Knicklichtgewitter - Tjorven Boderius - E-Book

Knicklichtgewitter E-Book

Tjorven Boderius

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Beschreibung

Komm mit auf Fahndungsreise! Das lyrische ICH nimmt dich mit durch Lebensturbulenzen mitten ins Knicklichtgewitter. Ein durchweg unkonventionelles Erzählpotpourri, gesüßt mit Lyrik und satirisch im Abgang.

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Seitenzahl: 97

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die Autorin ist wie ihr Werk selbst: oft chaotisch, bunt, verrückt, verplant, laut, kindisch, plappermaulig, kreativ, eigenwillig, geradeheraus - und manchmal ungebremst, spöttisch, vorlaut und frech. Die ungeschönte Wahrheit:

Sie ist alles und nichts davon.

Für Gott, die Welt und dich

Inhaltsverzeichnis

Ich

Kinderraugen

Aengste

Fraeulein Erdbeere

Mister Testosteron

Gendersternchen

Freundschaften

Knicklichtgwitter

Starallueren

Mister Right

Miss Right

Kollateralschaden

Fettnaepfchenmarathon

Goldener Schnitt

Ueberlebenstechnik

Grenzgaenge

Liebe

Gefuehlschaos

Schwmmuebungen

ICH

„Das bin ich und das ist okay."

Sharaktah, norddeutscher Nachwuchsrapper, Ich

ICH bin ICH, und DU bist DU.

DU kannst nicht wissen,

wie ICH bin,

weil ICH nicht wie DU bin -

und weil DU nicht wie ICH bist -, oder?

ICH bin für so manche Sau(f)erei zu haben, ICH bin reinlich - ach, was sage ICH da: ICH bin sauber! Manchmal bin ICH sauer, ab und an sind meine Sprüche versaut, oder nur eine meiner Klausuren. Mal bin ICH saustark, dann einfach „nur" saugut, nicht selten bin ICH von oben bis unten eingesaut - was für eine unverschämte Sauerei das ist, ist mir egal!

Aber die Schweinerei fängt erst richtig an:

Wenn ICH DU wäre und DU ICH, hätten wir dann Schwein? Was wäre, wenn ICH nicht schizophren, sondern zwei in eins wäre, hätte ICH dann doppelt Schwein?

Was wäre, wenn DU mich bei dir haben wollen würdest, wärst DU dann ein Schwein? Was ist, wenn ICH nicht mehr rausgehe, bin ICH dann ein Hausschwein? Wenn wir uns zusammentun würden, wären wir dann ein Mee(h)rschwein oder nur ein Doppelpack?

Was würdest DU sagen, wenn ICH nicht Neuer, sondern Schweinsteiger wäre? Was passiert, wenn ICH meinen inneren Schweinehund überwinde? Wärst DU dann ein Wildschwein?

Ach, komm schon! Sei kein Ferkel!

KINDERRAUGEN

„Status für eine technokratische Gesellschaft, die aufgehört hat, den Moment zu leben."

TB, 2014

Unsere Welt scheint durch die Augen eines Kindes weniger schadhaft und weniger verdorben. Was daran liegen kann, dass seine besten Freunde die eigenen Eltern sind und ihm noch niemand das Herz gebrochen hat. Sachverhalte erklären sich im Kinderkopf wie von selbst:

Wie alt ist der Onkel geworden? Alt, denn er fährt schon Auto und dazu braucht er eine Brille. Oma, du kannst kein Eis essen gehen, dann bekommst du noch einen ganz kalten Bauch.

Stolz wie Oskar werden Geburtstage gefeiert - und wenn der Geburtstag so ein schöner Tag ist, warum dann nicht öfter im Jahr und frei Schnauze, aus dem Bauch heraus Geburtstag feiern? Jedes Kind versucht, sich die Welt auf seine eigene Weise zu erklären.

Das Kinderauge beschaut die Zukunft als geheimnisvolles Abenteuer; erst mit dem Erwachsenwerden reift ein ungeahntes Fernweh in die entgegengesetzte Richtung heran. Weil das Kinderauge auf „halbem" Weg lernt, die Distanz zu messen. Als ICH anfange, mich nach beiden Seiten umzuschauen, wache ICH immer öfter mit einem Stein im Magen auf.

„Du hast Adleraugen", sagt Opa zu meinem kleinen ICH. Einen Sekundenbruchteil später muss mein älteres ICH eine Brille tragen. Denn die tollen Adleraugen, mit denen ICH Sachen beobachten kann, die andere übersehen, reden mir die Großen klein und kaputt.

Dabei brauche ICH den Blick in die Ferne nicht, wenn ICH kurzsichtig nach kleinen Raupen auf Blättern Ausschau halte oder auf Plattenfugen balanciere.

ICH spiele mit dem Osterhasen im Dickicht, flüstere meinem Reisigbesen Zaubersprüche zu, baue Luftschlösser, backe dem Nikolaus Plätzchen und stelle ihm ein Glas Milch raus, schreibe dem Weihnachtsmann einen ellenlangen Brief, der vielmehr eine Liste ist, und hoffe, er lässt seine Rute im Schlitten.

ICH veranstalte einen Staffeltriathlon aus ...

Gummistiefelweitwerfen,

Kirschkernweitspucken und

Pfützenspritzspringen.

ICH klaue dir deine Nase und behalte sie so lange, bis mein Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger schläfrig wird; dann färbe ICH meine Zunge mit Engelsblau, plakatiere meine Haut mit Klebebildchen - eins bunter als das andere. ICH schwimme wie ein Hund oder wie eine Meerjungfrau in deinem Pool, der für uns so groß wie das Meer scheint.

Dann esse ICH Gummibärchen, bis ICH ein Wackelpuddingbauchgefühl habe (ohne in Panik zu verfallen, ICH könnte dick werden!); höre die Sachen, die ICH nicht mit­bekommen soll, überhöre aber, was mich angeht; bin stolz wie Oskar, wenn ICH einmal länger als die Großen wach sein darf, gehe dann mit meinem Kuscheltier, meiner Schnuffeldecke und meiner Puppe auf Abenteuerreise oder einfach nur zum Kuscheln ins Bett.

Später bauen DU und ICH Höhlen, um in ihnen zu spielen, nur um danach nicht mehr zu wissen, ob der Spaß nicht hauptsächlich das Bauen an sich war.

Tags darauf hocke ICH mit klopfendem Herzen in meinem Versteck und merke, wie dringend ICH plötzlich aufs Klo müsste, albere mit meinen Geschwistern herum, bis wir uns vor Lachen über Nichtigkeiten nicht mehr einkriegen und unsere Eltern zornig werden.

Manchmal bekomme ICH Hausarrest, obwohl es die anderen waren, danach schieße ICH selbst übers Ziel hinaus.

In der Schule schreiben wir Geheimbotschaften mit Zitronensaft und Liebesbriefe mit Füller auf Papier, oder wir verschicken Postkarten, während wir vom Fund einer vergessenen Flaschenpost träumen. Unsere ganze Wahrheit liegt zwischen drei Kästchen: Wir wählen zwischen:

Ja

Nein

Vielleicht

Mir wird schwindelig vom Dauerschleife-Karussellfahren, vom Versuch radzuschlagen, vom Lesen während des Autofahrens; regelmäßig bekomme ICH einen ganz flauen Magen von Süßigkeitenbergen, eine schleimige Zunge von Schokoladenorgien, und ICH lasse trotzdem nicht lange die Finger davon.

Zu Fasching verkleide ICH mich ...

als Joker,

als Pippi Langstrumpf,

als Prinz(essin),

als Pirat(in)

und rotiere in meinem ganz eigenen Kosmos.

Eine Woche fühlt sich wie ein Monat

und ein Wochenende wie eine Woche an;

ICH kann stundenlang von meinen Abenteuern erzählen, ohne eine verfilzte Zunge oder Wortkargheit beklagen zu müssen.

ICH lüge das Blaue vom Himmel,

lüge, um die Not eines anderen zu schmälern,

die ICH vielleicht verursachen könnte;

ICH bekomme geschnitzte Apfelgesichter;

wundere mich über die faltige Haut meiner Oma;

an einem lauen Sommermorgen ziehe ICH früh los und sammle Grashüpfer, dann bestaune ICH mein Hüpferglas kurz und lasse sie einen nach dem anderen fortspringen. Nachmittags pflücke ICH frische Blätter für meine Schnecken, die ICH vor Mama aus dem Gemüsebeet gerettet habe;

bis ICH geschafft zum Wolkenbilderwettraten einlade oder einfach nur im Gras liege und die Schwalben im Anflug an ihre Nester beobachte; die Rufe ihrer Jungen sind Musik in meinen Ohren.

Im Hochsommer liege ICH mit Strohhut unter einem Sonnenschirm und brate in der Wärme, bis Eis und Getränke nicht mehr kühlen und ICH in der Mittagshitze ins Haus gerufen werde, wo ICH meine glühenden Wangen an die kalten Wände drücke.

Wenn es regnet, ziehen wir uns bis auf die Unterwäsche aus und versuchen mit der Zunge Regentropfen aufzufangen, bis wir gleichzeitig in einen ausgelassenen Regentanz einstimmen; auf deinem Dachboden graben wir zwischen vergilbten Blättern und Kisten in der Geschichte eines mehr als hundertjährigen Hauses. Eine von uns hat ihre Katze im Austausch für einen Blumenstrauß bekommen.

Ganz alleine halte ICH nach einem Regenbogen Ausschau, inhaliere den Duft der reingewaschenen Welt, genieße das Gefühl von lauwarmem Sommerregen auf meiner Haut und den Geruch von frisch gemähtem Gras in meiner Nase,

spiele Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht

oder schenke dir Glauben und esse Gänseblümchen, trotz meiner Angst vor Hundeurin, weil du sagst, dass das gesund ist;

zum Nachtisch sauge ICH süße Saftspritzer aus den Blütenkelchen einer Weißen Taubnessel.

Dann flehe ICH meine Eltern im Siebenschläfer-Takt an, mir ein Haustier zu schenken; übergangsweise bestatte ICH abgestürzte Hummeln, hege Schnecken und Grashüpfer, versuche verwaiste Vogeleier in meine Kleidung gewickelt auszubrüten, befreie Ameisen und suche mir so eigenständig ein Langzeitprojekt auf Probe.

ICH kann nicht genug bekommen vom Drachensteigenlassen im Herbstwind - und eh ICH mich versehe, hat mein Drache sich losgerissen und steckt in einem Baum fest.

Noch lieber lasse ICH Luftballons mit Botschaften in die Luft steigen, stelle mir vor, was sie dort oben für eine Aussicht geboten bekommen; habe zwar selbst noch nie eine Antwort erhalten, aber einmal nach Holland geschrieben.

An einigen Tagen werde ICH vom Ruf des Nachbarhahns geweckt, oder vom Schimpfen einer Drossel; in der Dämmerung rutscht mein Herz in die Hose, wenn eine Krähe durch den Himmel schneidet und plötzlich etwas aus dem Gebüsch huscht, fast so, als hätten sich die beiden abgepasst; ICH kann den Herzkloß erst wieder rausholen, wenn ICH anfange, über mich selbst zu lachen.

Dann schlafe ICH ein mit Geschichten meiner Eltern, die sie meinen jüngeren Geschwistern auf der anderen Seite der Zimmertür vorlesen.

Im Winter rodle ICH, presse mein Abbild in den Schnee und versuche vom frostigen Boden abzuheben; vergebens, aber ICH hinterlasse den Umriss einer Engelsfigur; dann bekomme ICH eine Gänsehaut von einem Schneeball, der meinen Rücken hinabschmilzt, stehe triefend in der Tür; überschwemme erst die Fußmatte mit dem Schneerest und lasse dann den Wasserspiegel des Fußbodens steigen; bade anschließend so lange mit Quietscheente und Geschwistern, bis meine Füße schrumpelig werden.

ICH gucke mir das Krabbenpulen auf dem ausladenden Tisch in der azurblauen Küche meiner Oma ab; ziehe mit einer Miniaturausgabe des Wanderstocks meines Opas auf große Reise (den Plattenweg runter und wieder rauf); inhaliere die Landluft, weil Güllegeruch gesund ist; falle vor Erschöpfung hundemüde, wunschlos und glücklich wie ein Stein in mein Bett.

Ab und an bilde ICH mir ein Gefühl ein, wenn die Sonnenstrahlen über meine Haut streifen.

Vor Geburtstagen und vor Weihnachten bekomme ICH kein Auge zu, trotzdem springe ICH am nächsten Tag fit wie ein Turnschuh aus dem Bett und nehme zwei Treppenstufen auf einmal.

Das Treppenpoltern freut mich,

weil es meine Eltern stört,

dass ICH die Treppe

- schnell wie der Wind - hinunterfege.

Aber ICH bin schon groß.

ICH wackle den ersten Zahn aus meiner Mundhöhle, zwinge ihn heraus, schmecke das rostige Blut, als ICH ihn auf meiner Hand trage und mich über die Lücke freue; danach purzeln die restlichen nach und nach hinterher, und ICH tausche meinen Schatz bei der Zahnfee ein, als würde ICH - die zahnlose Oma - Geld auf ein Konto einzahlen.

Nach einem markerschütternden Albtraum wandere ICH kurzerhand zu meinen Eltern und kauere mich in die Besucherritze.

Heimlich male ICH ein Wandporträt auf eine unbewachte Wand: ein wahres Meisterwerk, das meine Eltern nicht verstehen.

ICH springe Seil und besiegele meine Zukunft mit jedem sicheren Sprung; ICH muss mir keine Gedanken machen, ob ICH ...

alleine,

verheiratet oder

geschieden

sein werde;

im nächsten Moment meide ICH die aufgesprungenen Risse im Asphalt, weil sie sich wie die Fugen zwischen den Gehwegplatten unter meinen Füßen in tiefe Schluchten verwandeln, die mich zu verschlucken drohen.

Mit Kreide male ICH Straßen-, Spring- und Murmelspiele. ICH bleibe so lange draußen, bis es mich in meinem luftigen T-Shirt fröstelt und ICH Sehnsucht nach der warmen Stube bekomme.

Als jeder Tag eines dieser Gesichter haben konnte, war unsere kleine Welt einfach in Ordnung. Irgendwann kriecht dann ein Wort ins Leben, das das Kinderglück anknabbert, es zernagt: „peinlich".

Wir fangen an, uns für etwas zu schämen. Was den Kinderaugen gefallen hat, wird von den Heranwachsenden skeptisch beäugt; wo wir - Jungen wie Mädchen - vorher Kleinnagetiere oder Puppen in unseren bunt bemalten Kinderwagen durchs Dorf chauffiert haben, tuscheln wir nun hinter vorgehaltener Hand, verabreden uns fern aller Augen und verheimlichen kindliche Spiele aus Angst vor Ablehnung. Aber wer flüstert, der lügt.

Wenn dann auf das vorher immer belächelte „ICH bin doch aber schon groß" kein wissendes Lächeln, sondern Zustimmung folgt, muss eine neue Vokabel gelernt werden: „frühreif".

„Du bist jetzt groß" ist der Satz, mit dem das lange Begehrte in greifbare Nähe rückt und dabei nicht länger begehrenswert ist. Bin ICH so weit? Ist es nicht zu früh? Wollen mich meine Eltern verschaukeln?