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Während der Weihnachtstage wird dem Bewohner eines Altersheims klar, wer für die häufigen Todesfälle im Hause verantwortlich ist – und er schmiedet einen Mordkomplott gegen den Kater. Kurz vor Jahresende in Zwangsurlaub geschickt zu werden, weil man zu gute Arbeit leistet – das kann wirklich nur einer Polizistin passieren. Doch Riccardas Chef ist überzeugt, dass sich im südlichsten Bergdorf des Kantons an den Festtagen nichts Spektakuläres ereignet. Der wird sich noch wundern … Paul und Anni, beide verheiratet, treffen sich nur alle vier Jahre. Eines Tages taucht nicht Anni auf, sondern eine jüngere Frau, Anni zum Verwechseln ähnlich, und konfrontiert Paul mit Dingen, die er längst vergessen haben wollte.Besinnlich ist an Tom Zais Erzählungen höchstens, dass sie an und um Weihnachten spielen. Dafür sind sie urkomisch – auch wenn einem manchmal das Lachen im Halse stecken bleibt – und voller Phantasie. Entsprechend stimmen wir Zais eigener Aussage zu: »Nur das Leben selbst ist aberwitziger als meine Texte.«
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2024
Tom Zai
Winter- und Weihnachtskrimis
Atlantis
Kuno Sonderegger und Petra Hofstätter von der lokalen Polizei sowie die Forensikerin Philippa Rothenbühler stehen etwas ratlos im Wald. Es hätte ein friedlicher Ort sein können. Winterlich. Vögel pfeifen. Der Wind bewegt ganz leicht die oberen Äste der Föhren und Tannen. Schnee liegt, wenn auch arg zertrampelt. Die Zertrampelungen im Schnee werden ab sofort »Spurenlage« genannt, die lauschige Stelle im Wald »Fundort« beziehungsweise »Tatort«. Und die Person am Boden »Leiche«, obwohl es doch eigentlich der Oberförster Res Seidelbast ist beziehungsweise war.
Er liegt auf dem Bauch. Die Forensikerin dreht ihn nach einem ersten Augenschein auf den Rücken.
»Oha, der Res«, sagt Petra Hofstätter.
Immer wenn jemand spricht, bilden sich kleine Wolken, die wie aus Datenschutzgründen unkenntlich gemachte Sprechblasen noch eine Weile in der Luft schweben.
»Ja, der Res«, bestätigt Kuno Sonderegger die Faktenlage.
Dort, wo das Gesicht des Toten seitlich auflag, ist der Schnee verfärbt. »Erbrochenes«, konstatiert Philippa Rothenbühler und befiehlt dann: »Sichern!«
Die erste grobe Untersuchung der Leiche ergibt ein Bild, das rätselhaft ist. An ihrer linken Hand weist sie eine starke Verbrennung mit einem eigenartigen Muster auf. Durch die Innenfläche der rechten Hand zieht sich ein langer Schnitt, der notdürftig mit einem Taschentuch verbunden ist. Es hat sich mit Blut vollgesaugt und die Wunde hätte mit Sicherheit noch Probleme gemacht. Doch die Handfläche, wie der Rest des Körpers, macht, wennschon, nur noch der Polizei Probleme. Am Bauch gibt es ebenfalls eine Verletzung: Ein Stich von einem zwar dünnen, aber vermutlich doch stumpfen Gegenstand, der durch Jacke, Pullover, Hemd und Unterhemd gegangen war, aber den Bauch nur oberflächlich im Fettgewebe verletzt hat. Auf der Stirn prangt der Abdruck eines stumpfen Gegenstandes, der den Förster mit Wucht erwischt haben muss. Am eigenartigsten aber mutet an, dass Res Seidelbast keine Schuhe trägt. Der große Zeh des linken Fußes ragt nackt und bloß durch die wollenen Ringelsocken in die klare Winterluft.
Ob das schon ein erstes Motiv sein könnte? Raubmord? Wegen Schuhen?
Kuno Sonderegger weiß: »Der Res trägt doch immer diese Kampfstiefel – beziehungsweise hat sie getragen. Wo die nur sein könnten?«
Später, bei der forensischen Untersuchung der Leiche, wird sich eine weitere Verletzung zeigen. Die Netzhaut des linken Auges von Res Seidelbast wurde beschädigt – vermutlich durch einen starken Laser, so Philippa Rothenbühler.
Sie wird bei der Obduktion außerdem feststellen, dass der Tote Pilze zu sich genommen hatte, die in Verbindung mit Alkohol bei gewissen Menschen unverträglich sind. Doch die Reaktion auf den Pilz hat genauso wenig zum Tod des Försters geführt wie das Erbrechen, der Stich in den Bauch, der Schnitt in der Hand, die Verbrennung an der anderen Hand, der Schlag auf den Kopf oder die Verletzung der Netzhaut.
Res Seidelbast ist schlicht und ergreifend erfroren. Es kann der Schlag auf den Kopf gewesen sein, der ihn außer Betrieb gesetzt hat. Aber der Förster hatte 2.3 Promille Alkohol im Blut. Es dürfte für die Staatsanwaltschaft schwer zu beweisen sein, dass Res Seidelbast am Ende nicht einfach seinen Rausch an einem sehr ungeschickt gewählten Ort ausgeschlafen hat – und davon leider nicht mehr erwacht ist.
Die Verdächtigen, beziehungsweise die Beteiligten, können jedoch samt und sonders eruiert, die Geschehnisse, welche indirekt zum Tod von Res Seidelbast führten, rekonstruiert, verstanden, protokolliert und abgelegt werden – was erst den langwierigen nächsten Prozess in Gang setzen wird: jenen des Vergessens und Verdrängens.
Der Förster war ein pedantischer Mensch mit einem Hang zur Akribie, versehen mit ausgeprägter Engstirnigkeit, sturer als jeder Esel und flexibel nur, wenn es um die Auslegung der Treuepflicht als Ehemann ging. Mit seiner Smartwatch zeichnete er alles auf, was eine smarte Watch aufzeichnen kann. Sein Handy trackte nicht nur seine eigenen Bewegungen, sondern zeichnete auch sämtliche Bluetooth-Geräte auf, die sich in seinem Empfangsbereich befanden.
Die Auswertung aller Daten führt zu den Beteiligten, die allesamt geständig sind, wenn auch letztlich nicht zweifelsfrei schuldig. Die Rekonstruktion der Ereignisse ergibt eine Geschichte, die, hätte sie sich ein drittklassiger Krimiautor aus den Fingern gesaugt, als vollkommen unglaubwürdig, ja geradezu hanebüchen, abgetan worden wäre.
Folgendes hat sich zugetragen:
Am Freitagnachmittag gilt es noch ein paar Bäume zu fällen. Das Trüppchen des Forstamtes Überkirchen steht missmutig im Wald. Es könnte längst fertig sein, schon fast im Feierabend eigentlich – was gerade heute praktisch wäre. Der Weihnachtsmarkt ruft. Aber es läuft schlecht. Nicht schlechter als sonst. Aber schlecht. Es läuft immer schlecht, wenn der Chef dabei ist. Die Akribie, mit der er Abstände zwischen den Bäumen misst – messen lässt, wenn man es genau nimmt – haben alle so satt, dass sie noch nicht mal Vergleiche für den Sattheitsgrad heranziehen. Bloß keine Energie verschwenden! Energie, die es braucht, um die Selbstkontrolle nicht zu verlieren. Um dem Pedanten keine reinzuhauen oder ihn zumindest anzuschreien. Alle sind auf ihren Job angewiesen.
Oberförster Res Seidelbast will Struktur im Wald. Regelmäßige Struktur. Wann immer es das Gelände zulässt, bildet er gleichseitige Dreiecke aus möglichst gerade gewachsenen Bäumen. Deswegen spielen sich beim Auslichten der Jungtannen Dramen ab.
An diesem Freitagnachmittag ist es René Bissegger, der das Distanzmessgerät bedienen muss. Er wird vom Förster rumgescheucht, mal hierhin, mal dahin, muss ausmessen, nachmessen, vermessen, bis es in René Bissegger erst langsam köchelt, dann aber so richtig kocht. Um nicht auf der Stelle seinen Chef mit dem Stativ des Messgeräts aufzuspießen und dann totzuschlagen – oder umgekehrt – baut René Bissegger Adrenalin ab, indem er, wie durch Zufall, den Laser über das Gesicht des Oberförsters gleiten lässt. Der Förster wettert, jede verdammte Handpeilung sei besser, als das, was der Bissegger da mit seinem Laser abliefere. Res Seidelbast tritt gleich den Beweis an, indem er sich an den Stamm einer Tanne lehnt, das rechte Auge schließt und über den ausgestreckten Daumen der linken Hand die Winkel und Abstände zwischen den Bäumen prüft. Da verpasst ihm René Bissegger den Laser direkt ins weit aufgerissene linke Auge.
Das habe er mit Absicht gemacht, schreit der Förster im Wald rum, und das werde noch Konsequenzen haben und überhaupt, er habe es satt, mit lauter Stümpern zu arbeiten. Eine verschworene Bande sei das, die einem dahergelaufenen Laserterroristen auch noch passiv-aggressiv zugrinse, jawoll. Und sie sollten sich alle zum Teufel scheren. Das würde er ihnen dann vom Lohn abziehen.
Also wird es dem Trüppchen zu blöd mit ihrem Chef, und sie lassen ihn zurück im Wald, wo er wie Rumpelstilzchen herumstampft und flucht, bis ihm klar wird, dass ihm niemand mehr zuhört.
Als er zu Hause aufschlägt, ist seine Laune nicht besser geworden. Aber immerhin lässt er sie nicht wie sonst an seiner Frau Vroni aus, die von den Allüren ihres Mannes dermaßen die Schnauze voll hat, dass sie ihm eine weitere Lektion erteilen will. Sie erteilt ihm immer wieder Lektionen – die ihn allesamt nicht zur Vernunft bringen. Seit er sie gezwungen hat, ihren drei Töchtern Blumennamen zu geben – Hortensia, Hyazintha und Viola – hat sie unzählige Male erfolglos versucht, ihn durch Schaden klug zu machen. Im Laufe der letzten Jahre haben sich ihre pädagogischen Maßnahmen immer mehr zu eigentlichen Racheaktionen entwickelt. Heute ist es mal wieder Zeit für eine Pilzsuppe. Pilze, von ihrem Göttergatten im Herbst höchstselbst gepflückt – er würde niemals fremdgepflückten Pilzen trauen –, hat er in großem Stil eingefroren und seiner Frau für später zur weiteren Verarbeitung überlassen. Er weiß nichts vom zweiten Vorrat an Netzstieligen Hexenröhrlingen. Die meisten Menschen vertragen diesen Pilz problemlos, selbst, wenn sie Alkohol dazu trinken. Ihr Mann allerdings gehört zu einer kleinen Gruppe, welche die »Netzhexe« nicht mit Alkohol verspeisen darf. Dürfte, um genau zu sein. Denn er selber hat keine Ahnung, dass die Magendarmgeschichten, die ihn immer mal wieder außer Gefecht setzen, irgendwas mit dem Verzehr von Pilzen zu tun haben. Vroni, welche nun mal für die Zubereitung zuständig ist, hat das vor ein paar Jahren eher zufällig entdeckt, weil Res – der Unfehlbare! – zu den Flockenstieligen Hexenröhrlingen, der »Flockenhexe«, versehentlich zwei Netzstielige ins Körbchen gelegt hatte. Oh, wie der ein paar Stunden später gereihert hatte. Und dann praktisch 24 Stunden nicht mehr aus dem Klo rausgekommen war. Herrlich.
Nun also Pilzsuppe. Ohne Alk. Der würde später fast wie von alleine in reichlichen Mengen den Weg zum Pilz finden und dann dem über den Zaun grasenden geilen Bock von einem Ehemann, diesem in fremdgestrickte Ringelsocken stinkenden, pedantischen, rechthaberischen Nichtsnutz nach der Zechtour über den Weihnachtsmarkt und dem Stelldichein bei der Fremdstrickerin die Nacht zur Hölle machen.
»Das gibt Boden«, sagt Vroni zum Förster, als sie das zweite Mal für beide nachschöpft. Ihr Mann ist so von sich selber überzeugt, dass er im Leben nicht auf die Idee kommen wird, dass die Kotzerei und Scheißerei, die ihm bevorstehen, irgendwas mit der Suppe zu tun haben könnten.
Überhaupt steht Res Seidelbast, dem Oberförster, auf den das Prädikat »Menschenfreund« so gar nicht zutrifft, noch einiges bevor. Also bevor er dann am Ende sterben wird. Aber davon weiß er in diesem Moment nichts. Das lässt sich, wie gesagt, erst im Nachhinein rekonstruieren. Wer rechnet schon im Voraus damit. Res Seidelbast zumindest nicht.
Er macht ein ganz kleines Schläfchen nach dem Süppchen, duscht, zieht Zivilkleidung an, die auch auf den zweiten Blick immer noch an einen Förster erinnert, und verlässt grußlos das Haus. Er nimmt das Auto, obwohl er mit Sicherheit nicht damit würde heimfahren können – wie immer, wenn er »in den Ausgang geht« (obwohl er eben hinfährt).
Er hat vor, so richtig Gas zu geben. Aber nicht mit dem Fahrzeug. Der blöde Schleier auf seinem linken Auge stört beim Lenken und will beruhigt werden. »Warte, Durst, bis Abend ist!«, sagt er, als er das Auto auf den Parkplatz beim Weihnachtsmarkt fährt und wie immer die Tafel Forstamt auf die Ablage legt, weil er nicht vorhat, die lächerlichen Parkgebühren zu bezahlen.
Der Förster stürzt sich ins Getümmel und trinkt sich durch die Stände. Glühwein hasst er über alles, aber Bier, Sekt, Wein und Schnaps sind ihm willkommen. Bei jedem zweiten Stand kriegt er sein Getränk umsonst. Energiekrise sei dank wollen viele möglichst schnell an Brennholz kommen. Da führt kein Weg an fucking Oberförster Res Seidelbast vorbei. Er fühlt sich mit jedem Glas großartiger.
Irgendwann landet er beim Socken- und Waffelstand von Amalia Rosenkranz und, als ob es ihn den ganzen Abend genau da hingezogen hätte, auch im Stand der Kampfstrickerin. Es ist genau ein Jahr her, dass ihre Leidenschaft für den Oberförster entflammt wurde. Ab einem gewissen Pegel kennt dieser kein Halten mehr und das Verlangen, Frauen an die Wäsche zu gehen, wird übermächtig. Amalia Rosenkranz gehört zu der verschwindend kleinen Minderheit, die das zu schätzen weiß. Eigentlich ist sie die Einzige hier. Man kann es vielleicht wissenschaftlich erklären. Aber wen interessiert das? Sie möchte einfach nur gedrückt oder geliebt werden – wenn es sich einrichten ließe beides –, was ihr – leider auch beides – wiederum ihr Mann Norbert seit Jahren verwehrt. Sie fackelt nicht lange, will, dass der Förster mit ihr »kurz in den Lieferwagen« geht, der hinter dem Stand parkiert ist – »für ein kleines Hüpferchen«, wie sie sich ausdrückt. Doch Res Seidelbast will nicht recht oder ist noch zu wenig betrunken. Seine Frau habe in letzter Zeit so Kommentare gemacht, wenn sie geringelte Wollsocken an seinen Füßen sehe, sagt er. Vermutlich habe sie was spitzgekriegt. Es wäre wohl besser, wenn sie sich eine Weile nicht treffen würden.
Dass Amalia Rosenkranz eine ungeahnt furiose Leidenschaft entwickelt, weiß der Förster nur zu gut. Dass diese auch in weißglühenden Jähzorn umschlagen kann, ist neu für ihn. Nach einem kurzen, aber heftigen Wortgefecht packt sie eine Stricknadel und rammt sie ihm mit voller Wucht durch Jacke und Hemd bis in den Bauch, wo sie nicht allzu tief eindringt. Dennoch zuckt der Förster vor Schreck und Schmerz zusammen. Er verliert das Gleichgewicht und stützt sich im Fallen auf dem heißen Waffeleisen ab. Als er sich fluchend aufrappelt, hat sich bereits eine Menge vor dem Stand versammelt. Res Seidelbast brummelt was von einer »Speziallieferung Tannenreisig« und macht sich unter dem Spott der Leute davon – weg vom Markttreiben, raus in die schützende Dunkelheit. Die Handfläche mit dem eingebrannten Muster des Waffeleisens kühlt er mit Schnee vom Straßenrand. Das ist definitiv nicht sein Tag.
In seinem Auto lagert an geheimem Ort eine Flasche Wodka für den Notfall. Da dies ein Notfall ist, schnappt er sich die Flasche und auch die starke Taschenlampe. Beides steckt er in seine Jackentaschen und tritt zu Fuß den Heimweg durch den Wald an. Wirklich weit ist es nicht. Drei Kilometer auf einem Forstweg, der parallel zur Autostraße durch den Wald führt. Sein Ziel ist es, die Strecke und die Flasche in unter einer Stunde zu schaffen.
Auf halbem Weg fällt ihm ein Fahrzeug auf, das an der Autostraße steht. Er bleibt stehen, horcht und späht in den Wald. Ein Kichern erreicht seine Ohren. Im Scheinwerferlicht der Lampe erkennt er zwei Gestalten, die an einer mächtigen Buche stehen. ›Ihr habt an Buchen nichts zu suchen!‹, geht ihm ein alkoholgeschwängerter Reim durch den Kopf, den er für sich behält, da er die beiden kennt. Nur zu gut. Ihm vergeht das Witzeln gründlich, als er die Zusammenhänge versteht.
Es sind Kevin Rüdisüli, sein Lehrling, und Viola Seidelbast, die in jugendlicher Blüte stehende, offenbar in einen Idioten verliebte Tochter. Als Förster und vor allem als Vater tritt er näher. Das Gekicher wirkt nun unsicher. Kevin versucht etwas hinter seinem Rücken zu verstecken. Doch Res Seidelbast hat nur Augen für seine Buche. Mitten in ihrem Stamm prangt eine frisch zugefügte, riesige Wunde: Ein Herz mit den Initialen K.R. + V.S. – V.S., ein Grund mehr für Viola, ihren Vater zu hassen. Seit die Lehrerin in der 6. Klasse die Schweizer Kantone durchgenommen hat, nennen sie alle »Wallis« – seit ihre Namensvetterin aus dem Kanton mit dem Autokennzeichen VS Bundesrätin geworden ist, nennt sie ganz Überkirchen so –, was aber immer noch besser ist als »Viöleli« oder »Blüemli«, wie sie im Kindergarten genannt wurde.
Der Förster schäumt vor Wut und will sofort, kraft seines Amtes, das Corpus Delicti, die Tatwaffe, konfiszieren. Zerknirscht holt Kevin seine Hand hinter dem Rücken hervor und hält seinem Chef das Messer hin. Dieser greift mit der unverletzten Hand zu und zieht, in der Meinung, Kevin halte ihm den Griff des Messers hin – so, wie er es ihm in unzähligen Sicherheitsinstruktionen verdammt noch mal beigebracht hat. Dass er sich geirrt hat, merkt Res Seidelbast erst, als er die Klinge über die ganze Länge seiner Hand gezogen hat. Das Messer fällt in den Schnee, weil beide gleichzeitig loslassen. Blut und Fluchworte fließen heftig. Viola und Kevin, das muss man ihnen lassen, wollen sich sofort um den Verletzten kümmern. Schließlich haben sie sich beim Nothelferkurs ineinander verliebt und abgesehen davon sind sie einfach fürsorgliche, nette Menschen – etwas, das Res Seidelbast auf den Tod nicht ausstehen kann. Der Förster scheucht sie weg und will auch nicht von ihnen nach Hause gefahren werden. Sie sollten machen, dass sie vom Acker kämen, beziehungsweise vom Wald. Und das habe dann noch ein Nachspiel, faucht er sie an. Die beiden fügen sich und gehen wohl oder übel. Sie haben auf die harte Tour gelernt, dass man sich Res Seidelbast besser nicht widersetzt. Das Messer nehmen sie mit.
Seine Hand verbindet der Förster behelfsmäßig mit seinem Taschentuch, einem alten Stofftuch mit den Initialen A.S., das er von seiner Mutter selig, die ihn immer bei seinem vollen Namen Andreas rief, vor einer Ewigkeit zur Erstkommunion bekommen hatte. Initialen auf Taschentüchern sind für Res Seidelbast ein Muss. Anderswo haben sie rein gar nichts zu suchen – schon gar nicht auf Buchen. Aber ihm ist nicht mehr nach Reimen. Es ist nicht mehr allzu weit bis nach Hause und er fängt an, daran zu glauben, dass nicht nur die Flasche Wodka, sondern auch dieser Tag zum Vergessen bald geschafft ist.
Aber da: Noch ein Auto. Diesmal mitten auf dem Forstweg. Spuren führen in den Wald. Trotz seines Zustands – stark steigender Alkoholpegel, multiple Verletzungen und ein unangenehmer werdender, geradezu schmerzhafter Druck in Magen und Darm – will er der Sache auf den Grund gehen. Wenn da gleich einer in seinen Wald kackt, dann wohl er selber. Die Aussicht, jemanden mit blankem Arsch beim Freischeißen anzutreffen, beflügelt ihn geradezu.
Jetzt nochmals jemanden so richtig zur Schnecke machen – damit würde er diesem beschissenen Tag einen kleinen Sieg abringen.
Bald hört er das regelmäßige Geräusch einer Schaufel, die in den Boden eindringt. Das müsste dann ein überkorrekter Freischeißer sein, der seine Exkremente einbuddelt. Aber als der Lichtstrahl einen Hünen von einem Mann erfasst, versteht er, dass es hier um was ganz anderes geht. Ein Christbaum-Frevler ist am Werk und er, Oberförster Res Seidelbast himself, erwischt ihn in flagranti. Der Kerl hat es auf eine Jungtanne abgesehen, die er ausgräbt. Ein Modetrend. Nachhaltige Christbäume im Topf. Weil mehrjährig, weil öko, weil auf lange Sicht günstiger, weil hype oder hip oder hop. Ihm egal. Solange keine Bäume aus seinem Wald involviert sind. Als er dem Frevler ins Gesicht leuchtet, wird ihm klar, dass seine Pechsträhne nicht zu Ende ist.
Vor ihm steht Norbert Rosenkranz, der Mann von Amalia, der zwar keine Lust auf Kopulation hat, es aber gleichzeitig unerträglich findet, dass seine Frau ausgerechnet mit dem Ekelpaket von einem Oberförster ihrer animalischen Lust freien Lauf lässt. Es war nicht allzu schwer herauszufinden. Seither wartet Norbert Rosenkranz auf den Moment, es dem Förster heimzuzahlen. Einen seiner Bäume zu freveln, hat ihm bereits ein gutes Gefühl gegeben. Diesem Idioten nun auch noch ohne Zeugen eins mit der Schaufel überzubraten, ist eine Verlockung, der er einfach nicht widerstehen kann. Res Seidelbast sieht die Schaufel kommen, bevor er gar nichts mehr sieht. Sie trifft ihn mitten auf die Stirn und er denkt noch: ›Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei‹, was keinen Sinn ergibt, es aber auch nicht muss.
Er bleibt recht lange einfach liegen – bis sein Körper die letzten Reserven mobilisiert, als die Netzhexe in Kombination mit dem Alkohol ihre maximale Wirkung entfaltet. Unbewusst dreht er sich auf den Bauch, damit er beim Kotzen nicht sofort erstickt. Dass er seine Hose füllt, nimmt er, wie alles andere, kaum mehr wahr. Er driftet gleich wieder weg, weil der Wodka zusammen mit den anderen Getränken so richtig reinkickt. Nachdem sich Res Seidelbasts Körper erleichtert hat, versetzt er sich in den Recovery-Modus, ehe das Gehirn in ein paar Stunden das System wieder hochfahren will. Was nicht geschehen wird, da er sich für den Ruhezustand einen denkbar ungünstigen Platz ausgesucht hat. Bis er sich wieder in den Betriebszustand versetzen könnte, ist er – einer kalten Winternacht geschuldet – nicht mehr funktionsfähig. Er zieht die Konsequenzen und stirbt in den frühen Morgenstunden.
Was bleibt, ist das Rätsel mit den verschwundenen Stiefeln des Res Seidelbast. Sie werden – eher durch Zufall – ein paar Monate später auf einem Schuhbaum gefunden. Überkirchens Jugend macht sich einen Spaß draus, immer wieder zusammengebundene Schuhpaare auf eine ganz bestimmte Esche am Dorfrand zu schmeißen. Was sie damit zum Ausdruck bringen will, erschließt sich den meisten Leuten nicht. Vielleicht will sie gar nichts zum Ausdruck bringen, die Jugend, sondern einfach nur ihren Spaß haben. Jedenfalls wird ausgerechnet diese Esche vom Falschen Weißen Stängelbecherchen, einem aus Asien importierten Pilz, befallen. Die jungen Triebe sterben ab. René Bissegger, der neue Oberförster von Überkirchen, wird gerufen, sieht sich die Sache an und fackelt nicht lange. Die Straße wird abgesperrt, die Esche gefällt, zerlegt und zur Verbrennung verladen. Die Schuhe werden davor aus den Ästen entfernt und zur Belustigung der vielen Gaffer in Reih und Glied am Straßenrand aufgestellt. Dabei fallen dem Trüppchen vom Forstamt die Kampfstiefel von Res Seidelbast auf.
Die Polizei wird gerufen, welche von Anfang an einen unmotivierten Eindruck macht. Immerhin lässt Petra Hofstätter den bekennenden Schaufelschläger, Norbert Rosenkranz, antanzen, um ihn mit dem Fundstück zu konfrontieren.
Rosenkranz gibt zerknirscht zu, er habe die Stiefel mitgenommen, um »diesen Tropenkopf« in den Ringelsocken seiner Frau durch den Schnee heimlatschen zu lassen. Er habe die Schuhe allerdings auf dem Forstweg hingestellt, sodass er sie hätte finden müssen. Der Weg bis zum Försterhaus sei ihm doch etwas lang erschienen. Wie die Stiefel von dort auf den Schuhbaum gekommen seien, entziehe sich seiner Kenntnis. Ob das nun bei der Gerichtsverhandlung zu seinen Ungunsten ausgelegt werden könne, möchte Rosenkranz noch wissen.
Petra Hofstätter weiß es nicht. Aber sie hat auch nicht vor, die Angelegenheit unnötig kompliziert zu machen. Wenn sie etwas hasst, dann Papierkram. Sie bringt die Schuhe kurzerhand zur Witwe des Försters. Soll sie entscheiden, was damit geschehen soll.
Sie habe ihr da noch ein »Andenken«, sagt die Polizistin zu ihrer langjährigen Freundin Vroni, als sie ihr die verwitterten Stiefel in die Hand drückt. Nach einem kurzen Kaffee und einem Schwatz bleibt Vroni allein mit den Schuhen zurück.