grunzte Merder. Sie arbeiteten erst seit Kurzem im Team. Er war sauer, aber nicht auf Dortje. Die Kollegen der Nachtschicht hatten ihnen diesen Hausbesuch aufs Auge gedrückt. Kurz nach Mitternacht wurde ihnen aus der Zentrale in Elmshorn ein Notruf gemeldet. Es brauchte eine Weile, bis sie über die Handynummer die Adresse der Anruferin ermittelt hatten. Mit dem Hausbesuch hatten die Kollegen der Wache allerdings bis zum Schichtwechsel am Morgen gewartet. Merder starrte in die Videokamera. Dies hier war eben nicht von höchster Dringlichkeit. Er wusste selbst, dass Jugendliche ihre nächtlichen Scherzanrufe bei der Polizei schon mal als einen Notruf ausgaben. Viel dringlicher war den Kollegen wohl gewesen, rechtzeitig zum Sonntagsfrühstück zu Hause zu sein. Merder seufzte. Jetzt zu Hause beim Frühstück sitzen oder besser noch: zu Anke ins Bett kriechen. Missmutig wandte er sich an Dortje. »Wetten, dass die Göre im Bett liegt und ihren Rausch ausschläft?«

»Schon möglich«, erwiderte Dortje gelassen. »Überprüfen müssen wir es trotzdem.«

Die Kollegin hatte ihn angetrieben, die Sache hinter sich zu bringen. Sie hatte ihm auf der Wache nicht einmal Zeit für seinen ersten Becher Kaffee gelassen.

»Dieses Mal schreibst du den Bericht«, raunzte er sie an. Er trat ein paar Schritte zurück. Sein Blick glitt die Flucht der Grundstücksgrenze entlang. Wie Fort Knox dachte er. Ein etwa zwei Meter hohes, blickdichtes Schiebetor versperrte die Zufahrt. Rechts und links von dieser dunkelgrauen Wand erstreckte sich ein schmiedeeisernes Gitter. Die gut zweieinhalb Meter hohen Metallstäbe waren in ein kniehohes Mauerwerk eingelassen. Merder ging ein paar Schritte nach rechts. Aber das dichte Gehölz hinter der Umzäunung verwehrte jegliche Sicht auf das Wohnhaus. Selbst das Gitter verschwand stellenweise im wuchernden, bis auf den Boden reichenden Blättergewirr. Trotz des trockenen Sommers stand hier alles saftig im Laub. Knapp zehn Meter vom Eingang entfernt war das Blätterwerk niedergedrückt. Benno Merder schob die gebrochenen Zweige beiseite. »Bingo!«, rief er und winkte seiner Kollegin. »Schau dir das an!«

Dortje Feindlich warf einen Blick unter das Gebüsch. »Nee, is nich wahr?«

»Das Gitter endet hier«, stellte Merder fest. »Und der Rest ist Maschendraht.«

Verständnislos schüttelte Dortje den Kopf. »Das nenne ich sparen am falschen Ende. Hält vielleicht die Karnickel ab.«

»Nicht einmal die«, murmelte Merder. »Siehst du den Spalt dort in der Mitte des Zauns?« Er drückte die Zweige beiseite und wies auf eine Stelle, wo der Draht leicht klaffte. Das Loch war groß genug, um einen Mann bequem hindurchzulassen. Dahinter, auf der Innenseite, war das Gebüsch plattgetreten. »Ich tippe auf Ausreißerin«, triumphierte Merder. »Und das hier ist ihr Schlupfloch. Was wetten wir?«

Aus der Sprechanlage drangen ein Schnarren und dann eine Stimme: »Wer da?«

Dortje war als Erste am Tor. »Polizeimeisterin Feindlich. Polizei Segeberg. Spreche ich mit Frau Peters?«

»Ja. Was wollen Sie?«

»Können wir kurz reinkommen? Mein Kollege und ich haben eine Frage an Sie.«

»In welcher Angelegenheit?« Die Frau klang geschäftsmäßig kühl.

Dortje sah Merder an, aber der schüttelte den Kopf. »Das würden wir gerne mit Ihnen drinnen besprechen«, erwiderte sie.

Es folgte eine kurze Pause.

»Haben Sie Ausweise?«, fragte die Frau.

»Sicher«, erwiderte Dortje.

»Halten Sie sie vor die Videokamera!«

Die Kollegin gehorchte.

»Und der andere?«, schepperte es aus dem Lautsprecher.

Merder verdrehte die Augen. Er hatte sich hinter Dortje postiert.

»Ich kann Sie sehen«, tönte die Stimme der Hausherrin.

»Polizeihauptmeister Merder«, sagte er, wobei er die kleine Silbe in der Mitte betonte. Ihm fehlte nur noch die Amtszulage, dann hätte er den Gipfel seiner Karriere erreicht. Mehr wollte er nicht. Man musste nichts übertreiben. Er drückte seinen Polizeiausweis vor die Linse der Kamera.

Kurz darauf ertönte ein Summen, und das wuchtige Tor rollte einen Spalt breit zur Seite. Hinter ihnen glitt es sogleich wieder zu.

Benno Merder gab Dortje ein Zeichen, das Reden zu übernehmen, und ließ sie vorausgehen. Das hier war nicht seine Welt, und er wusste, dass seine miese Laune nicht gerade ein Türöffner war. Er verlegte sich aufs Beobachten. Starr wie eine Statue stand die Frau in der Haustür. Ihr Anblick bestätigte ihm seinen Verdacht. Hier wäre auch er abgehauen. Sie war genau der Typ weiblicher Snob, den er nicht ausstehen konnte. Diese wohlhabenden Damen verschanzten ihr tödlich langweiliges, depressives Dasein hinter einer Maskerade aus teuren Klamotten, gelifteter Sonnenbräune und Hochmut. Bei Ermittlungen verplemperte man nur seine wertvolle Zeit mit ihnen. Es kam einfach nichts Verwertbares dabei heraus. Für Merder waren sie ermittlungstechnisch schlichtweg unbrauchbar. Dennoch blieb er offen für unverhoffte Details. Wenn es darum ging, seinen Ruf als brillanten Ermittler zu retten, gelang ihm sogar die akrobatische Nummer, sich selbst in den Hintern zu treten und seine Vorurteile für einen Moment zu vergessen. Und so musste er sich im Näherkommen eingestehen, dass es an ihr eine andere Seite gab. Der leuchtend weiße Morgenmantel über den nackten Füßen standen im Kontrast zur stolzen Erscheinung dieser Frau, untergruben diesen ersten Eindruck von Überheblichkeit und ließen sie verletzlich erscheinen. Merder schnüffelte misstrauisch. Er roch Parfüm, aber keinen Alkohol.

Dortje lächelte freundlich. »Dürfen wir kurz reinkommen?«

»Würden Sie bitte Ihre Stiefel ausziehen?«, forderte die Hausherrin sie auf.

»Das ist gegen die Vorschrift«, erwiderte Merder und schob seine Kollegin über die Schwelle der Haustür. Sie fanden sich in einer lichtdurchfluteten Diele wieder. Sie mündete in einem weitläufigen Wohnbereich mit riesiger Fensterfront, durch die es sich bequem in den Garten hinausschauen ließ. Links von ihnen führte eine Treppe ins Obergeschoss, aus dem nun Schritte zu hören waren. Auf den offenen Stufen erschienen ein Paar karierter Hausschuhe, dann eine abgewetzte Jogginghose. Der Hausherr war wohl gerade dem Bett entsprungen. Das graue Haar war zerzaust. Mit einem Zipfel seines schlabberigen T-Shirts wienerte er die Gläser einer Brille.

»Wolfgang Peters«, sagte er und begrüßte die Polizisten mit Handschlag. Verschlafen blinzelte er durch verschmierte Gläser. »Was wünschen Sie?«

»Wir würden gerne Ihre Tochter Nele sprechen«, sagte Dortje.

»Sie schläft«, erwiderte die Frau.

»Könnten Sie einmal nachsehen?«, bat Feindlich.

Ohne nach einer Erklärung zu fragen, lief Wolfgang Peters zur Treppe und verschwand ins Untergeschoss.

»Nette Sicherheitsanlage«, bemerkte Merder. »War bestimmt teuer.« Der kritische Seitenblick der Kollegin entging ihm nicht.

Die Frau straffte den Rücken. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir müssen Sie darauf aufmerksam machen, dass in den Maschendraht rechts vom Tor ein Loch geschnitten wurde«, übernahm Dortje. »Es ist so groß, dass ein Mensch bequem hindurchkriechen kann.«

»Und deswegen holen Sie uns sonntags in der Früh aus dem Bett? Meinen Sie nicht …«

In dem Moment stürmte Wolfgang Peters die Treppe herauf. »Astrid«, rief er atemlos. »Nele ist nicht da! Ihr Bett ist unberührt!« Er stolperte über seine Pantoffeln, fing sich wieder. Unmittelbar vor Merder blieb er stehen. »Was ist mit meiner Tochter?«

»Heute Nacht gegen 0.30 Uhr ging ein Anruf von Neles Handy bei der Polizei ein«, erklärte Merder. Er sagte »Anruf« und nicht »Notruf«, denn im Grunde hielt er die ganze Sache für einen schlechten Scherz. »Wir müssen das überprüfen«, fuhr er fort. »Sind Sie sicher, dass Ihre Tochter nicht irgendwo in diesem großen Haus ist?« Er hob das Kinn in Richtung Fensterfront. »Vielleicht schläft sie im Gartenhäuschen.«

»Quatsch!«, fuhr Astrid Peters ihn an. »Im Pavillon gibt es kein Sofa.«

»Vielleicht ist sie im Schwimmbad?« Wolfgang Peters sah seine Frau hoffnungsvoll an. »Ich schau schnell nach«, rief er und war schon auf der Treppe nach unten.

»Sie sagten, der Anruf kam um 0.30 Uhr?«, wandte sich die Frau nun an Merder. »Und da kommen Sie erst jetzt!«

»Wir haben versucht, Sie zu erreichen«, erwiderte Merder. »Bei Ihnen ging niemand ans Telefon. Anrufbeantworter gab’s auch nicht. Außerdem machen Jugendliche schon mal einen Scherz mit der Polizei.«

»Der Kollege auf der Wache versuchte sofort, Kontakt mit der Handynummer herzustellen«, schaltete Dortje sich ein. »Da er niemanden erreichte, wurde über die Nummer der Name des Handyhalters ermittelt. Das braucht etwas Zeit. Inzwischen wissen wir, dass der Anruf vom Handy Ihrer Tochter kam.«

»Gab es zwischen Ihnen und Ihrer Tochter einen Streit?«, fragte Merder, den das Loch im Zaun noch immer beschäftigte.

»Nein«, gab Astrid Peters energisch zurück. Ihre Finger nestelten unruhig an der Schlaufe des Morgenmantels. »Außerdem kann Nele kommen und gehen, wann sie will. Gestern Abend war sie auf einer Party bei Freunden in der Altstadt.«

»Könnte sie bei einer Freundin oder einem Freund übernachten?«, fragte Dortje. Sie zückte Stift und Notizblock. Astrid Peters schüttelte ungläubig den Kopf, nannte ihr dennoch ein paar Namen und Adressen.

In dem Moment stürmte Wolfgang Peters die Treppe hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal. »Im Schwimmbad ist sie nicht«, rief er.

»Worauf warten Sie noch?«, erzürnte sich seine Frau. »Leiten Sie die Fahndung ein!«

»Könnte Nele bei Freunden schlafen?«, wandte sich Dortje nun an den Vater.

»Das glaube ich nicht«, warf Astrid Peters ein. Hilflos sah sie ihren Ehemann an. »Um 8 Uhr geht sie sonntags doch immer zum Reiten.«

Merder räusperte sich. »Wir sind hier, um abzuklären, ob Nele vielleicht durch das Loch …«

»Meine Tochter ist keine Ausreißerin!«, fuhr Astrid Peters ihn an. Ihre Stimme bebte. »Außerdem macht Nele keine Scherze mit der Polizei. Das ist nicht ihr Stil.«

Wolfgang Peters runzelte die Stirn. »Was für ein Loch?«, fragte er.

»Rechts von Ihrem Tor ist der Zaun …«, weiter kam Merder nicht.

Astrid Peters baute sich vor ihm auf. »Was verschwenden Sie hier Ihre Zeit mit sinnlosen Formalitäten?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Machen Sie endlich Ihren Job! Finden Sie unser Kind!«

»Wie bitte?« Wolfgang Peters drehte den Kopf, als hörte er schlecht. »Sie nehmen Neles Anruf nicht ernst?« Für einen Augenblick schien er fassungslos. Dann, als würde er die Situation erst richtig begreifen, wandte er sich an seine Frau: »Ich rufe Walter an«, erklärte er entschlossen, eilte zur Treppe und verschwand im Obergeschoss.

Dortje wandte sich an die Mutter. »Wir bräuchten ein aktuelles Foto von Nele.«

Merder war froh, dass die Kollegin Ruhe bewahrte. Für die Good Girl-Bad Guy-Inszenierung waren sie genau das richtige Team. »Was meinst du?«, fragte er. Astrid Peters hatte den Flur verlassen, und sie waren für einen Augenblick allein.

Dortje hob unschlüssig die Schultern. Ihr Blick ging in Richtung Wohnzimmer, aus dem die Hausherrin sogleich mit einem Bilderrahmen in der Hand zurückkehrte.

Dortje betrachtete das Foto. »Wie alt ist Ihre Tochter?«

»Sie ist 16.«

»Darauf ist sie kaum älter als zwölf«, bemerkte Merder.

»Es wurde bei ihrer Konfirmation aufgenommen. Sie war damals 14.«

Missbilligend schüttelte Merder den Kopf. »Ein aktuelleres Bild haben Sie nicht?«

»Was wollen Sie?« Die Frau war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Wenn Sie nicht sofort die Fahndung einleiten, dann …«

»Das Foto Ihrer Tochter sollte nicht älter als ein halbes Jahr sein«, entgegnete Merder streng. Allmählich reichte es ihm. Über ihnen auf der Treppe vernahm er die Stimme des Hausherrn.

»Danke, Walter, so machen wir es!« Wolfgang Peters sprang die Stufen hinunter. In einer Hand hielt er das Telefon, in der anderen ein Blatt Papier. Er nickte seiner Frau kurz zu. Dann wandte er sich an die Polizisten. »Hier haben Sie ein aktuelles Bild von Nele. Ich habe es soeben aus dem Internet ausgedruckt.«

Merder hielt das Konfirmationsbild neben den Ausdruck. »Nur zwei Jahre älter und kaum wiederzuerkennen«, staunte er. Das damals glatte dunkelblonde Haar fiel jetzt in Dreadlocks bis fast auf die Schultern. Im rechten Nasenflügel steckte ein winziger Ring. Tiefschwarzer Kajal verlieh der Augenpartie etwas Katzenhaftes. Der Blick war magnetisch. Aber nicht allein die Schminke konnte der Grund dafür sein. Die Augen auf dem Ausdruck waren größer und runder als auf dem Bild älteren Datums. Merder verglich die Lippen auf beiden Porträts miteinander. Es waren zwei verschiedene Münder. »Hat Nele eine Schwester?«, fragte er und kräuselte die Lippen. »Vielleicht eine mit Schmollmund?«

»Sie glauben gar nicht, wie rasant sich die Kinder in dem Alter verändern«, erwiderte der Vater. »Außerdem werden sie eitel.«

Unsicher sah er seine Frau an. Als sie nichts sagte, fuhr er fort: »Nele hat das Foto selbst bearbeitet und auf ihrer Facebookseite gepostet. Bestimmt wollen Sie wissen, wie sie angezogen ist«, redete er hastig weiter. »Sie trägt eine schwarze Hose mit Top aus Lederimitat. Auf der linken Schulter hat sie ein Flügel-Tattoo.« Er dachte kurz nach. »Ach ja, und in ihrer Zunge steckt ein Piercing aus Titan.«

Das Zucken, das über das Gesicht der Mutter lief, entging Merder nicht. »Wir brauchen das Originalbild dazu«, sagte er. Sein Handy schnarrte. »Einen Augenblick bitte«, rief Merder und trat hinaus vor die Tür.

»Ihr macht Schluss und kommt sofort zu mir!« Steffen Hinrichs schien nicht gerade in Sonntagslaune.

»Wieso zu dir?«, wunderte sich Merder. »Seit wann kümmert sich die Kripo um Ausreißer?«

»Merder, du fragst zu viel«, schnaubte Hinrichs.

»Hier gibt es noch Klärungsbedarf.« Benno Merder hatte auch seinen Stolz.

»Jo, da hast du wohl recht«, höhnte Hinrichs. »Der Vater der Vermissten hat einen guten Draht nach oben. Ich hatte vorhin Walter Rotfuchs in der Leitung. Also, ich sehe euch in einer Viertelstunde in meinem Büro.«

Etwa zur selben Zeit …ANDRESEN

Hauke Andresen stellte den Motor ab. Er stieg von seinem roten Bagger herunter. »Mensch, Sören! Endlich!«, rief er in Richtung Schutthaufen, den er vorhin hinter der Tribüne am Kalkberg abgeladen hatte. Obendrauf stand sein teuer bezahlter Hilfsarbeiter und lächelte breit, als gäbe es nichts zu tun. Andresen nahm den Schutzhelm vom Kopf und strich sich die vom Schweiß verklebte Tolle aus dem Gesicht. Sein Hemd war klatschnass. Und das schon so früh am Morgen, dachte er verdrießlich.

»Moin, Hauke«, rief Sören und lachte ihm aufmunternd zu. In einer Hand hielt er den Helm und mit der anderen schwenkte er eine Papiertüte.

Andresen seufzte. Noch diese letzte Fuhre, dachte er. Das Zeug musste schleunigst in der Gesteinswand verschwinden. Spätestens bis Mittag sollte der alte Stollen vermauert und die Baustelle geräumt sein. Er hatte noch nie so knapp kalkuliert.

»Ich hab’ frische Rundstücke mitgebracht«, tönte Sören von seinem Hügel herunter.

Andresen verdrehte die Augen. Typisch Sören! Nicht die Spur von einem schlechten Gewissen. Dem Kerl war es nicht einmal der Mühe wert, so zu tun, als täte es ihm leid. Andresen wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Pass nur auf, dass ich nicht gleich ein Rundstück aus dir mache«, brummte er.

»Was ist denn los?«

»Heute fällt Frühstück aus«, erwiderte Andresen barsch. War Sören denn so schwer von Begriff? »Wir müssen hier fertig werden. Wenn du mich gestern Morgen nicht draufgesetzt hättest, könnte jeder von uns gemütlich zu Hause Sonntag machen.«

Andresen ärgerte sich, dass er auf Leute wie Sören angewiesen war. Aber als ein Ein-Mann-Unternehmen blieb ihm nichts anderes übrig. Besonders bei Aufträgen, die unter Zeitdruck erledigt werden mussten, nahm er sich gerne einen Hilfsarbeiter dazu. Die Festspielgesellschaft war ein wichtiger Kunde. Sie bestellte ihn ein, wenn Arbeiten im Stadion und hinter den Kulissen anstanden. Er genoss das Vertrauen der Geschäftsleitung und bekam bei jedem neuen Auftrag einen Schlüssel zum Haupttor, um jederzeit Zugang zur Baustelle zu haben. Nur deshalb war es ihm möglich, an einem Sonntagmorgen eine Sonderschicht einzulegen. Zum Glück hatte er sich kein größeres Räumfahrzeug mieten müssen. Für solche Aufträge auf engstem Raum hatte er sich einen wendigen Kleinbagger angeschafft. Die Arbeiten benötigten nur etwas mehr Zeit. Und die fehlte ihm jetzt. Ab Montag stand schon die nächste Baustelle an. Andresen hatte sie bereits um eine Woche verschoben. Mehr ging beim besten Willen nicht. Bis Mittag musste aufgeräumt sein. Da führte kein Weg dran vorbei. Kopfschüttelnd blickte er zu dem Kollegen hinüber, der seine Pferdezähne genüsslich in einem Brötchen vergrub. »Willst du dort oben anwachsen?«, brüllte Andresen.

Sören zuckte mit den Achseln und rutschte die kleine Halde herunter. Dabei stolperte er über die groben Gesteinsbrocken, dass Andresen es mit der Angst bekam. »Oh, Mann!«, schimpfte er. »Wenn du dir was brichst, lass ich dich verrecken. Das kannst du mir glauben. Meinetwegen sollen sich heute Nachmittag die Indianer um dich kümmern.« Er setzte den Helm wieder auf und stieg auf sein Räumfahrzeug. Er lehnte sich aus der offenen Kabine. »Und pack’ dir was auf den Kopf!«, rief er und fragte sich, ob sich das bei Sören noch lohnte. Bei so viel Unverstand würden sogar die Rothäute seinen Skalp verschmähen.

Hauke Andresen startete den Motor und machte sich an die Arbeit. Ein lila schimmernder Gegenstand am Eingang des Stollens weckte seine Aufmerksamkeit. Er hielt an und stieg vom Bagger herunter. Es war die Abdeckung von einem Handygehäuse. Er drehte das Teil aus dünnem Plastik zwischen den Fingern, während seine Augen den Boden absuchten. Sonst fand er nichts. Was die Leute so liegen lassen, dachte er verwundert, steckte es in die Brusttasche seines Hemdes und kehrte zu seinem Fahrzeug zurück. Jedes Mal, wenn die Schaufel scharf über den Boden schabte und die Gesteinsmassen in den Stollen hineinpolterten, zog er den Kopf in den Nacken. Er selbst trug Ohrschoner, aber er dachte an die Anwohner des Stadions. Ihre Grundstücke begannen gleich oberhalb der Felskante des ehemaligen Steinbruchs. Bestimmt wunderten sie sich über den Lärm am heiligen Sonntag. Ganz zu schweigen von den Erschütterungen, die dem einen oder anderen das Ausschlafen vergällten. Hoffentlich zeigte niemand ihn an. Nur noch diese letzte Fuhre, dann konnten sie den Schacht ein für alle Mal dichtmachen, und dann war hier Schicht und auch für ihn endlich Sonntag.

STEFFEN

Sein Körper lechzte nach einer Zigarette. Aber Steffen riss sich am Riemen. Der Arzt hatte ihn vor die Wahl gestellt: entweder essen oder rauchen. Steffen hatte sich fürs Essen entschieden mit schwerwiegenden Folgen für seinen ohnehin allzu üppigen Leibesumfang. Er schwitzte immer noch, aber er weigerte sich, den Ventilator schon so früh am Morgen einzuschalten. Anne, die gute Seele der Abteilung, hatte ihm das Gerät vor ein paar Tagen auf die Fensterbank gestellt. Es sei der zweitgrößte Ventilator im Hause, hatte sie ihm mit bedeutungsvoller Miene offenbart. Dreimal durfte er raten, für wen der größte bestimmt war. Der Polizeidirektor war es jedenfalls nicht. Aus dem Büro des obersten Häuptlings drang seit ein paar Tagen das monotone Brummen eines mobilen Kühlaggregats.

Die Armbanduhr, die Steffen gut sichtbar vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte, zeigte 8.30 Uhr. Eine volle Stunde hatten Benno Merder und Dortje Feindlich bei ihm im Büro gesessen. War das zu lange gewesen? Angeblich neigte er dazu, den Leuten zu viel Zeit zum Reden zu lassen. Bei einer internen Fortbildung hatte ihm dies der von seinem Dienstherrn verordnete Coach als Schwäche attestiert. Gleichzeitig sollte er den Mitarbeitern gegenüber zugewandt und empathisch sein, offen für ihre Probleme und Sorgen, auch den privaten. Aber hopp, hopp! Seit über 40 Jahren war er bei der Polizei. Er war Erster Kriminalhauptkommissar, leitete ein Sachgebiet und musste sich von so einem Schnösel, der über ein Vierteljahrhundert jünger war als er, erklären lassen, wie er sein Personal zu führen hatte. Das war absurd! Es bedurfte eben eines gewissen Fingerspitzengefühls, zwei so unterschiedliche Teamkollegen wie Benno und Dortje auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Die junge Schutzpolizistin war hochmotiviert, teamfähig und, was für Steffen das Wichtigste war, sie mochte Benno Merder. Während der Unterhaltung mit Dortje hatte er an seine Tochter denken müssen. Dortjes Gesicht war für ihn wie ein offenes Buch. Die schnellen Wechsel ihrer Gemütsregungen zeichneten sich unverfälscht ab. Noch, dachte Steffen ein wenig wehmütig. Bestimmt war er selbst in jungen Jahren nicht anders gewesen. Aber die Bilder seiner Anfänge waren ihm mit den vielen Dienstjahren abhandengekommen. Umso mehr empfand er sich in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass Dortje sich diese Natürlichkeit so lange wie möglich bewahrte. Außerdem gefielen ihm vollmundige Frauen, und die Frische der Neuzugänge belebte die Stimmung im Team. Dortje war genau die richtige Teampartnerin für Benno Merder, der aus seiner Einstellung zur neuen Kollegin eher ein Geheimnis machte. Steffen wertete das als ein gutes Zeichen. Augenscheinlich befand sich Benno wieder einmal in einer Krise. Vielleicht war Krise auch übertrieben. Benno neigte zu Selbstmitleid. Seinen Frust würzte er mit wenig unterhaltsamem Zynismus und nervigen Klagen. Dieser Zustand hatte sich verschlimmert, nachdem Bennos bester Freund als Ermittler bei der Soko »Rocker« verheizt worden war. Überhaupt hatte die »Rocker«-Affäre Benno schwer mitgenommen. Mit Ungerechtigkeit, dem täglichen Brot eines Polizisten, konnte er schlecht umgehen. Das war seine Schwäche. Er war eben ein durch und durch loyaler Kerl. Darin war Benno sich treu geblieben. Genau deshalb schätzte Steffen ihn sehr, auch wenn der Kollege sein hitziges Temperament nicht immer im Griff hatte. Außerdem war er ein brillanter Ermittler und genau auf Steffens Linie. Denn Merder war unangepasst, ein Querdenker, der sich durch Vorgaben nicht beeindrucken ließ und jedes Detail kritisch unter die Lupe nahm. Steffen fragte sich, weshalb Merder niemals in den gehobenen Polizeivollzugsdienst aufgestiegen war. Vermutlich war es dieses ruppige Naturell, mit dem er sich selbst den Weg nach oben verbaute. Für Steffen war das kein Hindernis, ihn für besondere Einsätze bei der Schupo anzufordern. Er war auf Leute wie ihn angewiesen. Er selbst empfand sich seit einiger Zeit oft als nicht ganz bei der Sache. Die zunehmende Müdigkeit – in letzter Zeit ertappte er sich zuweilen bei einem Nickerchen am Schreibtisch – und dieses schwierige Thema, das seit ein paar Wochen zwischen ihm und Linh im Raum stand, mochten schuld daran sein. Neuerdings dachte er wieder ans Reisen, denn im Grunde seines Herzens war er ein Streuner.

Nachdenklich betrachtete Steffen die schwungvoll nach innen gerundete vordere Tischkante des Schreibtischs, seine Deutsche Bucht, wie er sie liebevoll nannte. Sie war dem nicht unbedeutenden Umfang seines Leibes geschuldet. Er hatte sich diese Annehmlichkeit vor zehn Jahren nach seiner Beförderung zum Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte bei der Wahl seiner Büroausstattung selbst genehmigt. Zum Schreibtischtäter verdammt, empfand er diesen bescheidenen Luxus als gerechten Ausgleich für den Verzicht auf den »Ritt auf dem Wal«, als den er früher den Außendienst bezeichnet hatte. Eine überdimensionierte Schreibunterlage mit einer Karte der Nordsee zierte seit ein paar Wochen den Tisch. In dieser Installation verbarg sich die Schnittstelle zwischen seinem Sinn für pragmatische Lösungen und seiner nostalgischen Seele. Wenn er so über seinen Ranzen hinweg die Karte betrachtete, wähnte er sich auf dem Rücken des Wals, mit dem er vom Wasser aus aufs Festland blickte. Die Deutsche Bucht war über die vielen Jahre, die er als Sonderermittler im Drogenschmuggel tätig gewesen war, sein Einsatzgebiet gewesen, und die Überwachung der Kokainroute über Schleswig-Holstein nach Skandinavien seine professionelle Bestimmung. Ihm und seinem Ex-Kollegen Maic Lutter war damals ein echter Coup gelungen, der ihre Karrieren schließlich weg von der Straße ins Office gelenkt hatte. Eigentlich war Steffen dieser Beförderungspraxis gegenüber eher skeptisch eingestellt. Bei Maic war das anders. Als Leiter der Abteilung für Operative Fallanalyse war er ein Glücksgriff für das Landeskriminalamt in Kiel.