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Joost liebt Ordnung und Logik: Dem jungen Physiklehrer ist die Sortierung in seiner Sockenschublade genauso wichtig wie ein präzise berechneter Sonnenaufgang. Sein strukturiertes Leben gerät ins Trudeln, als seine eigenwillige Schulklasse ihn mit allerhand kreativen Streichen und einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert. Und dann zieht auch noch Helena mit ihrer stillen Tochter Merle in die leerstehende Wohnung im ersten Stock: Das Mädchen malt verblüffende Bilder, taucht an Orten auf, wo man es nicht erwartet – und stellt Joosts geordnetes Dasein komplett auf den Kopf. Und Joost muss sich fragen: Gibt es jenseits von Formeln und Naturgesetzen noch ganz andere Regeln?
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2025
Stefan Wetterau
Kleine
Kollisionen
ROMAN
© 2025 Stefan Wetterau Website: https://www.stefanwetterau.de Coverdesign von: Doreen Wetterau Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland ISBN Softcover: 978-3-384-27636-0 ISBN Hardcover: 978-3-384-27637-7 ISBN E-Book: 978-3-384-27638-4 Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Stefan Wetterau, Sonnenbergstraße 34, 71065 Sindelfingen, Germany Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:[email protected] Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt. Der gesamte Text dieses Werks ist „mensch-gemacht“ und entstand ohne Unterstützung generativer künstlicher Intelligenz. Sämtliche Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Gesetzt vom Autor aus der EB Garamond 1. Auflage 2025
Für Doreen
1 – Der Anstoß des Steins
Was der Stein wohl denkt? Da liegt er auf dem Gehweg und harrt der Dinge, die in Form von Schuhen, Stiefeln, Fahrradreifen und Kinderwagenrädern kommen.
Ist er gelangweilt von seinem Dasein als Kiesel, der bloß achtlos rumgeschubst wird?
Hunderttausend Jahre hat der Stein, nennen wir ihn Rocky, mit seinen Kumpels in einem Fluss gelegen, eng beieinander und schön kuschelig, für Gesteinsverhältnisse. Sie quatschten über dies und das, die Entstehung der Welt, Vulkanausbrüche, Magma, Lava – eine heiße Zeit war das. Bis sie in dem Fluss landeten und schließlich unter der Erde, für eine kleine Ewigkeit. Dann haben sie die Zweibeiner ausgebuddelt und voneinander getrennt. Was wohl aus seinem Nachbarn, dem quasselnden Quarzit geworden ist?
Und nun wartet er hier auf dem Gehweg irgendeiner Großstadt, mal im Regen, mal in der prallen Sonne, so wie heute. Die Pflastersteine, auf denen Rocky liegt, alles harte Kerle aus Basalt, sind den wärmenden Strahlen ebenfalls nicht abgeneigt und an diesem Morgen nicht ganz so übel drauf wie sonst.
Da, erneut kommt ein Paar Füße auf Rocky zu, modische Sneaker, sauber, schwarz-weiß. Zwei Schritte vor ihm bleiben sie stehen, gehen weiter und passieren ihn knapp. Wieder nichts. Also bleibt Rocky noch ein wenig hier liegen, den dreihundertzwölften Tag.
Ein heftiger Schlag erwischt ihn von hinten – als ob er eine Rückseite hätte – und befördert ihn in die Luft. Tolles Gefühl! Er hatte vergessen, wie irre sich Fliegen anfühlt. Wenige Zentimeter über dem Boden rast er den Gehweg entlang. Der Tritt lässt ihn eine Pirouette drehen, dabei sieht er die Treter des Mannes, der ihm diese unverhoffte Reise beschert: Halbschuhe aus dunkelbraunem Leder, schwarze Schnürsenkel. Mit der nächsten Drehung ist das Schuhwerk wieder aus dem Sinn, und der Kiesel sieht einem der Pflastersteine im Gehweg entgegen, der nicht mehr recht an seinem Platz sitzt. Eine seiner Kanten ragt zwei Zentimeter schräg aus dem Boden und schanzt den zwar unfreiwilligen, aber dafür begeisterten Flieger in die Höhe.
Yippieh! Es wird immer besser!
Mit einem dumpfen Klonk prallt Rocky gegen den Laternenpfahl am Rand des Trottoirs. Das Metall reißt ihn sowohl aus seinen Gedanken als auch aus seiner soeben buchstäblich angetretenen Flugbahn. Diese führt über den schmalen Grünstreifen in Richtung Straße. Beiläufig vernimmt Rocky hektische Schritte der braunen Lederschuhe auf dem Gehweg. So flink ist der Träger der Treter nicht, und der Stein setzt seinen Weg unbeirrt fort.
Etwas Rotes kommt auf ihn zu, und bevor ihm einfällt, was das sein könnte, hat er es schon erreicht. Sein eher unbedeutendes Gewicht wird durch die beachtliche Geschwindigkeit wettgemacht, die ihm der Tritt beschert hat. Wohlig nimmt Rocky den Aufprall wahr, mit dem er einen halben Quadratzentimeter des roten Lacks von einer Autotür sprengt und dem darunter befindlichen Blech eine ordentliche Delle verpasst. Größeren Schaden vermag er der Karre nicht zuzufügen, auch wenn der Gedanke daran ziemlich verlockend ist.
Der Rückstoß schleudert Rocky zurück zu der staunenden und johlenden Basalt-Fangemeinde. Mit ein paar letzten Aufsetzern bleibt er exakt dort liegen, wo die Schuhe des Mannes zum Stehen kommen.
»Nochmal!«, ruft Rocky ungehört.
»Scheiße!«, rufe ich, dem die Schuhe gehören.
Die blumige Kurzgeschichte des vermaledeiten Kiesels ist erstmal vergessen. Das Mineral hat eindrücklich ein paar physikalische Gesetze veranschaulicht und den Wert des alten Ford Fiesta halbiert, der da am Straßenrand vor sich hinrostet.
Resigniert lasse ich die Schultern sinken und gehe neben dem Gefährt in die Knie. Meine Umhängetasche rutscht nach vorn und dotzt hörbar gegen die Autotür, ohne einen erkennbaren Schaden zu hinterlassen. Das unförmige Loch im stumpfen Lack hingegen, das Rocky mit Freude gestanzt hat, ist bestens sichtbar, und meine Fingerspitzen ertasten die Delle im Blech.
»So ein Mist!«, murmle ich und richte mich auf.
Das einzig Positive, das ich der Sache abgewinnen kann: Das ist meine eigene Karre. Damit spare ich mir lästige Diskussionen mit hysterischen Sportwagenbesitzern oder genervten SUV-Muttis, von der Versicherung ganz zu schweigen.
Trotzdem schaue ich mich unauffällig um. Eventuell hat mich jemand bei der missglückten Abstoßaktion beobachtet und argwöhnt Ansätze von Vertuschung. Unter den Platanen, die in beiden Richtungen den Gehweg beschatten, ist niemand zu sehen. Es ist früher Nachmittag, und die Schüler sind schon zuhause und die Angestellten noch an der Arbeit.
Mein Fiesta reiht sich in die Kolonne der parkenden Autos am Straßenrand ein, auf deren Dächer einzelne vertrocknete Blätter gefallen sind. Dass das Auto in der einzigen Lücke des ansonsten wohltuenden Blätterdachs steht und derzeit von der Mittagssonne gegrillt wird, passt zum bisherigen Verlauf meines Tages. Es war der einzige freie Platz in der Seitenstraße, ergattert vor mehr als einer Woche. Den gebe ich erst auf, wenn ich wegen einer Naturkatastrophe Hals über Kopf das Land verlassen muss. Und vielleicht gehe ich selbst dann besser zu Fuß, da ich mit der Rostlaube nicht schneller wäre. Wenn sie denn überhaupt anspringt.
Ich ziehe eine Schnute und betrachte den Baumstumpf im vertrockneten Gras neben der Beifahrertür. Die rissige Scheibe mit den Jahresringen ist der letzte Beweis für die mit Kettensägen beendete Existenz des schattenspendenden Riesen mit der schuppigen Borke. Baumbart wäre sauer.
»Na, schon Feierabend?«, krächzt es hinter mir.
Ich zucke zusammen. Ich hätte es wissen müssen, die alte Schachtel hängt den ganzen Tag auf ihrem Balkon herum, egal ob auf der Straße etwas im Gange ist oder nicht.
Meine Gesichtsmuskeln konstruieren das einstudierte Lächeln. Die Schultern straffen sich unter dem verschwitzten hellblauen Baumwollhemd und verhelfen meiner eins achtundachtzig messenden Statur zu einem souveränen Auftreten. Das rede ich mir ein und drehe mich herum.
Da hockt sie, die Unterarme auf die Brüstung des Balkons im Hochparterre gestützt, wie einer dieser schelmisch grinsenden Gnome aus dem Gartencenter. Zum Glück hat sie den Mund geschlossen, sonst sähe ich mich ohne amtlich verordnete Vorwarnzeit dem Anblick ihres losen Gebisses ausgesetzt, das beim Sprechen ein beängstigendes Eigenleben entwickelt. Ihr faltiges Antlitz schmückt eine Art amüsierter Ausdruck. Jedenfalls versucht das der hochgezogene Mundwinkel zu vermitteln, wenn auch das vermeintliche Lächeln ihre Augenwinkel nicht erreicht. Ihre Pupillen verbergen sich hinter einer abgedunkelten Gleitsichtbrille.
»Ah, Madame Poiselle«, rufe ich beschwingt aus. »Welche Überraschung!«
Mit einem unauffälligen Blick nach oben versichere ich mich, dass auf den Balkonen des dreigeschossigen Reihenhauses niemand Zeuge unserer Begegnung wird. Eilig passiere ich die stets offene Eisengittertür, die zusammen mit einer niedrigen Klinkermauer den Gehweg vom Grundstück trennt, und betrete den kurzen Plattenweg zum Haus. Ich nehme zwei Stufen auf einmal und bin gewillt, den weißhaarigen Torwächter wortlos zu überrumpeln und ins Gebäude zu gelangen. Ihre grantigen Worte machen das Vorhaben zunichte wie eine vorgereckte Hellebarde.
»Poisel!«, ranzt sie mich an. »Mein Name ist Frau Poisel, das wissen Sie doch!«
Auf dem Podest vor der Eingangstür bleibe ich stehen und schaue sehnsüchtig die verheißungsvolle Klinke an, bevor ich mich zu der alten Dame umdrehe. Sie hat ihre kauernde Position an der Brüstung nicht aufgegeben und schenkt mir ein Mindestmaß an für die Konversation nötiger Zuwendung durch eine Drehung des Kopfs. Ich frage mich, ob die Maschen ihrer Strickjacke inzwischen mit dem Stein verwachsen sind und das bedauernswerte Geschöpf den Rest seines Lebens in dieser gebeugten Stellung verharren muss.
Ein zweites hellblaues Augenpaar schaut mich müde knapp über dem Rand der Balkonbrüstung an. Es gehört einem Mischlingshund, irgendwas mit Australian Shepherd, Shiba und gefleckter Kuh. Frau Poisel nennt ihren Schützling Porthos. Die Motivation zu dieser Namensvergabe blieb mir bisher fremd, vielleicht ein romantisches Faible für Alexandre Dumas. Ich bleibe bei Zorro, weil eine Laune der Natur seinem Fell quer über die Augen eine schwarze Binde verpasst hat. Die Trägheit des in die Jahre gekommenen Vierbeiners steht dem Temperament des Namensgebers diametral entgegen. Er gibt nicht mal einen zuverlässigen Wachhund ab. Besucher des Hauses begrüßt er treuherzig mit einem Hecheln vom Balkon aus.
»Poiselle klingt aber melodiöser«, behaupte ich. »Sind Sie denn sicher, dass Sie keine französischen Vorfahren hatten? Hugenotten vielleicht? Wäre doch möglich.«
Sie stößt verächtlich die Luft aus. »Pah, das wüsste ich! Mein Urgroßvater stammt aus Schlesien, und der Rest der Sippe ist von hier nicht weiter weggekommen als bis zur nächsten Hügelkette.«
»Das erklärt einiges«, murmle ich.
Sie spitzt die Ohren. »Wie bitte?«
»Nichts weiter«, entgegne ich ausweichend. Schweißperlen, vorrangig von der Hitze, rinnen aus meinen kurzen braunen Haaren über die Stirn. Mit dem Ärmel wische ich sie theatralisch weg. »Mir ging grad durch den Kopf, dass es doch ganz schön heiß ist, hier vor dem Haus. Drinnen ist es bestimmt angenehmer.« Ich deute eine Bewegung in Richtung Haustür an. Der Wink schießt an ihr vorüber.
»Es wäre nicht so heiß, wenn die Spinner von der Stadt den Baum stehengelassen hätten!« Sie deutet mit einem Kopfnicken zur Straße hinüber. Über dem Dach meines Autos flimmert die Luft. Frau Poisels Arme verbleiben einzementiert an Ort und Stelle.
»Haben denn nicht sogar Sie dort angerufen?« Der Einwand kommt wie ein Reflex, und ich hätte die Hand vor den Mund geschlagen, wenn die Worte nicht schon hinaus in die Welt wären.
»Ja, wieso auch nicht? Ständig dieser Dreck mit den Blättern auf dem Balkon! Wer macht denn den weg? Wofür bezahl ich die Grundsteuer und die ganzen Gebühren, wenn ich hier selbst saubermachen muss?«
Das Dasein als Physiklehrer hat mein Faible für Rationalität aufs Äußerste geprägt. Umso eindrücklicher ist das beachtliche Maß an Ratlosigkeit, das die Widersprüchlichkeit in Frau Poisels Handeln bei mir verursacht. Mit simplen Konzepten wie Aktion und Reaktion komme ich bei meinem Gegenüber nicht weit.
Die Aussicht auf die Fruchtlosigkeit dieses Palavers auf der einen Seite und die wartende Kühle des Hauses auf der anderen erstickt zusätzliche Kommentare meinerseits im Keim. Müde betrachte ich die tapferen Geranien in den Blumenkästen, die draußen an Frau Poisels Balkon hängen. Das leuchtende Rosa der Blüten ist in der Mittagshitze einem verschrumpelten Dunkelrot gewichen, und die Blätter sehen aus wie zu lang frittierte Gemüsechips.
Einen weiteren verbalen Klaps kann ich mir nicht verkneifen. Er keimt auf in der Hoffnung, die miesepetrige Dame zumindest so weit zu verstimmen, dass ich mich aus ihrem Netz aus Verdruss befreien kann.
»Was ist denn los, Statler? Sie sind heute gar nicht so gut gelaunt wie sonst?«
Eine hochgezogene Augenbraue signalisiert aufflammenden Argwohn hinsichtlich der neuerlichen Namensvergabe. Ich gehe davon aus, dass Frau Poisel nicht zum Muppets-Fanclub gehört.
»Haben Sie es nicht mitbekommen? Die Spaghettis haben gestern wieder bis in die Puppen gefeiert.«
Ich folge dem Blick ihrer durch die verdunkelten Brillengläser blitzenden Augen und wende mich dem Balkon auf der anderen Seite der Eingangstreppe zu. Auf einem langen Biertisch stehen allerhand Gläser und Flaschen, so als ob die Gäste der geselligen Zusammenkunft den Ort des Geschehens eben erst verlassen hätten. Die Tür zur Wohnung steht offen, und von drinnen ist das Geschepper von Kochgeschirr zu hören. Eine weibliche Stimme begleitet bemerkenswert textsicher einen Schlager von Umberto Tozzi. Keine Ahnung, woher ich das weiß.
»Ist doch nett, wenn hier mal was los ist«, entgegne ich, wieder meiner Gesprächspartnerin zugewandt.
»Nett? Bis um halb drei haben die Spaghettis gequasselt! Kein Auge hab ich zugetan!«
Ihr Schlafzimmer befindet sich wie meines auf der rückwärtigen Seite des Hauses, weshalb ich annehme, dass sie das Treiben in aufschäumender Wut hinter der halb geöffneten Balkontür des Wohnzimmers auf der Straßenseite verfolgt hat. Sie braucht halt was, damit die Blutdrucktabletten Sinn ergeben.
Ich muss hier weg. »Es heißt übrigens nicht Spaghettis.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Abgesehen von der inakzeptablen despektierlichen Benennung unserer Mitbewohner, Miss Potato, lautet die Pluralform von Spaghetti nicht Spaghettis, sondern Spaghetti.« Ich beende das Referat mit einem triumphierenden Lächeln und wappne mich gegen die Erwiderung, indem ich meine Umhängetasche einem Schild gleich vor den Bauch ziehe.
Frau Poisel schaut einige Sekunden lang ausdruckslos drein, bevor sie gleichmütig antwortet: »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein unfassbarer Pfefferspalter sind?«
»Ja, hin und wieder. Und es heißt Kümmelspalter.«
»Sehen Sie?«
Punkt für sie. »Ich muss dann mal ...«, wage ich einen neuen Ansatz zur Beendigung unseres nachbarschaftlichen Plauschs.
Sie torpediert den Fluchtversuch. »Was haben Sie da gerade eben eigentlich an Ihrem Auto gemacht?«
Ich bin sicher, sie hat es gesehen. Trotzdem frage ich: »Was meinen Sie, Inspektor Clouseau?«
Ihr linker Mundwinkel zuckt. Das Ruckeln ihres Kopfes deutet abermals zur Straße hinüber. Kurz fürchte ich, dass ihr Haupt im nächsten Moment ohne Vorwarnung abbricht und in den Vorgarten plumpst.
»Na, ich hab doch gesehen, dass sie an Ihrem Auto rumgefummelt haben. Ist schon wieder was kaputt? Warum verschrotten Sie das Ding nicht endlich? Steht sowieso nur rum und verschandelt die Aussicht!«
Um die wäre es mit dem zwischenzeitlich gefällten Baum besser bestellt, denke ich. Indes ist Frau Poisel über den technischen Zustand meines fahrbaren Untersatzes bestens im Bilde. Für die Installation einer Alarmanlage in der Karre, die ohnehin niemand klauen möchte, besteht kein Anlass. »Poisel Security Services« würde beim ersten Auftauchen schwarz vermummter Gestalten mit auffälligem Werkzeug ohne Zögern die Polizei verständigen. Sofern sie mir mehr zugetan wäre, und für dieses Mindestmaß an Wohlwollen tue ich momentan nicht viel.
Ich straffe mich für einen abschließenden verbalen Gegenangriff. »Ich habe lediglich den Beleg dafür betrachtet, dass alle Dinge im Universum dem Verfall bedingungslos ausgesetzt sind.« Ich deute mit einer vagen Geste hinüber zu meinem Wagen und sehe dabei unumwunden die Frau auf dem Balkon an. »Autos, Häuser, Menschen, ...«
»Ist mir klar«, entgegnet sie gelassen. »Aber müssen Sie dem Zerfall denn auch noch mit einem gekickten spitzen Stein nachhelfen?«
Wie gesagt: Sie sieht einfach alles.
2 – Stoff
Von der Hitze benebelt, öffne ich den Postkasten neben der Eingangstür, die hinter meinem Rücken dumpf ins Schloss fällt. Drei Umschläge purzeln mir entgegen, Stadtwerke, vermutlich die nächste Gaspreiserhöhung, Finanzamt, wahrscheinlich die Erinnerung zur Abgabe der Steuererklärung, und Möbel-Monster, ziemlich sicher farbenfrohe Werbung für die besten, billigsten und kurzlebigsten Einrichtungsneuheiten ever! Den letzten Umschlag stopfe ich in Madame Poiselles Briefkasten, dessen verbogene Klappe diese Umverteilung zulässt.
Das Knarzen der alten Eichenstufen klingt nach vertrauter Routine und ein bisschen wie Frau Poisels Stimme. Auf das Holz der Treppenkonstruktion ist Verlass. In der Luft hängt ein Rest von Bohnerwachs und einem zitronenhaltigen Reinigungsmittel. Dem vor Jahrtausenden in Steintafeln eingeritzten Gesetz der schwäbischen Kehrwoche wurde Genüge getan. Beruhigend.
Im krassen Gegensatz dazu steht das beunruhigende Verhalten meiner Schulklasse. Die 8b hat sich diskussionsfreudig gezeigt wie nie zuvor, und ich werde das mulmige Gefühl nicht los, dass es sich bei der flammenden Kontroverse um ein großangelegtes Komplott handelt.
Ich komme seit dem Vormittag aus dem Grübeln nicht heraus. Auf dem zwanzigminütigen Heimweg durch die glühenden Gassen der Stadt bin ich auf keinen plausiblen Grund gestoßen, der den Enthusiasmus der sonst so gelangweilten Schüler erklären könnte. Drehen die wegen der Hitze langsam durch? Und dabei ging es bloß um Gravitation!
Letztere zerrt heute beim Erklimmen der Treppe ziemlich eifrig an den Beinen. Die Hitzewelle macht selbst mir mit meinen achtundzwanzig Jahren zu schaffen. Mit jedem Meter hinauf nimmt die wohltuende Kühle des Erdgeschosses ab und die Schwüle zu. Die ausgedünstete Feuchtigkeit vom geschrubbten Fliesenboden vor den Wohnungstüren trägt einen ordentlichen Teil zum Mikroklima des Treppenhauses bei. So oft und gründlich, wie hier gewischt und geputzt wird, wundert es mich nicht, dass der Lack auf den Scheuerleisten inzwischen grau ist und die blassgelbe Ölfarbe an manchen Stellen der Wand abblättert.
Vor meiner Wohnungstür im zweiten Stock halte ich inne. Der Klingelknopf auf der messingfarbenen Platte sieht aus wie altes Elfenbein und hat einen haarfeinen Riss. Das dürre zweiadrige Kabel, das einer Kerbe im Putz neben dem Schild entspringt und im benachbarten Türrahmen verschwindet, komplettiert das Retro-Ensemble. Die Türen sind wie in allen Häusern der Straße zweieinhalb Meter hoch und bestehen aus zwei Flügeln, erforderlich für den Transport von Möbeln, bevor diese in Kartons zusammen mit einem Inbusschlüssel geliefert wurden. Der Lack beginnt zu vergilben und hat an den Kanten von Rahmen und Türblatt zahlreiche Schrammen davongetragen.
Mir fällt das Thema »Zerfall« wieder ein, mit dem ich Frau Poisels Tirade beenden wollte. Das Haus macht da keine Ausnahme.
Durch die Tür auf der anderen Seite grummelt unverständlich die Stimme eines Nachrichtensprechers. Herr Wozniak hat wahrscheinlich mal wieder sein Hörgerät verlegt und den Fernseher aufgedreht. Der Mann hat mir gegenüber sein Alter auf Nachfrage zwischen achtzig und hundert verortet, die Schultern gezuckt und grinsend hinzugesetzt: »Hab bei achtzig aufgehört zu zählen.«
Ihm gehört das Haus, das er in den Sechzigerjahren von seinen früh verstorbenen Eltern geerbt hat. Die haben das von Bomben beschädigte Gebäude nach dem Krieg günstig gekauft und instandgesetzt. Hubert Wozniak hat ihre Arbeit fortgeführt und die Immobilie seinen Möglichkeiten entsprechend gepflegt. Bei der Auswahl der Mieter beweist er ein ausgezeichnetes Gespür für eine halbwegs harmonische Hausgemeinschaft. Irgendwie passt auch Frau Poisel dazu.
Eine Etage tiefer quietschen die Angeln einer Tür.
»Joost, bist du das?«, ertönt die raue Stimme von Jacko, eigentlich Jakob. Woher sein Spitzname kommt, habe ich ihn nie gefragt. Er hört Rock und Metal, den King of Pop eher nicht.
Ich zögere kurz und überlege, ob ich meine Anwesenheit verleugne. Begegnungen mit Jacko bergen die Gefahr langer Gespräche über Banalitäten gleichermaßen wie Tiefschürfendes. Beides ist mir nicht zuwider, im Moment steht mir der Sinn allerdings nach ein paar Minuten Ruhe bei einem Kaffee im Schatten auf dem rückwärtigen Balkon.
Jackos Stimme klingt nicht nur rau, sondern auch müde. Vielleicht nötigt ihn die überstandene Nachtschicht im Pflegeheim, rasch ins Bett zurückzukehren.
»Ja«, rufe ich hinunter. »Gerade eingetrudelt. Was gibt’s?«
Anstatt einer Antwort höre ich die Stufen knarzen, eine Minute später steht mein Hausgenosse in grauen Socken und einer olivgrünen kurzen Cargohose vor mir. Von seinem schwarzen T-Shirt schreit mich der metallene Kopf von Motörhead an.
»Du siehst scheiße aus, Nachbar«, stelle ich fest.
»Danke, es ist auch schön, dich zu sehen«, gibt Jacko angesäuert zurück.
»Schwierige Schicht gehabt?«
Er schüttelt den Kopf, entscheidet sich dann doch für ein Nicken. »Ja, auch. Lange Geschichte, die es wert ist, in deinen Räumlichkeiten vorgetragen zu werden.« Verschwörerisch beugt er sich vor. »Und außerdem brauche ich was.«
»Schon wieder?«, rufe ich aus.
Jacko zieht den Kopf zwischen die Schultern und schaut sich verschwörerisch um, als lauerten hinter den Treppenpfosten Agenten. »Sch, leise! Lass uns reingehen.«
Widerwillig muss ich einsehen, dass aus dem in Einsamkeit genossenen Kaffee und der Ruhe nichts wird. Ich fingere den Schlüsselbund aus der Umhängetasche und öffne meine Wohnungstür. Jacko folgt mir auf sockigen Pfoten ins Innere, nicht ohne einen letzten prüfenden Blick ins Treppenhaus, und schließt hinter uns die Tür.
Ich beuge mich hinab und öffne die Schnürsenkel meiner Halbschuhe, bevor ich diese abstreife und parallel ausgerichtet auf die Schuhbank unter der Garderobe stelle. Die Tasche hänge ich unterhalb der Jacken an den dafür vorgesehenen Haken. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Jacko stumm und amüsiert mein Handeln verfolgt. Wir sparen uns beide die passenden Kommentare hinsichtlich meines Ordnungssinns. Die kommen früh genug.
Die Wohnung hat sich in den vergangenen drei Wochen kontinuierlich aufgeheizt. Heruntergelassene Jalousien auf beiden Seiten konnten den Prozess nur unzureichend verlangsamen. Spät abends reiße ich jedes einzelne der hohen Fenster auf und ergötze mich an dem Luftzug, auch wenn er keine Abkühlung bringt.
Jacko folgt mir nach links in die Wohnküche, die durch die Lamellen vor den Fenstern schummrig erhellt wird. Damit er nicht über irgendwelche Schuhe stürzt, die ich versehentlich habe liegenlassen, oder auf dem lackierten Parkett ausrutscht, schalte ich eilig die Beleuchtung an der Küchenzeile ein, die sich über die Innenwand des Raums zieht. Ich nehme damit in Kauf, dass die Lampen das zu erwartende Chaos präsentieren, das ich auch vier Jahre nach dem Einzug nicht komplett in den Griff bekomme. Ich tröste mich damit, dass nur wenigen Menschen Einblick in mein Refugium vergönnt ist und mit dem Wissen, dass es in Jackos Küche nicht besser aussieht. Eher schlechter, in allen Räumen und jeder Hinsicht.
Da steht das corpus delicti in der vollen Pracht der LED-Lampen auf der blankgeputzten Spüle: die benutzte Kaffeetasse vom Morgen.
Jacko sieht sich um, die Stirn in Erstaunen gerunzelt. Er taxiert das dunkelgraue Ledersofa mit der ordentlich gefalteten, farblich passenden Wolldecke und den weißen Kissen, die ich zum Glück am Vorabend aufgeschüttelt und an den üblichen Stellen positioniert habe. Den Vorsprung im Küchentresen, an dem ich üblicherweise mein Müsli verspeise. Den Barhocker habe ich in weiser Voraussicht unter den Tresen geschoben, bevor ich die Wohnung verlassen habe. Es gibt also abgesehen von der ungespülten Tasse keinen Anlass zu Beanstandungen.
»Alter!«, entfährt es Jacko. Die Bestandsaufnahme hat er abgeschlossen.
»Ich weiß, ich hätte ...«
Er unterbricht mich, beziehungsweise nimmt er den Ansatz meiner Rechtfertigung nicht wahr. »Wohnst du hier eigentlich? Oder ist das so eine Art Musterwohnung?«
Ich glotze ihn verständnislos an. »Was meinst du? Du warst schon mal hier, meine Wohnung kennst du doch.«
»Ja, aber du hast irgendwie noch mehr ... aufgeräumt. Mann, du hast im Clean-and-Tidy-Game ganz sicher das übernächste Level erreicht.« Noch einmal dreht sich Jacko im Kreis und saugt die Details des Zimmers in sich auf. Er spreizt die Arme. »Schau dich doch mal um. Hier sieht’s aus wie in einem Einrichtungskatalog! Willst du etwa untervermieten?«
Jacko hat mich oft wegen meines Hangs zu Ordnung und Sauberkeit aufgezogen. Heute scheint sein Erstaunen real zu sein.
»Du bist echt das Musterexemplar eines Nerds in freier Wildbahn«, konstatiert Jacko und verschränkt die Arme vor dem Motörhead. Auch der zeigt einen verwunderten Gesichtsausdruck.
Wie eine Art Kunstkenner schreitet mein Nachbar durch die Wohnküche und bleibt vor dem Schreibtisch stehen. Mich durchzuckt die Befürchtung, dessen Oberfläche unaufgeräumt hinterlassen zu haben. Zwei Schritte hinüber und ein Blick über Jackos Schulter auf die blankpolierte weiße Tischplatte sorgen für Entwarnung. Es liegt nur die Schreibunterlage darauf, an der hinteren Kante steht eine längliche Schale mit parallel gelegten Stiften, geordnet nach Farben.
Dafür interessiert sich mein Besucher jedoch nicht. Er deutet an die Wand über dem Schreibtisch. »Das ist neu, oder? Was ist das? Eine Straßenkarte von Manhattan?«
Irritiert starre ich das von einem dünnen Holzrahmen eingefasste Bild an. Ein Rechteck von DIN-A2-Format zeigt unterschiedlich große Vierecke in Blau, Gelb, Weiß und Rot, abgegrenzt von dicken schwarzen Linien. Es gibt ausschließlich rechte Winkel. Ich versuche, in Jackos Miene Sarkasmus auszumachen, werde allerdings nicht fündig. »Äh, das ist ein Mondrian. Also der Nachdruck eines Werks von ihm.«
»Mann, ich weiß, wer Mondrian ist«, gibt Jacko mit einem Auflachen zu. »Niederländischer Maler, der hat fast nur so verkorkste Schachbretter gemalt.«
»Ich mag gerade Linien.« In einem Anflug von Trotz verschränke ich die Arme vor der Brust.
»Warum nicht was von Lichtenberg oder Macke?«
»Hatte ich Linien erwähnt?«
»Macke malt auch Linien«, behauptet Jacko und überrascht mich mit seinem Wissen. »Frau mit Blumenvase, kennst du das? Das hat Linien, und was für welche! Zwar nicht gerade, mehr so Kurven, aber sinnlich, meine Fresse!«
Ich beschließe, das Thema mit ihm nicht zu vertiefen. Wir leben diesbezüglich in zwei unterschiedlichen Universen. Wir besuchen uns gern gegenseitig, und es ist für uns beide jedes Mal wie die Reise in ein fremdes Land.
Für mich fühlt es sich hinter Jackos Wohnungstür an wie beim Besuch eines Suks in einer nordafrikanischen Stadt, wo die schiere Übermacht der Gerüche einen Mitteleuropäer umhaut und wegen der geballten Masse gestapelter ... Dinge kein Blatt zu Boden fällt. Jacko ist kein Messie, hortet keinen Müll und weiß stets, wo er was findet, auch wenn der Weg dorthin oft lang, weil von anderen Sachen blockiert ist. Dass ein Mensch in einem solchen Desaster überleben kann, gehört für mich zu den Mysterien des Daseins.
Im Gegenzug, so hat es Jacko mir vor einiger Zeit plastisch geschildert, ist der Besuch meines Domizils für ihn wie der Aufenthalt in einem hochreinen Labor für Medizintechnik. Dort ist alles beschriftet und hat seinen Platz, und die Anwesenden laufen in Schutzanzügen herum, um den Raum nicht zu kontaminieren. Super, dachte ich damals, als ich Jacko beim nächsten Besuch die Tür geöffnet habe: Mit der Sterilität war es in dem Moment vorbei. Jauchzend stürzten sich die Mikroorganismen auf meine jungfräuliche Bude.
Ich schalte die Kaffeemaschine ein, die blubbernd ihre Arbeit aufnimmt.
»Was ist nun dein Begehr?«, frage ich Jacko, dem endlich einfällt, seinen Mund zu schließen.
Er schüttelt noch einmal den Kopf, entweder im Unglauben über den Zustand meiner Wohnung oder um zu sich zu kommen.
»Ich brauche Stoff. Bin schon wieder abgebrannt.«
Besorgt verziehe ich den Mund. »Ich hab dich erst letzte Woche mit fünfhundert Gramm versorgt. Hast du das alles schon ...«
»Ich hatte Besuch, meine Schwester war da.« Jacko knetet die Hände. »Gesellschaft, du weißt doch, wie das ist. Da teilt man eben mit den anderen.«
»Du musst runter von dem Zeug, Alter. Das macht dich noch völlig fertig. Ich hab einige Kids in meiner Klasse, die sind übel drauf wegen dem Scheiß.«
»Hab’s versucht. Ein paar Tage hab ich durchgehalten.«
»Und?«
»Es war die Hölle!«
Bekümmert schüttle ich den Kopf. »Was sagt dein Arzt dazu?«
»Die Werte waren zuletzt in Ordnung.«
»Aber?« Er verschweigt mir etwas. Herausfordernd sehe ich ihn an.
Jacko lässt resigniert die Schultern hängen. Er weiß, wenn er nicht alle Karten auf den Tisch legt, lasse ich ihn eiskalt im Regen stehen.
»Ich hab ihm von meinen Erfahrungen mit dem kalten Entzug erzählt, dass ich noch mehr qualme und Fastfood esse, und er hat genauso reagiert wie du.«
»Mit Recht«, untermauere ich das fachliche Statement des Medizinmanns.
Wie ein Hundewelpe, der auf ein Leckerli aus ist, schaut mich Jacko mit wässrigen Augen an. »Du hilfst mir nicht, Bruder?«
Mein Widerstand bröckelt. Diesem emotionsgeladenen Frontalangriff bin ich nicht gewachsen. Im Grunde weiß ich, wie es ihm geht, ich konsumiere das Zeug ja selbst in überschaubaren Mengen.
Mit einem Seufzen trete ich zum hinteren Bereich des Küchenschranks und öffne eine Tür über dem Tresen. Das Päckchen ist schnell gefunden. Ich wiege es abwechselnd in den Händen, bevor ich es Jacko reiche, der mit leuchtenden Augen danach langt. Ich ziehe ruckartig die Hand zurück.
»Aber nicht alles auf einmal!«
»Nein, nein«, sagt er beflissen, weiß allerdings nicht, ob er nicken oder den Kopf schütteln soll.
Seine Hand reckt sich mir flehentlich entgegen. Ich lege das Päckchen hinein, und er reißt es an sich und betrachtet es verschlagen wie Gollum den einen Ring.
Die Kaffeemaschine signalisiert mit einem feierlichen Zischen Betriebsbereitschaft. Aus einem anderen Schrank befördere ich weiße Tassen unter den Auslass und starte das Programm für zwei schwarze Kaffees.
Das Piepen der Tasten reißt Jacko aus den wonnigen Liebkosungen seiner Errungenschaft. Sein ungläubiger Blick wandert zwischen mir und den sich füllenden Kaffeetassen hin und her.
»Sollen wir ...?«
Ich grinse. »Das ist doch wohl das Mindeste!«
Wie ein Kind, dass das Geschenkpapier nicht zerstören will und hektisch am Klebestreifen herumfummelt, öffnet Jacko die Lasche der Halbkilopackung Zucker.
3 – Apfel-Aktivisten
Heißen Kaffee an schwülen Sommertagen bei über dreißig Grad zu trinken, erscheint mir bestenfalls unlogisch. Eigentlich ist es extrem bescheuert. Das Verlangen nach Koffein reißt jedoch selbst bei mir alle rationalen Grundsätze ein und lässt mich sabbernd auf den letzten zähen Tropfen aus dem Auslass des Automaten starren.
Wenig später sitzen Jacko und ich auf dem hinteren Balkon in alten Korbsesseln, auf die ich abgenutzte Polster gelegt habe. Die Sessel stehen das ganze Jahr draußen und werden unter dem Dachvorsprung nur selten nass. Ihr Zustand versöhnt meinen Besucher mit dem geleckten Interieur im Wohnungsinneren und lässt ihn wieder an den Chaoten in mir glauben. Zumindest sein Grinsen deutet darauf hin, als er das Knarzen des Sitzmöbels vernimmt.
Stumm genießen wir den Geruch des heißen Elixiers, bevor wir daran nippen und es mit abnehmender Temperatur gieriger in uns hineinkippen. Nach ein paar Minuten bemerke ich, wie die Brühe meine ohnehin auf Hochtouren laufende Schweißproduktion ankurbelt.
Die Rückseite des Hauses bildet mit den Nachbarhäusern und denen der angrenzenden Seitenstraßen ein Rechteck und umschließt einen Hinterhof von zwanzig mal dreißig Metern. Passanten vermuten von außen eine zernarbte Betonfläche mit klapprigen Fahrradschuppen und zerrissenen Wäscheleinen, doch drinnen öffnet sich dem Betrachter eine fast freie Rasenfläche. Wo diese an die umliegenden Gebäude stößt, ziehen sich Rabatten mit alten Strauch- und Kletterrosen dahin, Letztere an Spalieren, die ihnen hinauf bis zwischen die Fenster des Hochparterres verhelfen. Dazwischen wachsen verschiedene Stauden, wenn sie noch nicht der Trockenheit zum Opfer gefallen sind. An anderen Stellen sind Brennnesseln auf dem Vormarsch. Trampelpfade verbinden die Hinterausgänge der Häuser untereinander und mit einem offenen Unterstand für Fahrräder. Ein Sandkasten und verstreutes buntes Spielzeug, darunter Eimer, Schaufeln und eine überdimensionierte Wasser-Pumpgun, zeugen davon, dass das Areal gern von Kindern genutzt wird.
Unangefochtener Star des Hinterhofs ist der uralte Walnussbaum in der Mitte, dessen Krone über den höchsten First hinausragt und allen Balkonen und den spielenden Kindern Schatten spendet. Um die Mittagszeit brauche ich seinen Schutz hier auf meinem Balkon nicht, da erfüllt das Dach diesen Zweck. Am Nachmittag schaut die Sonne über die westlichen Häuser zu unserer Linken, dann übernehmen ein ausgeblichener Sonnenschirm und vor allem die ledrigen Blätter des Nussbaums diese Aufgabe. Verborgen in den dicken Ästen schert sich eine Amsel keinen Deut um die Tages- und die Jahreszeit und schmettert ihr Lied, als sei es ein Frühlingsmorgen.
»Hier kann man es gut aushalten«, durchbricht Jacko das Schweigen mit einem ausgesprochenen Gedanken.
Ich nicke, langsam wie ein Chamäleon. »Da sagst du was.«
»Sorry für den Auftritt eben. Ich bin etwas durch den Wind.« Jacko stellt die Kaffeetasse neben einem uralten Glasaschenbecher auf dem kleinen runden Tisch vor uns ab. Aus der Seitentasche seiner Cargohose fördert er eine Schachtel Zigaretten zutage. Er hält mir das ramponierte Päckchen unter die Nase. »Auch eine?«
Ich schüttle den Kopf und kralle die Hände um die warme Tasse. »Besser nicht. Hab vor drei Wochen aufgehört.«
»Schon wieder?« Jacko grinst.
»Zucker als Laster ist schlimm genug.«
»Zucker in Lastern ist super!«, erwidert er, der Witzbold. Aus einer anderen Tasche fummelt er ein Wegwerffeuerzeug und zündet sich eine Kippe an. Die blaue Wolke erkennt in mir ein willfähriges Opfer und umhüllt mich lasziv mit zartem Duft. Ich wedele theatralisch den Rauch weg, sauge dabei aber ohne nennenswerte Gegenwehr einiges davon in mich hinein. Jacko honoriert das mit einem Grinsen. Mit zuckersüßer Stimme fragt er: »Doch eine?«
Eine Minute später haben er und der Dunst mich weichgeklopft. Ich inhaliere Teer, Feinstaub, Nikotin und mindestens eintausend andere Substanzen, die ich nicht benennen kann und möchte. Egal. Jackos Überredungskunst und die Kippe tragen dazu bei, dass mein Gemütszustand zumindest aus dem roten Bereich herauskommt.
»Was war denn nun los?«, will ich von ihm wissen. Sein Auftreten ist mehr als überdreht, schlimmer als ich ihn bisher erlebt habe. »War es die Nachtschicht?«
Mit Bedacht lässt er den Qualm durch den Mund entweichen. Es klingt wie ein Seufzen. »Du zuerst. Bei dir ist doch auch was nicht in den richtigen Schubladen. Geht es um deine Kollegin, diese Mia?«
Die möbeltechnische Metapher passt wie die Faust aufs Auge. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lehne ich mich in den knarzenden Korbsessel zurück und schaue hinüber zu dem Walnussbaum. Die Brüstung des Balkons verhindert, dass wir mehr als die raschelnde Krone und das Ziegelrot der benachbarten Hausdächer sehen. Es beruhigt.
Ich schüttle den Kopf. »Sie heißt Milla.«
»So wie Jovovich?« Jacko reißt die Augen auf und starrt mich herausfordernd an. Ein Grinsen umspielt seine Lippen.
»Nicht so ganz. Aber sie ist ... auf eine natürliche Art und Weise attraktiv.«
»Mann, du sprichst über die Frau wie über ein Haus im Grünen!«, sagt mein Nachbar, bevor ich weiter ausholen kann. Er lässt sich in den Sessel zurückfallen und zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Und? Geht da jetzt endlich was?«
»Nein, eher nicht.« Ich hülle mich in Schweigen.
Jacko beugt sich vor und spreizt die Arme. »Weil ...? Und sag jetzt nicht, es wäre kompliziert.«
Es ist an mir, die Augen zu verdrehen. »Ist es aber.«
»Mann, ich hab die Frau doch schon ein paar Mal bei dir gesehen. Sie sieht zwar nicht aus wie ein ukrainisches Model, aber ansehnlich ist sie definitiv. Und sie ist Lehrerin, da hat sie sogar was auf dem Kasten. Was willst du denn noch?«
»Sie war zweimal hier zu Besuch, und wir haben nur über den Beruf geredet«, verteidige ich mich und stelle mir sofort die Frage nach dem »Wieso«.
»Na, sicher«, stößt Jacko mit tiefer Stimme hervor.
Ich lasse die Schultern hängen. »Ernsthaft. Milla ist ...«
»Sag nicht nett, Alter!«
»Sie ist in Ordnung, nur etwas zu aktiv, finde ich. Sie ist permanent auf Achse, am Wochenende jeden Abend bis in die frühen Morgenstunden in Clubs oder auf Partys.« Mir entfährt ein Seufzer. »Ich war ein paarmal dabei und hinterher tagelang völlig platt. Und Milla taucht montags in der Schule so energiegeladen auf, als wäre nichts gewesen.«
»Tja, du wirst eben auch nicht jünger, mein Lieber.«
»Ja, witzig, dass du das sagst. Moment, lass mich kurz das graue Haar dort auf deinem Shirt entfernen.« Ich lehne mich zu ihm hinüber und lange nach seiner Schulter. Panisch verfolgt Jacko meine Hand. »Verarscht, Dicker!«
»Mann, mach mir doch nicht so einen Stress! Mir wäre fast das Herz stehengeblieben.« Er verpasst meinem Handrücken einen Klaps. Auf den Schreck hin genehmigt sich Jacko eine weitere Zigarette.
Ich lehne mich zurück. »Nee, wirklich. Milla ist okay, aber ihrem Tempo bin ich nicht gewachsen.«
Jacko zieht an seiner Kippe und bläst den Rauch durch die Nase aus. »Wenn es nicht um sie geht, was ist es dann?«
Kurz sortiere ich meine Gedanken. »Ich hab mir den Lehrerjob irgendwie anders vorgestellt.«
»Pah, welcher Job entspricht schon den Erwartungen?«, wirft Jacko prompt ein.
Darauf gehe ich nicht näher ein, es würde mich wahrscheinlich noch tiefer runterziehen. »Weißt du, diese fünfzehnjährigen Sch ... Schüler, sie hängen die meiste Zeit komplett lethargisch in ihren Stühlen und lassen sich von meinen Vorträgen berieseln, als wäre das, was weiß ich, Fahrstuhlmusik. Man will in den zehnten Stock, da muss man sich das Gedudel halt anhören.«
»Netter Vergleich.«
»Und gestern Vormittag wollte ich einmal etwas anders machen, um die Bande aus ihrem Halbschlaf zu holen.« Ich rede mich in Rage, der Schweiß rinnt mir über die Stirn. Ruckartig beuge ich mich nach vorn und lehne die Ellenbogen auf die Knie. Die halb abgebrannte Kippe wandert von der einen Hand zur anderen.
Jacko ist weiterhin die Entspannung in Person. Er richtet sich kurz auf, um die Asche seiner Zigarette in den Glasklotz auf dem Tisch zu schnipsen. »Was hast du gemacht?«, fragt er und lässt sich wieder gegen die Rückenlehne sinken.
»Ich hab ihnen die Schwerkraft mit einem Apfel erklärt«, kürze ich die Ereignisse in dem Klassenraum drastisch ab.
»Yeah, so richtig klassisch, Newton! Ist doch bestimmt lustig gewesen, oder?« Jacko wendet mir den Kopf zu, die Stirn in Falten. »Nicht?«
»Das dachte ich zuerst. Ich hab einen Apfel in eine Klammer gespannt, die ich per Knopfdruck auslösen kann. Das ist Teil einer Vorrichtung mit zwei Lichtschranken, über die die Geschwindigkeit des Apfels beim Herunterfallen gemessen werden kann.«
Jacko wiegt den Kopf hin und her. »Das ist immerhin so semi-spannend.«
»Ich erzähl also noch ein bisschen historischen Einleitungstext in Richtung Newton und Baum und so weiter und frage dann, was denn das geneigte Publikum erwartet, wenn ich den Auslöser betätige. Rate mal, was passiert ist?«
»Lass hören. Ich hab keinen Schimmer.«
»Den Rest der Stunde, geschlagene zweiundzwanzig Minuten, haben wir über die Verschwendung von Lebensmitteln diskutiert.« Mein Vortrag ist beendet, ich drücke den Stummel der Kippe aus und lasse mich erschöpft in den Sessel fallen.
Jacko glotzt mich ungläubig an, und das Grinsen erobert sein Gesicht zurück. »Wegen des Apfels? Nicht dein Ernst!«
»So wahr ich hier sitze. Die gesammelte Mannschaft wirft mir vor, Obst für ein Experiment ohne Nutzen zu vergeuden. Es sei ein Unding, die arme Frucht einzuquetschen in diesen Apparat und auf dem Tisch zerschellen zu lassen. Dabei könnte der Apfel doch noch ein bedürftiges Kind sattmachen.«
Hinter vorgehaltener Hand unterdrückt mein Sitznachbar ein Prusten.
»Ja, du hast gut lachen! Die haben so getan, als würde ich an dem Labortisch einen Hamster erwürgen.«
»Die haben dich verarscht«, bringt Jacko zwischen seinen Kicheranfällen hervor.
»Ja, klar. Als ob ich das nicht wüsste. Vielleicht bin ich ein Nerd, aber kein Autist.«
Mühsam fängt sich Jacko und drückt seine eigene Kippe im Aschenbecher aus. Er greift nach seiner Kaffeetasse und nimmt einen kräftigen Zug von der inzwischen lauwarmen Brühe.
»Wenn du es weißt, warum änderst du dann nichts daran?«
»Wieso? Was soll ich denn ändern?«, entgegne ich entrüstet.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich sag nur: Mondrian, dein Wohnzimmer. Und weißt du noch? Zeitreisen ...«
Ich rolle mit den Augen. »Das hast du mich nie zu Ende erklären lassen.« Er weiß, dass er sich mit der Erwähnung des Zeitreisethemas in die Gefahrenzone eines längeren Diskurses begibt. Seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit ermutigt mich.
»Diese ganzen Filme mit Zeitreisen, Zurück in die Zukunft, Philadelphia-Experiment, selbst Die Zeitmaschine, sind aus einem simplen Grund kompletter Unfug ...«, beginne ich.
»Sie sind bestimmt aus mehreren, geradezu unzählbaren Gründen grober Unfug. Aber sie machen höllisch viel Spaß, Doc Brown!«, behauptet Jacko vergnügt und schlürft geräuschvoll Kaffee.
»Ja, aber das beiseitegelassen: Bei all dem Gewese um die Zeit wird etwas ganz anderes völlig außer Acht gelassen.« Ich hebe den Zeigefinger, um Jackos Aufmerksamkeit für mich zu beanspruchen. »Der Raum!«, raune ich bedeutungsschwer und schlage die rechte Faust in die linke Handfläche.
Jacko zieht eine Schnute und untermauert sein Unverständnis mit der Universalfrage: »Hä?«
Ich komme erneut in Fahrt, diesmal auf eine positive Weise. Das hier ist mein Revier. »Begreifst du denn nicht? Es ist ganz einfach. Nimm einen beliebigen dieser Streifen, sagen wir ... Terminator.«
»Kult«, kommentiert Jacko trocken.
»Dieser Terminator, das olle Modell T-800, wird von den Maschinen aus dem Jahr 2029 nach 1984 zurückgeschickt, um die Vergangenheit zu ändern. Er soll Sarah Connor eliminieren, deren Sohn, wenn er trocken hinter den Ohren ist, den Widerstand gegen die Maschinendiktatur anführen wird.«
»Ich kenne die Geschichte«, bestätigt Jacko in gespielter Langeweile, dann fällt ihm etwas ein. Er setzt mit eisigem Blick hinzu: »Hast du dich mal gefragt, wieso die Frau genauso heißt wie diese deutsche Popsängerin?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, frage ich ihn gereizt. Er bringt mich aus dem Tritt.
»Ich sag ja nur«, säuselt er, hebt abwehrend die Arme und lehnt sich mit diesem Auf-mich-hört-ja-keiner-Gesichtsausdruck zurück.
Ich schüttle die Unterbrechung mit einem Wedeln der Hände ab. »Wie auch immer. Arnie wird losgeschickt und steht, zack, irgendwo in Amerika hinter einer Kneipe, und die Hatz geht los. Weißt du, was in der Realität passiert wäre?«
»In der Realität, soso.« Jacko grinst.
»In fünfundvierzig Jahren hat sich die Sonne mit ihren ganzen Planeten mit zweihundertzwanzig Kilometern in der Sekunde, das sind neunzehn Millionen Kilometer am Tag, ein klitzekleines bisschen vom Fleck bewegt.« Ich deute mit Daumen und Zeigefinger eine ziemlich kurze Strecke an und meine damit Lichtjahre. »Was denkst du, geht dem Terminator durch den Blechkopf, wenn er 1984 aus seinem Zeittunnel purzelt?«
»Shit«, vermutet Jacko.
»Ganz recht, er denkt: Verdammt wenig Erde hier in diesem Teil des Universums. Und taumelt mit rudernden Armen nackig davon ins All.« Noch einmal schlage ich die Faust in die andere Hand und sage »Bäm!« Und meine so etwas wie »Amen«, klingt ja ähnlich.
Jacko ringt sich ein Grinsen ab, in dem ich mehr Mitleid als Humor erkenne. Er schüttelt den Kopf. »Du tust es schon wieder.«
»Was?«
Er fährt sich mit beiden Händen durchs rote Haar und verhilft dem Durcheinander auf seinem Kopf zu einem neuen Daseinszustand. »Ich meine, ich kenne dich ja und weiß damit umzugehen. Deine Nerdy-by-Nature-Attitüde hat auch einen gewissen Charme.« Er stützt den Arm auf die Sessellehne und wendet sich mir mit ernstem Ausdruck zu. »Bei anderen kommt das vielleicht nicht so gut an. Deine Schüler sind da nur ein Beispiel. Und eventuell schreckt es auch Milla ab.«
»Aber es bringt doch keinem was, nicht hinter die Fassaden zu sehen und die Wahrheit stattdessen zu ignorieren«, ereifere ich mich.
»Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn die Situation es erfordert. Das ist schon richtig und wichtig.«
»Siehst du.« Ich komme mir langsam vor wie bei einem Therapiegespräch, weiß aber nicht, wer hier der Patient ist.
»Und dann gibt es Momente, in denen du den Denk-Stecker ziehen solltest«, fährt Jacko unbeirrt fort. »Dich einfach mal gehen und die Dinge geschehen lässt.«
Wir haben diese Gespräche schon oft geführt, mit unterschiedlichen Ausgangspunkten und Enden. Auf einen gemeinsamen Nenner sind wir dabei nie gekommen. Mir erschließt sich nicht, wie manche Menschen so blind durchs Leben gehen und von Scheinbarem und Unlogik derart unbeeindruckt sein können.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wann das passieren sollte«, behaupte ich.
Jeglicher Humor ist aus Jackos Mimik gewichen. »Du wirst es wissen, wenn es so weit ist.«
»Wie du meinst.« Ich muss das Thema wechseln. Selbst wenn wir uns dabei nicht einig werden, möchte ich meinen Freund nicht verärgern. »Du wolltest mir noch von deinem Tag berichten.«
Aus einer seiner Hosentaschen zieht Jacko sein Smartphone und wirft einen Blick auf das Display. »Den Bericht müssen wir verschieben.«
»Du bist doch jetzt nicht beleidigt, Bruder, oder?« Ich mache mir ernsthaft Sorgen.
»Nee, Mann, alles gut.« Da ist wieder sein unbekümmertes Grinsen. »Ich muss nur los, meine Sis vorm Bahnhof aufsammeln.«
»War die nicht erst am Wochenende da?«
»Das war meine große Schwester Carla. Heute kommt Helena.«
Verwundert lege ich die Stirn in Falten. »Du hast noch eine Schwester?«
»Ja, eine Halbschwester. Wusste ich bis vor ein paar Wochen auch noch nicht. Sie kommt, um den Mietvertrag zu unterschreiben. Helena zieht in die Wohnung im ersten Stock.«
4 – Nur partiell
Mit den zwei Kaffeetassen und dem verschmutzten Aschenbecher lässt mich Jacko auf dem Balkon zurück und verschwindet durch den langen Flur. Die Wohnungstür fällt ins Schloss.
Gut, dass er die Zigaretten mitgenommen hat, sonst würde ich mir glatt noch eine genehmigen. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich nicht gegen die Verlockung angekommen bin. Die Ereignisse der vergangenen Stunden entschuldigen in meinen Augen den Rückfall nur zum Teil.
Über den an ein Tribunal erinnernden Tumult in der 8b am Vortag denke ich immer noch nach. Zu Ignoranz oder Hochmut neige ich nicht, deshalb habe ich die Bande auch nicht in die Schranken verwiesen, sondern mir ihre Argumente angehört und Gegenargumente geliefert. Dass der Apfel anschließend noch genießbar sei, habe ich angeführt, auch wenn er ein paar Druckstellen von der Klammer erhalten hat und falls er beim Aufprall in mehrere Stücke zerbrechen sollte. Okay, mein Verweis auf den historischen Hintergrund mit Newtons Betrachtung des Apfelbaums ist möglicherweise etwas plump geraten.
Die langen Gesichter sehe ich vor dem inneren Auge. Mein brüchiges Lächeln bleibt unerwidert, und ich ernte nur Unglauben und Kopfschütteln. In der mittleren Tischreihe lehnt sich Emma schluchzend an die Schulter ihrer Sitznachbarin Aylin und lässt sich trösten. Boris in der letzten Bank hat sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt und betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen wie einen Gegner im Boxring.
Einen Moment lang habe ich Verständnis für die alten weißen Männer, die alle Menschen unter achtzehn in einen Topf mit Fridays for Future und Pullover strickenden Aktivisten stopfen, die jede Handlung haarklein sezieren und darin eine Umweltverschmutzung oder ethische Verwerflichkeit entdecken. Auf der anderen Seite bin ich voller wissenschaftlich fundiertem Mitgefühl für die aufbegehrende Klimastreik-Generation, weil die Schar der Akademiker, der ich mich als kleines Physikerlicht zugehörig fühle, von Politik und Wirtschaft nicht gehört wird. Kurz gesagt, weil die Welt in absehbarer Zeit im Arsch ist.
Die Ambivalenz in der Bewertung meiner Schulklasse setzt sich fort in Grübelei über das bisherige Schuljahr. Dieses ist erst drei Wochen alt, und während der paar Physikstunden habe ich mich mit den Kids gut verstanden. Hier und da waren die üblichen Ermahnungen nötig zu mehr Aufmerksamkeit und weniger Gequatsche auf den hinteren Rängen. Darüber hinaus kam es zu keinen nennenswerten Reibereien, so dass ich den Lernstoff wie geplant vermitteln konnte. Okay, ich habe den Stoff präsentiert. Ob er angekommen ist, wird die Auswertung des dazwischengeschobenen Tests zeigen, den die Schüler am Vormittag absolvieren mussten.
Den Aschenbecher leere ich in einen blechernen Treteimer und reinige ihn zusätzlich mit einem ausrangierten Pinsel, bevor ich ihn zurück auf den Tisch stelle. Ich greife mir die beiden leeren Kaffeebecher und gehe hinein ins Halbdunkel meiner Wohnung.
In der Luft im Flur hängt ein Rest Zigarettenrauch, der vom Balkon hereingeweht ist und zum Teil aus Jackos Klamotten gequollen sein muss. Die Tür lasse ich deshalb offen, auch wenn dadurch die Mörderhitze des Spätsommers ins Innere dringt.
Konsequent räume ich die beiden Tassen zusammen mit der vom Morgen in die Spülmaschine. Forschend schaue ich mich um und prüfe, ob sich die Wohnküche in einem akzeptablen Zustand befindet. Alles ist an seinem Platz, so dass ich jederzeit unangekündigt Besuch empfangen könnte. Beim Umdrehen fällt mein Blick auf den Mondrian. Jackos Kommentare zu dem Werk fallen mir ein: eine Straßenkarte von Manhattan. Ich schüttle lächelnd den Kopf. Die Schönheit von Symmetrie und klaren Farben werde ich ihm wohl nie nahebringen.
Der Rest Zigarettenrauch verfliegt, übrig bleibt ein beträchtlicher Schwall an maskulinem Schweiß. Da es an weiteren Anwesenden mangelt und ich Jacko nicht für alles verantwortlich machen kann, ordne ich diesen Duft meinen eigenen Drüsen zu. Ich beschließe, diesem Zustand mit Deo und einem frischen Hemd entgegenzuwirken.
Auf dem Weg zum Bad komme ich an der Garderobe vorbei. Mein Blick streift dabei die Umhängetasche unter den Jacken. Darin harren die Tests vom Morgen ihrer Korrektur. Normalerweise würde ich die Auswertung einige Tage liegen lassen, zumal das Wochenende vor der Tür steht. Die Verzögerung soll nicht unbedingt die Spannung der Probanden steigern, und vermutlich beeindruckt das die Schüler heutzutage sowieso nicht mehr. Die Benotung fließt ohnehin nicht in die Zeugnisnote ein. Ich müsste noch den Unterricht für morgen früh vorbereiten, ein bisschen Theorie über Umlaufbahnen im Sonnensystem. Da ich das aus dem Ärmel schütteln kann, gewinnt die Durchsicht der Tests an Bedeutung. Zum Arbeiten ist es in meiner Wohnung allerdings eindeutig zu heiß.
Aus dem Schrank im Schlafzimmer ziehe ich ein legeres graues Baumwollhemd und hänge es am Kleiderbügel an die Badezimmertür. Sein verschwitztes Pendant landet im tonnenförmigen Weidenwäschekorb neben der Dusche, den ich sorgsam wieder mit dem Deckel verschließe. Ich muss möglichst bald waschen. Den Geruch getragener Kleidung verkrafte ich nicht über einen längeren Zeitraum. Der Verursacher, meine eigenen Ausdünstungen, begegnen im Moment dieses Gedankens einer Attacke aus Pheromonen und Silberionen aus einer Deoflasche mit Pumpmechanismus. Die winzigen Teilchen werden aus dieser Konfrontation nur für wenige Stunden als Sieger hervorgehen, danach folgt temperaturbedingt der massive Gegenschlag meiner bestens organisierten Poren.
Im Flur entscheide ich mich für ein paar dunkelblaue Sneaker. Ich fädele den Gurt der Umhängetasche vom Haken und werfe ihn mir über die Schulter.
Im Treppenhaus verschließe ich sorgsam die Tür und stopfe den Schlüsselbund in die Tasche meiner beigen Chinohose. Hinter mir quietscht es, und die Tür der Wohnung gegenüber öffnet sich. Sofort poltern die Stimmen von zwei oder drei Sprechern durch den sich weitenden Türspalt, die in einem Mittagsmagazin im Fernsehen ein aktuelles politisches Thema kontrovers diskutieren. Davon unbeeindruckt steht Hubert Wozniak im hohen Rahmen und wirkt darin aufgrund seiner vom Alter gebeugten Gestalt seltsam zierlich. Wie immer ist er mit grauer Hose und faltenfreiem weißem Hemd so ordentlich gekleidet, als befinde er sich im Aufbruch zu einem Mittagessen mit Geschäftspartnern. Lediglich eine im Luftzug des Treppenhauses widerspenstig wedelnde Strähne des weißen Haares, das seine hohe Stirn begrenzt, schmälert den gepflegten Look. Und die rosa Filzpantoffeln, die abgesehen von der gewagten Farbe nicht zu den Temperaturen passen.
»Hallo, Herr Holtschmied«, begrüßt er mich. »Hab ich doch richtig gehört.«
Letzteres bezweifle ich angesichts der Lautstärke des Fernsehers im Hintergrund. Entweder hat er hinter dem Türspalt auf mich gewartet, oder es ist eine Art intuitives Timing, das ich nicht ergründen werde. Mein Nachbar schaut mich über den Rand der schmalen Brillengläser freundlich an. Seine Hände ruhen auf dem Knauf eines hölzernen Gehstocks.
»Herr Wozniak, schön, Sie zu sehen. Alles in Ordnung bei Ihnen?« Ich habe ihn schon in schlechter Verfassung erlebt, müde und niedergeschlagen. Heute erweckt er trotz des schwülen Klimas, das ihm verständlicherweise meistens zu schaffen macht, einen munteren Eindruck. Über das Brüllen der Diskussion hinweg kann er mich tatsächlich verstehen.
»Alles bestens«, nickt er und betrachtet die Umhängetasche an meiner Seite. »Schon wieder auf dem Sprung?«
»Nur runter ins Bistro, ein paar Tests korrigieren. In der Wohnung ist es einfach zu heiß.«
»Für mich ist die Wärme in Ordnung, aber das ist im Alter eben so. Dann will ich Sie mal nicht aufhalten.«
»Schon gut, eilt nicht.«
»Ich wollte mich auch nur bei Ihnen erkundigen, wann wir unsere Partie Schach fortsetzen. Die kleinen Kumpels stehen immer noch auf dem Brett herum und fragen sich, weshalb es nicht vorangeht.« Herr Wozniak grinst.
»Sehr gern«, sage ich und überlege kurz. Die paar Tests werde ich in zwei bis drei Stunden durchgesehen haben. Da bleibt genug Zeit für einen Happen zu essen und die Vorbereitung des morgigen Unterrichts. »Passt es heute Abend?«
Mein Nachbar nickt erfreut. »Ganz hervorragend, Herr Holtschmied. Und dabei können Sie mir gleich von Ihrem letzten Wochenende berichten. Die Sonnenfinsternis soll ja phänomenal gewesen sein.«