Schulterblick - Tjorven Boderius - E-Book

Schulterblick E-Book

Tjorven Boderius

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Beschreibung

Aufgrund eines Herzfehlers braucht die sechzehnjährige Eske Hoffburg dringend ein Spenderherz. Sie stammt aus der einflussreichen und wohlhabenden Schicht Berlins. Ihre Eltern versuchen, Eskes Behandlung um alles in der Welt voranzutreiben. Im Gegensatz zu dieser oberflächlich heilen Familienwelt steht Jaqueline Pohl, die sich selbst Petty getauft hat. Sie schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben, indem sie ihre Sorgen in Alkohol und Drogen ertränkt. Bei einer illegalen Party wird sie von der Polizei aufgesammelt und mit Verdacht auf Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Die Welten der beiden Mädchen kollidieren zufällig in besagtem Berliner Krankenhaus und stellen beide Mädchen vor eine schwierige Entscheidung. Wird jedes Mädchen bekommen, was es verdient?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

Auflage März 2020

© Tjorven Boderius

Lektorat :

Alexandra Fauth-Nothdurft

Covergestaltung und Portraitfoto:

© wehrmeier-design.de

ISBN 978-3-347-02207-2 (Paperback)

ISBN 978-3-347-02208-9 (Hardcover)

ISBN 978-3-347-02209-6 (e-Book)

Für das Leben:

Für meine sechs Großeltern,

die mich alle auf ihre Weise geprägt haben und es immer noch tun.

Für Geschwister,

die nerviger nicht sein könnten, die den Stress perfektionieren und ohne die mein Leben stressfreier, aber auch farbloser wäre.

Für Eltern,

die ihr Äußerstes und Innerstes gegeben haben und sich immer noch an mir die Zähne ausbeißen.

Für Freundschaften,

die über Streit, Unterschiede und Distanzen erhaben sind.

Für Jo

Vorwort

Das Leben ist ein Spiel – für manche.

Das Leben ist kurz – für mich.

Ich bin sechzehn und ich werde sterben:

Das Leben ist kein Spiel.

1

Eske

Klack, klack, klack - klick,

bumm bumm, bumm, bumm – bummm - bum.

Bieep, bie - ep, bie – e – e – ep.

Ich öffne die Augen. Mit den Fingerkuppen fahre ich über die Schläuche. Zuerst über den Katheter, den sie mir am Arm gesetzt haben, dann über die dickeren, die unter mein Top führen. Resigniert lasse ich die Hände auf den Saum des Stoffes sinken. Auf der Höhe meiner Ohren brummt ein elektrischer Kasten, der meine Herzströme misst. Mittlerweile bin ich an sein eintöniges Piepen gewöhnt. Biep-Biep-Biep. Der Takt ist gleichmäßig, aber er fühlt sich ungewohnt an. Vielleicht sind es meine Gedanken, die das Brummen und die elektrischen Impulse schwer werden lassen. Mein Kopf schmerzt, als verursachen meine schnellen Gedanken dort eine Massenkarambolage. Ich lasse meinen Hinterkopf noch tiefer ins Kissen sinken, als könnte mich der weiße Stoff schlucken. Mir kommt der Gedanke an zu Hause, an ein richtiges Bett - ein Bett, das sich nicht hoch und runterfahren lässt. Eines, das den Krankenschwestern nicht entgegenkommt und mir nicht das Gefühl gibt, ich sei weniger formbar, weniger leblos als ein lächerliches Bett. In meine Nase steigt der muffige Geruch, der schon die ganze Zeit in der Luft liegt. Ein Geruch, der wohl zu jedem Krankenhaus gehört, mir aber erst jetzt auffällt, wo ich mir selbst überlassen und außer Reichweite von gut riechendem Krankenhauspersonal bin. Manchmal kommt mir der Gedanke, dass das eine Art Kompensation ist. Verhüllt in ihre weißen Kittel ist der individuelle Geruch das einzige, was die Kittelträger voneinander abhebt. Aber irgendwie tut mir die Mischung aus Parfum und Muff gut und ich sehne mich nach dem nächsten Mal, wenn die Tür aufschlägt. Für den Anflug einer Sekunde wäge ich ab, ob ich jemanden rufen soll. Dabei fällt mein Blick auf den kleinen Knopf, der neben mir auf der Matratze liegt - in greifbarer Nähe. Doch ich verwerfe den Gedanken. Es wäre gemein, die Krankenschwestern nur wegen ihres guten Geruchs zu missbrauchen. Vielleicht könnte ich sie auch bitten das Fenster zu öffnen? - Nein!, denke ich und presse die Lider aufeinander. Ich winde mich unter dem Schmerz in meiner Brust, wie der Aal im Fischernetz. Ein Brennen kriecht durch meine Herzkranzgefäße und flacht langsam ab. Zurück bleibt ein taubes Gefühl in meiner engen Brust. Oder ist das bloß mein Kopf der schwer wird? Allmählich kommt es mir vor, als sei ich alt. Wirklich alt. Zu alt, um zu leben. Und wenn ich nur zu alt für meinen Körper bin: Ich bin zu alt, um länger zu atmen, länger Schmerz zu empfinden - diesen Schmerz zu empfinden. Dabei bin ich erst sechzehn. Ich bin die jüngste in meinem Jahrgang, und trotzdem fühle ich mich, als hätte ich schon hundert Jahre in meinem Körper verbracht.

2

Petty

Mit den Augen fange ich die Lichtstrahlen ein, die sich in der rissigen Spiegeloberfläche brechen. Vereinzelt verzerren tiefe Furchen mein Spiegelbild. Ich fahre mir gähnend durch die filzigen Haare. Seit einem Jahr habe ich Dreadlocks. Die beste Erfindung der Menschheit! Immer noch gähnend mache ich den Wasserhahn an und halte meinen verfilzten Schopf unter den lauwarmen Strahl. Als ich das Shampoo in die nassen Strähnen reibe, versuche ich mich an die letzte Nacht zu erinnern, doch ich stoße nur auf Gedächtnisfetzen. Ein ironisches Lächeln ziert mein Gesicht. Mit den Händen stemme ich mich gegen das Waschbecken. Kalte Wassertropfen fallen auf mein T-Shirt. Mechanisch hebe ich den Kopf und blinzle mein Spiegelbild an. Fast berührt meine Stirn die gesprungene Oberfläche. Ich mustere mein eingefrorenes Lächeln, das sich mit meinen verschlafenen Augen beißt. Augen, die mit Glück erst morgen wieder wach sind. Diesen wunschlosen Zustand will ich haben, denke ich und mein Lächeln wird noch ein Stückchen größer. Ich fühle alles intensiver, während mein Kopf die unwichtigen und schmerzvollen Sachen ausblendet. Mittlerweile ist es für mich normal, dass ich benebelt bin. Ich liebe den Nachgeschmack von Alkohol und das Abschalten mehr als das eintönige Dasein, das ich bis vor ein paar Jahren gehabt habe. Er poltert gegen die Badezimmertür. Ich schaue auf und zwänge mich aus meiner nassen Kleidung. Zügig tausche ich das weite Schlafshirt gegen ein schwarzes Oberteil, das nach ihm riecht, und suche mir eine zerschlissene Jeans. Wieder peinigt er das Holz. Ich schweige und schließe den Hosenbund. Hastig wasche ich den Rest meines Gesichts, bevor ich meine Augen mit einem kräftigen Lidstrich versehe und die Locken über dem Abfluss auswringe. Wieder kontrolliere ich mein Spiegelbild auf der rissigen Oberfläche. Ich beobachte, wie sich meine Pupillen weiten und wieder zusammen ziehen. Es wird noch viele Momente geben, die ich durch diesen Schleier ziehen werde. Mein Leben liegt vor mir - ein Dasein voller Fehler, die auf mich warten; neben der Möglichkeit zu vergessen, was einmal war. Entschlossen stoße ich mich vom Waschbeckenrand ab und drücke die Türklinke herunter.

3

Eske

Ich stütze mich auf, krame den schimmernden Einband unter dem Bett hervor, den ich im letzten Winter auf dem Dachboden gefunden habe. In der Sonne glänzt er wie Samt, aber hier wirkt er spröde. Mit den Fingern fahre ich über das Plastik und spüre seine Kälte. Ich finde die Seiten und blättere in ihnen, bis ich auf die Liste stoße. Eine belanglose Aufreihung, die mich die Augen verdrehen lässt. Die Türklinge wird heruntergedrückt. Überrumpelt zucke ich zusammen und schiebe das Buch unter das klebrige Kopfkissen. Die Luft ist schwül, mein Kopf schwer. Das Einzige, das den Raum ausfüllt ist mein röchelndes Atmen.

Jemand öffnet die Tür. Zögernd und schleppend – fragend? Mein Herz schlägt wie verrückt, ein ungleichmäßiges Piepen begleitet den Schmerz in meiner Brust. Zitternd versuche ich es zu beruhigen - mich zu beruhigen, doch ich freue mich zu sehr. Als erstes sehe ich den Schopf meiner Mutter, ihre dunkle Mähne aus dicken Haaren, die sie zu einem spartanischen Zopf geflochten hat. Sie scheint auf ihm geschlafen zu haben, was ihr nicht ähnlich sieht. Trotzdem schenkt sie mir ein Lächeln. Auch wenn ihre Augen ihren Kummer nicht verbergen können, klingt meine Freude nicht ab. Meine Arme finden ihre und meine Nase taucht in den Duft ihres Parfums, das mich immer an sie erinnern wird. Eine blumige Note, die aus mir wieder ihr kleines Mädchen macht. In ihrer Gegenwart fange ich an zu schluchzen - jämmerlich, wie jenes Baby, nicht wie eine Sechzehnjährige. Und doch ist es viel zu lange her, dass ich im Arm meiner Mutter lag. Meinen Kopf an ihre Schulter schmiegen zu können tut so gut, dass der Schmerz mich für einen Moment loslässt. Ich habe sie vermisst; ihr Lächeln, ihre Augen und ihre reservierte Art. Doch sie hat sich verändert: Ihre Wangen sind ein gesunken und es scheint, als wären ihre Augenringe eingraviert. Ihr Lächeln wirkt entschuldigend - fast flehend, nicht mehr losgelöst oder frei. Ich schlucke. Sie löst sich aus der Umarmung, lächelt mich aber weiter an. Sind ihre Augen trüber geworden? Oder bilde ich mir den milchigen Film auf ihrer Iris nur ein?

„Alles wird gut.“ Es klingt wie eine Frage. Die Stimme meiner Mutter wird zum Ende hin verdächtig dünn und bricht. Mehr als ein Nicken schaffe ich nicht. Sie, meine Mutter, die knallharte Geschäftsfrau, ist aufgelöst. Kein Wunder, ihre einzige Tochter liegt im Sterben. Ich will nach meinem Vater fragen, aber ich bringe nicht den Mut auf. Nun schaut sie mich an. Wieder schenkt sie mir diesen liebkosenden Blick, der mich verwirrt, der all die Jahre gefehlt hat, den ich mir gewünscht habe. Nun ist er da. Zum Greifen nah. Ich müsste nur die Hand ausstrecken und könnte die Fältchen um ihren Mund anfassen - doch ich wage es nicht, aus Angst sie könnten verschwinden.

„Die Kur wirst du nachholen, das ist schon alles mit der Schule geklärt“, beginnt sie und verwandelt sich augenblicklich wieder ein Stück zurück. Sie zerrt die Muttergestalt fort und sperrt sie weg. Ich weiß nicht wohin und wie ich sie zurückholen kann. Ehe ich mich versehe, habe ich sie wieder, die Frau, die sich hinter den Zahlen und Formalitäten versteckt: Ehefrau – Hausfrau – Managerin - Mutter. Ihre Gedanken kreisen um die Kur, die ich abbrechen musste, um die versäumten Schultage, die Kosten des Krankenhausaufenthaltes und um die Reha. Akribisch beschäftigt sie sich mit diesen Nebensachen, als könnte sie mit Gewissheit sagen, dass ich es schaffe, dass wirklich alles gut werden wird. Ein Ammenmärchen, das ich aufgehört habe zu glauben, als ich im Gymnasium das erste Mal bewusstlos vom Stuhl gekippt bin und die Rennerei von Arzt zu Arzt anfing. Als meine Gesundheit, die ich immer wieder unvernünftig auf die Probe gestellt habe, plötzlich nicht mehr selbstverständlich war. Ich beiße mir auf die Lippe und schaue ihr in die Augen: Leuchtendes Blau, das sich wie ein diffuser Schleier um ihre Iris legt.

„Wer weiß denn schon…“, fange ich an und höre wie meine Stimme bricht.

„Wer weiß was?!“ Schon an der Art wie sie meine Worte aufgreift, merke ich, wie verzweifelt sie ist. Ich schweige. Ich möchte sie nicht weinen sehen. Denn ich hasse es, wenn Menschen, zu denen ich aufschaue, die gewohnte Härte ausstrahlen, nachgeben – weich werden. Obwohl es diesen Menschen genauso zu steht wie einer Sechzehnjährigen, komme ich damit nicht klar. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube aus dem Hinterhalt, der mir die ernste Situation in den Schädel hämmert. Bevor die erste Träne sich wie eine Perle in Mutters Wimpern sammelt, zu groß für ihre Augen wird und ihr von der Wange rinnt, presse ich die Lider zusammen und stöhne. Vor Schmerz, vor Zittern und vor Ausweglosigkeit. Wie kann ich davor wegrennen? Die Antwort ist so beklemmend, dass ich sie runterschlucke und schwöre, sie in mir zu begraben. Ich hasse es ausgeliefert zu sein, doch wegrennen kann ich nicht mehr – und meine Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen wird immer schwieriger.

4

Petty

Ich stehe vor ihm. Meine Augen erfassen seine. Für einen Moment überlege ich, mich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihm einen Kuss auf die aufgesprungenen Lippen zu drücken, während ich mit den Händen durch seine bronze- farbenen Haare fahre. Stattdessen drücke ich ihn beiseite. Irritiert verzieht er das Gesicht. Er macht einen Satz und schiebt seinen freien Oberkörper inklusive Angeber-Sixpack zur Seite, sodass ich „freie Bahn“ habe. Scheiße!, denke ich und drücke die Fingerkuppen in die Mulde oberhalb meiner Nasenwurzel - als könnte dieser einzelne Punkt meinen Körper zusammenhalten. Was mein Gegenüber von mir denkt, ist mir egal. Ohne mich nach ihm umzusehen, stakse ich ins Wohnzimmer. Wie von selbst fangen meine Hände neben dem ranzigen Sofa, das den halben Raum einnimmt, an zu packen. In der einen Hand halte ich meinen Leinenrucksack, in den ich immer hektischer stopfe, was ich mir zu ordne: Alte Kleidung, mein Handy, das über das ganze Display einen klaffenden Sprung hat, aber noch funktioniert, ein bisschen Schmuck, ein Handtuch, …

„Wo bist du gewesen?“, höre ich ihn grummeln. Er lehnt im Türrahmen und kaut auf einem Pizzastück herum. Dabei begafft er mich, als sei ich sein Vieh. Ich sehe nicht auf, nur einmal, um mir eine Rasterlocke hinters Ohr zu klemmen und mich dann aufs Sofa fallen zu lassen. Flüchtig erhasche ich einen Blick auf den Jungen, den ich schon lange nicht mehr wiedererkenne. Eine muskulöse Gestalt. Tattoos ziehen sich von den Schultern bis in den rechten Arm und schenken ihm eine schwarz-marmorierte zweite Haut … Das Engelsblau seiner Augen ist so klar, dass es sticht. Mein Blick verfängt sich in den rauen Stoppeln seines Kinns. Irgendwo zwischen Lippe und Kinnkerbe. Wieder überlege ich aufzustehen und ihm um den Hals zu fallen, um vielleicht nach zehn Minuten noch einmal neben ihm zu liegen - mit einem Lächeln auf den Lippen, das stark genug ist, den Schmerz für einen weiteren Moment im Keim zu ersticken. Doch ich brauche nur eine weitere Minute, brauche meinen Blick nur eine Sekunde zu lang auf ihn zu legen, um diese Gedanken zu ersticken. Seine Augen bergen kein Geheimnis, für das es sich lohnt, noch länger in seiner Gegenwart zu bleiben; die gleiche Luft wie er zu atmen. Sein Blick verfängt sich in meinem, durchbohrt mich, bevor mein menschlicher Fixpunkt sich vom Türrahmen losmacht und zu mir ans Sofa tritt. Er scheint das gleiche gedacht zu haben. Bevor ich etwas dagegen tun kann, hat er mich hochgezogen. Fest umklammert er meine Taille und verankert seine Arme in meinem Rücken zu einem starken Ring. Ich schlucke schwer. Sein Aftershave umhüllt meine Nase. Gleichzeitig setzt sich der typische Männergeruch, davon ab und zieht mich in seinen Bann.

„Ich hab dich vermisst.“ Sein Atem kitzelt mich am Hals. Mit seinen rauen Lippen liebkost er meine Schläfe, während er mit seinem knochigen Daumen mein Schlüsselbein nachzeichnet. Auch, wenn ich weiß, dass unser Zusammensein flüchtig ist, lasse ich es geschehen. Ich lasse mich von seinen starken Armen in den herben Geruch betten und spüre, wie er meinen Körper hochhievt, als seien es keine fünfzig Kilo. Ich erwidere seine Küsse und genieße den Moment des Handelns ohne Nachzudenken.

Als ich die Augen wieder öffne, liegt er neben mir. Träge rolle ich mich auf die Seite und mustere sein Gesicht, das in dem durchwühlten schwitzigen Kissen ruht - er sieht aus wie ein unschuldiger Junge. Doch der Schein trügt. Er braucht die Augen nicht zu öffnen, um preiszugeben, was unter den geschlossenen Lidern schlummert: eine gefährliche Mischung aus Lügen und Betrug. Natürlich kann ich über die Tatsache mit seinem Nebenverdienst hinwegsehen - das Strippen und Dealen ist das Fundament, mit dem er mich ernährt. Er, der sich wie ein Vater aufspielt und nicht wie mein Freund, den ich begehren will, aber nicht immer kann. Wieder macht sich ein flaues Gefühl in meinem Magen breit. Meine wilden Gedanken sorgen dafür, dass die schneidende Eifersucht aus meinem tiefsten Inneren meine Kehle hochkriecht und sie wund reißt. Ich weiß, dass er mir nicht gehört und das macht mich verrückt. Die Wahrheit ist, dass er mich belügt und betrügt und es wieder tun wird. So bin ich es eigentlich, die ihn vermisst – und er ist nicht mehr als ein dreckiger Heuchler. Meine Rastalocken versperren mir die Sicht, als ich wieder in meine zerknüllten Klamotten schlüpfe, die ich mir vom Boden zusammenfische. Wieder rolle ich mich aufs Bett und starre ausdruckslos an die Decke, bevor ich mich noch einmal zu ihm drehe. Jetzt kann ich mich nicht beherrschen, ihm eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Er blinzelt. Ruckartig ziehe ich die Finger zurück. Joshua ist schneller und packt mein Handgelenk. Sanft legt er meine Hand in seine und verschränkt seine großen Finger in meinen, sodass seine Fingerkuppen auf meinem Handrücken liegen. Ich blinzele.

„Wo bist du gewesen?“, fragt er mich wieder, gähnend. Ich sehe ihn schweigend an und zucke automatisch mit den Schultern, weil ich ihm nicht gestehen will, dass auch ich meine Freiheit genossen habe. Mit Alkohol und meinen Freunden habe ich mich an ihm gerächt. Nur, weil ich ihm verfallen bin und er mich immer noch für das kleine Mädchen hält, das ich schon lange nicht mehr bin, heißt das nicht, dass er - nur er - das Recht hat, mich zu hintergehen. Dass das nicht auch anders herum gilt. Nein, auch dieses kleine Mädchen gehört nicht nur ihm allein! Denn es kann sich seinen „Besitzer“ genauso aussuchen, wie er sich seine „Kontakte“. Der Grund warum ich schweige und er mich trotzend ansieht ist, dass ich Angst vor seiner Reaktion habe, wenn er das rausbekommt. Ich habe Angst, dass er sich von mir abwendet. Weil ich ihn brauche. Ja, ich bin auf ihn angewiesen, nicht nur, dass ich hier unterkommen kann, sondern auch, weil er mir Essen, Wasser und Schlafplatz nicht direkt in Rechnung stellt. Also sollte ich über seine Liebe, zumindest den Anteil, der mir gebührt, dankbar sein und meine Zunge hüten.

„Hier und da“, sage ich und schließe die Augen.

„Hmm“, meint er, dann sieht er an mir herab, forschend und neugierig, „Verlässt du mich schon wieder? Wo willst du hin?" Immer das Gleiche!, schreit eine Stimme in mir. Ich ziehe meine Hand aus seiner, lege sie eng an meinen Körper und wuchte meinen Oberkörper von der durchgelegenen Matratze hoch. Wieder verspüre ich diese Enge, die ich hasse. Eine Enge, wie sie Regeln vorschreiben, oder feste Tagesabläufe und die Bevormundung von Eltern. Was denkt sich Joshua, wer er ist? Ich spüre wie Zorn mein Gesicht versteinert. Ich verziehe meinen Mund zu einer hässlichen Fratze.

Wieso tut er das? Kann er mich nicht begehren, wie jede andere – ohne, dass er meint mich zu besitzen?

„Sei doch nicht so“, kommt es rechts von mir. Ich drehe mich nicht um. Keine Regung in mir - kein Antrieb. Plötzlich ergreift er meine Hand und verringert damit den Platz zwischen uns, lässt es in mir noch enger werden - zu eng um eine Explosion zu vermeiden.

„Du bist so ein verlogener Dreckskerl!“ Meine Stimme bebt und ich kralle die Hände in die Bettdecke.

„Petty“, seine Stimme ist ruhig. Zu väterlich, um mich beruhigen zu können.

„Nichts Petty!“ Ich schleudere den Kopf herum. Gleich darauf finde ich den Boden unter meinen Füßen wieder und stehe neben dem Bett - außer Reichweite seiner widerlich sorgsamen Hände. „Ich dachte du liebst mich, verdammt! Aber nein, du bist es, der mich verlässt und hintergeht!“ Mit diesen Worten kehre ich ihm den Rücken. Es ist mir egal was er macht, ob er mir folgt oder liegen bleibt. So ist er nun mal. Manchmal schnallt er nichts und manchmal mehr, als mir lieb ist. Als ich wieder im Wohnzimmer stehe und meinen Rucksack schultere, fühle ich mich, als sei ich gegen eine Wand gelaufen, oder gegen ein hartes Brett, das mir meinen Schädel zertrümmert hat. Gleichzeitig fühlt es sich an, als verschwimmt mein Magen zu einem labbrigen Monster, das sich leblos und schleimig in den Rest meines Körpers frisst. Ich habe Hunger. Trotzdem kann ich nicht in die Küche gehen, denn Josh steht in der Küchentür und sieht mich verschlafen an. Er trägt seine Boxershorts, die unterhalb seiner wohlgeformten Hüften ansetzt und lädt ein, sich wieder fallen zu lassen, doch so primitiv bin ich nicht. Außerdem ist das Gefühl der Wut berauschender als jede Droge. In ihr fühle ich mich mächtig und nicht länger schwach und lachhaft. Sich gegen ihn aufzulehnen befriedigt mich mehr, als er es je könnte. Entschlossen gehe ich auf die Tür zu. Wie erwartet greift er nach mir. Ich werde zu einer Statue, die sich in seinen Armen schwer anfühlt. Das alles, seine Nähe, seinen Blick, kann ich nicht länger ab. Nun schaue ich ihn an. „Lass mich los!“, schreie ich.

„Muss das denn schon wieder sein?“, fragt er verschlafen - genervt - weil ich anders reagiere, als erhofft.

„Was bildest du dir eigentlich ein!? Ich bin nicht dein Eigentum!“, schreie ich ihn an und stoße die Hände gegen seine Brust.

„Das ist lächerlich Pet, du kommst sowieso zurück.“ Seine Stimme ist nicht wirklich laut, aber eindringlicher, als meine, die wie eine hitzige Wolke durch die Wohnung weht.

„Ach ja, wer sagt das!?“, ich kann nicht aufhören zu schreien. Irgendwie schaffe ich es, mich von ihm loszureißen und in den Flur zu stampfen. Joshua taumelt hinter mir her. Dass er sich meiner so sicher ist, macht die Situation nicht wirklich besser und gibt meiner Wut Feuer.

„Es ist dieses Mädchen von neulich,

stimmt’s?“, frage ich verbittert und schlage mir gegen den Kopf. Natürlich war es diese blonde Schönheit! Diese Bordsteinschwalbe, die halbnackt neben ihm lag, sich auf meinem Platz räkelte und die er wie selbstverständlich neben mir frühstücken ließ. Jetzt reiße ich doch den Kühlschrank der muffigen Küche auf und stöbere nach etwas Essbarem. Das Einzige, was ich finde sind eine Cola und ein gammliger Käse, den ich links liegen lasse. Eine Lebensmittelvergiftung ist mir dieser Streit nicht wert.

„Junggesellenbude“ hat er gesagt und das Blondchen, ungefähr in seinem Alter, hat gelacht. Vermutlich verkauft er mich in solchen Situationen als seine Schwester. Das versetzt mir nicht nur einen Stich, es reißt ein riesiges Stück aus mir. Das Stück, das man Herz nennt. Dieses dämliche Organ, das glaubt, ihm verfallen zu sein und das ich jeden Moment, den ich in seiner Gegenwart verbringe, verschwende.