Klugscheißer Supreme - Thorsten Steffens - E-Book

Klugscheißer Supreme E-Book

Thorsten Steffens

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Beschreibung

Ein Klugscheißer als angehender Lehrer – kann das gutgehen? Ein irre komischer Roman um Lehrer, und welche, die es werden wollen – für alle Fans von Tommy Jaud und Fack ju Göhte »Nahrungsbeschaffungsmaßnahme f.; Gen. –; Pl. –n; der Besuch eines Verkaufsstandes mit Esswaren, um eine anschließende stundenlange Zusammenkunft aller verfügbaren Lehrkräfte zum illustren Erfahrungsaustausch auszuhalten« Klugscheißer Timo Seidel hat nach sein Lehramtsstudium beendet. Doch nun steht ihm die schwerste aller Prüfungen bevor: das von allen Seiten gefürchtete Referendariat. Schmerzlich stellt Timo fest, dass er sich trotz Berufserfahrung wieder einmal den Respekt des Kollegiums, der Schulleitung und vor allem der Schülerschaft hart erkämpfen muss. Da sind für einen Klugscheißer wie Timo natürlich Pleiten, Pech und Pannen vorprogrammiert … »Von Anfang an war man in der Geschichte, ließ sich von ihr mitreißen und war gespannt, wie diese ausgehen würde. Ein tolles Buch, welches mich sehr gut unterhalten hatte.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Klugscheißer meets Klassenzimmer – Großes Finale einer gelungenen Reihe.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann

Redaktion: Julia Feldbaum, Korrektur: Manfred Sommer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Jahresbericht der ISDB

1. Canberra, Klassentreffen und Krappa

2. Hasen, Hirsche und Haselnusstafeln

3. Chanel, Schock und Schokolade

4. Cola, Cremes und Kaktusse

5. Thai-Essen, Trauma und Traumpaare

6. Vetter, Flüsterer und Fußballweltmeisterschaften

7. Partikel, Pleonasmen und PIN-Nummern

8. Konferenzen, Kavaliersdelikte und Karma

9. Sätze, Sonderarbeiten und Solidarität

10. Kalter Krieg, Chaos und Klassenarbeiten

11. D-Tage, didaktische Reduktion und Dosenpfirsiche

12. Wartezeiten, Wartezimmer und Wärmflaschen

13. Wunder, Weintrauben und Weltuntergangsstimmung

14. Kronkorken, Kinderwunsch und Kapitalanlagebetrug

15. Kleintransporter, Kleidung und Klappsofas

16. Entscheidungen, Entlassungspapiere und Entschuldigungen

17. Plastikmüll, Pizzaboten und Prüfungen

18. Postboten, Polizisten und Putzpersonal

19. Lautsprecher, Lyrik und Laumänner

20. Entschuldigungen, Ehrenmänner und Erbrechen

21. Haltestellen, Hauptbahnhöfe und Handtaschen

22. Laminiergeräte, Luschen und Loser

23. Freunde, Freuden und Fragmentierungen

24. Prüfungen, Panik und Präpositionen

25. Flashmobs, Funkenmariechen und Filmmomente

26. Juroren, Jammer und Jubel

27. Langzeitstudenten, Luftikusoletten und Lebens … Ach, was soll’s … und Happy Ends!

Jahresbericht der ISDB

Die Jahresversammlung der Interessengemeinschaft selbst diagnostizierter Besserwisser (ISDB) entschied sich mehrheitlich dafür, den Begriff Alleswissologe künftig als politisch korrekte Eigenbezeichnung zu führen. Ein möglicher Wörterbucheintrag könnte wie folgt aussehen:

Al|les|wis|so|lo|gem.; Gen. –n; Pl. –n; (der offizielle, nicht beleidigende und selbst gewählte Ausdruck für) Besserwisser

Wir werden versuchen, diese Definition in gängigen Nachschlagewerken zu platzieren, um somit den für uns oft verwendeten Begriff Klugscheißer hoffentlich landläufig zu ersetzen, da er aufgrund seiner negativen Konnotation gänzlich herabwürdigend ist.

Eine Umbenennung unserer Interessengemeinschaft in ISDA wird in Erwägung gezogen und im kommenden Quartal diskutiert.

1. Canberra, Klassentreffen und Krappa

Nächster Halt: Brühl Mitte, verkündet die immer gleich klingende Dame der Kölner Verkehrsbetriebe.

Daniela und ich stehen auf und begeben uns schon mal zur hinteren Tür der Straßenbahn. Aus der entgegengesetzten Richtung kommen im selben Augenblick zwei Jugendliche, die hier vermutlich auch aussteigen wollen und sich zu uns gesellen.

»Guck mal, deine neue Kundschaft!«, flüstert Daniela mir grinsend zu und spielt damit auf mein Referendariat an, das nächsten Montag beginnt.

Die beiden Mädchen bekommen davon glücklicherweise nichts mit, denn sie unterhalten sich angeregt über eine Serie, die ich nicht kenne, weswegen ich die Hälfte der Unterhaltung nicht verstehe. Ich höre nur »spannendes Ende« und dass »Jughead« offensichtlich doch nicht tot ist, sondern die Macher der Serie es nur so haben aussehen lassen. Mein Gehirn möchte schon abschalten, als ich folgende Worte vernehme: »Das hat mir der Kumpel meines Bruders gesagt.«

»Och, Genitiv!«, entfährt es mir entzückt. Ein korrekter Sprachgebrauch ist heutzutage ja so selten geworden, dass mein Gehirn bei der mannigfachen Anzahl an Fehlern, die es tagtäglich hört, schon gar nicht mehr reagiert. Stattdessen frohlockt es, wenn es dann doch unverhofft einwandfreie Grammatik vernehmen darf.

Daniela muss grinsen. Mir wäre es ja lieber, wenn die beiden Mädchen nichts von meiner Beurteilung ihrer Ausdrucksweise mitbekämen, aber meine Freundin findet offensichtlich, dass wir dieses Kompliment unbedingt weitergeben sollten. Mit einem Doktortitel in französischer Linguistik ist sie ebenso sprachaffin wie ich. Zudem kommt sie zu meinem Leidwesen immer und überall mit fremden Menschen ins Gespräch. Ein simpler Supermarktbesuch kann mit ihr zur reinsten Kommunikationskaskade ausarten, bei der sie anschließend mit der halben Belegschaft per Du ist und Handynummern tauscht.

Kom|mu|ni|ka|ti|ons|kas|ka|def.; Gen. –; Pl. –n; gesellschaftliches Erlebnis, bei dem sich jemand zunächst mit nur einem Individuum, später mit mehreren, wildfremden Personen über triviale Dinge ihres Alltags austauscht

»Ihr habt ja eine gepflegte Ausdrucksweise!«, kommentiert Daniela also ungefragt.

Die beiden Mädchen unterbrechen ihr Gespräch und schauen skeptisch in unsere Richtung. Wenn sie etwas jünger und aus den USA wären, würden sie jetzt vermutlich laut Stranger! Danger! rufen und schleunigst das Weite suchen!

Ich weiß, Daniela meint es nur nett, dennoch ändert das nichts an der Tatsache, dass sie die beiden gerade unterbrochen und ihnen ungefragt ihre Meinung aufgezwungen hat.

Fünf unangenehme Sekunden lang herrscht Stille.

»Ähm, danke«, gibt schließlich eine der beiden zögerlich zurück.

»Nein, wirklich!«, beschwichtigt meine Freundin. »Ihr geht bestimmt auch aufs Gymnasium, oder?«

Die beiden Mädchen prusten los.

»Haste gehört? Die denkt, wir sind Gymi!«

Und schwups! So schnell kann eine gepflegte Ausdrucksweise auch wieder abhandenkommen.

»Nee, nee«, werden wir schließlich aufgeklärt. »Wir sind Real.«

Ich gehe davon aus, sie wollen uns mitteilen, dass sie eine Realschule besuchen. Vielleicht sind sie aber auch Aushilfskräfte in einem Real-Supermarkt oder passionierte Anhängerinnen des Fußballvereins Real Madrid. Bevor wir dies jedoch erörtern können, haben wir, dem Himmel sei Dank, unsere Haltestelle erreicht und verabschieden uns höflich.

Es warten bereits drei Taxis, wir nehmen das erste.

Unsere Fahrerin ist ein rheinländisches Urgestein, sodass wir umgehend in breitestem Dialekt begrüßt werden.

»Na? Wo soll et denn hinjehn?«

»Einmal in die Wunderbar, bitte«, dirigiert Daniela.

Bei diesem geistreichen Namen stelle ich mir wieder unweigerlich die Frage, wer nach fünfzehn Jahren, nachdem man die Schule bereits beendet hat, auf die aberwitzige Idee kommt, man könne sich doch noch einmal an einem Freitagabend am letzten Aprilwochenende in einer neumodischen Hipster-Kneipe im nördlichen Kleinstadtviertel Brühl-Vochem treffen? Nun, in unserem Fall war das Bianca Spangenberg, die zu Schulzeiten von allen nur Spannerzwerg genannt wurde, weil sie sich nach dem Sportunterricht immer auffällig lange vor der Jungenumkleide aufhielt.

Viel besser wäre aber eigentlich die Frage, wieso gerade wir dieser Einladung nachkommen. Der Hauptgrund sitzt vorne neben unserer Taxifahrerin, ist einen Meter fünfundsechzig groß und seit vier Jahren meine feste Freundin. Eigentlich komme ich nur ihretwegen mit, denn ich finde, dass sich das Leben schon etwas dabei gedacht hat: Man drückt gemeinsam die Schulbank, macht seinen Abschluss, amüsiert sich bei der Abifeier noch einmal, und dann gehen alle ihre eigenen Wege! Alles andere ist doch die reinste Denaturierung!

De|na|tu|rier|ungf.; Gen. –; Pl. –en; (in der Biochemie) Veränderung einer Struktur; (hier) das Wagnis, seine ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden entgegen der natürlichen Fügung aufzuspüren und sie in einem Lokal mit Alkoholausschank zu treffen, um sich kollektiv zu bezechen

Na ja, ein kleines bisschen neugierig bin ich schon, was aus den ganzen Spaßvögeln von damals geworden ist, und so musste Daniela letzten Endes doch nicht ganz so viel Überzeugungsarbeit leisten.

»Ah! Dann wollt ihr bestimmt och zum Klassentreffen, wat?«, vermutet unsere Taxifahrerin. »Da hab isch eben schon ene hinjefahrn!«

»Ach, ja? Wen denn?«, möchte Daniela wissen.

Stirnrunzelnd schaue ich meine Freundin von der Rückbank aus an, aber sie bemerkt meinen Blick nicht einmal. Woher soll die gute Frau das denn bitte wissen?

Aber unsere Taxifahrerin scheint ebenso gesprächig wie meine bessere Hälfte zu sein.

»Dat war die Silke!«, informiert sie uns.

»Ach, nee! Die Silke Nussbaum!«, freut sich Daniela. »Ich frage mich, was die so treibt.«

»Die is jetzt bei Ford und mät do irjendwatt mit Werbung«, weiß unsere Taxifahrerin. »Isch bin übrijens de Uschi!«

Und ich bin extrem überrascht angesichts der Dinge, die man erfährt, wenn man mit fremden Leuten ins Gespräch kommt. Bisher bin ich in meinem Leben noch nicht so häufig mit dem Taxi gefahren, aber wenn, dann saß ich still auf dem Beifahrersitz und habe geschwiegen, während das Radio lief. Seitdem Daniela und ich allerdings zusammen sind, erlebe ich, dass es auch anders geht. Wie gesagt, sie kommt mit jedem ins Gespräch. Manchmal kann das ganz schön nerven, andererseits trifft man so auch sehr interessante Menschen. Wie Uschi beispielsweise. Die überrascht mich nämlich später, als wir zufällig eine Radiomeldung mitbekommen.

»Ein Hund aus der australischen Hauptstadt Känberra wurde jüngst zum Internet-Star«, verkündet dort ein Sprecher, und ich seufze direkt innerlich. Ich kann ja verstehen, wenn der Otto Normalverbraucher nicht weiß, wie die australische Hauptstadt korrekterweise ausgesprochen wird, aber von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten darf man das schon erwarten, oder?

»Dat wird Känbra ausjesprochen!«, regt sich Uschi auf und spricht somit laut aus, was ich nur denke.

Verblüfft schaue ich sie von hinten an.

»Guck mal, Timo«, meldet sich Daniela vom Beifahrersitz. »Die Uschi ist genauso …« Dann hält sie jedoch inne. Ich weiß schon, was sie sagen wollte: klugscheißerisch! Dann hat sie aber wohl doch noch rechtzeitig erkannt, wie unhöflich es wäre, wenn sie nicht nur mich, sondern auch Uschi so bezeichnen würde.

»… genauso gut informiert wie du!«, rettet sie sich dann.

»Ja, tut mir leid«, echauffiert sich Miss Taxi. »So wat darf man doch wissen, oder?«

»Absolut!«, pflichte ich ihr von hinten bei.

Mit einem großzügigen Trinkgeld verabschieden wir uns schließlich bei Uschi, als wir unser Ziel erreicht haben.

»Sag mal, wolltest du mich eben etwa wieder als klugscheißerisch bezeichnen?«, frage ich Daniela, kurz bevor wir die Wunderbar betreten. Sie weiß doch, wie sehr ich das hasse. Vor allem finde ich, dass es überhaupt nicht stimmt. Es mag sein, dass ich früher einmal so war, aber in den letzten Jahren habe ich durchaus gelernt, mich zu beherrschen.

»Ach, Schnucki!«, ist Danielas einzige Antwort. Als ob damit irgendetwas geklärt wäre! Ganz abgesehen davon, dass ich es absolut nicht leiden kann, wenn sie mich Schnucki nennt. Getoppt wird das nur noch von Tiernamen: Bärchen, Hase oder Mausi. Ich finde solche Kosenamen ziemlich unmännlich – da kann die Feministinnenfraktion jetzt so viel argumentieren, wie sie will, aber wenn James Bond auf der Leinwand erscheint, nennt den auch niemand Mausi. Das wäre doch ziemlich absurd, oder? So, als wenn der Terminator gerade Hasta la vista! sagen möchte, und sein Kontrahent ansetzt: Hör mal, Hasi! Muss das denn jetzt wirklich sein?

In der Wunderbar erwartet uns ein offizielles Ein-Mann-Begrüßungskomitee: Bianca Spangenberg höchstpersönlich sitzt hinter einem Tisch, den sie im Eingangsbereich aufgestellt hat, sodass niemand unbemerkt passieren kann. Vor ihr liegen, wenn ich das richtig erkenne, eine Anwesenheitsliste und unzählige Namensschilder. Die Gute hat wohl zu viele amerikanische Filme samt Highschool-Reunion und Happy End gesehen!

»Timo!«, kreischt Bianca, als sie mich erblickt. Zeitgleich springt sie von ihrem Stuhl hoch und läuft manisch auf mich zu. So viel zur Notwendigkeit der Namensschilder. »Waaah! Und Daniela!« Kreisch, kreisch, spring, spring. »Was für ein Zufall, dass ihr beide gleichzeitig ankommt!«

»Ja, ein Zufall!«, bestätige ich.

Daniela und ich haben zwar zeitgleich Abitur gemacht, waren damals aber nie zusammen. Wie das Leben so spielt, haben wir uns danach aus den Augen verloren, dann durch Zufall vor viereinhalb Jahren an der Uni wiedergetroffen und sind seitdem ein Paar. Das werden wir heute Abend sicherlich etliche Male mitteilen müssen.

Bianca hechtet hinter ihren Tisch, hakt unsere Namen tatsächlich auf einer Liste ab, sucht die beiden richtigen Namensschilder und übergibt sie uns.

Daniela und ich werfen uns einen amüsierten Blick zu. Die gute Bianca ist wohl immer noch zu circa achtzig Prozent überengagiert. Das war sie damals schon. Manche Dinge, beziehungsweise manche Menschen, ändern sich vermutlich nie.

»Es sind bereits einige da. Geht doch schon mal durch.«

Und tatsächlich, als wir im eigentlichen Teil der Kneipe ankommen, sehen wir überall Grüppchen an Stehtischen und am Tresen, die sich angeregt unterhalten.

»Och nee! Der Timo!«, schreit wenige Sekunden später eine dunkle Erinnerung. Sascha Finke. Diese Stimme erkenne ich auch nach anderthalb Dekaden wieder. Laut und nervig wie eh und je.

Sofort dreht sich der Großteil aller Anwesenden zu uns um.

Nun grölen noch mehr. »Ach, der Timo!« – »Da ist ja Daniela!« Küsschen links, Küsschen rechts – »Och, guck mal, die Danni!« Bussi hier, Bussi da. – »Seid ihr gleichzeitig angekommen?« Skeptische Blicke, Getuschel. »Ihr seid doch nicht etwa …?«

»Doch, sind wir!«, bestätigt Daniela, und plötzlich geht die Post ab.

»Sag bloß!« – »Das gibt’s ja nicht!« – »Ihr beide?« – »Seit wann denn?«

Wir können die Fragen gar nicht so schnell beantworten, wie sie uns entgegengeworfen werden. Also fassen wir alles schnell zusammen: Ja, wir sind seit vier Jahren zusammen. Nein, wir waren zu Abizeiten noch kein Paar. Nein, danach hatten wir erst einmal keinen Kontakt. Ja, wir haben uns vor viereinhalb Jahren an der Uni wiedergetroffen. Nein, zuerst war es nur etwas Unverbindliches. Ja, danach wurde mehr daraus.

Irgendwann haben alle mitbekommen, dass wir nun zusammen sind, woraufhin man sich glücklicherweise wieder anderen Themen widmet. Es dauert jedoch nicht lange, bis das obligatorische und von mir befürchtete Lebenslaufquartett beginnt.

Le|bens|lauf|quar|tettn.; Gen. –(e)s; Pl. –e; (in Anlehnung an das Kartenspiel Autoquartett) Austausch biografischer Eckdaten, mit dem Ziel, das Gegenüber mit dem eigenen Werdegang zu übertrumpfen

Es scheint, als hätten nach dem Abitur alle zielstrebig Karriere gemacht. Patrick Albrecht ist jetzt Rechtsanwalt, verdient ordentlich Kohle, hat zwei Kinder und ein Eigentumshaus in Bad Godesberg. Felix Schulte ist Polizist, ebenfalls verheiratet, ebenfalls zwei Kinder. Janina Horn arbeitet als selbstständige Architektin, kann sich vor Aufträgen kaum retten, während sich ihr Ehemann ums selbst entworfene Haus und das (vermutlich ebenfalls selbst entworfene) Kind kümmert. Sascha Finke ist Pharmazeut mit eigener Apotheke in Köln-Ehrenfeld.

Den Vogel bei dieser Windmacherei schießt jedoch Daniela ab. Sie hat, wie gesagt, vor einem Jahr in französischer Linguistik promoviert und unterrichtet an einer Universität.

Kollektiver Neid, getarnt als kollektive Bewunderung, bricht umgehend aus!

»Hau ab! Du machst Witze!« – »Müssen wir dich dann jetzt mit Frau Doktor ansprechen?« – »Meine Güte, was verdient man denn da?«

Dann folgt leider die Frage, von der ich gehofft habe, ihr heute Abend ausweichen zu können: »Und du, Timo? Was machst du jetzt so?«

Es wird also Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.

»Ich habe gerade mein Lehramtsstudium beendet und fange nächste Woche mein Referendariat an«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Wie? Du bist erst jetzt mit deinem Studium fertig?«, erfreut sich Sascha Finke als Erster, und ich erinnere mich wieder, dass er auch damals schon immer der reinste Schadenfreudespender war. Ich muss mir unbedingt merken, in Köln-Ehrenfeld niemals eine Apotheke aufzusuchen.

Scha|den|freu|de|spen|derm.; Gen. –s; Pl. –; (Kofferwort aus Schadenfreude und Freudenspender) ein jämmerliches Individuum, das sich am Misserfolg anderer erfreut, gegebenenfalls ausgelöst durch zu kurz geratene Körperteile

»Hey, Marcel, das musst du hören!«, ruft er unseren ehemaligen Klassenkameraden zu sich. Wieder einmal viel zu laut. »Der Timo ist jetzt erst mit seinem Studium fertig!«

Nicht nur Marcel strömt interessiert zu uns.

»Alter, das nenne ich mal gechillt! Da haste dir aber Zeit gelassen, was?«, frohlockt er.

Auch Janina amüsiert sich köstlich: »Meine Güte, im wievielten Semester warst du denn dann zum Schluss? Im siebenundvierzigsten?«

Gemeinschaftliches Amüsement! Ja, ich kann schon verstehen, dass solch ein Klassentreffen eine willkommene Gelegenheit für einen wohltuenden Abwärtsvergleich bietet. Irgendwer findet sich immer, auf den man hinabblicken kann. Heute werde das wohl ich sein.

»Ich habe erst vor viereinhalb Jahren angefangen zu studieren«, versuche ich dennoch ansatzweise mein Leben zu erklären. Im Grunde könnte es mir ja egal sein, was die anderen über mich denken. Ich hatte schließlich die letzten fünfzehn Jahre keinen Kontakt zu ihnen und werde dies ab morgen wohl auch nicht haben. Aber gerade angesichts der Tatsache, dass ich alles in Regelstudienzeit geschafft habe, möchte ich nicht auf mir sitzen lassen, angeblich ein Langzeitstudent zu sein.

»Ach so«, nickt Janina verständnisvoll. »Du hast umgeschult!«

»Kann man so sagen.«

»Und was haste davor gemacht?«, lässt Sascha jedoch nicht locker.

Tja, was habe ich davor gemacht? Die Wahrheit ist: Ich habe nach dem Abitur erst einmal mein Leben auf die Reihe kriegen müssen, weil einige Jahre davor mein Vater gestorben war. Nur das ist nichts, mit dem man als Teenager in der Schule hausieren geht, weswegen die wenigsten davon wussten. Deshalb musste ich seinerzeit auch die neunte Klasse wiederholen und habe dann mein Abitur mehr schlecht als recht hingebogen.

Mitte zwanzig habe ich dann kurzzeitig ein Lehramtsstudium begonnen, was allerdings ziemlich in die Hose ging. Die Dozenten fragten mich irgendwann nur, wieso ich denn überhaupt in die Uni käme, wenn ich doch der Meinung sei, ohnehin schon alles zu wissen. Dieselbe Frage stellte ich mir dann auch, weswegen ich das Ganze nach einem Semester wieder hingeschmissen habe. Damals war ich wirklich noch ein richtiger Klugscheißer, na ja, und einfach noch nicht reif genug. Stattdessen bin ich fünf Jahre lang in meinem Studentenjob im Callcenter stecken

geblieben. Das war natürlich die reinste Zeitverschwendung. Manchmal trifft man im Leben nun mal falsche Entscheidungen.

Ich antworte also wahrheitsgemäß: »Och, ich habe so dies und das gemacht.«

Stimmt ja auch.

»Zehn Jahre lang?«, fragt Sebastian, der sich ebenfalls zu uns gesellt hat.

»Yep.«

»Wie? Du hast zehn Jahre lang nur rumgejobbt?«, wiederholt er ungläubig.

»Und das ausgerechnet der Timo!«, ergötzt sich Sascha. »Der alte Klugscheißer!«

Die Erwähnung meines alten Spitznamens löst allgemeine Heiterkeit an unserem Stehtisch aus, um den sich inzwischen weitere ehemalige Schulkameraden versammelt haben. Herrlich! Noch mehr Aufmerksamkeit! In solchen Momenten wünscht man sich doch, man wäre Raucher, dann könnte man jetzt einfach nach draußen gehen und sich eine Auszeit nehmen. Aber es wäre ja albern, einfach so rauszugehen und dort nichts zu machen, außer herumzustehen.

»Also«, resümiert Janina, »wenn wir hier von einem erwartet hätten, dass er inzwischen Professor ist oder eine Multimilliardenfirma leitet, dann wäre es doch Timo gewesen, oder?«

Sie blickt fragend in die Runde und erntet vereinte Zustimmung.

Sascha klopft mir zufrieden auf die Schulter: »Tja, das mit der Klugscheißerei kam wohl im Berufsleben nicht so gut an, was?«

Ich seufze innerlich. Wahrscheinlich habe ich es verdient, dass mir dieses Image nach all den Jahren immer noch anhängt. Schließlich habe ich damals selbst dafür gesorgt, indem ich meine Klassenkameraden ständig ungefragt verbessert habe. Aber das ist lange her, und seit einigen Jahren achte ich darauf, nicht mehr überall anzuecken. Gerade während des Studiums habe ich gelernt, mich zusammenzureißen, denn ich wollte das Debakel vom ersten Mal nicht wiederholen.

»Ich bin gar kein Klugscheißer mehr!«, spreche ich daher laut aus, was ich gerade denke.

Ein großer Fehler! Schon im selben Moment bereue ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Nicht nur, weil sich wieder alle königlich amüsieren, sondern weil es viel zu kindisch ist, sich hier mit Sascha Finke herumzustreiten. Wir konnten uns schon zu Schulzeiten nicht leiden und haben uns ständig Wortgefechte geliefert.

»Dann müsstest du dich aber schwer verändert haben!«, findet Sebastian.

Ausgerechnet in diesem Moment stößt Daniela zu uns.

»Hey, Danny!«, grölt Sascha. »Sag mal, ist der Timo immer noch so ein Klugscheißer wie früher?«

Alle schauen erwartungsvoll meine Freundin an. Ich ebenfalls.

Sag jetzt bloß nichts Falsches!, denke ich mir und versuche, ihr einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Den bemerkt sie aber nicht und sülzt nur: »Na ja, manchmal schon. Aber das mag ich ja gerade so an ihm.«

Ja, und ich mag an dir besonders, wie du immer aufstößt, nachdem du After Eight gegessen hast und unsere Wohnung riecht, als hätte sich eine Rolle Mentos in die Luft gesprengt. Ich weiß bis heute nicht, wieso sie die immer isst, obwohl sie sie nicht verträgt.

Jedenfalls war das die falsche Antwort! Wenn wir später zu Hause sind, müssen wir dringend miteinander reden!

Daniela scheint sich allerdings keiner Schuld bewusst zu sein. Stattdessen schaut sie mich stolz an und denkt wahrscheinlich, sie habe mich gebührend verteidigt.

Viel Zeit habe ich allerdings nicht, mich über Daniela aufzuregen, denn offensichtlich sind alle nach wie vor an meinem Leben interessiert. Das nächste Thema lautet: Timos jämmerliche Zukunft.

»Und dann machste jetzt als Nächstes dein Referendariat?«, fragt Sebastian nach.

»Ja«, nicke ich.

»Oh, das wird bestimmt der absolute Albtraum!«, mutmaßt er.

»Das habe ich auch gehört«, pflichtet Janina ihm bei.

»Ja«, stimmt Silke Nussbaum ebenfalls mit ein. »Ich habe eine Freundin, die auch Lehrerin ist, und die hat gesagt, dass sie das Referendariat fast abgebrochen hätte!«

»Oh, ja. Ich kenne da auch einen. Der meinte, das waren die schlimmsten zwei Jahre seines Lebens!«, berichtet René.

Wie schön, dass sich alle so einig sind!

Natürlich habe auch ich schon gehört, dass der Vorbereitungsdienst nicht gerade einfach ist, aber ich habe keine Lust, mich deswegen verrückt zu machen.

»Timo hat aber ja schon viele Jahre als Aushilfslehrer gearbeitet!«, springt nun Daniela wieder für mich in die Bresche. Ich wünschte, sie würde es nicht tun, denn auf diese Weise werden wir nur noch länger über mein verhunztes Leben sprechen.

»Wie das denn?« Sascha Arschloch-Finke wirkt ein wenig enttäuscht.

»Timo hat in den letzten fünf Jahren an der Abendschule hier in Brühl gearbeitet. Als Englischlehrer.«

Da hier alle wissen, dass mein Vater Amerikaner war und ich somit zweisprachig aufgewachsen bin, entfallen heute zumindest die Dutzenden Folgefragen, die sich an dieser Stelle in der Regel ergeben.

»Dann wird es ja vielleicht gar nicht so schlimm!«, überlegt Janina.

Sascha meint jedoch, jeden Hoffnungsschimmer im Keime ersticken zu müssen: »Oh, Mann, das wird bestimmt richtig scheiße! Dann biste ja jetzt in der Nahrungskette wieder ganz unten und musst dir von jedem erklären lassen, wie du deinen Job zu machen hast. Ist doch ätzend, oder?«

Auf mein Schweigen folgt zumindest erst einmal für die nächsten Minuten keine weitere Vernehmung. Es kommen sogar ein paar andere Themen zur Sprache, bis schließlich alle über ihren Nachwuchs sprechen. Zumindest an unserem und den benachbarten Stehtischen ist niemand kinderlos. Außer Daniela und mir.

»Und wie sieht das bei euch aus?«, fragt Janina an Daniela und mich gerichtet.

Ein heikles Thema: Ich möchte sehr gern Kinder haben, Daniela meint aber, es wäre besser, wenn wir noch warten. Bis letztes Jahr hat sie an ihrem Doktortitel gearbeitet, und nun steht mein Referendariat bevor. Sie findet, es wäre besser, wenn erst einmal alles in trockenen Tüchern ist, was auch immer das heißen mag.

»Da ist noch nichts geplant«, klärt Daniela auf.

»Wie? Ich dachte, ihr seid schon seit über vier Jahren zusammen.« Janina ist verwundert. »Worauf wartet ihr denn? Auf die Rente?«

Tja, worauf warten wir eigentlich?

»Wenn du noch lange wartest, bist du zu alt«, mischt sich nun auch der Spannerzwerg ein. »Das ist ja jetzt schon fast eine Risikoschwangerschaft.«

Daniela und ich tauschen einen flüchtigen Blick.

Dann verlasse ich dieses Grüppchen, denn langsam wird es mir zu persönlich.

Drei Stehtische weiter gerate ich fast in einen handfesten Streit zwischen Patrick und Oliver, die beide in meinem Deutsch-Leistungskurs waren. Es geht um irgendwelche Videokassetten, die Oliver damals nicht zurückgegeben haben soll. Was für eine Rolle spielt das heute noch? Die Dinger kann doch niemand mehr abspielen. Oder hat der gute Patrick etwa immer noch einen VHS-Rekorder zu Hause? Wer weiß, vielleicht steht der ja zwischen seinem Transistorradio und einem Diaprojektor?

Am nächsten Tisch quatschen drei Typen miteinander, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann. Sie stehen mit dem Rücken zu mir und haben mich daher noch nicht gesehen.

»Habt ihr schon gehört, die Daniela ist jetzt mit dem Timo zusammen!«, sagt Unbekannter Nummer 1.

»Oh, Mann! Der Glückskeks! Die sieht ja immer noch sooo scharf aus!«, schwärmt Unbekannter Nummer 2 wie ein pubertierender Teenager.

»Ey!«, interveniert Nummer 1. »Ich denke, du bist verheiratet!«

»Joah, aber dennoch!«

Die drei lachen gemeinschaftlich.

Was für Flachmixer! Ich beschließe weiterzuziehen.

Flach|mix|erm.; Gen. –s; Pl. –; euphemistische Version der fast identisch klingenden Beleidigung, bei der lediglich ein Laut ausgetauscht wurde

Konnte man anfangs noch hier und da ein wenig Nervosität oder erste Berührungsängste feststellen, so verschwinden diese mit jedem Bier, jedem Glas Sekt und jedem Grappa. Das Zeug haben wir in der Zwölften in Italien getrunken, als wir auf Klassenfahrt waren. Heute soll es wohl so eine Art nostalgisches Grappa-Revival-Besäufnis geben, so wie sich alle diese Plörre rechts und links hinter die Binde gießen.

An gefühlt jedem Tisch hört man irgendwann ein: »Du hast dich gar nicht verändert!« Stimmt natürlich nicht. Alle haben sich verändert, finde ich. Die einen mehr, die anderen weniger. Die einen sehen wie eine fünfzehn Jahre ältere Version ihrer selbst aus, während andere sich so sehr verändert haben, dass ich sie auf den ersten Blick gar nicht wiedererkenne.

Leider höre ich Sascha Finkes Geplärre viel zu oft an irgendeinem Nebentisch. Ständig prahlt er, wie erfolgreich er doch ist. »Meine Apotheke in Köln-Ehrenfeld läuft ja schon super, aber ich mach weiter. Eine zweite Filiale, eine dritte, eine vierte und so weiter. Ihr werdet euch wundern, was ich noch alles erreichen werde.«

Ja, ich bin mir sicher, irgendwann werden sie ein Magengeschwür nach ihm benennen!

Es wird Zeit weiterzuziehen.

Am Tresen sehe ich Susanne Kleinmüller sitzen, der ich vor etlichen Jahren einmal beim Arbeitsamt begegnet bin, als ich gerade meinen Studenten-Strich-Neben-Strich-Hauptjob im Callcenter verloren hatte.

»Hey«, sage ich und setze mich auf den Hocker neben ihr.

»Selber hey«, grüßt sie zurück. In der Hand hält auch sie einen Grappa.

»Und? Schon bereut, heute hierher gekommen zu sein?«

Sie nickt.

»Jo.« Kann ich verstehen.

Nach ein paar weiteren Grappas, auch meinerseits, kommen wir ins Gespräch. Susanne hat nach dem Abi eine Ausbildung als Bürokauffrau gemacht. Als wir uns damals beim Arbeitsamt getroffen haben, war ihre Stelle gerade wegrationalisiert worden. Inzwischen arbeitet sie in einem Inkassobüro.

»Sieht so aus, als ob wir zwei heute die Schlusslichter im Karriere-Wettrennen sind, was?«, sage ich.

»Ja, das Gefühl habe ich auch.« Sie hält mir ihr Glas zum Anstoßen entgegen. »Auf die Schlusslichter!«

»Auf die Schlusslichter!«, wiederhole ich.

»Weißt du noch damals, als wir das Zeug ständig in Italien getrunken haben?«, fragt Susanne.

»Aber hallo! Die meisten hatten dermaßen die Lampen an, dass sie das Zeug nur noch Krappa genannt haben!«

Wir müssen beide lachen und stoßen erneut an. Und noch mal. Und noch mal.

Ich muss mich allerdings dringend mit dem Alkohol zurückhalten, denn morgen früh um acht Uhr findet das erste Treffen meines Studienseminars statt. Alle Referendare sollen sich bei einem illustren Wochenende ab Samstagmorgen in einer Jugendherberge besser kennenlernen. Ich weiß gar nicht, welches Wort ich da besonders betonen soll. Samstagmorgen, illuster oder Jugendherberge?

Na, jedenfalls wird das hier mein letzter Grappa sein. Ich will dort morgen nicht verkatert auftauchen!

2. Hasen, Hirsche und Haselnusstafeln

Am nächsten Morgen muss ich leider feststellen, dass die Grappa-Grippe doch vollends zugeschlagen hat.

Grap|pa-Grip|pef.; Gen. –; Pl. –n; starkes Unwohlsein, ausgelöst durch übermäßigen Konsum italienischen Tresterweinbrands; Synonym: Braunglas-Grippe

 

Die Tatsache, dass ich gerade einmal drei Stunden Schlaf abbekommen habe, ist ebenfalls nicht besonders hilfreich. Ebenso wenig, dass ich zudem eine geschlagene Stunde zu früh in der Jugendherberge ankomme, weil ich nicht wusste, wie lange ich hierher brauchen würde.

Newsflash: Samstagmorgens ist um sechs Uhr in der Früh kein Schwein auf den Straßen unterwegs, außer unschuldige Lehramtsanwärter, die verkatert den ersten Tag ihres Referendariats beginnen.

Immerhin hat Daniela mir über das Wochenende ihren Wagen geliehen, sodass ich nicht darauf angewiesen war, nachts um halb zwei eine Odyssee mit öffentlichen Verkehrsmitteln starten zu müssen.

Am Empfang der Jugendherberge teilt man mir mit, dass die Zimmer selbstverständlich noch nicht beziehbar seien (O-Ton: »Wir sind hier ja nicht im Hotel«), aber ich meine Tasche in einem Aufenthaltsraum abstellen könne. Zurück im Eingangsbereich, möchte ich mich gerade in einen der Sessel niederlassen, in der Hoffnung, doch noch zwanzig Minuten Schlaf zu erhaschen, als eine weitere Referendarin eintrudelt, ebenfalls viel zu früh. Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der sich mit der Fahrzeit verkalkuliert hat. Strammen Schrittes kommt sie mit ihrem Rollkoffer direkt auf mich zu, lächelt mich enthusiastisch an und streckt mir sodann ihre Hand entgegen.

»Guten Morgen, ich bin Zoe Laumann, und Sie sind bestimmt Herr Hase, nicht wahr? Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Ich schaue dieses viel zu gut gelaunte Geschöpf an und habe absolut keine Ahnung, was sie von mir will. Wieso sollte ich irgend so ein Heini mit lustigem Tiernamen sein? Wahrscheinlich ist das einfach nur ein schlecht erzählter Witz! So wie diese dämlichen Klopf-Klopf-Witze aus den USA. »Knock, knock!« – »Who’s there?« – »A little ole lady.« – »A little ole lady who?« – »Hey, you can yodel!«

Aber die Gute lächelt mich weiterhin wie in einer Perlweiß-Reklame an, während sie mir immer noch ihre Hand entgegenstreckt. Ach, was soll’s?, denke ich mir. Ich stimme einfach in den Scherz mit ein, schließlich möchte ich nicht von Beginn an als Spielverderber gelten.

Ihre Hand ergreifend, sage ich: »Nein, der bin ich nicht!«

Ich bin schon auf die Auflösung dieses Witzes gespannt, aber stattdessen sieht sie mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Oh, wie peinlich! Das tut mir aber leid. Da habe ich Sie wohl verwechselt. Sie sind Herr …?«

Sie sieht mich fragend an.

Gehört das jetzt immer noch zum Witz?

»Rausragend«, entgegne ich und bin selbst über meine geistreiche Antwort um diese Uhrzeit erstaunt.

Bierernst fährt sie fort: »Ach, entschuldigen Sie bitte Herr Rausragend. Da habe ich Sie wohl verwechselt. Ich dachte, Sie wären mein neuer Fachleiter für Deutsch.«

Ich fasse es nicht! Die übereifrige Zahnleiste hält mich für ihren Fachleiter. Und das vermutlich nur, weil ich ein paar Jahre mehr auf dem Buckel habe. Sehe ich etwa wirklich schon so alt aus? Ab Montag fange ich definitiv an, Danielas Faltencreme mitzubenutzen!

Genug mit der Scharade!

»Du brauchst mich nicht zu siezen, ich bin ebenfalls Referendar!«, kläre ich sie auf. »Hallo, ich bin Timo.«

»Auweia!«, nun entgleiten ihr restlos alle Gesichtszüge. »Oh, das ist mir aber peinlich. Entschuldige! Ich dachte nur, weil du schon so …«

Sie hält inne.

»… alt bist?«, ergänze ich.

»Nein! Oh, nein! Ich meine, ich, ähm, nein, ich …« Man kann förmlich sehen, wie sie am liebsten im Boden versinken würde.

»Ist schon gut«, sage ich und muss selbst lachen.

Das bricht zumindest ein wenig das Eis, sodass auch sie über ihren kleinen Fauxpas schmunzeln kann. Währenddessen betritt ein weiterer Referendar die Herberge, der ebenfalls nicht mehr ganz so jung zu sein scheint. Ich bin erleichtert! Er könnte sogar ein paar Jährchen älter sein als ich. Super, dann bin ich wenigstens nicht die einzige Mumie hier.

»Was für ein Glück!«, freut sich Miss Perlweiß, während sich der Neuzugang zu uns gesellt. »Ich dachte schon, ich wäre bereits jetzt ins erste Fettnäpfchen getreten, bevor das Referendariat überhaupt begonnen hat. Ich habe nämlich gehört, dass dieser Herr Hase super anspruchsvoll sein muss und Wert auf gepflegte Umgangsformen legt. Deshalb wollte ich direkt einen guten Eindruck hinterlassen. So ein bisschen Geschleime kann ja nie schaden, oder?«

Sie schaut uns beide an.

»Hallo«, begrüßt sie den Neuen. »Ich bin Zoe Laumann, und das hier ist Timo Rausragend.«

Ich muss grinsen. Entweder ist Zoe wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte oder sie ist einfach nur wahnsinnig nervös.

»Timo Seidel«, stelle ich mich ordnungsgemäß vor und gebe dem Neuen die Hand.

Noch während Zoe mich mit gerunzelter Stirn ansieht, stellt sich der Neuankömmling vor: »Olaf Hase.«

Zoe läuft unmittelbar rot an. »Ähm, Hase, ähm, wie in Deutsch-Fachleiter Hase?«

Er nickt, und für einen kurzen Moment befürchte ich, Zoe könnte sich übergeben. Aus den Augenwinkeln spähe ich schon nach dem nächstbesten Papierkorb, den ich ihr im Notfall reichen kann.

»Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Oh Gott, das ist mir so peinlich, also, ich wollte nur, ähm, ich wusste ja nicht, ich meine, ich dachte schon, Timo ist Sie, dabei ist er nur furchtbar alt, und ich wollte nicht wirklich schleimen, aber ich dachte, ich, ähm, ich wollte denselben Fehler nicht wieder machen und …«, Zoe hält kurz inne. »Am besten bin ich jetzt einfach still!«

Der Hase sieht uns beide misstrauisch an.

Schön, jetzt bin ich direkt mit in Ungnade gefallen, weil ich neben Miss Ungefiltert stehe. Ich überlege noch, ob ich einfach einen Schritt zur Seite machen soll, um quasi bereits durch meine Körpersprache zu symbolisieren, dass ich mich von Zoe-Schleimi-Laumann ganz offiziell distanziere. Aber, ganz ehrlich, ich finde das alles hier saukomisch und pruste stattdessen los.

»Jetzt entspann dich mal!«, versuche ich Zoe beizustehen, als ich mich wieder beruhigt habe. »Herr Hase hat sicherlich so viel Humor, dass er über diese Situation ebenfalls lachen kann.« Ich schaue ihn mit einem Nicht-wahr?-Blick an.

Der dreht sich allerdings nur um und geht zum Empfang.