Knitterschlag - Hans-Martin Koopmann - E-Book

Knitterschlag E-Book

Hans-Martin Koopmann

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KNITTERSCHLAG JETZT NEU AUF DER VORSCHLAGSLISTE  "Buchpreis HamburgLesen 2024". Hamburg 2003. Jahrhundertsommer. Auch in den Nächten flirrende Hitze. Junganwalt Reindert wird in eine vergessene Villa im gutbürgerlichen Marienthal gerufen. Leicht verdientes Geld, denkt er sich. Aber was ist sein Auftrag? Die Umstände überfordern ihn. Zudem macht er Fehler und die Situation eskaliert. Er zieht sich zurück, leckt seine Wunden. Doch sind die Dinge um ihn herum längst in Bewegung geraten. Der Weg zurück, abgeschnitten. Am Ende bleibt die Einsamkeit nächtlicher Landstraßen, Einsamkeit der Singlewohnungen und Kasernenstuben. Einsamkeit der Verlassenen. Einsamkeit der Überlebenden. Einsamkeit der Träume. Mit voller Wucht erzählt Knitterschlag von Gewalt und Verlust, aber auch von Freundschaft und Liebe.

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hans-Martin Koopmann

KNITTERSCHLAG

ROMAN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2023 Hans-Martin KoopmannAlle Rechte vorbehalten.

Umschlag- und Layoutdesign: www.4h-digital.de

Kontakt:Hans-Martin Koopmann c/o 4H DIGITALLars HützFischerstr. 49, 40477 Dü[email protected]

Meinen Hamburger Freunden

1

Wollen Sie den Anspruch nicht doch lieber anerkennen, Herr Rechtsanwalt?

Der Richter sah Reindert mit ernster Verbindlichkeit an.

Reindert hatte den Blick gesenkt, auf den graumelierten Linoleumboden des Saales.

Sekunden vergingen.

Herr Boersma! kam es nun wie ein Weckruf von vorn. Er hatte den Namen richtig ausgesprochen: Buhrsma, wie mit U.

Selbstverständlich können wir die Sache auch streitig entscheiden, Herr Vorsitzender.

Das war gegenüber, Dr. Roman Seltzer von der internationalen Anwaltsfirma Himmelreich & Young.

Der Richter überging die Bemerkung.

Weitere Sekunden.

Dann erkenne ich eben an, sagte Reindert.

Der Richter griff zu seinem Diktiergerät.

Die Sach- und Rechtslage wird erörtert.

Kurze Pause.

Er sah nun auf Dr. Seltzer.

Klägervertreter erklärt: Ich stelle den Antrag aus der Klagschrift vom 10. März 2003.

Dr. Seltzer nickte.

Dann blickte er Reindert an.

Beklagtenvertreter erklärt: Ich erkenne den Klaganspruch an.

Reindert nickte, ohne den Blick zu heben.

Nun lehnte sich der Richter ein wenig zurück, als wolle der den ganzen Saal in den Blick nehmen.

Dann ergeht im Namen des Volkes folgendes Anerkenntnisurteil: Arabisch erstens, der Beklagte wird entsprechend seines Anerkenntnisses verurteilt, an die Klägerin Euro dreihundertneun zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe einer Digitalkamera Kyocera Finecam SL 400R. Arabisch zwotens, der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. Drittens, das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Man erhob sich, verpackte die Roben, grüßte und ging.

Wieder nichts. Wieder kein Honorar. Im Augenblick lief es einfach nicht so gut.

Der Parkplatz des Amtsgerichts Norderstedt. Reindert ließ sich auf den Fahrersitz seines Altwagens hinabsinken und zog die Türe ins Schloss. Vorglühen. Abwarten. Nochmals vorglühen. Jetzt zünden.

Der Anlasser stimmt sein Klagelied an. Dreht einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal, siebenmal. Nichts. Zwischen den Zweigen des hinter ihm liegenden Gebüschs steigt bläulich-gelber Dampf auf. Gut, dass er rückwärts eingeparkt hat. Achtmal, neunmal. Endlich beißt der alte Diesel an und das Auspuffgas verfärbt sich schwarz. Mit dem rechten Fuß versucht Reindert, ihn am Leben zu halten, dass er bloß nicht wieder ausgeht. Gleichzeitig rasch mit der linken Hand durch das Lenkrad gegriffen und den Leerlauf hoch geregelt.

Jetzt läuft er!

In diesem Augenblick rauscht sein Gegner von eben offen und auspufftrompetend heran. Er verlangsamt seine Fahrt, ein Blick - ich habe Sie erkannt, Herr Kollege. Er grinst sein jugendliches Siegergrinsen, dann kommt die Hand, kommt der Daumen nach oben.

Reindert. Matt nickte er zurück und erhob andeutungsweise seine Rechte zum Gruß. Doch schon war der andere fort, aus dem Blickfeld entschwunden und er wieder allein auf dem Parkplatz.

Guter Mann, dieser Dr. Seltzer, sagte er für sich.

2

Ja, den Prozess haben wir verloren, da war leider nichts zu machen. Wie bitte? Ja, die Kamera müssen Sie nun doch noch kaufen. Und die Prozesskosten? Ja, die bleiben auch bei Ihnen, da kommt ganz schön was zusammen. Nein, nein, mein Honorar brauchen Sie nicht zu bezahlen, das war ja so vereinbart. Wie? Ob ich die Kamera nicht übernehmen will, für die Hälfte? Was soll ich denn damit? Na schön, dann überweisen Sie mir die hundertfünfundsechzig Euro und ich regle den Rest für Sie. Nichts zu danken. Auf Wiederhören.

So kam der Rechtsanwalt Reindert Reemt Boersma aus Hamburg-Hamm zu einer Digitalkamera.

Hamm. Es gab so viele Orte auf der Welt, die Hamm hießen. Sogar in der Antarktis fand sich seiner, Hamm Peak im Prinzessin-Elisabeth-Land. Hier war es der Hammer Steindamm in Hamburg-Hamm. Hinter einem alten Schaufenster unterhielt Reindert seine Wohnkanzlei, also vorne, vor den Augen aller, die Kanzlei, dahinter das Wohnen. Von seinem Schreibtisch aus richtete sich der Blick des Junganwalts auf Bürgersteig und Straße, da potentielle Kundschaft ging oder fuhr, meist jedoch vorüber und vorbei, ohne von jenem und dessen Geschäft überhaupt Notiz genommen zu haben. Oft betrachtete er deswegen seinen mimosengelben Altwagen, der dort stand, wenn der Parkplatz frei gewesen war, und an dem die unermüdlichen nordafrikanischen Autohändler auf ihren nächtlichen Streifzügen immer wieder ihre Visitenkarten befestigten.

Durch die offene Tür der gleich nebenan gelegenen Musikschule, die, spiegelsymmetrisch und ebenfalls hinter einem alten Schaufenster, nur durch den rückspringenden Eingangsbereich von seiner Kanzlei getrennt war, drang der scharfe Klang einer Hohner Corona an sein Ohr. Peter hatte gerade keinen Schüler und brachte sich das Instrument in den Pausen selbst bei. Er machte rasche Fortschritte, wie Reindert feststellte. Peter war die Sache mit großem Eifer angegangen und kaufte über Ebay laufend Coronas aus aller Welt. Sagte ihm eine davon zu, schickte er sie zur Aufarbeitung an einen Instrumentenbauer, der sie zerlegte, reinigte und neu justierte. Die anderen versteigerte er wieder. Manchmal schaute Peter vorbei mit drei oder vier dieser kleinen Quetschkommoden umgehängt oder eingeklemmt. Welche klingt am besten? hieß es dann, und er spielte dasselbe Stück mindestens zweimal pro Instrument. Natürlich klangen alle ähnlich, und doch gab es Unterschiede in Nuancen, die auch Reindert hörte. Im Urteil über das beste Instrument gingen die beiden oft konform, so dass Peter nach einer Weile, das heißt, wenn sein nächster Schüler kam, zufrieden wieder verschwand. Reindert musste sich verbessern: Peter war in kürzester Zeit ein Meister der Handharmonika geworden.

Die Eingangstür riss ihn aus seinen Gedanken. Kundschaft? Reindert nahm unwillkürlich Haltung an.

Es war Frau Globing, seine Vermieterin.

Guten Tag Herr Börsma! rief Sie, seinen Namen unbeirrt falsch aussprechend.

Da sind Sie ja wieder.

Reindert legte den Kopf schief und sah seine Vermieterin an.

Ich war bei Gericht in Norderstedt.

Na denn hoffe ich mal stark, dass Sie gewonnen haben.

Ihre Stimme war zwar völlig anteilslos, doch klangen darin zu gleichen Teilen kenntnisreicher Hohn und eine gewisse Sorge um die monatliche Mietzahlung an. Dafür, dass diese moderat ausfiel, schätzte Reindert Frau Globing. Im Übrigen mochte er sie nicht, versuchte aber, diesen Umstand so gut es ging vor ihr zu verbergen.

Jedenfalls war heute Morgen jemand für Sie da, eine Dame. Hat eine ganze Weile auf Sie gewartet, dann ist Sie wieder gegangen.

Frau Globing reichte Reindert eine Visitenkarte. Pflegedienst Feinholz, Frau Diane Sand.

Sie mögen die Dame bitte anrufen.

Danke, sagte er freundlich, und sie, mit unverändert anteilsloser Stimme:

Na hoffentlich wird‘s diesmal was.

Es entstand ein merkwürdiges Intervall der Stille. Er sah sie an: nicht dick, nicht dünn, nicht alt, nicht jung, nicht geschminkt, aber auch nicht ungepflegt. Grußlos wandte sie sich zum Gehen, was Reindert aber einstweilen nicht aus seinen Gedanken riss, so dass sie ihren Weg zur Türe machen konnte. Dann hatte er sich gefasst.

Tschüs Frau Globing,rief er ihr nach, da machte sie auf der Schwelle Halt, als sei ihr noch etwas eingefallen.

Ach übrigens, die Nachbarn haben sich bei mir beschwert, über Ihre alte Kiste, die würde in letzter Zeit besonders stinken. Das geht nicht so weiter, da müssen Sie was machen.

Und entschwand vollends.

3

Reindert wählte die Nummer.

Pflegedienst Feinholz, Sie sprechen mit Frau Petric.

Reindert verlangte Frau Sand und wurde auf deren Mobiltelefon durchgestellt.

Eine Klientin, Frau Frundsberg, hat mich gebeten, Sie zu kontaktieren. Worum es geht, weiß ich auch nicht. Frau Frundsberg ist pflegebedürftig und bettlägerig. Am besten kommen Sie in einer meiner Schichten. Nein, heute nicht mehr. Morgen Nachmittag wäre gut, so gegen sechszehn Uhr.

Sie nannte eine Adresse in der Bärenallee. Man verblieb.

Reindert ging in den hinter seinem Büro liegenden Wohnraum und sah in den Spiegel. So konnte er nicht bleiben, stellte er fest und machte kurzfristig einen Termin bei einem Friseur in der Stadt.

Die Dame vom Empfang - wohl eine ältere Friseurin, die Inhaberin vielleicht - fragte ihn nach seinem Namen, der dann in einem großformatigen Buch mit Lineal ausgestrichen wurde. Dann geleitete sie ihn zu einem Friseursessel. Sie winkte ein junges Mädchen herbei. Dies sei nun Mandy, sagte sie, die ihm vorab die Haare waschen würde.

Mandy trug ihr kurzes Haar wasserstoffblond. Sie erweckte nicht den Anschein, als erwartete sie, im Friseurhandwerk ihren Traumberuf zu finden. Dazu stak an ihrem Kittel auch noch eine Plakette mit der Aufschrift Ich lerne noch, die sie vor den Augen aller an das Ende der vor Ort anzutreffenden Hierarchie platzierte.

Entsprechend fiel die Kopfmassage, auf die Reindert sich gefreut hatte, enttäuschend aus, da es dem Mädchen an der hierfür erforderlichen Handkraft und Fingerfertigkeit fehlte. Auch trug es zur Schonung der Haut vor Austrocknung Latexhandschuhe. Dafür hatte Reindert natürlich Verständnis und er ließ sich nichts anmerken. Als sie fertig war, ließ sie ihn wortlos mit einem turbanartig um den Kopf gewickelten Handtuch auf seinem Sessel zurück, gerade so, als wolle sie ihm damit zeigen, dass es in diesem Salon sehr wohl noch eine tiefere Hierarchieebene gab als die ihre, die der Kunden nämlich.

Nach kurzer Zeit öffnete sich eine versteckte Spiegeltür in der Wand und seine Friseurin trat heraus. Reindert sah sie, wiederum im Spiegel. Sie hatte in ihrer Abseite geraucht, und das Aroma der Zigarette, oder auch das ihres letzten Zuges daran, schien nun aus den Poren ihrer Haut zu strömen. Reindert versuchte, beim Einatmen zu verweilen, ließ die Luft langsamer in seine Lungen strömen. Aber der Augenblick war schon vorbei.

Mein Name ist Anna, sagte sie sehr nüchtern, aber nicht unfreundlich. Sie trug ihren Kittel offen über einem steingrauen T-Shirt, dazu blaue Jeans und dunkelbraune Birkenstocks ohne Socken. Auffällig war, dass ihre gesamte Kleidung neu zu sein schien, gestärkt geradezu, als wolle sie damit jeglicher Lässigkeit eine Absage erteilen. Ihr Haar trug sie kurz, wenn auch nicht so kurz wie Mandy. Die Hände, stets dicht an Reinderts Kopf geführt, konnte er nur von weitem im Spiegel sehen, dafür spürte er sie dann und wann an der Haut seines Kopfes. Als sie gerade vor ihm stand, fiel sein Blick auf ihre Füße, was sie irgendwie zu spüren schien und ihre Zehen für eine Sekunde aufrichtete, was ihn elektrisierte, ohne dass sie es bemerkte oder dafür gar den Duktus ihrer Arbeit unterbrach.

Überhaupt lag über allem, was sie war und was sie tat und wie sie es tat, eine Aura von Ruhe und Ernsthaftigkeit, die sich in Äußerlichkeiten andeutete, aber doch viel weiter zu reichen und tiefer zu gehen versprach - sowie ein Hauch von Verzweiflung.

Er blickte durch den Spiegel zu ihr auf. Sie redeten nicht, was er als angenehm empfand. Reindert hasste schwatzhafte Friseure. Umso mehr gefiel ihm, Anna still bei ihrer Arbeit zuzusehen, oder sie dabei anzusehen als sähe er nur zu. Konzentriert und sicher setzte sie ihre Schnitte, und Reinderts Haar, immer noch feucht vom Waschen, fiel in kleinen Sicheln hinab auf seinen Kittel oder gleich auf den Boden. Wieder berührte sie seinen Kopf kurz mit ihren Brüsten und Reindert ließ es geschehen, als sei er in Gedanken.

Der kühle Stahl der Friseurschere glitt über seine Kopfhaut. Auch ihre Hand war zu spüren, in wundersamem Kontrast dazu. Über den Spiegel trafen sich ihre Blicke für einen längeren Augenblick.

Sie lächelte.

Reindert versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, was aber nicht gelang, weil seine Mundwinkel verkrampften und sein Blick blinzelnd wurde, so dass er diesen rasch niederschlug, ohne den Kopf zu bewegen. Erst jetzt löste sich ganz unwillkürlich ein zaghaftes Lächeln voll sonderlicher Anmut und huschte über seine Mundwinkel. Sie indes, nicht ohne Enttäuschung, hatte sich schon wieder ihrer Arbeit zugewandt, so dass sein Lächeln, obwohl es niemand anders galt, ihrer Aufmerksamkeit entging.

Wieder draußen, hatte es auf einmal heftig zu regnen begonnen. Auch war es dunkel geworden, obschon doch erst Nachmittag war. Schon lief ihm das Wasser die Schläfen hinab in den Kragen seines Hemdes. Plötzlich flackerte ein Blitz über die weitläufigen Fassaden, während zeitgleich ein peitschender, erst hell anklingender, dann mächtig anschwellend in die tieferen und lauteren Register kaskadenartig prasselnd sich entfaltender und wie immer wieder aufs Neue angestoßener Donner - ein Knitterschlag, wie man in Reinderts Heimat sagte - die Ohren klingeln ließ. Es roch nach Ozon.

Verwirrt blieb er stehen, sah, wie die anderen Passanten fluchtartig in den umliegenden Ladengeschäften Schutz suchten. Reindert blickte auf. Der Regen, gerade noch warm wie von der schwülen Nachmittagsluft, war, wie diese, schlagartig abgekühlt, bevor er ebenso plötzlich aufhörte, wie er zuvor begonnen hatte. Für den Augenblick, als die Sonne wieder durchbrach, war Reindert völlig allein auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz.

Einen Blick noch, dachte er bei sich und wandte sich um, klatschnass wie er war. Durch das Schaufenster konnte er sie sehen, wie sie schweigend bei ihrem nächsten Kunden stand. Als sie kurz zu lächeln schien, empfand er ein abstruses Gefühl jäher Eifersucht. Auch aus der Entfernung gefiel sie ihm, ja, erst jetzt kam die ruhige Anmut ihrer Bewegungen richtig zur Geltung. Dann, ganz plötzlich, hielt sie inne und sah ganz unvermittelt in seine Richtung. Reindert erschrak, fühlte sich ertappt, doch sie lächelte, abermals. Er trat von einem Bein auf das andere, merkte, wie seine Mundwinkel wieder verkrampften, doch zwang er sich, diesmal nicht weg zu sehen. Er legte den Kopf schief und kniff die Augen ein wenig zu, als sei das immer noch fahle, nachgewittrige Tageslicht zu hell. Sicherlich war es nicht sehr überzeugend, was er dergestalt zuwege brachte, doch war es anderseits auch mehr als nichts, bedeutend mehr vielleicht sogar, zumal aus der Entfernung mehrerer Meter, kein schlechter erster Schritt, etwas, auf dem man hätte aufbauen, von dem aus nachsetzen, nachfassen, zum Beispiel irgendwie seine Telefonnummer lancieren, sich gar kühn wieder in den Wartebereich setzen und cool eine Zeitschrift ergreifen und dann, schließlich angesprochen, einfach behaupten können, man vermisse da seinen Lieblingskugelschreiber oder sonst etwas - je fadenscheiniger, desto besser. Doch nichts davon tat Reindert, der wohl spürte, wie das Adrenalin seine Gefäße erweiterte, diesen Anschub aber nicht umzusetzen vermochte in Raum und Zeit, sondern das Gefühl sich selbst genügen ließ sowie die schlichte Möglichkeit, sie an Ort und Stelle wiedertreffen zu können, zumindest als seine Wunschfriseurin.

Für heute indes trat er den Rückzug an.

Peter, der offenbar gerade keinen Schüler hatte, lehnte in der Tür seiner Musikschule und unterhielt sich angeregt mit Frau Globing, so dass er Reinderts Gruß nur kurz erwiderte. Auch Frau Globing nickte ihm gar nicht einmal unfreundlich zu, doch schien körpersprachlich klar, dass ihr Gespräch als Zwiegespräch angelegt war und auch als solches fortgesetzt werden sollte. Ihm war es einerlei.

Der Abend war gekommen. Reindert ging früh zu Bett. Von nebenan drangen Gesprächsfetzen an sein Ohr. Dann die Hohner Corona, welche klingt am besten. Ein Lachen. Irgendwann wurde es ruhiger.

Reindert dachte an Anna, ihr Lächeln, ihre Anmut, ihre Schönheit. Und er wusste, wo er sie würde wiedertreffen können, wenn er wollte, nämlich in dem Friseursalon am Gerhart-Hauptmann-Platz.

Als ihr Bild in ihm langsam verblasste, empfand er zunächst eine tiefe Stille, aus der heraus, nachdem der Malstrom seiner Gedanken langsam zum Erliegen gekommen war, sich wieder das allgegenwärtige Verkehrsbrausen von der unweit verlaufenden Bundesautobahn 24 erhob, der vormals unvollendeten Reichsautobahn 44 nach Berlin. Das Hinweismonument am Horner Kreisel war zeitgenössisch geblieben bis auf den heutigen Tag. Man hatte einfach nur die ersten fünf Buchstaben ausgetauscht.

Anna. Wieder zog sie an seinen Gedanken. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie jetzt bei ihm wäre. Ihre Verzweiflung, diese verwirrende Verheißung von Nacktheit. Die Vorstellung davon belebte seine Sinne. Ihm war, als streifte ihn ein sanfter, weitläufiger Nebenwirbel dieser ungeheuren Macht, wie Gischt einen Wellenreiter an den Gestaden des Pazifiks. Es ist wie das Meer, dachte er bei sich, Pazifik, und fiel in einen tiefen Schlaf.

4

Auf sein Äußeres hatte Reindert große Sorgfalt verwandt: Zu dem gerade frisierten Haar traten ein frisches Oberhemd und sein Anzug aus dem Zweiten Staatsexamen, der erst unlängst gereinigt worden war. Die passenden Schuhe aus schwarzem Pferdeleder waren von Peter, der die Wichtigkeit der Angelegenheit augenblicklich erkannt hatte, kenntnisreich aus eigenem Fundus ausgewählt und leihweise beigesteuert worden. Sie saßen perfekt.

Von der Straße her betrachtet wirkte das Anwesen eher zierlich.

Es zählte nicht zu den in der Bärenallee noch verbliebenen Jugendstilvillen unterschiedlichen Erhaltungszustands. Vor ihm lag, gegenüber der Nachbarbebauung leicht zurückgesetzt, ein mit weißen Keramikklinkern verblendetes, einstöckiges Haus, das mit einem hoch bauenden Walmdach ausgestattet war. Reindert rechnete es laienhaft den Sechziger oder Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts zu. Das Dach hatte nach allen Seiten hin stattliche Überstände, die nach unten hin mit Holzbrettern verschalt waren. Die ursprünglich wohl einheitlich dunkelbraune Beizung wies nun überall hellere Flecken und Fehlstellen auf. Teile der Verschalung hatten sich gelöst, waren heruntergefallen und liegengeblieben, vereinzelt hingen gar Kabel von dort hinab, wo irgendwann wohl einmal Lampen angebracht gewesen sein mochten, vielleicht, um in den wilden Siebzigern sommerliche Gartenpartys zu beleuchten.

Der Vorgarten erschien ihm, dem nun Feingezwirnten zumal, vernachlässigt. Die Zuwegung war notdürftig und lieblos von der wuchernden Grenzhecke freigestutzt und überall brach zwischen den reichlich verlegten Gehwegplatten aus verwittertem Waschbeton das Unkraut durch.

Hatte er die Angelegenheit vielleicht doch überschätzt, so fragte er sich im Gehen. Doch schon stand er vor der in Hellbraun gehaltenen Eingangstür, die zugleich Teil einer weitläufigeren Buntglasfront aus zahllosen, in Blei gefassten gelben, orangen, roten sowie wenigen blauen Scheiben war.

Er klingelte und wurde von Frau Sand hereingelassen. Hinter der Tür befand sich ein sehr großzügiges, erstaunlich hohes Treppenhaus aus beigem Marmor. Eine mächtige, stahlgetragene Bogentreppe führte über massive, ebenfalls hellbraune Eichenstufen und an messingschwerem Handlauf in kühnem Schwung durch eine lang gestreckte U-förmige Aussparung in der Decke ins Dachgeschoss, während man geradewegs darunter über eine wesentlich schlichtere Steintreppe hinab in den Keller steigen konnte. Reichtum und Wohlstand, die solches einmal hervorgebracht hatten, mochten hier zwar noch irgendwo vorhanden sein, wurden aber, soviel stand fest, schon lange nicht mehr bewirtschaftet. Wenigstens roch es nicht schlecht, sondern neutral und sauber.

Ich bin Rechtsanwalt Boersma und habe einen Termin bei Frau Frundsberg, sagte er.

Sand, Pflegedienst Feinholz, sagte sein Gegenüber freundlich, wir hatten gestern telefoniert.

Beide lächelten.

Bitte folgen Sie mir.

Sie ging ihm voraus durch schlichte, hell gebeizte Eichentüren, von denen die letzte zweiflügelig gehalten war. Dazu zeigte sich das Haus, das von der Straßenseite ja eher klein und zierlich gewirkt hatte, inwendig weitläufig und groß. Nach Süden hin, also in den völlig verwilderten Garten hinein, schien das Terrain leicht abzufallen, was wiederum über die Längsachse einen Höhengewinn ermöglichte, der sich, bei gleichbleibendem Deckenniveau, mit einem kleineren, dreistufigen Treppenabstieg auf halbem Weg zugleich ankündigte und effektvoll ins Werk gesetzt fand. Dem Hinabsteigen entsprach die Entfaltung einer sich nach allen Seiten hin öffnenden Dramaturgie, die schließlich ihren Höhepunkt zelebrierte in dem riesigen, wohl mehr als drei Meter hohen Wohnzimmer, das hausbreit auf eine bodentiefe Panoramafront zum Garten hin abschloss, wobei der Blick in selbigen hinein durch eine schwere Gardine verhängt war.

Mitten in diesem neuzeitlichen Rittersaal hatte man ein eisernes Krankenhausbett aufgebaut.

Reindert, der das Zimmer gerade betreten hatte, sah als erstes ihren dünnen, bläulich marmorierten Arm.

Der Herr Rechtsanwalt wäre jetzt da, rief Frau Sand, die vorgegangen war, ihrer Patientin aus einiger Entfernung zu.

Frau Frundsberg, die Achtzig hatte sie gewiss bereits hinter sich gelassen, trug auf ihrem ausgemergelten Körper nicht mehr als ein dünnes Nachthemd und ihre Arme lagen auf einer leichten Bettdecke, die in Höhe ihrer unteren Rippenbögen verlief, gleichsam konterkariert durch zwei große, flauschige Kissen, die am Fußende drapiert waren, wohl, um dort für ausreichend Wärme zu sorgen.

Er sah sich weiter um. Beiger Marmor auch hier, indes aufgelockert mit verschiedenfarbigen, einst sicher sehr wertvollen Teppichen, die darauf lagen. Die große südliche Fensterfront mit Durchgang zum Garten, gardinenverhangen. An der angrenzenden westlichen Wand Schränke und Regale, deckenhoch, darin Merian, zu Jahrgängen gebunden, ebenso der National Geographic. Dann, Rücken an Rücken, die 17. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie in Ganzleder. Wohl zwei Meter, schätzte Reindert. Gegenüber fand sich ein großer, gemauerter Kamin, von dem es den Anschein hatte, dass er wohl seit Jahrzehnten kein Feuer mehr behaust hatte. Davor eine Sitzgarnitur aus feinem, pergamentfarbenem Leder. Soviel jedenfalls sah er auf den ersten Blick. Ein Fernseher fehlte, doch bemerkte Reindert eine entsprechende Leerstelle auf einem Regalvorsprung, wo vor Zeiten eines jener ebenso teuren wie schweren, tiefbauenden Röhrengeräte gestanden haben mochte. Tempi passati, dachte er noch bei sich.

Dann hörte er ein Räuspern und zuckte zusammen.

Guten Tag, Herr ...?

Rechtsanwalt Boersma, sagte er schnell, ähnlich laut wie zuvor Frau Sand. Sie hatten um einen Termin gebeten.

Er stand jetzt an ihrem Bett, so dass sie ihn sehen konnte. Sie wirkte erstaunt, überrascht.

Sie sind Rechtsanwalt Boersma? Reindert Rolf Boersma? Sie sprach mit einem guttural-rollenden R, aber immerhin zutreffender Aussprache seines Nachnamens.

Reemt, sagte Reindert, nicht Rolf. Reindert Reemt Boersma.

Heißt denn vielleicht Ihr Vater Rolf?, fragte sie. Oder hieß?

Nun war es Reindert, der sich wunderte.

Warum?, fragte er zurück. Was ging diese Frau der Name seines Vaters an.

Nun sagen Sie schon!, sagte Frau Frundsberg ungeduldig.

Reindert räusperte sich. Ihm war die Sache nicht geheuer. Doch dann gab er sich einen Ruck.

Mein Vater heißt Wiard. Wiard Reemt Boersma.

Also nicht Rolf?, fragte Frau Frundsberg.

Nein, sagte Reindert. Nicht Rolf, sondern Reemt. Genau wie ich. Er Wiard Reemt Boersma. Ich Reindert Reemt Boersma. Reemt, nicht Rolf.

Aha, soso. Frau Frundsberg schien nachzudenken.

Aber sie praktizieren doch im Hammer Steindamm, oder?

Ja, das stimmt. Seit eh und je.

Na gut na gut, sagte Frau Frundsberg doppelt gemoppelt und schmatzte. Reemt, setzte sie gedankenverloren nach. Reemt.

Es entstand eine Pause, die immer länger wurde. Reindert wusste nicht, was er sagen sollte, zumal ihm die Rolf-Reemt-Frage ausdiskutiert erschien. Also wartete er einfach ab, bis sie sich gesammelt hatte.

Sie sind mir empfohlen worden, Herr Rechtsanwalt. Ihre Stimme war leise, aber tragend, erstaunlich klar und von kalter Schönheit, so wie von schwerem Glas. Sie sah ihn an und ihm war, als schmatzte sie kurz.

Empfohlen? Wieder wunderte Reindert sich. Von wem wohl? Peter? Frau Globing? Sein Kameramandant von gestern früh? In Gedanken ging er alle durch. Viele waren es nicht - und sie schieden alle aus.

Ach, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen, Sie kennen ihn nicht ihn nicht.

Reindert war verblüfft. Zunächst verlangsamte ihre abermalige Wortdoppelung seine Auffassung, indes nur wenig, so schnell hatte er diese herausgefiltert. Doch sogleich stolperte er über den Inhalt dessen, was sie gesagt hatte: Die Anzahl derjenigen, die ihn kannten, ohne dass er sie kannte, mochte schon für sich betrachtet klein genug sein, wenn es denn solche Leute überhaupt gab. Aus dieser winzigen Gruppe jedoch wäre ganz sicher niemand einflussreich genug, eine derartige Empfehlung aussprechen zu können. Diese Gedanken kamen schnell, aber sie trugen nicht.

Wie?, sagte er. Wer?

Frau Frundsberg sah ihn an, voll lauernder Ruhe. Sie sagte nichts.

Reindert setzte neu an.

Wer, den ich nicht kenne, könnte mich empfehlen?

Während er sich dies sagen hörte, war ihm für einen Augenblick, als beginne seine Denkblockade sich zu lösen, wenn auch nicht schnell genug. Einstweilen blieb er hilflos.

Er sah sie an. Ihr Blick war gleichgültig und völlig regungslos. Sie schien zu sehen, wie angestrengt er überlegte, wie sehr er sich mühte, das Rätsel - dies kleine, leichte Rätsel - zu lösen, und doch wartete sie weiter, lauernden Auges, ohne ein Lächeln, ohne ein Wort.

Schließlich sagte sie mit ihrer schönen Stimme: Herr Boersma, ich versichere Ihnen, es gibt sehr viele Leute hier in Hamburg, die Sie nicht kennen.

Nicht ein Hauch Freundlichkeit lag in ihrer Stimme. Reindert dachte nach. Kalte, berechnende Freundlichkeit vielleicht, wenn es so etwas gab. Oder war es die Konzilianz des Siegers, dessen Sieg nun feststand?

Edda schmatzte als wolle sie auf diese Weise ihren offenbar vollkommen vertrockneten Mund ein wenig befeuchten.

Wer wen? Wie ein Vexierbild flackerte der Satz in ihm nach und hielt seine Gedanken in unbehaglicher, fremdbestimmter Schwebe. Sie hatte die Sache wohl auf einen Punkt gebracht, an dem er noch nicht angekommen war. Aber es war doch seine Frage gewesen, seine Initiative. Er hatte sie verloren, wähnte sich taumelnd, schämte sich ein wenig, trat, kaum merklich zwar, von einem Bein auf das andere. Seine Gedanken verloren sich, flüchteten in alle Richtungen. Er dachte an die Gehwegplatten vor dem Haus, das Unkraut, eine Hohner Corona - welche klingt am besten. Dann fiel ihm Frau Sand ein, die sich in kleinen Schrittchen in einen abgelegeneren Bereich des Raumes begeben zu haben schien und so Reinderts Blick entzogen war - und er also dem ihren, wie er jedenfalls hoffte. Wie dem auch war, so, wie die Dinge lagen, mochte er sie nicht belassen. Er sah sich nicht als Opfer, nicht der Umstände und erst recht nicht dieser Frau Frundsberg. Ein kleiner Ärger stieg in ihm auf und ließ ihn die Dinge jetzt so sehen, dass er zwar ihr kleines Rätsel nicht gelöst, sie aber auch seine Frage nicht beantwortet hatte. Dies war nun ein neuer Gedanke, einer wie ein Schleudersitz, der den Pilot rettet um den Preis der Maschine. Er betätigte ihn.

Sie haben meine Frage nicht beantwortet, sagte er darum, und war gleichwohl selbst überrascht von der rüden Direktheit seiner Worte.

Sie schloss die Augen und ließ, in gesichertem Fortbesitz der Initiative, die Zeit vergehen.

Doch, sagte sie schließlich, das habe ich.

5

Frau Sand, ich benötige Sie heute nicht mehr, Sie können jetzt gehen.

Reindert drehte sich um. Hinter ihm stand die Angesprochene, die Hände vor dem Schoß verschränkt. Sie verabschiedete sich mit einem Nicken, das Frau Frundsberg unmöglich hätte sehen können, und verließ wortlos das Zimmer.

Er wandte sich wieder Frau Frundsberg zu, die nun plötzlich erschöpft wirkte, fast schon abwesend, den Blick fokussiert auf einen Punkt jenseits der Zimmerdecke, weithin in der Schwerelosigkeit des Alls.

Bitte setzen Sie sich, sagte sie leise.

Wohin, dachte er, denn nirgends stand ein Stuhl in der Nähe. Die pergamentene Sitzgarnitur war zwar zu weit entfernt, doch dann erkannte Reindert verchromte Rollen an den Sesseln. Schon lief er los, einen von ihnen heranzuschieben, da hörte er ihre Stimme, lauter, kehliger:

Nun lassen Sie doch bitte den Sessel stehen!

Er gehorchte und entsprach ihrer ursprünglichen Bitte schließlich so, dass er sich kurzerhand zu ihr auf das Bett setzte. Platz war ja genug.

Herr Boersma, sagte sie nach einiger Zeit, stockend und wiederum leiser, ich, ich werde bald sterben bald sterben.

Reindert bezweifelte dies nicht, ihr Anblick legte es geradezu nahe. Wir alle müssen sterben, schoss es ihm tatsächlich durch den Kopf, doch hielt er die Worte zurück.

Wieder schmatzte sie.

Möchten Sie vielleicht etwas trinken, Frau Frundsberg?, fragte Reindert spontan und machte Anstalten, wieder aufzuspringen.

Nein, nein, sagte sie, und: bitte lassen Sie!

Aus ihren tief liegenden Augen sah sie Reindert direkt an. Spannung und Energie kehrten in ihren Körper zurück. Reindert blickte in ihr maskenhaftes Gesicht und unwillkürlich auch auf ihr dünnes Nachthemd. Ihn schauderte.

Öffnen Sie mal die oberste Nachttischschublade und nehmen sich die Münze, die da liegt.

Reindert ging zum Nachtisch und fand dort eine Goldmünze. Kühl und schwer lag sie in seiner Hand.

Nehmen Sie die Münze als Vorschuss.

Danke, sagte er und ließ sie in seine Hosentasche gleiten. Geld wäre ihm lieber gewesen, gewiss, doch war er wohl nicht in der Position, weiter gehende Forderungen zu stellen. Außerdem hatte er das unbestimmte Gefühl, mit der Münze fürs Erste nicht schlecht entgolten zu sein. Er meinte sich sogar zu erinnern, dass seine Großmutter zu sagen pflegte, Gold sei Geld - oder war es gar besser als Geld? Reindert wusste es nicht mehr.

Er setzte sich wieder.

Frau Frundsberg hatte die Augen jetzt geschlossen. Die späte Nachmittagssonnte flutete das Wohnzimmer mit ihrem fetten Licht. Reindert bemerkte, dass die Terrassentüre offenstand und ein leichter Wind die davor angebrachte Gardine in unregelmäßigen Abständen immer wieder behutsam ins Innere drückte. Aus der Ferne drang das Geräusch einer Kreissäge an sein Ohr, das sich über das gleichmäßige Wogen der Verkehrsgeräusche legte.

Dies ist die Stille der Stadt, dachte er bei sich.

Er ließ seinen Blick noch einmal durch das weitläufige Wohnzimmer gleiten.

Eher schon ein kleiner Saal, dachte er, und: Hier wäre auch Raum für größere Anlässe, führte den Gedanken aber nicht fort. Dann fielen ihm die zahlreichen Wandteller auf, die in allen möglichen Größen über dem stillgelegten Kamin angebracht waren und Motive aus der Welt der Pflanzen und der Tiere aufwiesen. Blüten in Stauden und Gebinden, Lorbeerkränze. Vögel, ein Pfau und sein Rad. Wandteller. Warum auch nicht, versuchte er den Gedanken daran wegzuschieben, Wandteller eben. Doch irgendetwas störte ihn daran. Wandteller, Wandteller. Auch schienen es irgendwann einmal mehr Teller gewesen zu sein. Jedenfalls sahen einige der Lücken aus wie Fehlstellen. Anderseits waren es gerade die Leerstellen, die das Gesamtensemble aus Kamin und Wandtellern überhaupt erst einigermaßen erträglich machten. Und daher waren diese Leerstellen denn auch keine Fehlstellen, sondern Freistellen, entweder geschaffen durch planenden Geist und Willen oder doch erst im Nachgang entstanden, durch Herabfallen, durch Weggabe, durch Fortnahme - durch evolutionäre Gnade. Man konnte aber auch zurückkehren zu der ursprünglichen Idee eines postmodernen Rittersaals, die Reindert beim Eintreten spontan gekommen war, mit Wandtellern wie Rundschilde von Wikingern, die zu gegebener Stunde von überall herbeiströmen würden, ihre Schilde aufzunehmen und in den Streit zu ziehen.

Ich heiße Edda Frundsberg, begann sie nach einer Weile aufs Neue und riss ihn aus seinen Gedanken.

Alles, was Sie hier sehen und überhaupt alles, was ich besitze, habe ich von meinem Mann Eberhard Jakob Frundsberg geschenkt bekommen oder geerbt.

Sie sah ihn an. Zwanghaft dachte Reindert wieder an die Teller wie Schilde, doch fast ebenso schnell kamen ihm die Leerstellen zur Hilfe und gaben seinen Verstand wieder frei.

E. J. Frundsberg Hutfabrik Aktiengesellschaft Wandsbek bei Hamburg. Norddeutschland und Skandinavien haben wir beliefert, nach dem Krieg. Aber irgendwann kamen die Hüte aus der Mode, da hat Eberhard das Geschäft abgewickelt und sich hier mit mir zur Ruhe gesetzt Ruhe gesetzt.

Edda schmatzte.

Eberhard war wesentlich älter als ich. Ich war nicht seine erste Frau, wissen Sie, Boersma. Hatte in seinem Unternehmen als Sekretärin gearbeitet Sekretärin gearbeitet. Um meinetwillen hat er sich schließlich von seiner ersten Frau scheiden lassen. Dann haben wir geheiratet und er baute dieses Haus für uns. Vor einunddreißig Jahren ist er dann gestorben, hinterließ mir die Hälfte seines Vermögens. Die andere Hälfte ging an seine Exfrau und die gemeinsamen Kinder aus erster Ehe. Mehr als genug für uns alle, das können Sie glauben.

Sie machte eine kurze Pause, schien in Gedanken zu versinken.

Gut!, sagte sie so, als wolle sie den Faden wiederfinden, und schmatzte wieder.

Nachdem Eberhard Frundsberg tot war, habe ich seine Dinge nicht mehr angerührt. Seine Schränke, sein Arbeitszimmer und was er sonst noch für sich hatte, ist seither unverändert.

Seit einunddreißig Jahren?, fragte Reindert.

Seit einunddreißig Jahren einunddreißig Jahren, sagte Edda.

Ein wenig versank Reindert in seinen Gedanken. Vor einunddreißig Jahren, 1972, war er zur Welt gekommen, im Emder Krankenhaus, am 21. Mai, in einer wolkig-trüben, regnerischen Nacht.

Er blickte zur offenen Terrassentüre. Wieder drückte ein freundlicher Wind die Gardine ins Innere. Die Kreissäge war verstummt, nur der Verkehr noch gegenwärtig.

Edda hatte die Augen wieder geschlossen, lag aber ansonsten unverändert. Reindert meinte zu erkennen, wie sich ihre Rippen unter dem dünnen Stoff des Nachthemds abzeichneten. Aber ihr Brustkorb bewegte sich nicht, kein bisschen. Atmete sie überhaupt? Schon wollte er wieder aufspringen, da ergriff sie das Wort

Wenn ich tot bin tot bin, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen, werden viele Menschen, die ich nicht mag oder nicht einmal kenne, seine Sachen mit Neugier durchstöbern, sie zerfleddern, vielleicht sogar plündern. Das will ich nicht, verstehen Sie.

Reindert nickte, und da sie ihre Augen immer noch geschlossen hatte, wertete sie sein Schweigen wohl als Zustimmung.

In der Schublade finden Sie ein Lederetui. Das sind Ihre Schlüssel, für die Dauer des Auftrags.

Edda machte eine Pause.

Noch einmal stand Reindert auf und ging zum Nachttisch. Das braune Schlüsseletui trug die Initialen EF. Er steckte es ungeöffnet in seine andere Hosentasche. Dann setzte er sich wieder.

Sie können grundsätzlich kommen und gehen, wann Sie wollen. Für gewöhnlich habe ich rund um die Uhr eine Krankenschwester bei mir, die mich pflegt. Der Pflegedienst weiß Bescheid, dass Sie kommen. Wenn Sie Zugang zum hinteren Teil des Erdgeschosses benötigen, also zu diesem Zimmer und dem angrenzenden Bad, müssen sie sich vorher bei der diensthabenden Krankenschwester melden, ansonsten können Sie sich im Haus und auf dem Grundstück frei bewegen. Aber verlieren Sie Ihren Auftrag nicht aus den Augen. Nehmen Sie sich Zeit, aber verzetteln Sie sich nicht. Und vergessen Sie nie: ich habe nicht mehr lange zu leben zu leben.

Er sah sie an. Von welchem Auftrag hatte sie gesprochen? Sie hatten über dies und das geplaudert, sie hatte ihm eine Goldmünze gegeben - und Schlüssel zu ihrem Haus. Aber es gab keinen Auftrag, ganz sicher nicht.

Sie war eingeschlafen, erschien ihm zerbrechlich und schwerelos. Er würde seine Frage nicht stellen können, jedenfalls heute nicht mehr.

Ich gehe jetzt, Frau Frundsberg, sagte er leise, mehr der guten Ordnung halber.

Morgen komme ich wieder.

Wieder draußen, bemerkte Reindert, wie erschöpft er war. Er fühlte sich schlapp und ausgelaugt. Seine Augen brannten und er spürte seine Schultern. Dabei hatte er nicht einmal eine Stunde in der Bärenallee verbracht. Und er wandte seine Schritte zurück, nach dem Hammer Steindamm, nach Hause.

6

Peter, der ihn zuhause abfing, war begeistert, besonders von der Goldmünze. Rund sechzig Gramm ergab eine Messung mit der Briefwaage, also fast zwei Unzen.

Mehr davon!, lautete die Parole, die er dazu ausgab, und:

Jetzt am Ball bleiben!Bloß nicht nachlassen!

Die Alte ist bekloppt, sagte Reindert.

Alle Nase lang schmatzt sie und wiederholt die letzten beiden Wörter ihres letzten Satzes letzten Satzes.

Na und, sagte Peter und zuckte mit den Schultern.

Auch dass ein ausdrücklicher Auftrag offenbar fehlte, empfand er als nicht so dramatisch. Ein solcher könnte gegebenenfalls doch ganz zwanglos aus den sonstigen Umständen abgeleitet werden.

Und was für Umstände sollten das sein?, fragte Reindert.

Naja, sagte Peter, ich sterbe bald, was ich habe, stammt von meinem verstorbenen Mann, ich habe seinen Sachen seit einunddreißig Jahren nicht angerührt, Sie können kommen und gehen wann sie wollen.

Und?, fragte Reindert weiter.

Ja, was und, sagte Peter. Die Frau ist an ihr Bett gefesselt, kann sich kaum noch bewegen, war wahrscheinlich Jahre lang nicht mehr in den Räumen ihrer Ehe, ihres Mannes, dem Eberhard.

Eindringlich sah er ihn an, lächelte sein menschenfreundliches Gitarrenlehrerlächeln, für das Reindert ihn liebhatte. Er aber stutzte.

Na, da gehst du jetzt rein für sie, machst mal Fotos und Aufzeichnungen. Dann setzt du dich wieder auf ihr Bett und erzählst ihr, was du alles gesehen hast, was du dir so überlegt hast. Und wenn es ihr gefällt, dann ist das eben der Auftrag! So einfach ist das.

Das ist aber keine anwaltliche Aufgabe, sagte Reindert.

Na und! Peter schlug sich vor den Kopf, er schien fassungslos.

Jedenfalls, so stellte er fest, sei dies alles doch unglaublich spannend und er würde ihn aufrichtig darum beneiden. Für ein paar Rahmengenähte schlafe ich noch einmal darüber, sagte Reindert und Peter lachte. Gern hätte er ihm eine Dose Bier angeboten, aber Peter trank keinen Alkohol. Im Übrigen trank er auch keinen Kaffee oder schwarzen Tee, er rauchte nicht, sah nicht fern, besaß kein Radio, hielt sich keine Tageszeitung und hatte keinen Führerschein. Gleichwohl erachtete er es nicht als Unhöflichkeit, als Reindert sich zu seinem Kühlschrank begab, ein Dosenbier entnahm und es knackend öffnete. So saß man noch eine Weile bei kaltem Bier und Obstsaft in Reinderts hell erleuchteter Wohnkanzlei beieinander und so mancher, der noch vorbeikam, mochte insgeheim gestaunt haben angesichts so viel offenkundiger Betriebsamkeit noch zu so später Stunde.

Peter nahm einen Schluck von seiner Schorle.

Wie ist die Dame eigentlich auf dich gekommen?, fragte er plötzlich.

Reindert stellte sein Bier vor sich auf den Schreibtisch.

Ich bin ihr empfohlen worden, sagte er.

Empfohlen, aha, und von wem?

Das habe ich sie auch gefragt. Ich kennte ihn nicht, hat sie da gesagt.

So ein Blödsinn, wie soll man jemand empfehlen, den man überhaupt nicht kennt?

Offenbar sah Peter die Sache genauso wie er. Das beruhigte ihn.

Jaja, ich erinnere mich noch genau an ihre Worte. Sie sagte: Herr Boersma, ich versichere Ihnen, es gibt sehr viele Leute hier in Hamburg, die Sie nicht kennen.

Peter dachte nach. Das kann beides heißen, dass du sie nicht kennst und dass sie dich nicht kennen.

Da hatte er wieder recht. Schon, sagte Reindert, aber was ändert das?

Sie beließen es dabei.

7

In der Sache hatte Reindert beschlossen, Peters Vorschlag zu folgen. Ehrlich gesagt hatte er auch überhaupt keine andere Wahl, zumal es da auch noch die Aussicht auf weitere Goldmünzen gab. Um Edda weiter von sich zu überzeugen, wollte er seine Arbeit für sie möglichst systematisch angehen, die Lage sondieren, erfassen und dokumentieren. So verwandte er den Rest der ersten Woche darauf, das Haus vom Keller bis zum ersten Stock nach bestem Können zu vermessen und zu skizzieren. Die so entstandenen Grundrisse fotokopierte er mehrfach, um darin später alle möglichen Funde zu verzeichnen, die er gegebenenfalls noch machen würde. Er beschloss, zunächst mit den Räumen und Raumteilen zu beginnen, die seinerzeit von Herrn Frundsberg exklusiv genutzt wurden.

In der Kellergarage stand, seit Jahren, Jahrzehnten vielleicht, unberührt und völlig verstaubt, das Auto des alten Frundsberg: HH – EF 1, ein Cabriolet derselben Marke wie sein Altwagen, aus derselben Epoche, aus demselben Gesamtkatalog sozusagen, aber nicht in Mimosengelb, sondern in Ikonengold, und mit olivgrünen Lederpolstern. Der Wagen stand auf einer großen kreisförmigen Bodenplatte aus Beton, deren Bewandtnis Reindert zunächst Rätsel aufgab. Schließlich fiel der Groschen: die Bodenplatte war nicht nur kreisförmig, sie musste ursprünglich auch einmal drehbar gewesen sein, so wie in den riesigen Lokschuppen zu Zeiten der Dampflokomotiven. Solches würde es dem alten Frundsberg erlaubt haben, die Garagenabfahrt vorwärts zu nehmen, dann auszusteigen und das Fahrzeug elektrisch umzudrehen, so dass er seinen Standpunkt bei Bedarf auf Knopfdruck in entgegengesetzter Fahrtrichtung wieder verlassen und vorwärts aus der Tiefgarage herausfahren konnte. Solches war zwar leicht gesagt, doch hatte es Reindert ob der sichtbaren Befunde manch archäologisches Grübeln abverlangt, dorthin zu gelangen. Rings umher standen Regale, die mit diversem Werkzeug bestückt waren und, fast verborgen hinter Gartenstühlen und alten Lappen, ein alter Rasentraktor in hoffnungslos vernachlässigtem Zustand. Immerhin ein John Deere, dachte Reindert bei sich, ganz wie zuhause.

Der war mal teuer, murmelte er.

Beeindruckend, wiewohl derzeit saisonbedingt stillgelegt, war auch die altertümliche Ölheizung nebst äußerlich rostpickeligem Riesentank, der laut Typschild nicht weniger als zwölftausend Liter Heizöl aufnehmen konnte. Reindert klopfte daran: das Monstrum schien leer zu sein, so hohl tönte es daraus. Er verzeichnete alles und machte einige Fotos mit seiner neuen Digitalkamera. Hier unten, so schien es, war tatsächlich seit langer, langer Zeit niemand mehr gewesen. Unumschränkt herrschten die Spinnen und führten ihr ebenso mörderisches wie auskömmliches Regiment.