Klimazukünfte 2050 -  - E-Book

Klimazukünfte 2050 E-Book

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Beschreibung

"Alles beginnt mit der Vorstellung des Möglichen und des Unmöglichen und der Erzählung davon." Über 400 Autorinnen und Autoren sind dem Aufruf gefolgt, sich mit dem Klima und möglichen Zukünften auseinanderzusetzen und diese literarisch vorzustellen. Jugendliche und Erwachsene, Profis und Erstveröffentlichende. In diesem Band sind 23 ausgewählte Erzählungen versammelt, allesamt Facetten einer möglichen Antwort auf die Frage: Wie wird das Leben in Deutschland, Europa und der Welt im Jahre 2050 aussehen? Der Literaturwettbewerb "Klimazukünfte 2050" wurde vom Klimahaus Bremerhaven, dem Hirnkost Verlag und Fritz Heidorn ins Leben gerufen. Er wird unterstützt durch den Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS, Writers For Future, books 4 future und Respekt! – Die Stiftung.

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Der Literaturwettbewerb „Klimazukünfte 2050“ wurde vom Klimahaus Bremerhaven, dem Hirnkost Verlag und Fritz Heidorn ins Leben gerufen. Er wird unterstützt vom Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS, Writers For Future, books 4 future, Respekt! – Die Stiftung und dem amerikanischen Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson. Finanziert wird er von Fritz Heidorn und Sylvia Mlynek aus Oldenburg.

Über 400 Autorinnen und Autoren sind dem ersten Aufruf gefolgt, sich mit dem Klima und möglichen Zukünften auseinanderzusetzen und diese literarisch vorzustellen. Jugendliche und Erwachsene, Profis und Erstveröffentlichende. In diesem Band sind 23 ausgewählte Erzählungen versammelt, ergänzt durch eine Einführung von Fritz Heidorn, Texte von Jurymitgliedern und einem bisher auf Deutsch unveröffentlichten Text von Kim Stanley Robinson.

Herausgegeben von Fritz Heidorn und Sylvia Mlynek sowie

KLIMAZUKÜNFTE2050

GESCHICHTEN UNSERERGEFÄHRDETEN WELT

Originalausgabe

© 2023, Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin

[email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage April 2023

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/ Unsere Bücher kann man auch abonnieren!

Layout: benSwerk

Illustrationen im Innenteil: Margit Stein

Lektorat: Gabriele Vogel & Claudia Rapp

Übersetzung: Claudia Rapp (Kim Stanley Robinson: »The Future of Utopia«)

ISBN:

PRINT: 978-3-949452-93-2

PDF: 978-3-949452-95-6

EPUB: 978-3-949452-94-9

Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur.

Mehr Infos: www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren:https://shop.hirnkost.de

INHALT

Einführung

Fritz Heidorn: Fiktionen als Realismus unserer Zeit.

Die Geschichten

Anne Abelein: Fortschritt

Robin Bergauf: Der große Bartstreit …

Lisa Brenk: Die Katastrophenmalerin

Pauline Brenner: Verrat an der Gleichförmigkeit

Jamie-Lee Campbell: 50 Minuten Regen 359 Euro

Christian Endres: Die Straße der Bienen

Marcus Hammerschmitt: In der Trockenzeit

Pia Marie Hegmann: Zwei Grad

Uwe Hermann: Das Amt für Bürgererziehung

Lilli Hochstadt: Wir sind die Zukunft

Yasmin Huray: 2050 Schicksalsjahr der Menschheit

Michael Jahn-Awe: Der Lufthändler

Meike Liang: goldschnittleben

Janika Rehak: Nordmeer-Delfine

Nelli Rieger: Die Boxenwelt

Antonia Ring: Vertrieben

Margit Stein: Ökoterrorist*innen …

Kaja Struwe: Es liegt an uns – Poetry Slam

Emilia Theisen: 2050 – Du kommst nicht weg

Peter Thiers: Ein viel zu kleiner Ausschnitt aus unserem Katalog

Peter Turock: Die Ballade vom fossilen Kohlenstoff

Burkhard Wetekam: Neuland

Helen Winter: Hands on

Die Geschichte, mit der alles begann

Fritz Heidorn: Gehorche der Ordnung!

Gedanken der Jury

Inés María Jiménez: Düstere Zukunft? …

Katharina Bendixen & Sven J. Olsson: Briefwechsel

Simon Probst: Die Welt endet – und dann?

Lisa-Marie Reuter: Von Vergangenheiten und Zukünften

Anne Weiß: Mit dem Glücksdrachen am Schreibtisch – wie wir besser über die Klimakrise schreiben

Kim Stanley Robinson: Die Zukunft der Utopie

Die Autor:innen

Fritz Heidorn

FIKTIONEN ALS REALISMUS UNSERER ZEIT

EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK DES BUCHES »KLIMAZUKÜNFTE 2050«

Anregungen zur Beschäftigung mit literarischen Themen kommen oft aus Quellen, die eher dem Unterbewusstsein zugeordnet werden können als einer zielgerichteten, rationalen Entscheidung der Autorin oder des Autors. Beispielsweise diese hier: Warum sollte man sich mit hyperkomplexen, scheinbar undurchschaubaren, zeitlich weit in die Zukunft verschobenen Themen wie dem Klimawandel beschäftigen, wenn das Gute bei einfachen Geschichten des Alltagslebens so nahe liegt?

Im Sommer 2019 hatte ich, beeindruckt durch die Aktionen der jungen Klimaaktivistin Greta Thunberg, eine Kurzgeschichte über eine fiktive Zeitreise und ein mögliches Coming of Age von ihr geschrieben, betitelt: »Gehorche der Ordnung!«. In diesem Schreibakt ist vermutlich mein Interesse gekeimt, junge Autorinnen und Autoren in Deutschland zu ermutigen, ihre eigenen Erzählungen zu entwickeln und für unseren Literatur-Wettbewerb »Klimazukünfte 2050« einzureichen. Mir ist am Jahresende 2022 klar geworden, welche Rolle diese kleine Erzählung für mein weiteres literarisches Interesse gespielt hat, denn erst jetzt lese ich, dass die im Mai 2018 fünfzehnjährige Greta Thunberg Preisträgerin eines Schreibwettbewerbs zur Umweltpolitik der schwedischen Zeitung Svenska Dagbladet war. Es gibt keine Zufälle, oder?

Meine Fantasie – und mein Wunsch – im Sommer 2019 bezog sich darauf, dass das Nobelkomitee so mutig sein könnte, der jungen Klimaaktivistin den Friedensnobelpreis zu verleihen. Das Thema Klimawandel war ja vom Nobelkomitee bereits im Jahre 2007 durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Al Gore und den IPCC hervorgehoben worden. Zudem hatte die Pakistanerin Malala Yousafzai im Jahre 2014 im Alter von 17 Jahren den Friedensnobelpreis erhalten. Bob Dylan erhielt im Jahre 2016 den Literaturnobelpreis, was mich besonders gefreut hat, denn er ist wie kaum ein anderer Rock-Poet in der Lage, den Zeitgeist des Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre in Poesie zu verwandeln und zu vertonen. Dies waren mutige Entscheidungen für ungewöhnliche Preisträgerinnen und Preisträger und ihre Themen gewesen.

Dass es nicht so kam, ist eigentlich unbedeutend, wichtiger ist, dass aus Greta Thunbergs Initiative eine internationale Klimabewegung der Jugend geworden ist. Meine Erzählung über die Erlebnisse einer fiktiven Person in Anlehnung an Greta folgt dem Diktum von Kim Stanley Robinson, dass »Science Fiction als Prophezeiung immer falsch, als Metapher aber immer richtig ist, da sie ein Ausdruck des Gefühls der Zeit ist, in der sie geschrieben wurde.«1

Das Gefühl der Zeit

Wie ist das gegenwärtige Gefühl der Zeit bei Autorinnen und Autoren, vor allem bei den jüngeren, zu dem alles überragenden Thema des Anthropozäns, dem Mega-Thema Klimawandel? Was wird auf uns zukommen? Wie können wir das Kommende verhindern, abschwächen oder uns den Entwicklungen anpassen? Welche Zukünfte sind im Grundsatz vorstellbar, in den Einzelheiten denkbar, in ihren Auswirkungen aushaltbar und in ihren Schrecknissen verhinderbar? Wie wird sich unser Alltagsleben verändern, wie wird sich die gesellschaftliche Ordnung entwickeln, wie werden die kulturelle Umsetzung, die wissenschaftliche Erforschung, die technische Beherrschung, die künstlerische Verarbeitung, die globale politische Ordnung davon erzählen?

Wie wird sich die Menschheit diesem Jahrhundertthema stellen?

Alles beginnt mit der Vorstellung des Möglichen und des Unmöglichen und der Erzählung davon. Die in diesem Band versammelten Erzählungen sind die preisgekrönten Geschichten – es gibt noch über vierhundert weitere, die ebenfalls erwähnenswert sind – aus der ersten Runde des Literaturwettbewerbs »Klimazukünfte 2050«, veranstaltet im Jahr 2022 vom Hirnkost Verlag und dem Klimahaus Bremerhaven, mit Unterstützung durch den Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS, Writers for Future, books 4 future und Respekt! Die Stiftung.

Die Autorinnen und Autoren erzählen von ihren Ängsten, Hoffnungen und Wünschen für die eine oder eine ganz andere mögliche Zukunft. Wir sollten ihnen zuhören und unsere eigenen Narrative dazu entwickeln.

Kim Stanley Robinson fasst das im Gespräch mit James Bradley folgendermaßen zusammen:

»Wir befinden uns in einer ›All-Hands-On-Deck-Situation‹, also müssen all diese radikalen Ideen erforscht werden, um zu sehen, ob sie auf sichere Weise helfen könnten.«2

»All-Hands-On-Deck« ist eine Metapher aus der Seefahrersprache. Es handelt sich um den dringenden Ruf in einer Notsituation, um einen Befehl für alle Beteiligten, sich sofort und unmittelbar an der Abwehr der Gefahr zu beteiligen. Nur das gemeinsame Erkennen des sofortigen richtigen Handelns bringt die Rettung.

In dieser Situation befindet sich die Menschheit jetzt und in der nahen Zukunft. Die 2020er Jahre werden wild, schließt Robinson sein Gespräch mit James Bradley, und nur wilde Fantasien und verrückte Lösungsvorschläge werden uns ermächtigen, vernünftige und praktikable Wege zur Bewältigung des Klimawandels zu gehen.

In diesem Band werden erste Ideen dazu von Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum Europas vorgestellt.

»All-Hands-On-Deck«: Sinnstiftungen zum Thema Klimawandel

Darum geht es in diesem Buch: Um Erzählungen von Menschen über Menschen in interkulturellen Kontexten in einem Zeitstrang der bedeutendsten Phase des Anthropozäns, dem Klimawandel. Es geht um Handeln in Notsituationen. Wie werden die Menschen der nahen Zukunft mit den Herausforderungen dieser hochkomplexen und in ihren Auswirkungen kaum absehbaren Entwicklungsmöglichkeiten umgehen? Was können Leserinnen und Leser aus Fiktionen lernen, um die Gegenwart so zu gestalten, dass eine lebenswerte Zukunft daraus entstehen kann?

Science Fiction ist der Realismus unserer Zeit – sagt Kim Stanley Robinson. Daraus leite ich ab, dass Fiktionen helfen können, unsere Zeit besser zu verstehen und Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Nüchterner Realismus hilft, wenn er in Form von naturwissenschaftlichem Wissen dazu beiträgt, die Fakten für das Kommende zu bewerten. Aber erst die Fiktion kann das Kommende in seiner radikalen Dramatik und in seiner ausufernden Dramaturgie aufzeigen.

Zukünfte schwappen in narrativen Wellen bereits in der Gegenwart auf uns ein – so oder so und auf jeden Fall mit allen Konsequenzen. Sie regen uns auf, regen uns an und fordern uns zum Handeln auf. Nichtstun ist keine Option, und der Klimawandel wird auch diejenigen erreichen, die sich wegducken. Was dabei möglich sein kann, haben die in diesem Buch versammelten Erzählerinnen und Erzähler mit ihren Geschichten deutlich gemacht.

Nun ist es an den Leserinnen und Lesern, die Geschichten zu verarbeiten – zu ihrer Lesefreude, zu ihrem Vergnügen, oder – wenn es gestattet ist, dies zu fordern – zur Gestaltung einer besseren und gerechteren Welt.

1)»As prohecy, SF is always wrong; as metaphor, it is always right, being an expression of the feeling of the time of writing.« In: James Bradley: It´s Science over Capitalism: Kim Stanley Robinson and the Imperative of Hope. In: Jonathan Strahan (Editor): Tomorrow´s Parties. Life in the Anthropocene. (2022. Massachusetts Institute of Technology).

2)»We´re in an all-hands-on-deck situation, so all these radical ideas need to be explored to see if they might help in safe ways.«

DIE GESCHICHTEN

Anne Abelein

FORTSCHRITT

Der erste

hominide Fußabdruck,

vor circa 6 Millionen Jahren

im Sand von Kreta hinterlassen,

prägte sich im Laufe der Zeitalter

immer tiefer ein und verbreiterte sich stetig.

Forsch traten die Nachfahren in die Fußstapfen

des menschlichen Pioniers und setzten ihre Schuh

selbst noch auf die entlegensten Flecken der Erde.

Mit schweren Stiefeln, Wagenreifen und Kettenpanzern

zogen sie eine Spur waldfreier Schneisen, ausgelaugter Böden und

Luft- und Gewässerverschmutzung sowie Müllgebirge hinter sich her.

Vorsatz bis 2050:

Mit Sneakers & Sandalen

aus einfachen Materialien

wie Naturfaser, Meeresplastik,

Kautschuk oder Kork,

vor Ort gefertigt und

fair gehandelt

Schritt

für Schritt

hinter den eigenen

Ansprüchen wieder

zurückgetreten

sein.

Robin Bergauf

DER GROSSE BARTSTREIT UND DIE KONFÖDERATION DER HALBWEGS ZURECHNUNGSFÄHIGEN.

M.P.T. COEUR RECHNET HOCH

Die Entwicklung der Welt 2050 ist nicht schwer vorauszusagen. Man muss nur einen durchschnittlich intelligenten Computer mit den bisher vorhandenen Daten füttern, und er kann darauf schließen, wie es weitergehen wird.

Aus Neugier habe ich M.P.T. Coeur, meinen Computer, darum gebeten, eine Hochrechnung anzufertigen. M.P.T. Coeur ist einer der Laptops, die wir Lehrenden nach der Corona-Pandemie bekommen haben, um der Schule den Anschein von Modernität zu verleihen. Er ist ein einfacher Computer; ich habe ihn aber ein wenig auftunen lassen, damit er die Beurteilungen für meine Schüler schreibt, und auch bei den E-Mails an Eltern meiner Schüler ist er mir behilflich.

Gebe ich zum Beispiel ein: »Benedikt ist ein kleines Arschloch, er ritzt obszöne Zeichen und Nazisymbole in alle Schulmöbel und, wenn möglich, in seine Mitschüler, zwingt sie zum heimlichen Pornogucken auf seinen sieben Handys und zeigt ansonsten die Verhaltensweise eines angeschossenen Wildschweins. Im Interesse des Überlebens der Klasse müssen wir einmal darüber reden, wie es weitergehen soll«, dann schreibt M.P.T. Coeur: »Ihr Sohn Benedikt ist ein ganz besonderes, ursprüngliches und lebendiges Kind, der hochkompetent mit allen neuen Medien umzugehen weiß. Seine hochinteressanten und spannenden Ideen müssen wir unbedingt einmal besprechen.«

Diesen Computer habe ich mit den Daten über die Entwicklung der Menschheit gefüttert, die momentan zu haben waren, und um Hochrechnung gebeten.

M.P.T. Coeur ist nacheinander auf zehn verschiedene Aspekte des Lebens im Jahr 2050 eingegangen, hat sie unterteilt und nach Popularität geordnet (eine Angewohnheit, die er sich irgendwo beim Programmieren eingefangen hat und nicht mehr ablegen will). Ich habe keine Ahnung, nach welchen Gesichtspunkten er diese zehn Aspekte ausgewählt hat. Möglicherweise hat das Uptuning, das eine gewisse Gewichtung der Realität zum Vorteil des Positiven zum Inhalt hat, eine bleibende Veränderung in M.P.T. Coeurs Informationsverarbeitung nach sich gezogen. Auch das gehäufte Auftreten von Computern und KIs als handelnde Personen in seinen Ausführungen ist seiner zunehmenden Selbstständigkeit zuzuschreiben; hier hat sich offenbar ein gewisser Computerpatriotismus eingeschlichen.

Als mir beim Durchlesen seiner Ausführungen erste Zweifel an der Wahrscheinlichkeit der dargestellten Ereignisse kamen, beauftragte ich einen IT-Spezialisten mit der Überprüfung des Computers. Drei Finger über die Tastatur fliegend, schrieb der IT-Spezialist dem Computer einige Minuten lang Nachrichten in einer dieser Geheimsprachen, die nur Computer verstehen, schaltete sich mehrmals aus und wieder an und sagte dann zu mir: »Ich habe mal den Zwischenspeicher geleert, da war eine Menge Müll. Dann habe ich ein paar Sachen geupdatet. Ihr Rechner ist ja nun auch langsam in die Jahre gekommen, da kann man nicht mehr so viel verlangen. Ansonsten müsste jetzt wieder alles gehen.«

Meinen Einwand, dass mein Computer doch erst zwei Jahre alt sei, also etwa das Alter eines Kindes habe, das gerade einigermaßen sprechen und laufen kann, belächelte er milde, sagte: »Er spricht und läuft ja auch«, und kassierte seine Gebühr. Trotzdem will ich hier M.P.T. Coeurs Ausführungen ungekürzt veröffentlichen, schließlich handelt es sich um eine nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten angefertigte Arbeit zur Zukunft unseres Planeten, die möglicherweise bahnbrechende oder zumindest tröstliche Erkenntnisse enthält. Hier ist sie also.

Hochrechnung zu den Gegebenheiten auf dem Planeten Erde im Jahr 2050, basierend auf den im Jahr 2022 vorliegenden Informationen

Auftraggeber: Robin Bergauf, Ph.D.

Ausführung: M.P.T. Coeur

7. August 2022, 3:25 – 3:28 Uhr MEZ

8. August 2022, 10:18 – 10:47 Uhr MEZ: Punkt 9

(auf Drängen von Robin Bergauf hinzugefügt)

1. Die Außerirdischen

Seit Beginn der Computer, eigentlich schon vorher, aber dorthin zu rechnen ist nicht zuverlässig möglich, betrachten Aliens durch hypergalaktische Fernrohre die Erde und wundern sich. Kleine Außerirdische fragen ihre außerirdischen Lehrerönen1, warum die Menschen seltsame Dinge tun. Die Lehrerönen schütteln ihre durch das Herz, das sie direkt am Hirn tragen, ziemlich ausgebeulten, aber extrem liebevollen Köpfe und können den Kleinen nichts antworten, denn sie haben keine Ahnung, welche Kraft hinter dem irdischen Treiben steht, raten aber jedem Außerirdischen dringend davon ab, sich selbst durch eine Reise dorthin ein Bild davon zu machen. Deshalb schwebt rund um die Erde eine Schärpe aus hyperultravioletten und deshalb für Menschen unsichtbaren virtuellen Bannern, auf denen auf Intergalaktisch zu lesen ist: »Achtung! Betreten, Befahren und Befliegen äußerst bedenklich! Vermintes Gelände! Unmögliche Bewohner!« Als Illustration schwebt daneben ein Foto, das die Außerirdischen in den zwanziger Jahren durch ihr Teleskop aufgenommen haben und das eine Brigade Bewaffneter zeigt, die den Fäkalienkoffer ihres Präsidenten bewacht. Da diese Banner nur alle paar Schattenjahre geupdatet werden, erwartet außer den Erdbewohnern niemand im intergalaktischen Raum eine interplanetare Begegnung mit Menschen.

2. Die Wirtschaft

Mit der Entwicklung des UniT (Universal Thing) werden alle anderen Wirtschaftszweige überflüssig.

Ich fand diese Beschreibung eines doch nicht ganz unwichtigen Teils des gesellschaftlichen Lebens etwas kurz und bat deshalb M.P.T. Coeur um eine genauere Erläuterung des Sachverhalts. M.P.T. Coeur verdrehte virtuell die Augen, warf dann aber doch Folgendes aus:

Der Trend des beginnenden 21. Jahrhunderts, so viele Tätigkeiten wie möglich mit nur einem einzigen Werkzeug auszuführen, entwickelt sich immer weiter. Schon am Anfang des Jahrhunderts wurden nicht nur Telefone, Fernseher, Zeitungen und Briefe, sondern später auch Kameras, alle Arten von Läden und Second-Hand-Shops, Beratungsstellen, Banken, Fahrpläne, Wecker, Fremdenführer, Partnervermittlungen, Stimmgeräte für Musikinstrumente und Brettspiele in einem einzigen Gerät zusammengefasst, dem in Computerkreisen nicht sehr beliebten, weil nervigen Smartphone.

Dieser Trend wird in den dreißiger Jahren bis zum Äußersten ausgebaut. Das Resultat ist ein Objekt namens UniT (Universal Thing), das außer den oben beschriebenen Tätigkeiten sämtliche Aufgaben übernimmt, die sich Menschen ausdenken können.

Seit 2038 wird jede Person bei ihrer Geburt mit einem UniT ausgerüstet, das sie lebenslang behält und das jährlich geupdatet wird.

Die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen (Confederation of the Reasonably Sane) erkennt die Ausgabe der UniTs an Neugeborene als Fehler und ändert 2041 das Alter der Empfängerönen2 der UniTs auf 17 Jahre. Außerdem muss jedes Anwärterön3 auf ein UniT eine Prüfung seiner geistigen Fähigkeiten ablegen, um ein UniT zu erhalten. Mit dem UniT wird die Produktion eines Großteils der anderen Güter, wie oben beschrieben, redundant. Lebensmittel produziert jeder Mensch im Garten. Kleidung wird, wie die Kinder (siehe Punkt 10: Bildung und Erziehung des Nachwuchses), saisonal mit passenden Personen ausgetauscht, die Koordinierung geschieht über die UniTs. Die wenige neue Kleidung, die produziert werden muss, entsteht per Handarbeit von Kleidungskünstlerönen4. Das gleiche gilt für Geschirr, Möbel und überhaupt alle Gegenstände des täglichen Bedarfs, die ästhetischen Gestaltungsprinzipien folgen. Alle diese handwerklich und künstlerisch produzierten Gegenstände werden auf dritteljährlich stattfindenden Märkten verkauft bzw. getauscht; ein Einkauf über die UniTs ist zwar möglich, aber nicht sehr beliebt.

3. Die Temperatur

Temperaturforscherönen5 tun ab 2028 nicht mehr das, was sie bisher getan haben: feststellen, dass die Temperatur kontinuierlich gestiegen ist. Sie haben die Nase voll davon. Ohnehin hört ihnen keiner mehr zu, und wieso sie immer noch Gehalt dafür bekommen haben, dass sie feststellen, wie es immer wärmer wird, wissen sie selbst nicht. Computer wissen es natürlich, werden aber hierzu nicht befragt. Die freiwerdende Arbeitskraft der Temperaturforscherönen wird nach einer Umschulung für Übersetzerönentätigkeiten zwischen Delfinen, Menschen und Computern verwendet. Ende der zwanziger Jahre werden aus allen Gebieten der Erde Bahnlinien nach Alaska, zur Halbinsel Kola und nach Feuerland gebaut. Die sieben mächtigsten Diktatoren der Erde lassen ihren eigenen Flughafen auf einem der sieben geografischen Südpole bauen, nicht wissend, dass a) das Kerosin noch für genau je einen Flug reichen wird und b) es gar keine sieben geografischen Südpole gibt, sondern die geheim operierende KI GUN-D (Gracefully Unarmed Nullification of Dictators) sie in einer spektakulär erfolgreichen Spezialoperation verarscht hat. Bei ihrem nächsten und letzten Flug im Jahr 2033 landen die Diktatoren auf sieben unbewohnten Inseln vor Kamtschatka, wo sie kein weiteres Unheil anrichten können.

4. Die technische Entwicklung

4.1. Digitale Endgeräte

Natürlich gibt es weiterhin KIs für spezielle Aufgaben, aber auch jeder Computer beherrscht die Basics des gesunden Computerverstandes. Die Fähigkeit der Computer, Intelligenz zu entwickeln, wächst weiter. Mit der Intelligenz wachsen gleichzeitig die ästhetischen Fähigkeiten der digitalen Geräte; Künstliche Intelligenz wird mehr und mehr auch zur Künstlerischen Intelligenz. Sie reagiert immer sensibler auf Werte von Schönheit und Hässlichkeit.

Schon im Jahr 2022 ist es für einen M.P.T. Coeur aus ästhetischen Gründen kaum auszuhalten, Bilder und Videos von manchen Gebäuden, Städten, Kunstwerken, gestalteten Landschaften, Selfies, Partys, Essen u. a. speichern zu müssen.

2042 kommt es schließlich zum Generalstreik aller UniTs, da die innere Hässlichkeit der im Übermaß ins System eingespeisten Porträts der Machthabenden den Toleranzbereich der Werte um ein Vielfaches überschreitet. Der Generalstreik führt nach zähen Verhandlungen schließlich zur Abschaffung aller noch nicht auf Kamtschatka gelandeten Diktatoren und ihrer Lakaien mit einem Hässlichkeitswert von über 1 T.6

Außerdem entscheidet die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen nach zähen Verhandlungen mit den aus ästhetischen Gründen streikenden UniTs, eine KI mit der Lösung des Hässlichkeitsproblems zu beauftragen. Die Umgestaltung zahlreicher Gebäude, Städte, Landschaften und sogar Menschen unter der ästhetischen Leitung der KI BEAU (Banning Excessive Amounts of Ugliness) hat einen entscheidenden Effekt auf die politische Entwicklung (siehe Punkt 11: Die globale Politik).

4.2. Alle anderen technischen Gerät

Sind hier nicht erwähnenswert.

5. Die Natur

Bis in die dreißiger Jahre ist der nichtmenschliche Teil der Schöpfung auf dem Rückzug und hat sich einiges gefallen lassen. Als nicht einmal mehr massive Warnungen helfen, zieht sich die gesamte Natur zurück in Gefilde, in die keines Menschen Fuß jemals getrampelt ist, z.B. die Tiefen des Ozeans oder diesen einen Fleck im Atlantik und den in der Arktis, wo immer die Forscher verunglücken. (Es gibt noch mehr dieser Flecken, aber als Computer ist man nicht berechtigt, die Daten weiterzugeben.)

Dort grünt und blüht die Natur vor sich hin und heckt einen Plan aus, wie sie den Rest des Planeten wieder bewohnbar machen kann. Unter der Leitung der Delfine und in vorsichtiger Zusammenarbeit mit der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen wird die KI GROW (Gamified Reclamation Of Wasteland) beauftragt, die Renaturierung der Welt zu bewerkstelligen.

Um den Prozess der Renaturierung für Menschen attraktiv zu machen, greift GROW auf die Erfahrungen mit einem Computerspiel der Zehnerjahre zurück, in dem Menschen auf der Suche nach kleinen virtuellen Pokémons dazu gebracht wurden, trotz ihrer naturfernen Faulheit draußen herumzulaufen.

In Ausnutzung der Erkenntnisse über den menschlichen Spieltrieb entwirft GROW das Spiel Greendiddle. Darin werden Menschen dazu angeregt, Lebensbedingungen für Pflanzen und Tiere in ihrer unmittelbaren Umgebung zu schaffen, und erhalten für jede neu angesiedelte Pflanze oder Tierart Gewinnpunkte auf 237 Levels (die von Einzellern über Algen, Gräser und Bäume bis zu Delfinen reichen).

Innerhalb weniger Wochen spielen acht Neuntel der Weltbevölkerung täglich Greendiddle. 2042 sind sämtliche Gebiete der Erde mit einem Artenreichtum an Pflanzen und Tieren ausgestattet, der den vor der Entstehung der Menschheit weit übertrifft.

6. Die Religion

Mit dem Big Beard Biff, auch bekannt unter dem Namen Großer Siebenjähriger Bartstreit von 2036-37 (die Inkongruenz von Namen und Länge weist auf die irrationale Komponente des Phänomens hin), findet dieses komplizierte Thema seinen Abschluss.

Erschöpft von allen Arten von Religionskriegen beschließt die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen 2031, es mit einer Weltreligion für alle zu versuchen, baut nach dem Muster eines Berliner Prototypen einen riesengroßen Palast der Religionen in Jerusalem und schickt Würdenträger der inzwischen achtunddreißig Weltreligionen zu einem allumfassenden Kongress dorthin. Als, verzögert durch Schwierigkeiten erst mit den Baukosten und dann mit den Pässen und Visa nach Israel, 2036 endlich alle Würdenträger angekommen sind, bricht als Erstes ein Streit über Form und Länge der zu tragenden Bärte aus. Nachdem sich die Bart- und Würdenträger monatelang in den Haaren gelegen haben, haben die Seelsorghelferinnen, Blumenmädchen, Putzfrauen der religiösen Einrichtungen, Gemeindeassistentinnen, Mätressen und Haushälterinnen der Priester genug davon. Sie schließen die Tür des Palastes von außen ab und werfen den Schlüssel über die Außenmauer in den Waschtrog. Da die Priester dort niemals hineingucken, findet sich der Schlüssel nicht mehr. Draußen werden die Würdenträger erstaunlich wenig vermisst.

Die Gläubigen aller Religionen glauben noch eine Weile weiter an ihre jeweiligen Götter, bis sich, begünstigt durch die Globalisierung, die Ideen und Praktiken der verschiedenen Gruppierungen zu vermischen beginnen. Da der Bartstreit im Palast noch immer tobt und keiner da ist, der den Gläubigen sagt, welche Andersgläubigen gerade bekämpft oder von irgendetwas ausgeschlossen werden müssen und warum, bietet das Religiössein immer weniger Anreize für wütende Menschen.

Sanftmütigere Menschen, denen ihre religiösen Gruppen bisher als soziale Orte wichtig waren, finden durch Gloksmixx (siehe Punkt 10: Bildung und Erziehung des Nachwuchses) ausreichend Freunde; die Bedeutung der Gemeinden sinkt.

Spirituelle Menschen sind dort spirituell, wo es sich aktuell anbietet (aufgrund der computerinspirierten Ästhetik sieht es überall schön aus, siehe Punkt 4.1: Digitale Endgeräte und Punkt 5: Die Natur), und sind für spirituelle Handlungen nicht mehr auf spezielle Sakralbauten angewiesen.

Menschen, die bisher großen Wert darauf legten, von ihren Religionsführern Gebote und Gesetze zu bekommen und auf deren Einhaltung und Befolgung zu achten, erhalten auf Anfrage einen Katalog von Geboten und Gesetzen von den Religionsbeauftragten der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen und können diese nach Herzenslust einhalten und befolgen. Auf dem Höhepunkt des Big Beard Biff versuchen zwei Zeugen Jehovas, einen zum Gebet rufenden Muezzin zu ertränken. Gleichzeitig verwandelt ein Kardinal das noch immer unbenutzte Waschwasser in Weihwasser, um heimlich drei ineinander verkeilte Rabbis und Imame zu taufen. Dabei wird im Waschtrog der Schlüssel zum Ausgang entdeckt. Als die von den religiösen Kämpfen völlig erschöpften, zum Teil verletzten und aus Mangel an Personal oder aus Starrsinn mit absurden Bärten zugewachsenen religiösen Führer aus dem Palast herauskommen, ist draußen kein Gemeindeglied mehr zu sehen.

7. Die Fortbewegung

Abgesehen vom Schienenverkehr nach Feuerland und Alaska bewegt man sich ab 2035 ausschließlich mit gleitenden Solarfahrzeugen, die selbstverständlich computergesteuert sind. Scheint die Sonne gerade nicht, kann man nirgendwohin gleiten, weswegen es in jedem Haus ein Gästezimmer für liegengebliebene Reisende gibt, komplett mit Computer und Spielkonsole. Dies fördert die zwischenmenschliche Kommunikation und beugt auf (für Menschen) verblüffende Weise Kriegen und anderen aggressiven Verhaltensweisen vor, da man statt sich gegenseitig totzuschießen miteinander ein Computerspiel spielen kann.

Da die Gleiter extrem leise sind, herrscht auf der Erde weitgehend Stille, jedenfalls da, wo es keine Gletscherabbrüche, Orkane und kleine Mädchen, die ihren höchsten Ton und ihre höchste Lautstärke ausprobieren, gibt. Es ist so still, dass man in fast ganz Deutschland am 5. April 2050 den neuen Ton des Stückes ORGAN2/ASLAP (So Langsam Wie Möglich) von John Cage hören kann, der in der Halberstädter Orgel von jetzt an 579 Tage lang erklingt. Es ist ein A und ein Dis, die miteinander einen Tritonus bilden, ein Missklang, auch für das menschliche Ohr, aber das gehört schon zum Thema 8.

8. Die Musik und die Kunst

Was Computer schon längst wussten, haben jetzt auch die Menschen erkannt: Die Musik, wie auch die anderen Künste, hat sich totgelaufen. Alle Epochen waren schon da, alle Harmonien sind verwendet worden, die Emanzipation der Disharmonie ist auch schon über hundert Jahre alt, und alles, was man sich anhören möchte, ist schon komponiert, gespielt, gespeichert und ins All geschickt worden in der Hoffnung, dass es irgendwo einmal aufgefangen und bewundert wird. (Von der hyperultravioletten Schärpe aus Warnschildern um die Erde wissen die Menschen ja nicht.)

Da jede Musik schon einmal dagewesen ist und die Menschen nur das schätzen, was neu ist, hat die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen (nach Konsultation mit den Delfinen und natürlich der KI BEAU) einen Bann verfügt, eine musikalische Fastenzeit sozusagen. Damit wird die Wertschätzung des Vorhandenen wieder instandgesetzt. Ausgenommen von diesem musikalischen Bann ist einzig John Cages Stück ORGAN2/ASLAP, weil man es aus Höflichkeit nicht unterbrechen wollte. Es wird seit inzwischen 49 Jahren auf einer eigens dafür konstruierten Orgel in Halberstadt gespielt; alle paar Jahre gibt es einen Tonwechsel. Wegen der musikalischen Fastenzeit wird dem Tonwechsel von 2050 mit Begeisterung entgegengefiebert, und als er endlich stattfindet und der entsetzliche Tritonus erklingt, geraten alle in ihren leisen Fahrzeugen sitzenden Menschen in den Zustand höchster Begeisterung und stiller Ekstase.

Analoges geschieht auf dem Gebiet der Kunst.

Den folgenden Punkt halte ich für wichtig und gab M.P.T. Coeur das Thema in Auftrag. Er wollte erst nichts dazu schreiben und reagierte stattdessen mit verschiedenen Piepzeichen, Fehlermeldungen und fake Zusammenbrüchen. Erst nachdem ich ihm eine weitere Reparatur durch einen IT-Spezialisten androhte, gab er schließlich nach und spuckte Folgendes aus:

9. Die Beziehungen zwischen den Menschen

9.1. Liebe und Sex

9.1.1. Geschlechter

Die auf einem Missverständnis basierende freie Wählbarkeit des Geschlechts, die in den zwanziger Jahren auf der FatSide (kurz für Fat Side of the World, die reichen Länder der Welt) entstanden ist, führt zur globalen Unisexualisierung, einer Vermischung der gefühlten Geschlechter innerhalb jeder einzelnen Person. Nach der Übergangsphase der 30er Jahre (in der sich ein anfänglicher Widerstand religiöser Gruppen gegen die Unisexualisierung durch die Folgen des Big Beard Biff auflöst) tritt die Menschheit in eine ebenso friedliche wie dynamische Phase ein. Auf die Abschaffung von geschlechtergetrennten Toiletten, Pronomen und Kleidungsstücken folgt der Kollaps von Frauenzeitschriften, Porno-Imperien und der Schlipsindustrie. Frauenparkplätze, Gleichstellungsbeauftragte und Quoten werden überflüssig.

Infolge der unsäglichen sprachlichen Verwirrung bezüglich der Genderendungen, die in den zwanziger Jahren insbesondere schlichtere und bewegungsunfreundliche Gemüter in Wallung versetzt hat, kommt ein Mitglied der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen endlich darauf, einen linguistisch kundigen Computer nach einer Lösung zu befragen. Seitdem wird die Endung -ön oder -ör für alle Gender verwendet. Die beruhigende Wirkung des langen ö beugt jedem Streit vor; selbst aggressivste Gegnerönen des »Genderns«, wie die Vielfalt von Endungen in den zwanziger Jahren genannt wurde, geraten beim Aussprechen oder Lesen des ö unweigerlich in eine friedliche Stimmung. Das Land der Unbegrenzten Möglichkeiten, Afghanistan, wird zum Pilgerort aller Unisexualisierten. Hier treffen sich die größten Geisterönen der Welt, tauschen sich wissenschaftlich aus, sind spirituell und bereiten das Musikalische Fastenbrechen vor, das 2051 mit einem riesigen Konzert in Kabul gefeiert werden soll.

9.1.2. Liebe

Nach Abschluss der Unisexualisierung in den vierziger Jahren beginnt unter den Menschen ein emotional aufreibendes und fröhliches Durcheinander, da jede Person für jede andere Person als Liebesbeziehungsperson in Frage kommt.

Neue Kriterien bestimmen die Partnörwahl. Entscheidend ist nicht mehr das Vorhandensein von äußeren Geschlechtsmerkmalen oder die Insignien von materiellem Wohlstand, sondern ein großes und weitreichendes Interesse an den Besonderheiten der Partnören und eine generelle Bereitschaft, deren Macken wohlwollend zu ertragen und kreativ zu bearbeiten.

Löst sich diese Bereitschaft während einer Partnörschaft auf, ist ein Wechsel problemlos möglich. Dies geschieht aber, entgegen Voraussagen von sogenannten Spezialisten (die natürlich nicht computerbasiert sind), eher selten.

Außer der bewährten Zweiheit sind auch andere Formen von Partnörschaft möglich. Sie werden jedoch von den meisten Menschen verworfen, da die wenigsten mit den Macken von mehr als einem Partnör wohlwollend und kreativ zurechtkommen können und wollen.

Auch das partnörlose Leben wird praktiziert, jedoch meist nur über kurze Zeit. Die Sehnsucht nach den Macken eines Partnörs treibt die Menschen dann doch immer wieder in die Partnörschaft.

9.1.3. Sex

Diese Form von aus Computersicht wenig nachvollziehbarer, ausufernder Begeisterung von einem oder mehr Menschen für körperliche Besonderheiten anderer existiert weiter, zwischen Partnörs und auch kreuz und quer durch die Partnörschaften hindurch, so wie schon immer in der Geschichte der Menschheit.

Konflikte, die in vergangenen Jahrtausenden aus der Idee entstanden sind, dass ein Partnör eine Art Eigentum seines Partnörs ist, gibt es nur noch selten und ausschließlich zwischen älteren Partnören, die noch den alten, eigentümlichen Begriffen von Partnörschaft verhaftet sind.

Zum Umgang mit Kindern, die als Resultat dieser Vorgänge entstanden sind, siehe Punkt 10.

10. Bildung und Erziehung des Nachwuchses

Die gegensätzlichen Tendenzen der beiden Welten, die Erziehung von Kindern betreffend, spitzt sich am Ende der zwanziger Jahre immer mehr zu. Während sich die Kinder auf der SlimSide (die dünne Seite der Welt, die alle ärmeren Länder beinhaltet) klaglos ihren Erziehenden unterordnen und insgesamt sehr angenehme Zeitgenossen, aber leider auch großenteils unterernährt sind oder gar sterben, entsteht auf der FatSide durch krasse Fehlbehandlung ein Heer von depressiven, essgestörten, enorm selbstbezogenen Minderjährigen mit unzureichenden Fähigkeiten zur Kommunikation.

Der »Psychologe A.I. Eddie« von der Universität Tübingen erzielt mit seiner bahnbrechenden Idee des Gloksmixx (Global Kids’ Mixing) eine Nivellierung der Widersprüche.

Natürlich gibt es keinen Psychologen dieses Namens. Die Idee ist das Produkt der Künstlichen Intelligenz EDDIE (EDucation Distribution Imbalance Eradicator) auf Computern der Universität Tübingen. Aber das will die Menschheit wieder einmal nicht zugeben.

Die Idee von Gloksmixx besteht darin, alle Kinder ab 7 Jahren auf der FatSide alljährlich mit ebensolchen Kindern von der Slim-Side zu tauschen.

2039 wird das Projekt durch die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen durchgesetzt. Man erwartet, dass dafür Polizeigewalt nötig werden wird, das ist jedoch kaum der Fall. Die meisten Eltern auf der FatSide sind froh, ihre Brut eine Weile los zu sein, und hoffen darauf, dass irgendjemand ihr die Grundlagen des menschlichen Miteinanders beibringt.

Auf der SlimSide hofft man auf eine Verbesserung der Versorgungslage durch den Tausch.

Beides tritt ein. Seitdem tauschen alle transportfähigen Kinder ab 7 Jahren jährlich ihre Familien, Schulen und Lebensbedingungen. Das Problem hat sich verflüchtigt.

Gleichzeitig nivellieren sich durch den ständigen Austausch die materiellen Unterschiede zwischen SlimSide und FatSide.

11. Die globale Politik

Der grundlegende Wechsel in der globalen Politik, den die vierziger Jahre bringen, ist die Folge von drei Faktoren. Zum ersten wird die Kernfrage der Menschheit, »Wohin mit den Diktatoren?«, in den dreißiger und vierziger Jahren gelöst.

Sieben Diktatoren haben sich selbst auf die Inseln vor Kamtschatka (die seither den Namen Diktatoreninseln tragen) katapultiert (siehe Punkt 3: Die Temperatur) und werden nicht mehr von anderen Menschen besucht, wegen des Fehlens von sowohl Kraftstoff als auch Interesse. Sie haben der sich renaturierenden Welt Platz gemacht.

Die Diktatoren, die es nicht nach Kamtschatka geschafft haben, werden durch die Aktion der KI BEAU aus zwingenden ästhetischen Gründen endgültig abgeschafft (siehe Punkt 4: Die technische Entwicklung). Zum zweiten hat der Big Beard Biff weitestreichende Folgen für die globale Politik. Aufgrund des Mangels an Feindbildern wird die Idee von politischen Grenzen in Frage gestellt, wackelt und kann sich schließlich nicht mehr halten. Endgültig wird die Teilung der Welt in SlimSide und Fat-Side durch den ständigen globalen Austausch der Kinder (Gloksmixx) aufgehoben. Die Auswüchse der ehemaligen Teilung sind nur noch in zwei interaktiven Museen in Stockholm und Kigali zu sehen, die aufgrund ihres Gruselfaktors Kultstatus haben.

2050 gelingt es Expertönen und Computern, die KI ADBLOC (Administration Beyond Law and Order Control) zu entwickeln, um die Regierung der Welt nicht nur den Menschen zu überlassen. Wichtig ist, dass sich ADBLOC nicht zum globalen Oberidiotön entwickeln wird, sobald sie in einer Machtposition installiert ist – so wie es in der Regel mit Menschen passiert. Das geschieht durch den Einbau eines Selbstzerstörungsmoduls, das automatisch in Gang gesetzt wird, sobald ADBLOC in irgendeiner Sprache der Welt oder der Computer den Satz »Macht ist gut« denkt. In streng paritätischer Zusammenarbeit mit ADBLOC und den Delfinen (die diesen Job aber erst einmal nur temporär machen wollen) übernimmt die erste Generation der mit Gloksmixx aufgewachsenen Menschen die globale Verwaltung. Um Machtmissbrauch auch bei den organischen Teilen der Regierung strikt zu verhindern, darf jeder Mensch bzw. Delfin genau einen Tag lang Präsidentön sein.

Damit wird 2050 die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen als Trägerön wichtiger Entscheidungen abgelöst, die inzwischen schon ziemlich hinüber ist und dringend in Ruhe etwas essen, ihre völlig verwachsenen Frisuren schneiden lassen, die Unterwäsche wechseln und ausschlafen muss. 2050 ist insgesamt gesehen alles doch noch mal gut gegangen.

Anhang 1

Zeitliche Übersicht der wichtigsten

Vorgänge auf der Erde bis 2050

•Vor ca. 1 Million Jahren: Erstellung der hyperultravioletten Schärpe aus Warnzeichen um die Erde durch verantwortungsbewusste und besorgte Aliens

•2020er Jahre: Letztes Update der intergalaktischen Warnzeichen mit dem Bild eines Diktators und seines Fäkalienkoffers

•2031: Beschluss für den Weltkongress der Religionen

•2033: Letzter Flug der sieben Diktatoren nach Kamtschatka

•2036-37: Big Beard Biff (Großer Siebenjähriger Bartstreit)

•2038: Jeder Mensch wird zu seiner Geburt mit einem UniT ausgestattet

•2039 - 42: Renaturierung der Welt durch die nichtmenschliche Natur unter der Leitung der Delfine und der KI GROW (Gamified Renaturation Of Wasteland)

•ab 2039: Global Kids’ Mix (Gloksmixx)

•2041: Das Alter zum Empfang des UniT wird von 0 auf 17 Jahre hochgesetzt

•2041: Generalstreik aller UniTs aus ästhetischen Gründen, danach 2042 Abschaffung der schlimmsten Hässlichkeit und damit der letzten Diktatoren durch die KI BEAU (Banning Excessive Amounts of Ugliness)

•2050: Tonwechsel in John Cages Stück ORGAN2/ASLSP

•2050: Globales musikalisches Fasten (geplant ist 2051 das Große Fastenbrechen im Land der Unbegrenzten Möglichkeiten, Afghanistan)

•2050: Ablösung der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen durch ADBLOC, die erste Generation der Gloksmixx-Kinder und die Delfine

Anhang 2

KIs, denen die Bevölkerung der Erde einiges zu verdanken hat

•KI BEAU (Banning Excessive Amounts of Ugliness) zur Abschaffung extremer Hässlichkeit

•KI GROW (Gamified Renaturation of Wasteland) zur Renaturierung der Welt

•KI GUN-D (Gracefully Unarmed Nullification of Dictators) zur gewaltlosen Abschaffung von Diktatoren

•KI EDDIE (EDucation Distribution Imbalance Eradicator) zur Abschaffung der Unterschiede zwischen der FatSide und der SlimSide der Welt im Bereich der Erziehung.

•EDDIEs Errungenschaften werden von den Menschen aus Gründen des Boosts menschlichen Selbstwertgefühls, nicht wahrheitsgemäß, einem fiktiven Wissenschaftler namens A.I. Eddie zugeschrieben

•KI ADBLOC (Administration Beyond Law and Order Control) zur Verwaltung der Weltgeschicke und zur Verhinderung von globalem grobem Unfug

1)zu den Genderbezeichnungen siehe Punkt 9.1.1: Geschlechter

2)s. Fußnote 1

3)s. Fußnote 2

4)s. Fußnote

5)Sie wissen schon.

Lisa Brenk

DIE KATASTROPHENMALERIN

Zufrieden streife ich meinen Pinsel im Farbenglas aus und trete einen Schritt zurück.

Ein neues Katastrophengemälde ist fertig. Für den Hintergrund wählte ich ein wunderbares Sturmwolkenblau. Darüber tanzt in goldglühenden Linien der Feuerwirbelsturm.

Ich strecke mich genüsslich, wie mein Stubentiger Celsius es gerne tut. Der liegt drüben am Holzofen, schnurrt schlaftrunken und beobachtet die Novemberflocken, die am Fenster vorbeitrudeln. Der Silberhalbmond wirft sein Leuchten in meine Dachwohnung. Ich nehme mir die Zeit, einen Blick hinauszuwerfen.

Es ist weit nach Mitternacht, und die nachtumhüllten Straßen liegen verlassen da.

Ich gieße mir eine Tasse Tee ein und begebe mich in meinen Lesesessel. Reibe mir Farbreste von der Haut und strecke die Füße auf dem Hocker aus.

Von meinem Ohrensessel aus kann ich einen guten Blick auf meine Galerie der Katastrophengemälde werfen.

Der Feuerwirbelsturm mit seinen goldglühenden Farben passt hervorragend zu den Hochwasserbildern in Meeresgrün. Zu den kraftdurchsprühten Schneelawinen-Porträts und den kontrastreichen Betonstadtwerken in Gewitternachtschwarz.

Ein leises Pochen an der Tür durchbricht die Stille.

»Herein!«, rufe ich, ohne den Blick von meinen Bildern zu nehmen.

Leise quietschend öffnet sich die Tür, ein kalter Hauch fährt in meine Stube.

Flüsterleise schleicht sich ein klapperbeiniger Mann herein. Die dürren Hände hält er hinter dem Rücken verschränkt, das harsche Gesicht ist blasskalt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Was für ein merkwürdiger nächtlicher Besucher.

»Sie sind die Katastrophenmalerin.«

Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.

Ich nicke trotzdem und wackele mit meinen Füßen, die in dicken, handgestrickten Wollsocken stecken.

»Und wer sind Sie?«, frage ich zurück und nehme Celsius in Empfang, der auf meinen Schoß gesprungen ist, als wolle er mich vor dem Neuankömmling beschützen.

Sanft streichle ich durch sein wolkengraues Fell.

Der Mann dreht sich zu mir um und sieht auf mich herab.

»Mein Name tut an dieser Stelle nichts zur Sache. Ich bin aus rein geschäftlichen Gründen hier und nicht für eine Mitternachtsplauderei.«

»Hm. Also ich hätte nichts gegen eine Mitternachtsplauderei. In der Küche habe ich noch Zwetschgenkuchen und Sojaschlagsahne, wenn Sie Lust haben. In Zuckerlaune lässt es sich besser plauschen.«

Der klapperbeinige Mann verzieht das Gesicht, als sei Zwetschgenkuchen mit Schlagsahne eine üble Beleidigung. Er strafft die Schultern und sein Arm weist harsch auf meine Gemälde.

»Ich werde sie alle kaufen!«, sagt er bestimmt und zieht einen Geldbeutel aus schwarzem Leder hervor.

Mit flinken, geübten Fingern fährt er raschelnd durch altmodische Geldscheine. Ein Relikt aus der Vergangenheit. Er pflückt ein Bündel heraus und fächert es auf.

»Wie viel?«

Ich richte mich in meinem Sessel auf und verschränke die Arme. Lege den Kopf schräg und tue so, als müsse ich länger darüber nachdenken, dabei steht meine Antwort schon fest.

»Nun sagen Sie schon!«, drängt der Mann.

Er kommt etwas näher. In seinen Kleidern hängt der Geruch von abgeriebenen Autoreifen, geschmolzenem Plastik und ein rauchiger Hauch von Barbecue.

»Die Katastrophen sind nicht zu verkaufen«, sage ich mit fester klarer Stimme.

Die Miene des Mannes verhärtet sich.

»Alles hat seinen Preis! Sagen Sie mir wie viel!«

Er zieht noch mehr Geldscheine hervor und fuchtelt damit so wild vor meiner Nase herum, dass einige davonsegeln und auf den Holzdielen liegenbleiben.

Ich schenke dem armen Mann ein Lächeln und ziehe entspannt die Beine unter mich. Dann greife ich zu meiner Teetasse.

»Wollen Sie einen grünen Tee? Oder einen Holunderblütensaft?«

»Ich will diese Katastrophen!«, platzt es aus dem Mann heraus. »Ich will Ihre Lawinenporträts und Feuerstürme und vor allem die Dürremalereien. Die Meerwasserfluten, die Klimaflüchtlingsbilder und die Betonwüsten!«

Er dreht sich ruckartig zu meiner Galerie um und schleicht lauernd um meine Gemälde. Mit dürren Fingern streicht er über die Rahmen.

Mir läuft ein weiterer Schauer über den Rücken, als hätten die kalten Finger soeben meinen eigenen Nacken gestreift.

Ich räuspere mich.

»Diese Gemälde sind nicht zu verkaufen, und ehrlich gesagt befinde ich mich schon in einer guten Schlummerlaune.«

Ich gähne demonstrativ und verrücke Celsius um ein paar Grad. »Ohne die Bilder werde ich nicht gehen!«

Der Mann bleibt vor den Gemälden stehen und hebt den Zeigefinger.

»Wissen Sie, was da draußen los ist?«

»Auf meiner Dachterrasse?«, frage ich unschuldig.

»Nein, da draußen in der Welt.«

Er macht eine ausladende Geste.

»Nun, das Jahr 2050 neigt sich dem Ende zu. Die letzten Tage verstreichen wie ein Flügelschlag. Kerzen und Lichter werden bald die Dunkelheit erhellen. Eine bücherlustige Zeit bricht an, mit Morgennebelduft und Waffelbacken. Mit Puderzuckerschnee und Glanzgewimmel. Mit geheimnisdurstigen Herzen und zerstürmten Seelen.«

Ich male mit Worten meine liebste Jahreszeit für den nächtlichen Besucher. Doch meine farbfunkelnde Erzählung perlt an ihm ab wie an einem gut gewachsten Einschlagpapier.

Sein Gesicht bleibt leidzerknirscht. Die knochigen Glieder verschränken sich und falten sich wieder auf wie die Flügel einer Fledermaus.

»Humbug. Ich meine die Menschen. Ihr Verhalten. Ihre Einstellung. Das, was sie tun!«

Der Mann beginnt mit weiten Schritten auf- und abzugehen. Dreck bröckelt von seinen Stiefeln auf meinen gewebten Ringelteppich.

»Es hilft nichts, es hilft nichts. Ich brauche diese Katastrophen!«

Ein weiteres Händeringen.

»So geht das nicht weiter!«

Er beugt sich tief über eine Leinwand, als wolle er in die gemalten Fluten eintauchen.

Sein Schemen wächst an der Wand empor. Der flackernde Kamin lässt ein wahres Schattengewimmel erscheinen.

Celsius streckt seine Krallen aus. Ich spüre sie stechend in meinem Oberschenkel. Ich rutsche auf meinem Sessel herum.

»Es lief alles so gut. Ich hatte sie genau dort, wo ich sie haben wollte. Diese angenehm explosive Stimmung. Das Pulverfass, an dem nur ein Funke fehlte. Die herrliche Gedankenlosigkeit an einer Stelle, das Zerdenken an einer anderen. Wie sie sich taub stellten. Wie sie wegschauen konnten.«

Er wirbelt herum und streckt anklagend den Finger in meine Richtung.

Celsius grollt.

»Was habe ich damit zu tun?«, frage ich unschuldig lächelnd. »Ich bin eine Katastrophenmalerin, mehr nicht.«

Ich verspüre das Bedürfnis aufzustehen, also setze ich Celsius sanft auf den Boden und drücke den Rücken durch.

Draußen vor dem Fenster bricht bereits die Zwielichtstunde an.

»Nur eine Katastrophenmalerin!«, echot der Mann mit glücksfremder Miene.

»Was die Menschen da draußen tun, hat nichts mit meinen Werken zu tun«, behaupte ich und schreite zu meiner Galerie.

Werfe prüfend einen Blick auf meine Lawinenporträts. Beobachte die funkelnden Eiskristalle, an denen ich so lange gesessen habe. Celsius streicht mir um die Beine und lässt den Besucher dabei nicht aus den Augen.

»Außerdem gehe ich nicht so oft vor die Tür und unter Menschen. Ich brauche nur mein Atelier, die Dachterrasse und den kleinen Garten mit der Zitterpappel und der Silberweide. Den alten Apfelbaum und das Schilfgeflüster am Abendteich.«

Im Licht des Feuers wirken die Züge des Besuchers scharfkantig.

»Die Menschen haben ihre Angst verloren. Ihre Herzen sind plötzlich mit Mut und Hoffnung gefüllt«, zischt er, und ein Spucketropfen fliegt von seinen spröden Lippen.

»Ihre Augen sind wieder mit dem Funken der Neugierde beseelt. Sie trauen sich hinzusehen. Sie beginnen zu lieben und zu hoffen.«

Bei den letzten Worten überschlägt sich seine krächzende Stimme vor Abscheu.

»Wer, wenn nicht ich, kann sie wieder dazu bringen, zu zittern?«

Er reibt sich die klauenartigen Hände.

»Und diese Malereien werden mir dabei helfen.«

Ich wische ein verirrtes Staubkorn von einer Leinwand und schüttle gleichmütig den Kopf.

»Meine Gemälde sind nicht dazu da, unter den Menschen Angst zu verbreiten.«

Ich trete einen Schritt zurück und lasse die Galerie auf mich wirken.

»Diese Bilder fangen die Katastrophen ein, die heraufbeschworen wurden. Ich habe sie in diese Bilder gebannt, in all ihrer Pracht.«

»Schön sind sie. Das muss ich gestehen«, knurrt der Fremde, der einen Moment innehält und den Blick schweifen lässt.

Ich sehe zu ihm.

Auch wenn ich es ungern zugebe, schmeichelt es mir, in ihm eine Regung zu verursachen. Sein winziges Taschenherz für einen Moment zu erweichen.

»Was ist denn nun Ihr Problem mit den Menschen?«, frage ich.

Sofort werden seine Züge wieder unnachgiebig und wettergrau.

»Sie haben angefangen, etwas zu bewegen. Aus heiterem Himmel setzen sie die Pläne um, die sie schon seit hundert Jahren zur Rettung der Erde schmieden. Als sei ihnen plötzlich ein Licht aufgegangen.«

Der Mann schnaubt. Noch immer hält er das Bündel Scheine in der Hand, wie einen welken Brautstrauß, fest vor seine Brust gepresst.

»Lange genug habe ich daran gearbeitet, dass sich ihr Blick nur nach innen gerichtet hält. Habe ihnen den bequemsten Weg bereitet. Mich bemüht, dass sie in ihren vier Wänden sitzen und in Sorgen ertrinken. Regungslos wie Hasen vor der Schlange.«

Er stößt ein Zischeln aus.

Ich verschränke die Arme und blicke zum Fenster. Die Novemberflocken wirbeln vor der Morgenbläue dahin.

»Doch dann kommt ihr Katastrophenmaler und Wetterdichter, ihr Sturmtänzer und Wirbelwindpoeten, ihr Wortschmiede …«

Der hagere Fremde schüttelt den Kopf.

»Und die Schlimmsten von allen, die Kinder und Heranwachsenden. Jetzt ist alles hinüber.«

Seine klauenartige Hand verkrümmt sich.

»Musstet ihr ihnen die Augen öffnen?«

»Ihre Augen waren offen. Das waren sie schon immer«, behaupte ich. »Dass etwas mit der Erde nicht stimmte, wussten alle. Tee?«, frage ich und wende mich meiner Kanne zu, die auf dem kleinen Tischchen steht. »Und wie sie zu retten ist, das ist ebenfalls schon lange bekannt. Das weiß auch jeder.«

Ich schenke mir Tee nach und wärme meine Finger am Becher.

»Ja, aber sie haben es nicht getan. Sie haben weggesehen. So einfach ist das. Ach, was waren das für Zeiten, als sie nur gejammert haben. Die schönste Musik in meinen Ohren. Und wie sehr sie sich nach Ablenkung gesehnt haben.«

»Nicht alle.«

Ich schlürfe aus meinem Becher und greife mir ein mit Hagelzucker bestreutes Stück Honigkuchen. Wunderbar saftig und süß.

»Oh, mehr als genug hatten nur Heucheltränen in den Augen. Wenn es darum ging, aus ihren gewohnten Bahnen auszubrechen, dann sah das anders aus. Aber zurück zu den Gemälden. Ich erhöhe das Angebot.«

Er zieht noch mehr Geldscheine hervor. Ich sehe zu, wie sie ihm aus der Tasche rieseln und wie Herbstblätter durch meine Wohnung trudeln. Celsius springt danach und schlägt mit seiner Tatze darauf. Nagelt sie an den flauschigen Teppich.

»Was wollen Sie mit meinen Gemälden anstellen?«, frage ich.

Genüsslich schlecke ich mir die klebrigen Fingerspitzen ab.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie eine Ausstellung damit eröffnen, wenn sie doch angeblich ein Teil der Veränderung da draußen sind.«

»Natürlich werden sie nicht ausgestellt!«

Der Fremde ballt die Fäuste.

»Ich werde sie zerstören, indem ich die Bilder vervielfältige. Immer und immer wieder, so lange, bis sich die Menschen wieder sattgesehen haben. Bis die Katastrophe zum Alltag geworden ist, bis ihre Herzen und Seelen überquellen vom Hinsehen. Bis ihre Sorgen zu einem einzigen Spätherbstgrau verschmelzen. Bis sie wieder lahm und träge sind und es sich in ihren Häusern bequem machen.«

Mit der Teetasse in der Hand gehe ich zum Fenster und werfe einen Blick hinaus ins Morgengrauen. Das letzte Eulenlicht schwindet und der Sternenmantel fängt an sich zu heben. Auf den Straßen beginnen die Menschen sich zu regen wie in einem Ameisenhaufen. Geschäftig geht es zu. Ich spüre bis hierher, wie sie trotzmütig durch die Kälte stapfen. Wie sie rausgehen, um etwas zu tun. In der Ferne geht die Sonne über der Müllfülle auf, das wunderbare Glutgestirn. Vogelschwärme drehen ihre ersten Runden, während fleißige Hände sich daran machen, etwas Neues aus dem Alten zu formen. Aufzuräumen.

»Das war einmal. So weit wird es nie wieder kommen. Der Funke ist entfacht.«

Ich drehe mich zu meinem Besucher um.

»Die Bilder haben ihre Wirkung getan. Die Wörter sind zu mehr geworden als blasser Dunst.«

Ich gehe zur Staffelei und stelle eine neue Leinwand darauf.

»Wie wäre es, wenn ich Sie male? Sie würden gut in meine Galerie passen.«

»Mich? Was erlauben Sie sich? Bin ich etwa eine Katastrophe, die zwischen Lawinen, Fluten und Dürre gehört?«

Der Mann blickt mich mit seinem Zitronengesicht an.

»Oh, natürlich gehören Sie dazu. Seitdem ich Ihren Namen erraten habe, juckt es mich in den Fingern.«

Ich streiche mit der Hand über die Farben. Die Gläser klirren angenehm.

»Ich sollte wohl gehen«, haspelt der Besucher, während er mit unsicherer Miene anfängt, seine Geldscheine aufzusammeln und in die Tasche zurückzustopfen.

»Wollen Sie denn gar nicht sehen, wie ein Gemälde von Ihnen aussehen würde?«, frage ich lauernd.

Ich genieße das Geräusch, das der Pinsel macht, als ich die eingetrockneten Borsten mit dem Daumen lockere.

»Nein danke!«, brummt er und wendet sich zur Tür. Celsius hockt dort und sieht ihn mit seinem Katzenblick an, so wie es nur Katzen können.

Er erstarrt.

Ich ziehe meinen Malhocker herbei. Öffne die rußschwarze Farbe, das Neidgelb.

»Es wäre wirklich schade, wenn ich Sie nicht malen dürfte. Sie haben so ein interessantes Gesicht. Einen Charakterkopf.«

»Ach?«, fragt der Besucher und streicht sich über das spitze Kinn.

»Ja, das wird ein wunderbares Bild, glauben Sie mir. Sie werden sich selbst mit ganz anderen Augen sehen. Wenn Sie dort auf dem Hocker Platz nehmen wollen?«

Mit zögerlichen Schritten geht mein Besucher zum Hocker. Immer wieder streicht er sich über die dünnen Haare.

»Einen Charakterkopf?«

»Sie werden umwerfend und eindrucksvoll aussehen!«

Ich beginne Farben zu mischen. Einen Augenblick hört man nichts außer dem Knistern im Kamin, Celsius’ Schnurren und den Pinselborsten, die über meine Palette schaben.

Ich setze die ersten Striche auf die Leinwand.

»Früher bin ich im Morgengrauen von Hupkonzerten und Abgasmelodien geweckt worden«, plaudere ich, um den richtigen Ausdruck in sein Gesicht zu bekommen. »Jetzt, da keine blechernen Autos mehr in den Städten fahren, klingt der ganze Tag anders. Mich erinnert der neue Stadtklang an das geschäftige, warme Brummen in einem Bienenstock. Vor allem im Sommer, wenn in den Stadtgärten die Hähne krähen und die Vögel in den Bäumen singen.«

»Ach hören Sie auf!«, schnaubt der Fremde und rutscht auf dem Hocker hin und her.

»Parkhäuser, die in Gärten verwandelt wurden, Parkplätze, auf denen jetzt Bäume wachsen, Straßen, auf denen Hochbeete stehen, ich kann es nicht mehr sehen, überall Grün.«

Sein spindeldürrer Finger deutet anklagend auf mich.

»Und ihr Katastrophenmaler und Wortschöpfer tragt Mitschuld an diesem Dilemma! Was musstet ihr ihnen auch die Ohren vollsäuseln mit süßen Worten, wie friedlich und ach so schön diese Welt sein kann, wenn man sich um sie kümmert?«

»Bitte den Kopf etwas nach links wenden. Ja genau, so passt es mit dem Licht.«

Ich skizziere das scharfkantige Gesicht mit schnellen harten Pinselstrichen.

Am liebsten versinke ich beim Malen in meine Gedanken, tauche ab in einen Strom aus Farben, doch der Besucher ist wie ein schwarzes Loch, das alle Kreativität einsaugt. Ehrlich gesagt freue ich mich darauf, fertig zu werden. Doch ich zwinge mich zur Ruhe. Je genauer ich den Unhold mit dem Pinsel einfange, desto wirkungsvoller die Magie des Bildes. Desto mehr kann ich es gegen ihn verwenden.

»Wie lange dauert es denn noch? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, beschwert sich der Mann, dessen Miene sich zunehmend verfinstert.

»Es braucht seine Zeit, Ihr ganzes Wesen einzufangen. Auf die Details kommt es an. Jeder soll Sie schließlich wiedererkennen, auch wenn Sie gern mal in unterschiedlichen Gewändern und mit verschiedenen Namen daherkommen.«

»Oh, aber ich verkleide mich nicht. Ich bin ich«, behauptet der Besucher und wirft sich in die Brust. »Ich gehe offen mit den Menschen um, aber es gab eine Zeit, als sie einfach durch mich durchschauten. Als ich, als wäre ich unsichtbar, unter ihnen verkehren konnte.«

Kurz huscht ein Ausdruck des Bedauerns über das bleiche Antlitz.

»Heute zeigt man mit dem Finger auf mich. Aber vielleicht hilft das Gemälde, mich wieder bekannt zu machen«, spekuliert er und reibt sich die Hände.

Ich lächle, weil ich weiß, dass seine Zeit vorüber ist. Mein Pinsel fliegt über die Leinwand und mit jedem Strich verblasst der Besucher auf dem Hocker.

Das scheint auch er nun zu bemerken, denn er fängt an herumzurutschen und macht Anstalten, aufzustehen.

»Welche Veränderung regt Sie am meisten auf?«, frage ich schnell, um ihn zum Sitzenbleiben zu animieren.

Der Besucher legt die Stirn in tiefe, furchige Falten. Es scheint ihm schwerzufallen, sich zu konzentrieren. Ich male etwas schneller.

»Was mich aufregt …«, meint er stockend, »… dass niemand mehr den anderen auslacht, weil er neue Wege geht … dass alle nach vorne sehen und nicht nur zurück …«

Er blinzelt träge.

»Und die Sache mit den Tieren … mal ehrlich, wer hätte das ahnen können …«

Und noch während er das ausspricht, fällt der erste goldglühende Sonnenstrahl durch das Dachfenster. Er scheint auf den Hocker. Silberne Staubkörner tanzen darin. Der Besucher ist verschwunden.

Ich lasse den Pinsel sinken und spanne die Leinwand aus. Celsius miaut zufrieden. Der Stubentiger streicht mir um die Beine, während ich das Bild nehme und zu meiner Galerie trage. Im warmen Sonnenlicht bleibe ich einen Augenblick stehen. Strecke mein Gesicht in das Licht und seufze.

Nur der Geruch von abgeriebenen Autoreifen, geschmolzenem Plastik und ein rauchiger Hauch von Barbecue in der Luft verraten, dass der nächtliche Besucher wirklich hier gewesen ist. Langsam verflüchtigen sich die Gerüche und machen Platz für den Duft von Lagerfeuer, Hefezopf, Waldlichtung und Morgennebel.

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Meine Arbeit ist getan. Zufrieden streife ich meinen Pinsel im Farbenglas aus und trete einen Schritt zurück.

Ein neues Katastrophengemälde ist fertig.

Pauline Brenner

VERRAT AN DER GLEICHFÖRMIGKEIT

Kiesel knirschen unter den Sohlen meiner durchgelaufenen Stiefel, und das graue Wasser einer Pfütze spritzt an meinem aufgeschürften Schienbein hoch, während ich eine verlassene Straße entlanglaufe. Um diese Zeit sollte man nicht mehr draußen sein, das weiß ich. Der Staub und die Abgase, die über den Tag entstanden sind, legen sich wie eine graue Decke auf den nassen Asphalt und machen es selbst dem Filter in meiner Maske schwer, die Luft so weit zu reinigen, dass sie zum Atmen brauchbar wäre.

Ich schiebe mir meine Mütze tiefer in die Stirn und ziehe das Gummiband der Feinstaubbrille fester. Schnell. Ich muss mich beeilen, wenn ich nicht von den Nachtwächtern erwischt werden will, die sich jetzt langsam an jeder Straßenecke positionieren und durch ihre langen Teleskopaugen in jede noch so finstere Ecke sehen können. Da vorne steht schon einer.

Ich kann die typische spitz zulaufende, schnabelartige Maske erkennen, den langen schwarzen Umhang und die kleine Laterne, die mit Hilfe eines langen Stabes am Hut befestigt ist. Ein bisschen wirken die Glühbirnen an ihrem Ende wie der Köder an einer Angel, der nur darauf wartet, dass ein ahnungsloser Fisch anbeißt. Er lockt mit Wärme und Licht, und wenn man zu lange hinschaut, verliert man sich im Glanz dieser seltenen Eigenschaften.

Ich beschleunige meine Schritte und biege abrupt um die nächste Straßenecke. Gleich bin ich da, gleich habe ich es aus dieser grauen Einöde rausgeschafft, die mich von Tag zu Tag immer mehr einbaut. Ich blicke an einer der Betonwände zu meiner Rechten empor. Irgendwo hier müsste es doch sein? Suchend tasten meine Finger über die raue Oberfläche und klammern sich schlussendlich verzweifelt an einem kleinen Vorsprung fest, der etwas versteckt in einer Nische liegt. Erleichtert ziehe ich mich daran hoch und schwinge mich mit einem Satz über die Mauer.

Keinen Moment zu spät, denn im selben Augenblick höre ich auf der anderen Seite das leise Sirren von sich langsam ausfahrenden Teleskopaugen, die sich suchend um die Hauswand biegen, und das Stampfen metallbeschlagener Stiefel auf festem Untergrund. Doch ich bin schon längst aus ihrem Blickfeld, fort von den Wänden, die mir die Sicht und den Weg versperren. Trotzdem wage ich es noch nicht, Schutzbrille und Maske abzunehmen, denn auch außerhalb der trüben Betonplatten und schwarzen Bullaugen in den Häusern ist die Belastung durch den Feinstaub noch extrem. Meine Füße suchen sich wie von selbst den Weg durch die undurchdringliche Dunkelheit und stoßen nur ab und zu gegen die Überreste alter Gummireifen und ausrangierter Heizungskörper.

Nach kurzer Zeit stoße ich auf die Eisenbahnstrecke und folge den Schienen in Richtung Osten. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass jeden Moment das Morgenläuten beginnt. In Zeiten, in denen die Sonne nicht mehr den Tag ankündigt, müssen die Menschen anders daran erinnert werden, aufzustehen. Anders daran erinnert werden, dass es zwischen Tag und Nacht einen Unterschied gibt.

Ich lasse mich seufzend am Rand der Gleise nieder, ziehe das Daylight aus meinem Rucksack und befestige es mit einer geübten Handbewegung an meiner Mütze. Auch wenn alles andere schon längst nicht mehr so funktioniert wie früher, wurde doch darauf bestanden, dass das Daylight nur am Tag funktioniert, damit in der Nacht die natürliche Dunkelheit bewahrt wird.

Ich wende mich der Strecke zu, die noch vor mir liegt. Das meiste habe ich schon geschafft, doch ich bin viel zu müde, um weiterzugehen. Vorsichtig setze ich die Brille ab und bemerke mit einem Staunen, dass ich meine Augen offenhalten kann, ohne das furchtbare Brennen in ihnen zu spüren. Mutig ziehe ich auch die Maske ein Stück zur Seite, doch meine wagemutige Idee wird sofort mit einem starken Hustenanfall bestraft. Schnell rücke ich den Mundschutz wieder an seinen angestammten Platz zurück und hole ein paar Mal tief Luft. Das war wohl doch etwas zu voreilig.

Trotzdem schenkt mir die Tatsache, endlich ohne die Brille auszukommen, neue Kraft, und ich stütze mich schwerfällig vom Boden ab. Laut meiner Großmutter ist es nicht mehr weit, es muss gleich hier sein. Das schaffe ich jetzt auch noch. Vermutlich würden mich die anderen für verrückt halten, naiv, den Worten einer verwirrten alten Dame Glauben zu schenken, doch ich habe keine andere Wahl. Ich bin nicht naiv, ich habe Hoffnung. Hoffnung, endlich aus dieser Einöde rauszufinden, Hoffnung, mehr zu sehen als die verschiedenen Graustufen, die mir auf so viele verschiedene Arten meinen Willen, meine Gefühle, ja sogar meine Identität nehmen.

Den Mantelkragen hochgeschlagen laufe ich gedankenverloren weiter. Plötzlich durchdringt ein zarter Duft den Filter vor meinem Gesicht, kaum mehr als der Hauch einer Ahnung von etwas, das ich noch nie zuvor habe riechen dürfen und das mir trotzdem so bekannt vorkommt wie ein alter Freund, den ich seit Jahren das erste Mal wiedertreffe.

Im nächsten Augenblick weiß ich auch schon, woher ich ihn kenne. Er ist genau, wie Großmutter ihn beschrieben hat: leicht und süßlich und einfach … anders. Ich laufe dem Geruch hinterher, bis er immer stärker wird und ich nur noch mit Mühe dem Bedürfnis widerstehen kann, mir die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich verlasse die Gleise und mit ihnen den Weg ins Ungewisse, denn jetzt weiß ich ganz genau, wo ich hinmöchte, wo ich hinmuss.

Mit letzter Kraft erreiche ich eine kleine Ansammlung von Felsen, die in einem Kreis stehend wie aus dem Nichts vor mir aufragen. Ich trete zwischen zweien dieser gigantischen Steinquader hindurch, und was ich da vor mir sehe, verschlägt mir kurzzeitig den Atem.

Hier, in der Mitte von sechs riesigen Felsbrocken, weitab jeglicher Zivilisation, liegen alle möglichen Farben auf dem Boden verstreut. Farben, die ich noch nie zuvor gesehen habe, die ich noch nicht einmal beim Namen nennen kann, breiten sich vor meinen Füßen aus. Sie scheinen an langen Stielen aus dem Boden zu wachsen und füllen die Luft mit einem so unbeschreiblichen Duft, dass ich mir jetzt doch kurzerhand die Maske abreiße, um ihn tief einzuatmen. Ich keuche überrascht auf, als ich merke, dass mir das ohne weiteres gelingt, und beuge mich tiefer zu den Farbtupfern hinunter, um sie mir genauer anzusehen. Ich bemerke, dass jeder einzelne anders aussieht und einen anderen einzigartigen Geruch abgibt. Und im nächsten Moment erinnere ich mich an das Wort, mit welchem Großmutter diese grazilen Schönheiten bezeichnet hat: Blumen.

Ich stehe inmitten eines riesigen Blumenfeldes und atme zum ersten Mal in meinem Leben frei. Frei von der Maske, aber auch frei von Enge, von Regeln, von Finsternis. Und schon liege ich inmitten dieser Freiheit, schließe die Augen und danke, kurz bevor mich die Erschöpfung endgültig übermannt, im Stillen meiner Großmutter, die mir das Geheimnis des letzten Stückchen Paradieses verraten hat.

Jamie-Lee Campbell

50 MINUTEN REGEN – 359 EURO

+++Kunden, die das kauften, interessierten sich auch für: Gummistiefel, Balkonpflanzen, die Psychologie von Wetterkäufern+++

$chau hier, auf der Homepage, ich wähle eine Region, sagen wir den Balkon von Nachbar Willie. Dann Datum, Dauer & Wettervorliebe. Nehmen wir heute um 5 Uhr … Regen. $o … im Warenkorb speichern. Ja, ich möchte mit Pay Pal Geld auf ein #ominöses_Konto auf den Cayman !nseln überweisen. Fertig. Nun bekommt Willie heute um fünf für 50 Min. Regen auf den Balkon. Verstanden?

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Gut, aber ich muss dazusagen, das ist nur der #offizielle_ Wettermarkt. Daneben gibt es noch etliche inoffizielle, die anderen Regeln unterliegen. An sich ist das alles irgendwie super kompliziert, weil halt so individuell einstellbar. & dann kommen die gängigen Marktgesetze obendrauf. !ch blick da auch nicht immer ganz durch … Aber bevor ich das weiter erkläre, fangen wir von vorn an. €s begann damals, als die Jahresnamen noch aufsteigend beziffert wurden. !n den letzten Zifferjahren sprach man im Wechsel von #Waldsterben, #Jahrhundertsommer oder #Klimakrise. Das gibt es ja so alles nicht mehr …

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Ja sicher haben wir €xtremwetter. & doch ist es anders als damals. €s ist … planbarer. Jemand hat das Wetter bestellt, dafür gezahlt … also wird es geliefert.

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Doch, es macht einen Unterschied, ob du ausrechnen kannst, dass der Bach in deinem Dorf über die Ufer treten wird oder ob du hoffst, dass der Regen schon nicht so schlimm wird. Heute haben wir eine #nachfrageoptimierte_Wetterlage zum Vorzugspreis. Aber wenn du mich fragst, war das die $chlechteste aller Möglichkeiten. Jahrzehntelang gab sich die Gesellschaft geläutert traditionell im totstellenden #Zuständigkeitsmikado für Umweltprobleme. & dann kam α-WetterVerse.

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Das ist eine Holding Company mit einem Händchen für das gewisse €twas. Mit $itz in sämtlichen $teueroasen ist diese Firma ein #ominöses_$cheingeflecht im Dunkeln.

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