Knochensäger - Pamela Fagan Hutchins - E-Book

Knochensäger E-Book

Pamela Fagan Hutchins

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  • Herausgeber: Tektime
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Als ein Mörder seine Familie vor deren Zeugenaussage vor einem Prozess zu einem Mord, auf den die Todesstrafe steht, bedroht, wird Patrick Flint alles tun, um sie in Sicherheit zu halten.
Ein friedlicher Tag mit Skifahren für die Familie. Der Mord an der Ehefrau eines prominenten Richters. Ein Zeuge wird zum nächsten Ziel: der 13-jährige Perry Flint.
Patrick, seine Frau Susanne und ihre Kinder machen sich für einen Tag Skifahren in die Berge auf. An der Hütte ist der 13-jährige Perry Flint der einzige Augenzeuge einer Ermordung der Ehefrau eines prominenten Richters, nur Tage vor dem ersten Mordprozess mit Todesstrafe im Staate Wyoming seit deren Wiedereinsetzung durch den US Supreme Court. In der Zwischenzeit rüsten sich Susanne und Trish dafür, gegen den skrupellosen Mörder Billy Kemecke beim Prozess auszusagen, sofern seine kriminelle Familie sie nicht zuerst aufhalten kann. Da seine Familie von allen Seiten bedroht wird, wird Patrick Flint alles tun, um sie in Sicherheit zu halten.

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KNOCHENSÄGER

EIN PATRICK FLINT-ROMAN

PATRICK FLINT

BUCH 3

PAMELA FAGAN HUTCHINS

Übersetzt vonCAROLIN KERN

TEKTIME

INHALT

Gratis PFH E-Books

Prolog

1. Unglück

2. Umlenken

3. Auslassen

4. Hilfe

5. Rückkehr

6. Bestreben

7. Schleichen

8. Tratsch

9. Einblick

10. Gestehen

11. Betreuen

12. Strategie

13. Schnüffeln

14. Wutanfall

15. Lauschen

16. Feststellen

17. Anwerben

18. Umgarnen

19. Schikanieren

20. Schock

21. Entdecken

22. Bombardieren

23. Entscheiden

24. Doktor

25. Frohlocken

26. Ducken

27. Urteilen

28. Fehler

29. Kopfstoß

30. Überwinden

31. Verworren

32. Ängstigen

33. Treffer

34. Entgegensetzen

35. Kränkeln

36. Beten

37. Zeuge

38. Enthüllen

39. Abwarten

40. Abweisen

41. Standhalten

42. Verbündeter

43. Hinauswachsen

44. Hacken

45. Rasieren

Danksagungen

Bücher der Autorin

In englischer Sprache

Über die Autorin

Lob für Pamela Fagan Hutchins

Andere Bücher von SkipJack Publishing

Vorwort

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PROLOG

Buffalo, Wyoming

Dienstag, 15. März 1977, 17:30 Uhr.

Patrick

»Susanne?«, brüllte Patrick Flint in den Hörer. »Wo bist du? Bist du okay?«

Das schwere Atmen in seinem Ohr klang nicht wie seine Frau. Es klang maskulin.

Beklommen. Ein wenig wie ein Mann in den frühen Stadien von Herzinsuffizienz. Wer auch immer das war, es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Wer ist da?«

Die Stimme war rau. »Sie wollten mit mir darüber reden, Ihre Ehefrau und Tochter aus dem Gericht rauszuhalten. Lassen Sie uns reden.«

Patrick erkannte die Stimme. Sein Gehirn fühlte sich an, als hätte er seinen Finger gerade in eine Steckdose gesteckt. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Kommen Sie zu mir nach Hause. Dort können wir reden.«

Das Blut. Das Erbrochene. Der Truck, der zu Hause geparkt war, aber seine Familie fort. »Ich kann nicht. Jemand hat bei unserem Haus überall hingeblutet und es ist niemand hier. Ich muss schnell ins Krankenhaus, um nach meiner Familie zu sehen.«

Patrick hörte ein merkwürdiges Geräusch am anderen Ende der Leitung. Wie ein Ächzen.

Dann sagte die Person: »Hol sie der Teufel.«

»Verzeihung?« Patricks Gemüt flammte auf. Er musste weg vom Telefon. Er brauchte nicht zuhören, wie diese Person seine Frau schlechtredete. »Ich muss gehen.«

»Nein. Bitte. Ich werde mit Ihnen gehen, um, ähm, nach Ihrer Familie zu sehen. Kommen Sie einfach schnell.«

Das war seltsam. Sehr seltsam. Jede ihrer Interaktionen in letzter Zeit war merkwürdig gewesen, aber dies war verblüffend. Und dann hatte er einen furchtbaren Gedanken. Was, wenn diese Person hier gewesen war? Was, wenn das Blut deren Tun war? Was, wenn Susanne und die Kinder bei genau der Person waren, mit der Patrick sprach? »Haben Sie meine Familie?«, sagte er.

»Was? Nein!«

Lügner. »Ich fühle mich mit dieser Situation nicht wohl. Leider werde ich jetzt auflegen und den Sheriff anrufen müssen.«

»Nein!«, schrie der Anrufer. »Sie dürfen nicht auflegen. Ich weiß, wer Ihre Ehefrau und Tochter mitgenommen hat.«

EINS

UNGLÜCK

Bighorn Mountains, Buffalo, Wyoming

Zehn Tage zuvor: Samstag, 5. März 1977, 11:00 Uhr

Patrick

»Form mit deinen Ski einen Keil, Susanne. Wie ein Stück Kuchen.« Mit Schlagsahne obendrauf, dachte Patrick Flint, während er auf den fluffigen Frühlingsschnee herunterschaute. Er verlor seine Ehefrau einen Moment lang aus dem Blick, als er darum kämpfte, die Dämonenlatten am Ende seiner eigenen Beine zu kontrollieren. Er hatte sich gerade von einem Gesichtsklatscher nach einem frühzeitigen und unüberlegten Ausstieg aus dem POMA-Lift erholt.

Der Schlepplift. Es war 1977, um Himmels willen, und Skiorte auf der ganzen Welt rückten in Richtung Sessellifte, sogar geschlossene Gondellifte, zumindest hatte er das gelesen. Der POMA-Lift war ein Rückschritt, wie Wyoming selbst. Alles an der verdammten Vorrichtung war für Patrick unnatürlich. Der Geruch von Diesel in seinen trockenen Nasenlöchern inmitten einer ansonsten unverdorbenen Winterwildnis. In Position zu kraxeln, als wäre er ein Reh auf Rollschuhen. Die Stange, ähnlich der, die Stripperinnen in Filmen benutzten, zu packen, nur dass seine Version frei von einem Förderkabel oberhalb schwang und in einer harten Gummischeibe auf Kniehöhe endete. Die Scheibe zwischen seine Beine zu stopfen. Zu lernen, sich nicht dagegenzulehnen oder, Gott bewahre, darauf zu sitzen und mit dem Hintern voraus im Schnee zu landen. Darauf zu vertrauen, dass sie ihn am Steiß langsam den Berg hinauf zog. Gegen die entgegengesetzte Kraft der Schwerkraft zu kämpfen, wenn der Lift sich gegen die steilsten Abschnitte anstrengte, als würde er von einer Mannschaft betagter und gebrechlicher Mäuse angetrieben.

Bei seiner ersten Fahrt mit dem Lift hatte der Motor mit einem zitternden Ächzen abgeschaltet, während er noch mitten auf dem Hang war. Irgendein armer Depp hat wahrscheinlich beim Be- oder Aussteigen dran glauben müssen. Er dankte dem gütigen Gott, dass es nicht er war, und bewunderte die Aussicht. Die schneebedeckten Gipfel der Bighorn Mountains um ihn herum. Der gefrorene Meadowlark Lake unter ihm auf knapp 2600 Meter. Die Erhebung so weit nördlich war wettermäßig analog zu etwas 300 Meter höher in Colorado und 600 Meter höher in New Mexico. Die Flüsse flossen nach Norden. Die Rocky Mountains selbst – von denen die Bighorns ein Teil waren – erstreckten sich fünf Kilometer vom nördlichen Alberta hinab nach New Mexico. Die Größe und der Umfang raubten ihm den Atem. Aber sogar in den kleinsten Details lag eine Erhabenheit. Eine Elster, die in der Ferne schnatterte. Schnee, der von Ästen fiel. Ein Schneeschuhhase, der antäuschte und Haken schlug. Es verlieh ihm Energie. Ließ ihn sich vollkommen lebendig fühlen und auf eine Weise mit seinen Sinnen in Verbindung sein, wie er es in der Stadt nicht empfand.

Nach zehn Minuten des Wartens wurde er allerdings ungeduldig. Er beschloss, dass der Lift kaputt sein musste. Er begutachtete seine Umgebung. Der Schnee zu seiner Linken sah absolut mit Ski befahrbar aus. Es gab keinen Grund, dazubleiben, außer er wollte sich den Po abfrieren. Er ließ die Stange los und fuhr mit den Ski dorthin hinüber, was wie ein leichter Buckel schien.

Was es nicht war.

Fünf verschwitzte Minuten später hatte er sich endlich aus einer tiefen Verwehung schweren Schnees befreit. Sehr demütigende fünf Minuten, während derer der neu gestartete Lift ein unfreiwilliges Publikum den Berg hinauf an ihm vorbei zog, seine amüsierte Frau eingeschlossen, die von ihrem sicheren Sitz auf ihrer eigenen Scheibe sehr lautstark dabei gewesen war, seine Entscheidung in Frage zu stellen.

Wie er also jetzt hier neben seiner Frau stand und sich bemühte, aufrecht zu bleiben, war er entschlossen. Er würde so bald nicht wieder hinfallen.

»Wir hätten Unterricht nehmen sollen.« Sie klang unwirsch, und als sie zu ihm aufschaute, blitzten ihre rehgleichen Augen vor Hitze. Aber sogar verärgert war sie so bezaubernd, dass er dem Drang, hinüberzueilen, sich herunterzubeugen und sie zu küssen, nachgegeben hätte, wenn er nur sicher gewesen wäre, dass er danach auch wieder hätte hochkommen können. Er liebte seine temperamentvolle Südstaatenschönheit mit ihren knallroten Wangen und Strähnen langen braunen Haars, die in ihren Mund geweht waren. Sie schob mit ihren klobigen Handschuhen gegen die Haare, nicht dass es etwas genutzt hätte. »Die blöden Ski wollen nicht tun, was sie sollen.«

Sich und seiner Frau beizubringen, wie man Ski fuhr, ging nicht so einfach, wie Patrick geplant hatte. Ihm war die Gelegenheit angeboten worden, dass sie heute unentgeltlich Ski fahren konnten, dank des »Arzt des Tages«-Programms der Meadowlark Ski Lodge, und er hatte sie am Schopf gepackt. Der Skiort war 45 Meilen auf winterlichen Bergstraßen vom nächsten Krankenhaus in Buffalo entfernt, also boten sie Ärzten, die den Tag vor Ort und mit Rufbereitschaft verbrachten, Familien-Liftkarten an. Patrick war darauf bedacht gewesen, nicht zu erwähnen, dass sie Anfänger waren, als er ihre Liftpässe und Ausrüstung abgeholt hatte, ohne unverblümt über ihren Stand zu lügen, obwohl es für alle Flints das erste Mal war, dass sie Ski fuhren – Patrick, Susanne, ihre 16 Jahre alte Tochter Trish und ihr neuerdings 13-jähriger Sohn Perry. Patrick hatte die Woche zuvor ein Buch über Ski Alpin gelesen und die Informationen an seine Familie weitergegeben, mit der Theorie, dass sie zum Bruchteil des Preises, was teure Unterrichtsstunden am Hang kosten würden, Ski fahren lernen konnten. Sein Verstand kehrte zu seinem weniger als meisterhaften Ausstieg aus dem Lift zurück. Als Arzt hatte er sich daran gewöhnt, in seinem Beruf bewandert zu sein. Mehr als irgendjemand anders im Raum über dieses Feld zu wissen. Diese Erfahrung – da er ein blutiger Anfänger war – war krass, aber es war ein vorübergehender Zustand. War der Großteil seiner Zeit in Wyoming nicht ein Studium in dem exakt gleichen Phänomen gewesen? Alles, was er brauchte, war Übung und Willenskraft.

Er wollte gerade mit ermutigender Stimme Geist über Materie zu Susanne sagen, als sich die Spitzen von Susannes Ski überkreuzten. Da ging sie zu Boden, ihr Heulen von einem uumpf abgeschnitten. Sie landete ungeschickt, wie eine Brezel in ihrer braun-gelben Jacke und der passenden Schneehose. Er lachte fast, aber es erstarb auf seinen Lippen, als sie sich nicht bewegte oder ein Geräusch von sich gab.

»Bist du okay?«, rief er.

Sie antwortete nicht.

Er ging eine geistige Prüfliste möglicher Verletzungen durch. Der Kopf – eine Gehirnerschütterung oder eine intrakranielle Blutung. Ein gebrochener Knochen. Eine Verstauchung. Sogar ein Einstich oder ein anderer Schaden an der Milz.

»Susanne, falls du mir antworten kannst, bist du in Ordnung?« Er bewegte sich so schnell er konnte auf sie zu, sein Puls beschleunigte sich.

Dann hob Susanne einen ihrer Skistöcke und schüttelte ihn wie eine Faust. Oder einen Mittelfinger.

Sie war immerhin bei Bewusstsein. Das war gut. Bisher, in der Annahme, dass Susanne okay war, hatte Patrick noch keine Patienten gehabt. Er hoffte, er bekam keine. Nicht nur im Wohlwollen gegenüber seinen Mitskifahrern, sondern weil seine eigene Familie etwas friedliche Zeit miteinander verbringen und Spaß haben musste. Trish und Susanne waren die Schlüsselzeugen in einem Todesstrafenprozess, der bald beginnen würde, wobei er und Perry mit ihrer eigenen Zeugenaussage unterstützende Rollen spielen würden. Es war für sie alle eine lange, harte Rückblende zu ihrem Martyrium mit Billy Kemecke, einem verurteilten Mörder, der während einem Transport zum Staatsgefängnis ausgebrochen war. Nach seiner Flucht hatte er Susanne als Geisel gehalten, während er ihr Familienheim durchwühlte und Informationen über Patricks Verbleib aus ihr herausgepresst hat. Er hatte Trish vom Lagerplatz in den Bergen entführt und sie in die zerklüftete und entlegene Cloud Peak Wilderness hochgezerrt. Er hatte sogar direkt vor Trish die Kehle seines eigenen Cousins aufgeschlitzt und er hatte ihre Freundin Deputy Ronnie Harcourt angegriffen. Er hatte seine Schreckensherrschaft erst gestoppt, als Susanne ihn mit einer Kugel durch seine Schulter niedergestreckt hat. Und das alles, weil Kemecke Patrick bestrafen wollte. Er glaubte, dass Patrick den Tod seiner Mutter verursacht hatte, obwohl es ihr wegen einer Sepsis schon zu schlecht ging, als dass Patrick sie hätte retten können, als sie ein paar Wochen davor in der Notaufnahme in Buffalo angekommen war. Kemecke hatte auf seinem Amoklauf nicht allein gehandelt, und Patrick war während der entscheidenden Kraftprobe gezwungen gewesen, Chester umzubringen, Kemeckes Bruder und Komplize. Kemeckes Neffe im Teenageralter, Ben, residierte momentan im Jugendgefängnis für seine Rolle – obgleich genötigt – in Trishs Entführung. Seither hatte Kemeckes Familie, besonders seine Schwester Donna Lewis, die Dinge für die Flints in Buffalo unangenehm gemacht. Donna machte Patrick nicht nur verantwortlich für den Tod ihrer Mutter, wie Kemecke es tat. Sie gab außerdem der ganzen Familie Flint die Schuld am Schicksal ihrer Brüder und ihres Neffen.

Patrick erwartete, dass die Verfahren sie alle unter eine Menge Stress und Druck setzen würden.

»Was tut weh?« Er hielt an, um Susannes anderen Skistock ein paar Meter von ihr den Hügel aufwärts zu holen.

Etwas sauste so nah an ihm vorbei, dass er nach Luft schnappte und beinahe sein Gleichgewicht verlor. Es war nahe am Boden – klein und pummelig – und barhäuptig, wobei blondes Haar unter einem Brillenriemen hoch- und herausstand.

Es schrie: »Hey Dad.«

Sein Sohn Perry, der Ski fuhr, als hätte er das bereits sein ganzes Leben lang gemacht.

»Wo ist deine Schwester?«, schrie Patrick hinter ihm her.

Sein Sohn verschwand hinter einem Hahnenschwanz aus Schnee. Es war schwierig ihn zu hören, aber Patrick dachte, er hörte ihn sagen: »Weiß nich’«, bevor sich der Schweif um eine Biegung auf der Piste verlor.

Sie hatten Trish seit fünf Minuten, nachdem sie die Skipisten erreicht haben, nicht mehr gesehen. Patrick versuchte, Gedanken an die momentane Trish zugunsten des süßen kleinen Mädchens, das sie einst war, aus seinem Geist zu verdrängen. Das, welches sich auf seinem Schoß einrollte und ihm zuhörte, wie er seine Texte der medizinischen Hochschule laut vorlas – seine persönliche Verschmelzung von Erziehung und Studium. Sie war jetzt sprunghaft. Hormone hauptsächlich, aber auch das Resultat davon, was sie durchgemacht hatte, und noch immer durchmachte, dank Kemecke. Selbstverständlich machte sie die Dinge für sich oder den restlichen Flint-Haushalt nicht einfacher, indem sie mit Donna Lewis’ Sohn Brandon ausging. Donna hatte Brandon verboten, Trish zu sehen, und Patrick und Susanne taten ihr Bestes, um die Turteltauben auseinanderzuhalten, aber die beiden taten ihr Bestes nach Romeo und Julia-Manier, um zusammenzubleiben.

Was bedeutete, dass, da Trish nicht bei ihren Eltern oder Perry war, die Chancen gut standen, dass sie bei Brandon war. Nun ja, Patrick konnte hier oben auf dem Berg nichts dagegen tun. Er und Susanne konnten sich beim Mittagessen um Trish kümmern.

Patrick kroch näher zu seiner Frau. Sein Talski verlor die Bodenhaftung und schickte ihn in einen stehenden Spagat, aber er kniff seinen Gluteus Maximus zusammen und blieb aufrecht. Es war nicht okay, sich an die Teile zu greifen, die wehtaten, also trug er es mit Fassung. Als er Susanne erreichte, pflanzte er seine Stockspitzen tief in das Puder, in die komprimierte Ansammlung darunter, und lehnte sich darauf. Er zog seine Handschuhe aus und stopfte sie in seine Taschen. Sein Ehering schimmerte leuchtend goldfarben gegen das Reinweiß des Schnees. Er hatte erst vor ein paar Monaten angefangen, ihn zu tragen – nach 17 Jahren Ehe ohne einen – und er hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Er erwartete noch immer, jede Minute irgendwo damit hängenzubleiben und seinen Finger abzureißen.

Wind peitschte Schnee vom Boden auf und um sie herum, als Susanne ihr tränenüberströmtes Gesicht nach oben neigte.

Der Anblick davon machte ihm beinahe den Garaus. »Was tut weh?« Er legte seine Fingerrücken an ihre Wange.

»Skifahren bereitet mir Kopfschmerzen.« Ihre Zähne klapperten. »Diese Klamotten sind nicht wasserfest. Ich erfriere, und ich kann nicht aufstehen.«

Er machte ein Schauspiel daraus, ihr Gesicht und ihre Ohren zu überprüfen. »Ich sehe keine Anzeichen von Erfrierungen.« Sie wussten beide, dass sie nicht lange genug draußen war, und dass es genau genommen zu warm dafür war. Aber wenn man bedachte, dass er keine Skikleidung für irgendjemand von ihnen spendiert hatte, erwähnte er es nicht. Seine eigene imprägnierte Blue Jeans fühlte sich ein wenig klamm an. »Bist du verletzt?«

»Ich weiß nicht. Ich denke nicht. Nur unwohl. Und frustriert.«

»Okay.« Er haschte nach einem ihrer Ski, bereit ihn zu drehen, verlor aber die Haftung und ging mit dem anderen Bein in einen Spagat. Er handhabte diesen Spagat nicht so gut wie den auf seiner anderen Seite, und er fiel wie ein von einem Gewehr erschossener Bär um. Er rollte sich auf seinen Rücken. Er brauchte definitiv eine Menge mehr Übung. 20 Jahre jünger zu sein würde vielleicht auch helfen.

Herumwehender Schnee bestäubte sein Gesicht. Er starrte in den blauen Himmel, der in seiner Intensität erstaunlich war, dank der niedrigen Temperaturen des Winters und der Feuchtigkeit, die den Wasserdampf in der Luft senkte. Er rastete, dachte nach und blies warmen Atem auf seine eiskalten Finger. Susanne zu helfen würde schneller gehen und wäre sicherer, wenn er nicht seine Ski anhatte. Er setzte sich auf, öffnete seine Stiefelbindungen und löste die Riemen um seine Fußknöchel, die seine Ski davon abhielten, davonzufahren. Als er fertig war, steckte er den hinteren Teil der Ski in den Schnee, damit sie nicht weggleiten würden. Er kniete sich neben Susanne, hob einen ihrer Ski, an dem ihr Fuß noch immer festgemacht war, und drehte ihn um 180 Grad, in eine Richtung mit dem anderen.

»Ist das besser?«

Sie seufzte. »Viel besser.«

»Warum setzt du dich nicht auf und schwingst deine Beine herum, damit sie im rechten Winkel zur Steigung sind. Wenn sie bergab zeigen, werden sie unter dir hervorschießen, wenn du aufzustehen versuchst.«

Susanne versuchte es, aber es sah nicht hübsch aus.

Vielleicht hätte er das Geld für Skiunterricht berappen sollen. Er könnte sie anmelden, wenn sie vom Berg herunterkamen. Er schaute sich um, hoffte, dass sie nahe waren. Die Hütte war nirgendwo in Sicht.

Mach falls sie jemals den Berg runterkamen draus.

Susanne legte ihren Kopf schief. »Worüber murmelst du?«

Patrick klemmte seine Lippen zusammen. Er hatte die unverbesserliche Angewohnheit leise mit sich zu reden. Eine Männerstimme über ihnen ersparte es ihm zuzugeben, dass er kurz davor war, wegen dem Unterricht klein beizugeben.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Patrick erkannte die Stimme und drehte sich in Richtung seines Freundes Henry Sibley. »Hey Sibley. Hab’ dich eine Weile nicht gesehen.« Henry fuhr in Levi’s, einem Cowboyhut aus Filz, einer Sonnenbrille und einer Wachsjacke Ski. Er sah sogar auf Ski wie ein Farmer aus.

Henry musste zweimal hinsehen. »Patrick? Ich habe dich mit diesem abhaarenden Murmeltier, das an deinem Gesicht hängt, kaum erkannt.«

Patrick rieb über seinen schütteren Backenbart, schüttelte dabei Eisklumpen ab. Sein Bart war eine Art murmeltierorange. Henry hatte im Gegensatz dazu einen dichten schwarzen Bart, ordentlich getrimmt. Patricks war noch nicht lang genug für eine Schere, obwohl er ihn seit Neujahr wie ein Baby gehegt und gepflegt hat. Er ist nur in seiner Trainingsphase. Er zwinkerte. »Der Winter ist lang. Man muss etwas tun, um sich warm zu halten.«

Susanne klinkte sich ein. »Er würde ihn sich auf dem Rücken wachsen lassen, wenn er könnte.«

»Hey, es funktioniert bei Bären.«

»Die halten Winterschlaf in Höhlen in den Bergen, wo du vielleicht endest, wenn du mich ihn nicht bald abrasieren lässt.«

Patrick grinste. Bisher hatte sie seinen Bart noch nicht mitten in der Nacht mit einem Rasierer angegriffen, aber er wusste, dass der Tag kam. »Hey, wo ist Vangie?« Vangie war Henrys sehr schwangere Ehefrau und Susannes gute Freundin.

»Sie ist unten an der Hütte, trinkt eine heiße Schokolade und hat mir gesagt, ich soll ohne sie weiter. Wir sind auf der Ranch unterbesetzt, also bin ich in letzter Zeit nicht viel raus auf die Skipisten gekommen.« Henry positionierte sich fachmännisch bergab von Susanne und ergriff ihre Hand. »Bitte sehr.« Er zog sie auf die Füße.

Sie lehnte sich an ihn, während sie sich stabilisierte. »Danke, Henry. Du lehrst nicht zufällig Ski fahren, oder?«

Lautsprecher knisterten von einem der Masten, die die Kabel des POMA-Lifts stützten. Nach einem durchdringenden Störgeräusch dröhnte eine Frauenstimme: »Arzt des Tages, Sie werden unten an der Hauptpiste gebraucht. Arzt des Tages, melden Sie sich unten an der Hauptpiste.«

Patrick hob seine Hand. »Die Pflicht ruft.« Er blickte den Hügel hinab. Die Piste war beängstigend. Er hoffte, dass, wer auch immer verletzt war, keine sofortige Hilfe benötigte. Es würde eine Weile brauchen, Susanne dorthin zu bringen.

Henry nickte. »Mich auch. Ich gebe Susanne Unterricht. Wir sehen dich unten.«

Susanne und Patrick sagten gleichzeitig: »Gott sei Dank.«

»Du bist ein guter Mann, Sibley.« Patrick grüßte mit zwei Fingern an seiner Stirn. Dann legte er seine Ski wieder an und richtete sie quer zum Berg aus.

Geh es langsam an, coachte er sich. Quere den Berg. Fall nicht – es ist einfacher, aufrecht zu bleiben als hochzukommen. Glücklicherweise war nicht viel Verkehr auf der Piste, also konnte er seine Geschwindigkeit kontrollieren, indem er die weiten Bögen machte, welche das Buch für Anfänger empfohlen hatte. Ich bekomme den Bogen raus. Vielleicht wäre der teure Unterricht doch nicht nötig.

Er glitt wackelig in eine Kurve. Eine Bewegung in den Bäumen zu seiner Rechten zog seine Augen auf sich. Er sah etwas Gelbbraunes und Tiefliegendes mit einem zuckenden Schwanz mit schwarzer Spitze. Berglöwe – hier und am helllichten Tag? Er wusste, dass sie oben in diesen Bergen lebten, hatte seine eigene persönliche Erfahrung aus nächster Nähe mit einem. So rasch wie es erschien, war das Tier jedoch verschwunden, und er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt gesehen hatte.

Er wandte seine Konzentration darauf zurück, seinen Bogen zu beenden. Die imposante Hütte und ihre breite Terrasse kamen in Sicht. Erleichterung überflutete ihn. Er konnte das Getöse glücklicher Stimmen so klar hören, als stünde er inmitten der Menge. Mittagessenszeit? Er fühlte sich selbstsicherer und er hasste es, wie ein Verlierer auszusehen, also verengte er seine Bögen und kämpfte seine Ski aus der Schneepflugposition heraus und in etwas Respektableres. Seine Geschwindigkeit nahm zu. Trotz seiner Sonnenbrille neckte der Wind Tränen aus seinen Augen und brannte auf seinen Wangen. Seine Selbstsicherheit wuchs. Er fuhr Ski. Er fuhr wirklich Ski. Als er sich dem unteren Ende der Piste näherte, sah er eine Gruppe von zehn Leuten zusammengeschart, ihre Rücken ihm zugewandt und ihre Augen auf einer Person, die im Schnee lag. Das musste sein Patient sein.

Er plante seine Annäherung und, noch wichtiger, sein Anhalten. Das Skilehrbuch empfahl für Anfänger einen tiefen Schneepflug, aber er fuhr nicht länger Ski wie ein Anfänger. Seine Bögen waren ziemlich gut geworden, wenn er das so sagen durfte. Fortgeschrittene Anfänger hielten beim Skifahren an, indem sie ihre Ski gegen den Hügel drehten und ihre Kanten eingruben. Das war, was er tun würde.

Er fing an, nach einem Platz zu suchen, um seinen Bogen einzuleiten, einen, der ihn gut entfernt von der Gruppe sein ließ. Die Skipiste war durch den Wind und einer Vielzahl von Ski blank vom Puder gefegt worden, und er konnte keinen Fleck finden, der ihm gefiel. Die Piste war hier unten breiter, und je länger er ohne einen Bogen oder einen Keil querte, desto mehr Geschwindigkeit baute er auf. Er sah, dass er zu nahe an den Lift zog. Er musste sofort drehen oder er würde über das Schlepptau schlittern. Sein Magen flatterte, aber er ignorierte seine Nerven und warf sich in seinen Bogen. Seine Ski glitten seitwärts unter ihm heraus. Er hörte das abscheuliche Geräusch ihrer Metallkanten, die gegen Eis kratzten, spürte die Empfindung bis hoch durch seine Beine. Er fiel jedoch nicht und er ruderte nur ein wenig mit seinen Armen.

Aber jetzt hatte er ein langes Stück Immobilie vor sich, bevor er seinen Patienten erreichte, und auf seiner Talseite keinen Platz mehr für einen weiteren Bogen. Zu seinem Missfallen nahm er auf dem gepressten Schnee viel rascher Geschwindigkeit auf. Während er auf die Gruppe zubretterte, verlagerte er sein Gewicht bergauf, um seine Kanten einzugraben, aber das schien ihn nur schneller zu machen.

Er war außer Kontrolle, hatte nur noch 15 Meter vor sich.

In schierer Verzweiflung wechselte er tief in die Schneepflugposition, hatte dabei seine Beine gebeugt und seine vorderen Spitzen zusammen und hinteren Spitzen weit auseinander. Seine Ski schlugen gegeneinander, und innerhalb von Sekunden brannten seine Oberschenkel. Er sank tiefer, betete. Lieber Gott, bitte hilf mir dabei, vor all diesen Leuten keinen Hanswurst aus mir zu machen.

Sein Gebet blieb unbeantwortet. Er fuhr über die Enden des Satzes Ski der ersten Person, was ihn zu einem schleifenden Halt brachte, und er umgrätschte die Beine des nächsten Skifahrers. Einer nach dem anderen purzelten die Leute um wie Dominos, bis er jeden in der Gruppe neben seinem Patienten umgehauen hatte, außer einer Frau. Einen Moment lang gab es vollkommene Regungslosigkeit und Stille. Sein Gehirn wurde albern und er dachte: Vielleicht ist das Spiel Bowling statt Domino. Mir fehlt nur ein Pin zum Strike.

Er räusperte sich. »Entschuldigung. Sind alle okay?«

Ein Mann unter ihm schrie: »Was zur Hölle? Sie sind mit Ihren Ski über mein Handgelenk gefahren. Hätten es abhacken können. Diese Dinger wachsen nicht nach, wissen Sie?«

»Gehört in die Skischule«, murrte jemand anders. »Eine Gefahr für sich und andere.«

»Mein Sohn ist verletzt und Sie sind beinahe geradewegs mit Ihren Ski über ihn gefahren«, sagte eine Frau neben ihm vom Boden aus. Sie hob ihr Gesicht an. Ihre Augenbrauen waren mit Schneekristallen überzogen. »Sie sollten nicht hier draußen sein, wenn Sie sich nicht kontrollieren können.«

Patrick schloss seine Augen. Falls es ihm irgendwo wehtat, lenkte ihn der Stich der Demütigung davon ab. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Aber er musste ihnen sagen, wer er war, damit er seinem Patienten helfen konnte.

Er öffnete seine Augen, lächelte grimmig und sagte: »Hat jemand nach dem Arzt des Tages gerufen?«

ZWEI

UMLENKEN

Bighorn Mountains, Buffalo, Wyoming

Samstag, 5. März 1977, 11:15 Uhr

Perry

Perry richtete seinen Keil bergab aus und ließ den Wind in seine Jacke rütteln und seine Nase kitzeln. Die Bäume waren auf jeder Seite von ihm verschwommen. Er war noch nie so schnell gewesen, außer in einem Auto, und es war unglaublich. Er mochte diese Ski-Sache. Er war nur froh, dass sein Dad sie nicht dazu gezwungen hatte, sich für die Skischule anzumelden, wo er den ganzen Tag lang mit einer Gruppe Babys hätte abhängen müssen. Ski fahren war einfach. Warum waren sie vorher nicht hergekommen? Sie lebten seit zwei Jahren in Wyoming und er hätte diese ganze Zeit lang im Winter Ski fahren können. Er hätte sogar seine Geburtstagsfeier im Januar hier oben haben können. Nächstes Jahr würde er das bestimmt.

Er dachte eine Sekunde lang über seinen Sportplan nach. Die Football-Saison wäre bis zu dem Zeitpunkt vorbei, wenn die Skisaison anfing, also konnte der Coach ihm nicht sagen, dass er nicht Ski fahren soll. Hatte die Buffalo High ein Skiteam? Er hoffte, er fing nicht zu spät damit an, aber er konnte schnell lernen, wie er es beim Football getan hatte. Ein kleiner Kitzel durchlief ihn. Er konnte ein Rennfahrer sein. Ein Abfahrtsläufer wie Andy Mill. Er hatte ihn während der Olympiade heftig angefeuert. Obwohl Andy verletzt gewesen war, hatte er so sehr fahren wollen, dass er sein Bein vor seinem Wertungslauf in den Schnee gesteckt hatte, bis es taub war, und dennoch mit dem sechsten Platz beendet. Er war taff, wie Perrys Dad. Wie Perry sein wollte.

Wenn du nicht groß bist, musst du taff sein, und Perry war definitiv klein. Seine Schwester wurde dem nie müde, ihn daran zu erinnern, was für ein Wicht er war. »Es geht nicht um die Größe des Hundes im Kampf, es geht um die Größe des Kampfes im Hund«, sagte sein Dad immer zu ihm. Sein Dad hatte irgendwie Recht, aber ein großer Hund mit großem Kampf in sich war immer noch das Beste, nach Perrys Denkweise. Deshalb hatte er zu seinem Geburtstag um Hanteln und Knöchelgewichte gebeten. Er hatte sie auch benutzt. Es war nicht fair. All seine Freunde schossen hoch wie Unkraut. Perry maß jeden Tag seine Größe an einer Zielmarkierung, die er innen in den Türpfosten seines Schranks gemacht hatte – die Größe seines besten Freundes John am Ende der Football-Saison – und, zu seiner großen Enttäuschung, schien er nicht aufzuholen. Oder dass ihm auch nicht irgendwelche Bart- oder Brusthaare wuchsen. Er würde es wissen, wenn es so wäre, weil er eine Lupe benutzte, um jeden Abend nachzusehen.

Er hielt im Schneepflug an. Sein Knöchel zitterte und er schmerzte. Er hatte ihn sich letzten Herbst beim Football gebrochen, ihn dann im Dezember wieder verletzt, und er hatte den Gips erst zwei Wochen zuvor wegbekommen. Ski fahren mit einem kaum verheilten gebrochenen Knöchel? Gut dass er seine Knöchelgewichte benutzt hatte. Er grinste. Vielleicht war er also ein wenig taff.

Er schaute sich um. Er konnte die große, blockartige Hütte am Fuß des Bergs sehen. Er war auf der letzten Steigung vor der weitoffenen Skipiste herunter zu ihrer Holzterrasse. Hatte er die Zeit, um mit dem Lift einmal mehr vor dem Mittagessen hochzufahren? Sein Magen knurrte. Nö. Er würde definitiv das Sandwich in seiner Tasche essen, wenn er unten ankam. Aber er musste es nicht eilig haben, um dort anzukommen.

Seine Lippen stachen und er fuhr mit seiner Zunge darüber. Rissig, trocken und blutig. Er legte seine Handschuhe in den Schnee zu seinen Füßen, zog seinen Lippenpflegestift heraus und rieb ihn darüber. Es war zu kalt, als dass er sich gut verteilte, und er schmeckte nach Wachs. Er rieb weiter, bis er etwas aufgetragen bekam. Als er seine Hand ausstreckte, um ihn in seine Tasche fallen zu lassen, glitt ihm der Stift aus den Fingern. Er verschwand im Puder bei seinen Handschuhen. Das war okay. Er hatte sowieso nicht viel genutzt. Er schlüpfte mit einer Hand wieder in einen seiner Handschuhe, wackelte mit seinen Fingern und zog ihn an, wiederholte dann den Vorgang auf der anderen Seite.

Ein Satz Skispuren steuerte von der Strecke und in den Wald, weit auseinander, als wäre jemand mit seinen Beinen in einem großen V gefahren. Der Weg sah ziemlich flach und wirklich spaßig aus. Er konnte das schaffen. Seine einzige Sorge war, wenn er steckenblieb. Seine Eltern hatten ihn keine Stöcke leihen lassen, auf Empfehlung des alten Mannes, der die Ausrüstung austeilte. Falls es irgendwelche ebenen Strecken gab, würde Perry seine Ski abnehmen und laufen müssen. Kein Problem, beschloss er. Er würde das machen.

Zuerst, da sein Dad ihn immer über Überleben in der Wildnis belehrte, dachte er seine Vorräte durch: ein Sandwich und sein Taschenmesser. Das war’s. Nicht einmal mehr einen Lippenpflegestift. Wahrscheinlich nicht alles, was er brauchen würde, falls er von einer Lawine erwischt wurde, von einem Elch angegriffen wurde oder hinfiel und sich das Bein brach. Aber nichts dieser Dinge würde passieren.

Sein Dad hatte die Neigung, wegen kleiner Dinge überzureagieren. Wie viel Schulsachen kosteten, den Müll einen Tag zu spät rauszubringen oder Zeug zu verlieren. Deshalb hielten seine Mom, Trish und Perry manchmal Dinge vor seinem Dad geheim, denn wie seine Mom immer sagte: »Was dein Dad nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

Wie jetzt, wenn Perry wusste, dass er in Ordnung wäre.

Perry blieb in seinem Keil, drehte, indem er kleine Schritte machte, bis er in der richtigen Richtung ausgerichtet war. Dann beugte er seine Knie und lehnte sich vor. Er nahm rasch Geschwindigkeit auf, bis er auf das Puder traf. Einmal hatte er bei seinem Fahrrad die Bremsen zu hart gedrückt und war geradewegs über den Lenker gegangen. Das war fast so schlimm. Er ruckte rückwärts mit seinen Armen ausgestreckt, um sich davon abzuhalten, auf sein Gesicht zu fallen. Seine Haltung ließ ihn an die Skispringer denken, denen er bei der Olympiade zugeschaut hatte. Diese riesigen Sprünge waren definitiv nichts, was er versuchen wollte, aber ein kleiner wäre okay.

Bäume schossen auf seinen beiden Seiten vorbei. Hohe mit dicken Kiefernzweigen und ganz kleine, die gerade erst ihre Spitzen aus dem Schnee steckten. Er fuhr über einen der Kleinen. Ein Kiefernzapfen flog lautlos in den Schnee neben ihn. Es war so still, dass die Ruhe laut schien. Alles, was er hören konnte, war der Wind in seinen Ohren und das Schnattern eines wütenden Eichhörnchens.

Hin und wieder gingen seine Spitzen unter tiefes Puder und er hatte damit zu kämpfen, aufrecht zu bleiben. Ein paar wenige Male traf er fast einen Baum, was ein bisschen furchterregend war. Aber meistens fühlte er sich einfach stark und frei. Sein Dad war nie durch einen Wald Ski gefahren, oder überhaupt. Perry war der Erste in seiner Familie, der etwas derart Cooles tat.

Ein widerhallender Knall zerriss die Stille. Es fühlte sich an, als hätte etwas auf sein Trommelfell eingeschlagen. Sein Herz begann wie der Trommelwirbel einer Basstrommel zu schlagen. Er ging so heftig in den Schneepflug, dass sein Hintern beinahe den Boden berührte, aber er konnte nicht anhalten, nicht bis sich seine Ski an Bäumen auf beiden Seiten des Pfads verkeilten.

Die Stille war jetzt sogar noch lauter, abgesehen von seiner schweren Atmung. Er versuchte sie zu verlangsamen, aber es nützte nicht viel. Er klang noch immer wie sein Hund Ferdinand, nachdem er einen Hasen gejagt hatte.

Was hatte dieses Geräusch gemacht? Hatte sich ein Baum durch die Kälte gespalten? Er hatte in der Schule gelernt, dass sie das tun konnten. Falls es das war, was es war, hätte er auf ihn fallen können. Er suchte den Wald ab, suchte nach einem umgestürzten Baum oder irgendetwas Ungewöhnlichem. Ungefähr 30 Meter durch die Bäume sah er, wie sich etwas bewegte. Es war eine Person in einem weißen Tarnfarbenschneeanzug, trug eine dieser Hauben mit einer angebrachten Gesichtsmaske, die den Hals bedeckte. Die Person schmiss eine lange, schmale Tasche mit Ausrüstung auf das Heck eines gelben Schneemobils und stieg auf. Was ist in der großen Tasche? Das war kein großartiger Ort für ein Picknick-Mittagessen. Oder für eine Fallenjagd, und das Einzige, das noch Saison hatte, war Wiesel –, was Perry nur wusste, weil Johns Dad auf Fallenjagd stand und die ganze Zeit darüber sprach, wenn Perry die Nacht in ihrem Haus verbrachte.

Die Person drehte sich um und sah ihn. Perry winkte, aber die Person winkte nicht zurück. Perry rief beinahe eine Begrüßung, da er dachte, die Person konnte Perry nicht sehen, weil er mit dem Wald verschmolz, aber dann begriff er, dass es keinen Sinn machte. Seine Jacke war rot-gelb. Er würde in dem ganzen Schnee hervorstechen und nicht damit verschmelzen. Dann bedachte er, die Person wegen dem Knall, den er gerade gehört hatte, zu warnen, aber die Person schaute weg, bevor er das konnte.

Sein Magen machte einen komischen Salto und begann wehzutun, etwas, das er in letzter Zeit immer tat, wenn er nervös wurde. Er riss seine Hand ruckartig aus der Luft und drehte sich so schnell er konnte, bereit wie verrückt hier mit den Ski rauszufahren. Aber der Pfad zurück zur Skipiste ging mehr bergauf als er dachte, als er hinausfuhr. Er ächzte. Es war nicht steil, aber war definitiv nicht eben. Er würde hinauflaufen müssen. Er ließ einen Ski vorwärtsgleiten, was ihn rückwärts anstatt vorwärts schickte. Er versuchte es noch einmal mit demselben Ergebnis. Es fühlte sich an, als würden sich Augen in seinen Rücken bohren, und soweit er wusste, kam ihm die Person näher. Er musste zurück auf den Pfad, so schnell wie möglich. Plötzlich wusste er, was er tun musste. Um zu verhindern, dass er weiter bergab ging, brachte er seine Ski in einen umgekehrten Keil, die vorderen Spitzen auseinander und die hinteren Spitzen zusammen. Es funktionierte. Sein Rückwärtsschwung hörte auf und er konnte ein paar winzige Schritte den Hang hinauf machen.

Dann hörte er, wie ein Schneemobil angeworfen wurde. Er war nahe genug, um die Abgase zu riechen, die auf dem Wind in seine Richtung wehten. Es heulte ein paar Mal auf und nach einigen Sekunden fing sich das Geräusch und hielt sich. Das Schneemobil bewegte sich, ging hoffentlich in die entgegengesetzte Richtung von Perry. Perry kroch weiter langsam den Hügel hinauf. Das Motorengeräusch wurde schwächer. Er lehnte sich gegen einen Baum, um sich auszuruhen, Schweiß tropfte seinen Rücken herunter. Er fühlte sich merkwürdig leichter. Erleichtert.

Die Person war nicht freundlich gewesen, aber es hatte nichts gegeben, weswegen man Angst haben musste. Er verhielt sich nur wie ein großer Angsthase.

Trotzdem war er ganz allein hier draußen, und niemand wusste, wo er hingegangen war.

Perry fing an, sich Zentimeter um Zentimeter wieder den Pfad hinaufzubewegen, ein wenig schneller dieses Mal.

DREI

AUSLASSEN

Bighorn Mountains, Buffalo, Wyoming

Samstag, 5. März 1977, 11:20 Uhr

Trish

»Wirst du, also, überhaupt versuchen, Ski zu fahren?« Brandon Lewis zog an einem von Trishs langen blonden Flechtzöpfen.

Trish neigte ihren Kopf und schaute ihn unter ihren Wimpern hervor an. Sie saß auf der Bank an einem Picknicktisch draußen auf der Terrasse, ihm zugewandt. Die Almhütte blockierte den Wind. Menschen liefen mit ihren Jacken in der strahlenden Sonne umher. Sie konnte sich fast vorstellen, dass sie und Brandon in ihren Flitterwochen an einem schicken europäischen Skiort waren, solange sie den Aufzug der Menschen um sich herum nicht zu genau anschaute, der hauptsächlich aus Bluejeans und Carhartt bestand.

»Nicht ohne dich«, sagte sie.

»Ich kann nicht Ski fahren. Die Endspiele sind echt wichtig für mich, weißt du?«

»Ist okay. Ich habe Spaß.« Sie hob ihre Tasse heiße Schokolade an ihren Mund.

Die Staatsendspiele des Basketballturniers waren nächstes Wochenende in Laramie, und Brandon war ein Forward in der Startaufstellung im Jungenteam von Buffalo. Er wollte auf die University of Wyoming, aber er brauchte wirklich das Geld eines Stipendiums. Es war wichtig, dass er in Laramie vor dem Trainerstab der Cowboys gut spielte. Das Jungenteam hatte die Staatlichen erst vor ein paar Jahren auch zweimal hintereinander gewonnen, also waren sie entschlossen, ihren Titel zurückzuholen, selbst wenn es bedeutete, Wintersport aufzugeben. Er konnte keine Verletzung auf den Skipisten riskieren.

Die Mädchen verteidigten auch ihren eigenen Staatstitel. Trish hätte sehr gerne gespielt, aber sie schmachtete im zweiten Team der Junior-Schulauswahl. Coach Lamkin schien die meiste Zeit nicht einmal zu wissen, dass sie lebte. Die Fantastilliarde an Horse-Spielen, die Trish mit ihrem Dad gespielt hatte, schienen sich nicht auszuzahlen, obwohl mit ihm zu joggen dies getan hat – sie hielt bei Konditionsübungen immer am längsten durch. Und Kondition war wichtig, da jetzt alle Spiele der Mädchen wie bei den Jungs auf dem vollen Feld stattfanden.

Trish beaugapfelte ihren festen Freund. Sie liebte es, ihm beim Basketball spielen zuzuschauen. Sie liebte es, ihm bei wirklich allem zuzuschauen. Er hatte lockiges blondes Haar, das hinten fast seine Schultern berührte. Er war groß und hatte kein Gramm Fett an seinem Körper, dafür aber nette Muskeln an seinen Armen und Schultern. Als sie ihn im letzten Sommer im Stadtbad in Badehosen gesehen hatte, bevor sie ausgingen, war sie von seinem Waschbrettbrauch gebannt gewesen. Sie konnte nicht glauben, wie viel Glück sie hatte, mit einem solch heißen Typen auszugehen.

Sie hatten vor Weihnachten eine Weile lang Schluss gemacht. Und er war sogar mit ihrer Erzrivalin Charla Newby ausgegangen. Aber nur ein Mal. Trish hatte ihn angerufen und ihm gesagt, dass sie ihn vermisste, und sie waren wieder zusammengekommen. Die Dinge waren jedoch nicht ganz so wie zuvor. Er hat sie für den Anfang versprechen lassen, dass sie ihn nicht herumkommandieren und vor seinen Freunden blamieren würde. Das war kein Problem. Sie konnte zugeben, dass sie zuvor nicht die einfachste Freundin gewesen war und sie wäre über Glas gelaufen, um ihn zurückzubekommen. Er war außerdem ein wenig gestresster, da er so hart auf ein Stipendium zuarbeitete, und gelegentlich machte ihn das weniger geduldig mit ihr. Aber er war ihr Seelenverwandter, der Junge, den sie heiraten würde, und sie war bereit, für ihre Beziehung zu arbeiten. Er hatte ihr seine Sportjacke, dieLetter Jacket, die nur Mitglieder der ersten Schulmannschaft bekamen, und seinen Absolventenring gegeben. Das bedeutete etwas, oder? Sie behielt sie allerdings in ihrem Spind in der Schule – ein Geheimnis vor ihrer aller überbehütenden Eltern.

Und die Eltern waren ihr Hauptproblem, besonders Brandons Mom. Mrs. Lewis gab Trishs Familie die Schuld, dass ihr Bruder für Mord vor Gericht stand, und sie würde ihnen sogar noch mehr die Schuld geben, falls er verurteilt wurde, weil Trish und ihre Mom Schlüsselzeugen bei diesem Prozess gegen ihn waren. Es war Brandon nicht erlaubt, sie außerhalb der Schule zu sehen, obwohl sie beide das nicht aufhielt. Sie fanden Wege, um zusammen zu sein. Wie sie es heute getan hatten.

Trish und Brandon vermieden es, über seine Verwandten oder den Prozess zu sprechen. Es war besser so.

Ein kleiner, schlanker Mann in einem glänzenden grauen Geschäftsanzug ging an ihrem Tisch vorbei. Er rutschte aus und fing sich an Brandons Schulter. »Entschuldigung«, sagte er.

Brandon nickte. »Alles cool, Mann.«

Trish schaute auf die Füße des Mannes herunter. Er trug schmale Loafer zum Schnüren mit glatten Sohlen. Nicht das richtige Schuhwerk für vereiste Terrassen an Schneehütten.

Eine weitere Stimme zog ihre Aufmerksamkeit weg von ihm. »Trish Flint, bist du das?«

Vangie Sibley hatte einen starken Tennessee-Akzent, also war ihre Stimme ziemlich leicht zu erkennen. Trish wandte sich ihr zu. Vangie und ihre Mom waren im Grunde beste Freundinnen. Trish hatte Vangie seit einer Weile nicht gesehen und konnte nicht glauben, wie sehr ihr Bauch gewachsen war. Sie war so schwanger, dass es aussah, als wäre ihr Bauch kurz vor dem Explodieren. »O wow, Mrs. Sibley, Sie sehen …«

»Aus, als würde ich eine Wassermelone unter meinem Oberteil verstecken?«

Trishs Wangen wurden heiß. »Tut mir leid. Ich habe nicht, ich schätze, ähm, ich meine, Sie sehen großartig aus.« Und das tat sie. Ihre dunklen Augen funkelten und ihr schwarzes Haar sah in dem Kurzhaarschnitt supersüß aus. Sie sah beinahe jung genug aus, um eine Schülerin an der Buffalo High zu sein, aber sie war alt. Wahrscheinlich fast 30. »Wann kommt Ihr Baby?«

»Hank wird in wenigen Wochen zu uns stoßen. Oder jederzeit, wann auch immer ihm jetzt danach ist, schätze ich.«

»Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?«

Sie lächelte. »Ich habe nur so ein Gefühl.« Sie zwinkerte, wandte sich dann Brandon zu. Als Lehrerin an der Buffalo Grundschule hatte sie alle Kinder in der Stadt unterrichtet. »Hallo Brandon. Viel Glück beim Staatsturnier nächste Woche.«

Er zuckte mit den Schultern. »Danke, Mrs. Sibley.«

Trish blickte gerade rechtzeitig auf die Skipiste, um zu sehen, wie ein Mann eine ganze Reihe Leute plattmachte und niederschlug.

Brandon pfiff. »Oha. Das war irre.«

Trish spähte genauer hin, runzelte die Stirn, und erkannte eine Flanelljacke und dünner werdendes braunes Haar. »Ach du meine Güte. Das war mein Dad.« Dann lachte sie. »Mann, ich wette, das ist ihm peinlich. Ich hoffe, er hat niemandem wehgetan.«

Mrs. Sibley schirmte ihre Augen ab und stand auf ihre Zehenspitzen. »Einer der Leute, die er niedergeschlagen hat, könnte Richter Renkin sein. Das da an der Seite ist seine Frau, die sich etwas von der Jacke wegwischt.«

»Kaffee«, sagte Brandon. »Sie hält noch den Becher.«

Ein lauter Knall erklang, hallte dann über den See. Brandon und Trish sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ein Gewehr«, sagte er. »Ein Großes.«

»Es ist keine Jagdsaison«, sinnierte Mrs. Sibley.

Trish schaute sich um. Wo hätte der Schuss herkommen können?

Dann schrie eine Person, kurz danach gefolgt von einer weiteren, und noch einer.

»O mein Gott.« Mrs. Sibleys Hand flog, um ihren Mund zu bedecken.

»Was ist denn?«, fragte Trish.

»Jemand unten am Hang ist angeschossen worden.«

Trish verrenkte ihren Hals in Richtung des unteren Teils der Piste. Leute standen da und deuteten, blockierten ihr Sichtfeld. Sie sprang auf ihre Füße. Ihr Dad. Ihr Dad war da unten.

»Daddy«, schrie sie. »Daddy.«

Und dann rannte und stolperte sie unbeholfen in ihren Skistiefeln auf den Fleck zu, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.

VIER

HILFE

Bighorn Mountains, Buffalo, Wyoming

Samstag, 5. März 1977, 11:25 Uhr

Susanne

Susanne behielt ihre Augen auf Henry Sibleys Rücken, während sie ihm langsam den Berg hinab folgte. Er ließ es so mühelos aussehen.

Er machte eine Pirouette und fuhr rückwärts Ski. »Habe ich noch die richtige Geschwindigkeit? Ich will dich nicht verlieren.« Ohne seine Augen von ihr zu nehmen, führte er einen weiten Bogen aus, glitt dabei noch immer falsch herum.

»Alles gut«, sagte sie, wankte dann.

»Streck deine Arme aus. Als ob du auf einem Stamm über einen Creek gehst.« Er betonte Creek wie »Crick«, wie es alle in Wyoming taten. Sie dachte noch immer, dass es seltsam klang, selbst nach ein paar Jahren in dem Staat. Es ließ sie sich auch fühlen, als würde sie ihren texanischen Akzent überspitzen. Sie wollte ihre Wurzeln nicht verlieren, selbst wenn sie und Patrick kürzlich in das Haus ihrer Träume auf einem Steilufer über dem Clear Creek, gleich westlich von Buffalo, gezogen sind.

Sie hob ihre Arme, wie sie es als Mädchen auf dem Schwebebalken beim Turnen getan hatte. Es funktionierte, und sie blieb auf den Füßen.

»Siehst du? Hilft das nicht?«

»Das tut es. Danke.«

»Das ist fürs Gleichgewicht. Nun, wenn du die Bögen leichter machen willst, rück diese Arme vor dich und deute mit ihnen quasi in die Richtung, in die du fahren willst. Als lenkst du ein Fahrrad. Ich werde es dir zeigen.«

Henry schwenkte herum, um wieder in die richtige Richtung zu blicken, wobei seine Hände vor ihm waren. Er drehte wieder, folgte seinen Armen, als würde er ein Fahrrad lenken. Oder ein Boot.

Susanne versuchte es. Ihr Körper folgte ihren Händen, ein wenig. »Wow, ich denke, das hat auch geholfen.«

Er grinste über seine Schulter. »Du bist ein Naturtalent.«

Sie wusste, das war nicht wahr, aber es war nett von ihm, das zu sagen.

Unterhalb von ihnen weitete sich der Weg und endete unten am Skiort. Sie konnte den gefürchteten POMA-Lift, die Hütte und deren breite Terrasse und den Parkplatz dahinter sehen. Es schien dennoch ein langer Weg nach unten und das Verlangen, bereits dort zu sein, schmerzte sie. Sie könnte ihre Füße hochlegen und mit Vangie heißen Kakao trinken. Oder einen Hot Toddie. Sie verdiente einen hiernach. Aber wie würde sie Patrick davon überzeugen, dass sie für einen Tag genug vom Skifahren hatte? Sie konnte ihn schon hören. Er würde ihr erzählen, wie die Kosten pro Stunde für ihr Liftticket und ihre Ski nach oben gingen, wenn sie nur den halben Tag Ski fuhr. Aber sie hatten nicht dafür bezahlt, also kümmerte es sie nicht. Der Gedanke, wieder diesen Lift hochzugehen, ließ sie erschaudern, ganz zu schweigen davon, den Berg herunterzufahren.

Ein lauter Knall schreckte sie auf. Sie schaute in Richtung des Geräuschs, weg von ihrem Pfad, und die Spitzen ihrer Ski überkreuzten sich. Sie ging in einem ungraziösen Haufen zu Boden. Wie ein Nilpferd auf Rollschuhen, stellte sie sich vor.

Henry drehte sich um und fuhr bergauf, um ihr zu helfen. Ihre Ski waren nicht abgeknallt, also zog er sie mit einer Hand hoch, hielt fest, bis sie standhaft war.

»Was war dieses Geräusch?«, fragte sie.

»Gewehr, klang so. Obwohl es außerhalb der Saison ist. Vielleicht hat jemand einen griesgrämigen Bären verscheucht, der hätte schlafen sollen.« Er zeigte ihr ein Daumen hoch. »Letztes Stück. Bist du bereit?«

Sie konnte in ihren Fäustlingen nicht wirklich den Daumen heben, aber sie zeigte ihm etwas, das nahe daran war. »Bereit.«

Sie fuhren mehrere Minuten lang schweigend Ski. Susanne fokussierte all ihre Energie auf keine Stürze mehr, obwohl ihre Oberschenkel zitterten, und es schien, als wäre alles, das sie trug, feucht von Schweiß und geschmolzenem Schnee.

»Etwas geht vor sich.« Henry hielt an und zeigte auf die Menschenmenge am Fuße des Hügels.

Susanne schaffte es, neben ihm anzuhalten. Stimmen summten um die Hütte herum, als wäre sie ein Bienenstock. Menschen rannten aufgeregt herum. Niemand war auf dem Lift. Und die Menschenmenge vor der Terrasse war angeschwollen. Etwas ging vor sich. »Vielleicht hat das etwas mit dem Ruf nach dem Arzt des Tages zu tun.«

»Dieser Aufruf war vor beinahe einer halben Stunde.« Henry runzelte die Stirn. »Komm. Ich fühle mich nicht gut dabei, Vangie dort unten allein zu lassen.«

Sein Unbehagen war ansteckend. Patrick war auch da unten. Und vielleicht Trish und Perry. Sie folgte ihm, fuhr schneller als sie dachte, dass sie könnte, und kam sieben Meter vor der sich stetig ausdehnenden Menschenmenge auf dem Schnee im Schneepflug zum Stehen.

»Was ist los?«, sagte Henry zu einem Mann, der zurück in Richtung Parkplatz ging.

Die Augen des Mannes waren groß. »Jemand wurde angeschossen. Ich bin hier weg.«

Panik stieg explosionsartig in Susannes Brust an und schoss kribbelnd durch ihren Körper. Sie rang sich aus ihren Skibindungen, ließ die Ski und Stöcke auf dem Boden. Sie eilte auf die Terrasse, war in den steifen, schweren Stiefeln ungeschickt. Sie musste ihre Familie finden.

»Mom!«, schrie jemand. Einer ihrer jemandes.

Sie schaute auf und sah Trish die Stufen von der Terrasse heruntereilen.

»Dad war dort.« Trish erreichte sie und deutete.

Susannes Hand flog an ihre Kehle. Patrick. Trish packte ihren Arm und zerrte sie zurück in Richtung der Ansammlung von Menschen auf dem Schnee.

Henry erschien auf der anderen Seite. »Komm.« Er stieß sich mit der Schulter in die Menge und sie folgten.

Susannes Herzschlag war ohrenbetäubend und ihr Sichtfeld hatte sich verengt. »Patrick! Patrick, wo bist du?« Ihr Ehemann. Die Liebe ihres Lebens. Der Mann, für den sie sterben würde. Er durfte nicht verletzt sein. Angeschossen. Tot. Er durfte einfach nicht. Sie waren seit ihren frühen Teenagerjahren zusammen, heirateten, bevor sie 20 wurden, und hatten Kinder, bevor er seinen Abschluss an der medizinischen Hochschule gemacht hatte. Er war geizig, er war peinlich genau, aber er war liebevoll, loyal und er war der Einzige für sie. Sie konnte ihn nicht verlieren.

Sie war jetzt in einem Labyrinth aus Menschen gefangen. Sie schrie lauter. Warum antwortete er ihr denn nicht? Und warum ließen die Leute sie nicht durch?

Aber Henry war ein Kopf größer als sie. Er blieb plötzlich stehen. »Ich sehe ihn.«

Sie umklammerte sein Handgelenk. »Ist er in Ordnung?«

»Wo ist er?«, heulte Trish.

Henry deutete. »Er sieht in Ordnung aus. Er ist unten am Boden und kümmert sich um jemanden. Da ist eine Menge Blut, also schätze ich, es ist die Person, die angeschossen wurde.«

Susanne konnte ihren Mann noch immer nicht sehen, aber sie nahm Trish in ihre Arme. »Gott sei Dank, Gott sei Dank«, flüsterte sie ins Haar ihrer Tochter.

»Er ist okay?«, wiederholte Trish.

Henry nickte. »Ja. Lasst mich sehen, ob ich uns näher hinbringen kann. Dann muss ich nach Vangie sehen.«

»Ich war bei ihr, als das passiert ist. Sie ist oben auf der Terrasse«, sagte Trish.

Henry stieß einen Seufzer aus. »Gut.« Dann hob er seine Stimme. »Wir kommen durch, Leute. Wir gehören zum Arzt. Lasst uns durch.«

Die Meere teilten sich, ein wenig. Genug, um durchzulaufen. Am Ende des menschlichen Tunnels und leicht bergabwärts von ihr sah Susanne ihn. Ihren Ehemann. Ihren gutaussehenden, mitfühlenden, talentierten Ehemann. Er kniete neben einer Frau in Schwarz, deren langes graues Haar um ihrem Kopf und ihre Schultern herum ausgefächert war. Ihr Hals und ihre Brust waren mit Blut bedeckt. Während Susanne in seine Richtung ging, riss Patrick seinen karierten Flanellmantel weg, zog dann sein Taschenmesser aus seiner Jeans.