Knotenpunkte - Christopher Hoenig - E-Book

Knotenpunkte E-Book

Christopher Hoenig

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Beschreibung

Jonathan ist siebzehn, zurückhaltend und ohne großen Plan für sein Leben. Doch als er Madeleine kennenlernt, ergibt plötzlich alles einen Sinn. Er will mit ihr zusammen sein, ihre verrückten Ideen unterstützen und alles tun, um ihr zu gefallen. Das seltsame Gefühl in seinem Bauch ignoriert er dabei. Zwei Monate später wacht er im Krankenhaus auf - ohne jede Erinnerung an den gestrigen Tag. Einzig seine Trennung von Madeleine und der stechende Blick einer Ente wabern durch sein Gehirn. Alles andere liegt in dichtem Nebel. Vorsichtig fängt er an nachzuforschen. Verknüpft seine Erinnerungen neu. Kämpft sich immer weiter durch das Netz aus Liebe und Lügen, in das Madeleine ihn verstrickte. Sie ist nicht nur seine Exfreundin. Sie ist auch das größte Rätsel, das ihm je begegnete. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die erste Beziehung und das Mysterium, das andere Menschen darstellen können.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Als Madeleine in Jonathans Schulklasse kommt, steht das Abitur kurz bevor. Danach beginnt das große Unbekannte, vor dem Jonathan panische Angst hat. Eigentlich hat er gar nicht vor, sich mit ihr anzufreunden. Doch dann kommt alles anders: Ein Schicksalsschlag bringt die beiden zusammen; lässt sie erst Verbündete, dann Freunde und schließlich mehr werden.

Leider hält die große Liebe nicht ewig.

Als Jonathan eines Tages im Krankenhaus erwacht, erinnert er sich nur noch an die Trennung von Mads – nicht aber, wieso die beiden in einen mysteriösen Verkehrsunfall verwickelt sind. Offenbar spielen ein kaputtes Mofa und ein gestohlener Sportwagen eine wichtige Rolle. Wie es aber dazu kommen konnte, bleibt ein großes Rätsel.

Um Licht ins Dunkel zu bringen, durchforstet Jonathan alle Erinnerungen an die gescheiterte Beziehung. Je tiefer er gräbt, desto mehr muss er erkennen, dass er seine Exfreundin nie wirklich kannte.

Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen, Orten und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Markennennungen im Buch dienen ausschließlich zur Beschreibung von Handlung und Szenerie und sind nicht werblicher Absicht.

Für meine Freunde,

meine Familie

und dich

Inhaltsverzeichnis

Einen Tag danach

Fünfundsechzig Tage davor

Drei Tage danach

Vierundsechzig Tage davor

Vier Tage danach

Sechzig Tage davor

Fünf Tage danach

Siebenundfünfzig Tage zuvor

Neun Tage danach

Sechsundfünfzig Tage davor

Zehn Tage danach

Zweiundfünfzig Tage davor

Zwölf Tage danach

Fünfzig Tage davor

Dreizehn Tage danach

Vierunddreißig Tage davor

Fünfzehn Tage danach

Zweiunddreißig Tage davor

Siebzehn Tage danach

Vierzehn Tage davor

Achtzehn Tage danach

Zwölf Tage davor

Zwanzig Tage danach

Elf Tage davor

Zwanzig Tage danach

15 Uhr

Drei Tage davor

Zwanzig Tage danach

17 Uhr

Einen Tag davor

Zwanzig Tage danach

19 Uhr

Die Nacht

Fünfundsechzig Tage danach

Hallo Mads

Einhundert Tage danach

Danksagungen

Ein keiner Hinweis in eigener Sache …

Einen Tag danach

Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist meine Trennung vom aufregendsten Mädchen der Welt. An ihr zerbrach ich mein Herz – erst unbemerkt und dann unaufhaltsam. Doch all der Schmerz ist keine Erklärung für den Zustand, in dem ich wieder zu Bewusstsein komme. Ich kann mich nicht bewegen, nichts sehen und nichts fühlen. Einzig meine Ohren senden dumpfe Signale an mein matschiges Hirn.

»Er ist wach!«, sagt eine Stimme neben mir, der ich nicht widersprechen kann, denn auch wenn mein Schädel brummt und mein Körper mir eindringlich rät, möglichst keinen Muskel anzuspannen – wach bin ich. Das ist schon die einzige sichere Aussage, die ich zu meinem Zustand treffen kann. Alles andere – wer, wie, wo, wann, warum – ist in einen dichten Nebel gehüllt, der irgendwo zwischen meinem Lang- und meinem Kurzzeitgedächtnis hin und her wandert. Ich sollte ihn durchdringen, Antworten suchen, auch wenn jeder klare Gedanke unfassbar anstrengend ist.

Beginnen wir unsere Bestandsaufnahme mit dem Wer: Jonathan Haas. Meine beiden Gehirnhälften geben sich ein virtuelles High Five, als sie meinen Namen rekonstruieren. Jonathan Haas, annähernd achtzehn Jahre alt und auf dem besten Weg, ein bestenfalls durchschnittliches Abitur zu erlangen, um dann auf einem durchschnittlichen Karrierepfad ein durchschnittliches Leben zu führen. Toll!

Wie: keine Ahnung. Echt nicht.

Während mein Kurzzeitgedächtnis sich beschämt abwendet, springt mein Langzeitgedächtnis voller Freude auf und kippt eine große unsortierte Kiste voller Erinnerungen über mir aus, die so chaotisch ist wie die LEGO-Kiste meines Bruders. Moment. Ich habe keinen Bruder. Hatte ich jemals eine LEGO-Kiste? Egal.

Ich nehme mir eine Handvoll Erinnerungen und lasse sie durch meine imaginären Finger rieseln. Segelboote und ihr Lachen … ein dunkelblauer Sportwagen … ihre Augen sind braun mit einem grünlichen Rand und es müsste ein Porsche sein, doch ja – ein Porsche. Wie heißt sie? Kreuzknoten. Palstek … insgesamt prasseln über 3000 Bezeichnungen von Knoten auf mich ein, während ich verzweifelt nach dem Namen des Mädchens suche, weil ich glaube, ihn laut aussprechen zu müssen und dann ist da noch eine Ente! Sie sieht mich aus zwei panischen Augen an – nicht braun mit grünem Rand, sondern schwarz und klein, obwohl ihr Kopf schon grün ist, wie bei den meisten heimischen Enten, zumindest bei den männlichen, also ist es wohl streng genommen ein Erpel und warum regnet es?

Während mein Bewusstsein mit den neu gewonnen Bruchstücken um sich wirft und mein Magen mir sagt, dass er Hunger hat, stelle ich unterbewusst fest, dass das alles nicht zielführend ist.

Ich sammle alle Eindrücke, die mit meiner braungrünäugigen Exfreundin zusammenhängen, auf einem Stapel und verbanne sie zumindest kurzzeitig. Essenzielle Fragen meines Zustands sind noch offen und um sie zu beantworten, muss ich wohl oder übel etwas wacher werden.

Ich hole tief Luft.

Meine Lungen fühlen sich an wie ein Wasserball, den man nach dem Sommer in den Keller packt, dort vergisst und nach Jahren testweise aufbläst. Aber das Gummi klebt längst zusammen und dann wirft man das nutzlose Teil einfach weg.

Ich schlucke.

Fühlt sich nicht viel besser an. Trinken wäre gut, aber Wasser gibt es wahrscheinlich erst auf einer höheren Bewusstseinsebene. Also los, packen wir's an!

Bereit für neue Sinneseindrücke hebe ich die Augenlider und seltsamerweise kracht es in diesem Moment in meinen Ohren. Während ich also versuche herauszufinden, welchen Raum ich kenne, der eine hellgelbe Wand hat und eine Decke aus großen weißen Karos, wird mein Gehör von einer Flutwelle lauter Geräusche hinweggeschwemmt. Doch anders als meine Augen, lassen sich meine Ohren nicht wieder zukneifen.

Die Stimme, die mein Aufwachen verkündet hatte, gehört zu einem jungen Mann mit Glatze und schwarzem Bart, der mitleidig zu mir hinunterschaut und redet, aber nicht mit mir. Er sieht immer wieder zur Seite und von dort schiebt sich ein vertrautes Gesicht in mein Blickfeld, das ebenfalls redet.

»Gott sei Dank, Jonathan! Wir haben uns solche Sorgen gemacht – ich habe extra all meinen Mandanten für heute abgesagt, um hier zu sein und Papa ist auch ganz fertig mit den Nerven. Kommst du mal bitte her?! Dein Sohn ist wach!«, schreit sie über die Schulter und stapft davon.

»Nicht so laut«, möchte ich flüstern, doch aus meinem Mund kommt nur ein Keuchen.

Wasser!

Der junge Typ mit der Glatze scheint Gedanken lesen zu können und hält mir eine Schnabeltasse aus Plastik vors Gesicht. Ich trinke zwei, drei kleine Schlucke. Danach spüre ich jeden Zentimeter meiner Speiseröhre.

»Wieso sehe ich ständig einen Erpel?«, frage ich den Typen – inzwischen bin ich mir sicher, dass er ein Arzt ist.

»Wie bitte?«, fragt er mich verwirrt zurück; wohl nicht sicher, ob er richtig verstanden und ich nicht mehr sicher, ob ich richtig gefragt hatte.

»Wo bin ich?«

»Marienkrankenhaus. Sie hatten einen Unfall. Können Sie sich nicht erinnern?«

»Nein ich … ich glaube nicht. Welchen Tag haben wir?«

»Donnerstag, fünfter Januar. Sie kamen letzte Nacht zu uns.«

Meine Beziehung beendete ich am Dienstag, davon bin ich felsenfest überzeugt, denn danach war ich bei Mehmet im Laden und dienstags ist dort der Dönerteller im Angebot.

Aber wo ist der Mittwoch hin? In meinem Gedächtnis finde ich ihn jedenfalls nicht.

Meine Eltern kehren ans Krankenbett zurück. Meine Mutter mit einem giftgrünen Hut, der zu ihrem giftgrünen Hosenanzug passt – wie immer perfekt gebügelt, als hätte sie gleich ein wichtiges Kundengespräch.

Mein Vater – mit Jeans und T-Shirt – hat tatsächlich sein Handy am Ohr.

»Vier Kartons mit Tulpen! Keine drei, vier! Ja. Ich rufe gleich zurück, okay?«

Er legt auf.

Meine Mutter sieht ihn missbilligend an, was er gekonnt ignoriert.

»Es ist wichtig, dass du dich jetzt nicht aufregst«, sagt sie.

»Es kommt alles wieder in Ordnung«, sagt er.

»Kann ich ein Seil haben? Oder eine Schnur?«

Meine Mutter kramt sofort in ihrer Handtasche und reicht mir zwei orangene Schnürsenkel. Wenn ich mich nicht aufregen soll, dann muss ich Knoten knüpfen. Nur wenn meine Finger beschäftigt sind, kommt mein Kopf halbwegs klar. In diesem Moment fällt mir auf, dass mein rechter Arm in einem Gips steckt.

Das ist kontraproduktiv.

»Dieses verrückte Mädchen hat dich überfahren!«, platzt es aus meiner Mutter heraus.

»Madeleine heißt sie«, ergänzt mein Vater – mehr an sie als an mich gerichtet – aber ich bin ihm dankbar für diese Information.

»Was soll das bedeuten, sie hat mich überfahren?« Nebenbei versuche ich, einhändig Knoten zu knüpfen. Ich sehe ihre Augen vor mir und ihre Hände, die dünn und fragil waren, aber immer drauf und dran, ein Stück Leben aus dem grauen Alltag herauszubrechen. Warum sollte sie mich überfahren?

»Ihren Frakturen nach zu urteilen, standen Sie auf der Landstraße, als das Auto Sie traf.« Der junge Arzt blättert in seinen Unterlagen. »Sie müssen ziemlich weit durch die Luft geflogen sein.«

»Wie Superman?«

»Nein, eher wie ein Wildschwein.«

Er lacht. Meine Eltern nicht. Aktuell ist er der sympathischste Mensch im Raum. Dann klingelt das Handy meines Vaters. Er handelt mit Kunstblumen. Ein ziemlich unglamoröses Geschäft, auch wenn er das selbst anders sieht. Tatsächlich nimmt er den Anruf entgegen, gerät darüber mit meiner Mutter in Streit und ich habe Zeit nachzudenken.

Warum hat Mads mich überfahren? Wollte sie das? Bestimmt nicht. Na gut, ich war es, der Schluss gemacht hatte, aber sie muss doch gespürt haben, dass es mit uns nicht funktionieren konnte. Ich war einsam, aber sie nur alleine – und am Ende passte das nicht mehr zusammen. Also war es wohl ein Unfall, obwohl es mir unerklärlich ist, was wir nachts auf der Landstraße taten.

»Ist sie auch hier?«

Das Lachen des Arztes verschwindet plötzlich. Er setzt sich auf einen Stuhl neben das Krankenbett.

»Sie ist ebenfalls bei uns, ja. Man hat sie aus dem Fluss an der Straße gefischt, in den sie das Auto nach der Kollision versenkte.«

»Und wie geht es ihr?«

»Darüber darf ich leider keine Auskunft geben.«

»Aber ich muss es wissen! Bitte! Geht es ihr gut – wird sie überleben?«

»Du sollst dich nicht aufregen, Schatz …«

Ich ignoriere meine Mutter und fixiere den Arzt, der zwischen Schweigepflicht und Anteilnahme schwankt.

»Sie lebt. Mehr darf ich nicht sagen.«

Mein Magen verknotet sich.

Sie lebt.

Sie lebt.

Sie lebt noch.

Fünfundsechzig Tage davor

Madeleine und mich verband von Anfang an der Tod. An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal meine Hand nahm, um mir zu sagen, dass ich den Mund halten sollte, sah ich den ersten toten Menschen in meinem Leben.

Doch der Reihe nach: Alles begann an einem grausamen Montagvormittag, der auf einen grausamen Montagmorgen folgte. Zum Beginn der dritten Stunde – Herr Dr. Brauer wollte gerade den Mathe-Pflichtkurs beginnen, um uns zum Abitur zu prügeln – stand plötzlich unsere Direktorin im Klassenzimmer.

»Was will die denn hier?«, raunte Echo – mein Kumpel – und lehnte sich zu mir herüber.

Ich zuckte mit den Schultern. War noch damit beschäftigt, meinen Taschenrechner zu finden und wühlte in meinem Rucksack.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen Frau Hoffer-Ahrens«, ertönte es vielstimmig.

»Hab ich dich!«, zischte ich genervt, als ich meinen Taschenrechner unter dem Pausenbrot von vorgestern hervorzog, Kekskrümel abklopfte und wieder unter meinem Tisch hervorkam.

In der Sekunde, als ich meine Aufmerksamkeit ungeteilt auf das Geschehen im Raum lenkte, trat ein Mädchen aus dem Schatten unserer Direktorin.

»Oha!«, flüsterte Echo und ich konnte seine Reaktion durchaus verstehen. »Sieht so aus, als würde die kurze Zeit bis zum Abi doch noch interessant werden, oder Spargel?«

»Kann sein …«

Spargel – meinen Spitznamen – mochte ich nicht besonders, obwohl er gut passte; wahrscheinlich gerade weil er so gut passte.

»Das ist Madeleine«, verkündete Frau Hoffer-Ahrens. »Und das ist die Kursstufe unserer Schule, zumindest die naturwissenschaftlich orientierte Hälfte.«

Madeleine ließ einen Blick durch die Reihen wandern, streifte mich, blieb kurz am einzig leeren Stuhl im Raum – direkt neben mir – hängen und sah dann wieder auf ihre Schuhe. Schwarze Sneaker.

Sie war groß – und fast alles an ihr schwarz. Jeans, Pullover, Rucksack – schwarz. Die Lederjacke, die sie unter den Arm geklemmt trug – schwarz. Einzig ihre Haare waren dunkelbraun und ein Armband mit rosa Blütenblätter hing von ihrem Handgelenk.

»Herzlich willkommen in unserem Mathekurs der Unfreiwilligen«, begrüßte Dr. Brauer sie. »Hier musst du nicht viel tun, um Klassenbeste zu werden. Im Grunde genommen reicht es schon, wenn du wenigstens die Grundrechenarten beherrschst.«

Madeleine sah ihn mitleidig an. Zum ersten Mal entdeckte ich die braunen Augen mit dem grünen Rand. Dann zuckte ein Lächeln über ihre Mundwinkel.

»Ich kann addieren, subtrahieren, raten und schummeln. Reicht das schon?«

»Ich sehe ihr versteht euch«, stellte die Direktorin fest. »Wenn du noch Fragen oder Probleme hast, findest du mich in meinem Büro. Dorthin verschwinde ich jetzt auch wieder.«

»Ich komme schon klar.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, verkündete Dr. Brauer. »Nimm bitte in der zweiten Reihe neben Jonathan Platz.«

Sie nickte mir zu und setzte sich.

Ich war wie versteinert. Eine seichte Welle Deodorant schwappte herüber, als sie ihre Schreibsachen hervorholte und mich keines weiteren Blickes würdigte.

So wäre es wohl den Rest der Stunde, vielleicht sogar den Rest unseres Lebens geblieben, hätte sich nicht kurz darauf eine gewisse Unruhe breitgemacht.

Ich saß an einem strategisch wichtigen Knotenpunkt für den Zettel-Verkehr in unserem Klassenzimmer. Fast alle Nachrichten, die von der ersten in die letzte Reihe mussten, wanderten über meinen und Madeleines Tisch.

Direkt vor mir saß Nadia. Wenn ich es richtig verstanden hatte, feierte sie am kommenden Wochenende ihren Geburtstag – den achtzehnten. Aus Erzählungen wusste ich, dass der Partykeller ihrer Eltern vorzüglich ausgestattet war mit Tischfußball, Billard und – Echo hatte mir verschwörerisch zugezwinkert, als er es damals erzählte – mit einer Sauna. Zur Feier des Tages war nun fast die ganze Klasse eingeladen.

Fast.

Meine Aufgabe war lediglich, den zerknitterten Zettel von einer Person zur nächsten zu delegieren.

Samstag, 19 Uhr bei mir stand in ihrer verschnörkelten Schrift darauf, zweifarbig unterstrichen. Dann folgte eine lange Liste von Namen, die ich kurz überflogen hatte und schließlich weitergab. Warum die Mühe machen, nach meinem zu suchen? Ich hatte nichts gegen Nadia und sie hatte wahrscheinlich nichts gegen mich, zumindest gäbe es keinen Grund dazu. Aber zu Partys lädt man mich nicht ein. Das war ein ungeschriebenes Gesetz seit der Mittelstufe und ich hatte absolut keine Ahnung, warum.

Hinter mir hörte ich ein leises Husten. Unauffällig drehte ich mich um. Dr. Brauer war zwar vollständig auf die Rechnung fokussiert, der wir eigentlich aufmerksam folgen sollten, aber ich wollte keinen Ärger riskieren. Man warf mir den Zettel zu. Die meisten Namen waren schon abgehakt.

Echos Zeile war noch frei, also schob ich die Liste zu ihm. Er hakte seinen Namen ab und gab den Zettel weiter. Jeder hakte sich ab. Wenn Nadia einlud, sagte man zu.

Frustriert riss ich einen losen Faden von meinem Pullover, schlang ihn zu einem Achterknoten und blendete sowohl Mathe als auch Madeleine und auch meine soziale Enttäuschung für einen Moment aus.

Doch Madeleine war es, die mich kurz darauf aus meiner geistigen Isolation riss. Sie starrte auf meine Hände, die blitzschnell knoteten, festzogen, lösten und wieder knoteten. Als ich sie ertappte, starrte ich kurz zurück und für einen Moment erstarrten wir beide.

Da landete der zusammengeknüllte Zettel auf meinem Tisch, sprang einmal, zweimal, rutschte weiter und blieb vor meiner neuen Sitznachbarin liegen. Ähnlich eines Frosches, der innerhalb von Sekundenbruchteilen nach einer Fliege schnappt, schnellte Madeleines Hand zum Zettel, griff danach und schoss in die Höhe. Alle im Raum hielten gleichzeitig die Luft an – teils aus Angst, teils in freudiger Erwartung auf das, was gleich geschehen würde. Nadia drehte sich kaum merklich auf ihrem Stuhl und ließ Madeleine einen bitterbösen Blick zukommen.

Die Neue streckte ihr die Zunge raus.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Brauer seine Vektorgleichung fertig an die Tafel geschmiert hatte und sich wieder der Klasse zuwandte. Madeleines gehobene Hand schien ihn zu irritieren. Normalerweise starrten wir ihn alle mit leerem Blick an.

»Ja?«, fragte er und wirkte, als hätte sie ihn aus einem wilden Traum erweckt.

Madeleine ließ die Hand sinken und setzte eine leidende Mine auf.

»Mir geht's nicht so gut. Es dreht sich alles und ich hab das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.«

Im ganzen Raum fiel die Anspannung ab. Bei allen, außer bei mir. Denn Brauers Blick war einen Platz weiter gesprungen.

»Jonathan, wärst du so lieb und gehst mit ihr nach draußen? Fünf Minuten, dann sollte es ihr besser gehen.«

Etwas zu hastig stand ich auf, mein Stuhl kippelte bedrohlich. Madeleine erhob sich ebenfalls und hauchte ein schwaches Danke.

Kaum war die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, straffte sie ihre Schultern und grinste mich an. Ich grinste zurück, kam mir aber sofort dämlich vor.

Sie zückte den Zettel.

»Warum laden die dich nicht zu ihrer schicken Party ein?«

»Ich kenne Nadia einfach nicht so gut.«

»Hier stehen 25 Namen drauf. Ihr seid gerade mal 28 Leute im Kurs. Sie wird wohl kaum jeden davon richtig gut kennen.«

»Dank dir sind wir jetzt sogar 29 …«

»Dass sie mich nicht einlädt, ist aber klar – im Gegensatz zu dir.« Warum sie das so wütend machte, wusste ich nicht. Immerhin kannte mich Madeleine noch weniger als Nadia. Ihr Blick bohrte sich durch mich hindurch.

Was wollte sie hören? Es gab keine Erklärung, warum man mich nicht auf Partys dabeihaben möchte. Es war schlimm, das vor mir selbst zu rechtfertigen. Doch noch schlimmer war es, mit einem wildfremden Mädchen darüber zu sprechen.

Ich schloss den Reißverschluss meiner Jacke und stapfte den Flur Richtung Schulhof entlang. Sie holte mich kurz vor der Tür ein.

»Aber deinen Kumpel laden sie ein, ja?«

»Echo? Ja, der hat mal mit ihrem Bruder Handball gespielt oder so.«

»Jedenfalls sieht er aus, als wäre er kopfüber in einen Topf Haargel gefallen.«

Ich mochte Echos Igelfrisur. Elias Echo Mühlhafen war so etwas wie mein bester Freund, auch wenn ich nach all den Jahren noch immer nicht wusste, warum wir befreundet waren. Irgendwann hatten alle Anderen Freundschaften geschlossen und wir beide waren einfach übrig geblieben. Wie zwei Socken nach dem Waschen. Sie passen zwar nicht zusammen, sind aber auch nicht unterschiedlich genug, um sie wegzuwerfen. Das Problem war nur: Echo hatte sich inzwischen mit neuen, coolen Socken zusammengetan, während ich aussortiert wurde.

»Können wir aufhören, über diese bescheuerte Party zu reden? Ich bin nicht eingeladen – schade. Aber du bist gerade echt keine Hilfe!«

»Entschuldige.«

Schweigend traten wir hinaus auf den Schulhof. Es war Ende Oktober und die Herbstsonne schien uns ins Gesicht.

In meiner Jackentasche fand ich einen weiteren Faden, mit dem sich meine Finger beschäftigen konnten, während wir eine Runde um das frei stehende Schulhaus liefen.

»Wo kommst du her?«, fragte ich, um die Stille zu durchbrechen.

»Vom Gauß in Ragsburg.«

»Dem Gauß? Dieser elitären Privatschule?«

»Elitär?« Sie blieb stehen. »Wirken wir von außen so?«

»Eingebildet trifft es eigentlich eher.«

Sie warf mir einen Seitenblick zu und hob eine Augenbraue. Dann nickte sie langsam.

»Eingebildet also.« Sie boxte mir auf den Arm, dann begann sie zu lachen. Ich lachte mit, obwohl mein Arm ziemlich weh tat.

Wir liefen unter den Bäumen entlang, die den Schulhof vom Sportplatz trennten. Madeleine kickte mit jedem Schritt das Laub über den Weg.

»Du wirkst viel zu lebendig! Wenn Dr. Brauer dich so sieht, lässt er dich künftig nicht mehr raus, da ist er-«

Sie packte meine Hand.

»Halte mal kurz den Mund! Siehst du den Typen da?«

Auf einer Bank am Rande des Sportplatzes saß ein Herr im grauen Mantel und genoss die Sonne. Er hatte einen Stapel Schulhefte auf dem Schoß, seine Aktentasche stand neben ihm im Gras.

»Klar, das ist der alte Weidenfeld. Der unterrichtet hier seit Anbeginn der Zeit und hat seine beste Phase hinter sich. Sogar mein Vater hatte ihn schon in Geschichte. Einmal erwischte er ihn wohl beim Rauchen und mein Vater hat vor Schreck fast die Schule abgefackelt, aber zum Glück-«

»Nette Geschichte, aber darf ich deine Aufmerksamkeit kurz darauf lenken, dass sich dieser Herr Weidendings nicht bewegt?«

Meine Aufmerksamkeit galt zwar vollständig der Tatsache, dass Madeleine noch immer meine Hand festhielt und mich mit ängstlichen großen Augen ansah, die meinen Puls explodieren ließen. Widerwillig sah ich jedoch noch einmal zu dem Mann auf der Bank. Etwa zwanzig Meter trennten uns. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, die Hände lagen entspannt auf den Schulheften.

»Bestimmt schläft er. Alte Menschen brauchen viel Schlaf.«

Madeleine ließ mich los und rannte zu ihm.

»Ist alles okay bei Ihnen?«

Er reagierte nicht.

Ich rannte ihr nach.

»Scheiße, kein Puls! Fühl!«

Mit spitzen Fingern tastete ich unter den gebügelten Hemdkragen. Da war nichts. Nur totes Fleisch. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen; war noch nie mit dem Tod in direkte Berührung gekommen. Mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt, aber die Bank war ja besetzt und ich konnte ihn schlecht zur Seite schieben.

»Was tun wir jetzt?« Die Panik sprang zwischen Madeleine und mir hin und her.

»Hilfe holen! Lehrerzimmer!«

»Ich gehe!«, sagte sie und bevor ich ihr widersprechen konnte, rannte sie los.

Ihre Schritte hallten über den Schulhof, dann wurden sie leiser. Es war ungewöhnlich ruhig. Keine Schüler, keine Vögel, kein Wind. Die Welt hielt den Atem an. Totenstill.

*

Eine Reihe von Stühlen stand entlang der Wand im Sekretariat. Sie waren durchgesessen, der dunkelgrüne Stoff war abgewetzt und hier und da lösten sich Fäden. Generationen von Schülern hatten schon hier gesessen und gewartet, dass man sie in das Büro der Schulleitung vorließ. Vielleicht waren sie an einer Prügelei beteiligt gewesen, hatten die Wände beschmiert oder ihr Mofa in der Feuerwehrzufahrt geparkt.

Mit Sicherheit war aber niemand vor uns hier gesessen, weil er einen toten Lehrer gefunden hatte.

Man hatte uns gebeten zu warten.

Madeleine sah seitdem ununterbrochen auf ihre Fingernägel. Unruhig versuchte ich mich bequemer hinzusetzten, hatte das Bedürfnis aufzustehen und irgendetwas anderes zu tun. Sollte ich vielleicht etwas sagen? Was sagt man in einer solchen Situation?

»Woran ist er wohl gestorben?«, fragte ich leise.

»Bestimmt haben ihn die Klassenarbeiten auf seinem Schoß zu sehr geschockt«, murmelte sie, ohne eine Spur von Humor.

»Möglich.«

Ich zog an einem besonders langen Faden im Sitzbezug und mit einem viel zu lautem Ratsch löste er sich.

»Glaubst du, er hat die Sonne genossen? Ein letztes Mal?«

Sie zuckte nur mit den Schultern.

»Hoffen wir's …«

In einem komplizierten Muster wickelte ich den Faden um die Finger, zog an einem Ende und hatte einen lehrbuchartigen Knoten. Einen doppelten Palstek, um genau zu sein.

Statt auf ihre Finger sah sie jetzt auf meine.

»Was hast du ständig mit diesen Knoten?«

»Es entspannt mich.«

»Aha.«

Dann schwiegen wir wieder.

Aus dem Nachlass meines Opas hatte ich vor vielen Jahren ein eingestaubtes Buch gerettet. Die Bilder darin faszinierten mich. Das Ashley-Buch der Knoten, vom Seemann Clifford W. Ashley, wurde ein treuer Begleiter meiner Jugend. 3854 verschiedene Knoten waren darin aufgeführt.

Ich konnte sie alle auswendig. Was mir das brachte? Nichts – außer wichtiger Ablenkung von existenziellen Problemen.

Meinen Opa hatte ich kaum kennengelernt und konnte nicht sagen, ob er sich wirklich mit Knoten beschäftigte. Doch ich werkelte seitdem an jedem Seil oder Faden, den ich finden konnte.

Frau Zabel, die Sekretärin, warf mir sooft sie konnte mitleidige Blicke zu. Immer wenn wir uns kurz ansahen, musste sie sich danach kleine Tränen aus den Augenwinkeln tupfen.

Dreieinhalb Knoten später kam die Direktorin herein. In Frau Hoffer-Ahrens Gesicht konnte man die Anspannung sehen, die die Situation bei ihr ausgelöst hatte.

»Sie schicken einen Rettungshubschrauber«, meldete die Sekretärin mit gebrochener Stimme.

»Leider überflüssig«, Frau Hoffer-Ahrens durchquerte den Raum zur Tür ihres Büros. »Wann wird er eintreffen?«

»Noch etwa zehn Minuten.«

»Komm mit, Jonathan. Madeleine, es tut mir leid, dass dein erster Tag bei uns so aus dem Ruder läuft.«

Ich stand auf und folgte ihr in das Büro. Den Faden steckte ich ein.

Hohe Schränke und Regale bedeckten die Wände und gaben dem Raum ein Gefühl drückender Last. Immerhin konnte man durch eine große Fensterfront hinaus auf den Schulhof sehen.

Frau Hoffer-Ahrens lehnte sich an die Kante ihres Schreibtisches.

»Das ist kein Anblick für meine Schützlinge. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Mir geht es gut«, versicherte ich. Es stimmte – ich hatte einiges, worüber ich nachdenken musste, doch rein körperlich und seelisch ging es mir gut.

Sie lächelte kurz. Dann kehrte die Schwere in ihr Gesicht zurück.

Zwei Streifenwagen fuhren mit Sirene auf den Schulhof. Polizisten stiegen aus, sahen zum Himmel hoch und sprachen hastig in ihr Funkgerät.

»Erzähl mir alles, was passiert ist«, forderte Frau Hoffer-Ahrens in ihrer beruhigenden Art. »Und setz dich doch.«

Meine Geschichte war erzählt, noch bevor der Lärm des Rettungshubschraubers jedes Wort übertönte. Schließlich hatten Madeleine und ich den alten Weidenfeld nur gefunden, das war alles. Doch für Frau Hoffer-Ahrens schien jedes meiner Worte von großer Bedeutung zu sein.

Wir sahen hinaus auf den Hubschrauber, der zwischen den Bäumen auf dem Schulhof aufsetzte. Blätter und Staub wirbelten durch die Luft, der Boden unter meinen Füßen bebte. In mir kribbelte es – die Faszination hinter der Tragödie. Der Pilot sprang heraus, Dr. Brauer lief ihm geduckt entgegen; noch immer drehten sich die Rotoren. Gemeinsam mit einem zweiten Sanitäter gingen sie hinüber zur Bank, wo zwei Lehrerinnen die Leiche vor neugierigen Blicken schützten.

»Ich sollte auch nach unten. Komm, Jonathan, ich übergebe dich in die Hände von Frau Zabel.«

Wir verließen das Büro. Die Sekretärin hatte ein Telefon am Ohr, während sie tippte und ein anderer Apparat klingelte.

»Informieren Sie die Eltern der beiden. Ich möchte sie nach alledem nur ungern alleine nach Hause gehen lassen.«

Frau Zabel nickte mechanisch und wechselte die Telefone. Noch ehe ich protestieren konnte, war Frau Hoffer-Ahrens verschwunden. Ich wäre nur zu gerne alleine nach Hause gegangen. Meine Mutter um mich zu haben, die gestresst von der Arbeit abberufen wurde, war sicher keine Bereicherung für meinen Seelenfrieden.

»Sparen Sie sich die Arbeit«, sagte Madeleine. »Mich holt garantiert niemand ab.«

»Sie haben doch die Frau Direktorin gehört. Ich werde bei Ihnen zu Hause anrufen und-«

»Ich bin siebzehn, ich kann auf mich aufpassen. Danke!«

Sie schnappte sich ihre Lederjacke und stürmte aus dem Sekretariat. Frau Zabel sah ihr verdutzt nach.

»Aber Sie bleiben, bis man Sie abholt!«

Meine Mutter kam über eine Stunde später. Inzwischen war der Rettungshubschrauber unverrichteter Dinge wieder abgeflogen. Lehrerinnen und Lehrer waren pausenlos in das kleine Sekretariat geplatzt, hatten Informationen gebracht oder gebraucht. Jeder schien anders mit dem Verlust umzugehen. Viele waren geschäftsmäßig und gefasst, doch einige sahen ziemlich mitgenommen aus. Doch langsam wurde es ruhiger. Ich hatte beobachten können, wie alle anderen nach Hause geschickt wurden und sich in völlig überfüllte Busse quetschten. Kurz darauf war eine abgedeckte Trage in einen Krankenwagen verladen worden. Der alte Herr Weidenfeld hatte zum letzten Mal sein Schulgelände verlassen. Als Frau Zabel das sah, weinte sie bitterlich und ich war zwischen Trost spenden und dem teilnahms-

losen Betrachten meiner Fingernägel hin und hergerissen.

Dann schließlich kam der Auftritt von Rita Haas. Wie üblich trug meine Mutter eine bunte Bluse. Heute war sie lila. Zum farblich abgestimmten Lippenstift kam eine Sonnenbrille, die die Lachfalten verdecken sollte. Immerhin trug sie heute keinen Hut über ihrer aufwendigen Frisur.

»Haas, Sie hatten mich angerufen?« Mit ausgestreckter Hand ging sie auf die Sekretärin zu, die sie zuvor offenbar noch gar nicht hatte hereinkommen hören.

»Ja, ihr Sohn hat heute Schreckliches mit ansehen müssen.«

Meine Mutter tat so, als hätte sie mich jetzt erst bemerkt, obwohl sie mir schon mindestens drei abschätzige Blicke zugeworfen hatte.

»Mitten am Tag!« Ihre Stimme war schrill. Wir waren noch nicht einmal durch den Haupteingang hinaus, da legte sie los.

»Es war nicht meine Schuld«, gab ich vergeblich zurück.

»Ist mir völlig gleich, wessen Schuld oder Unschuld oder was auch immer Grund für das ganze Theater ist. Mein Sohn ist siebzehneinhalb Jahre alt, er kann alleine nach Hause gehen, oder etwa nicht? Seit wie vielen Jahren hast du einen Hausschlüssel?«

Ich machte mir nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Vermutlich war es seit der zweiten Klasse. Ich war oft und gerne alleine zu Hause und in Momenten wie diesen wusste ich auch warum.

»Zwei Mandanten musste ich absagen und die Besichtigungen canceln. Weißt du, was das heißt? Ich habe eine Quote zu erfüllen! Wenn morgen keiner die Objekte kauft, bin ich geliefert!«

Das sagte sie immer, auch wenn es nicht stimmte. Egal was schief ging, alle waren immer gleich geliefert. Vielleicht sollte sie nicht länger als Maklerin arbeiten und lieber bei Amazon anfangen.

In den letzten Jahren hatte sie sich nach oben gearbeitet. Inzwischen betreute sie ziemlich große Neubauprojekte, die sie immer nur Objekte nannte. Zusammen mit drei Kolleginnen teilte sie sich eine Agentur. Ich war mir sicher, dass sie die meisten Überstunden machte. Hin und wieder schlief sie sogar im Büro. Wahrscheinlich war sie dennoch auch die, die am meisten davon sprach, dass alle geliefert waren und es nur bergab gehen konnte.

Inzwischen fuhren wir zurück nach Hause und kurz nach dem Ortsschild unseres kleinen Kaffs Sprohnfeld, hatte ich die Chance, auch zu Wort zu kommen. Kurz fasste ich zusammen, was überhaupt passiert war. Ob sie mir zuhörte, konnte ich nicht sicher sagen.

Drei Tage danach

»Sie erwähnten eine Ente. Kurz nachdem Sie aufwachten.«

»Ich glaube, es ist ein Erpel«, erwidere ich. »Brauner Körper, grüner Kopf. Soweit ich weiß, sind die Weibchen ganz braun. Aber ich kann es nicht googeln, weil mein Handy seit dem Unfall Schrott ist.«

Mir gegenüber sitzt der junge Arzt mit der Glatze. Er stellte sich als Daniel vor, aber wir sind noch immer beim Sie.

»Ich bin kein Fachmann für Federvieh, aber Sie könnten recht haben. Erzählen Sie mir von diesem Erpel.«

»Würde ich gerne. Aber da gibt es nichts mehr. Ich habe nur dieses Bild vor Augen, wie er mich anschaut. Und ich weiß noch, dass es geregnet hat.«

»Die Polizei bestätigt das. In der Nacht Ihres Unfalls regnete es. Die Sicht war schlecht.«

»Denken Sie wirklich, der Erpel und der Unfall hängen zusammen?« Mich beschleicht das Gefühl, langsam verrückt zu werden. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich dieses Tier. Aber ich weiß nicht, woher das Bild kommt, was es mir sagen soll oder wie es in die Geschichte des fehlenden Mittwochs passt.

Nichts ergibt Sinn.

»Sie sind bei dem Unfall ziemlich übel zugerichtet worden, das steckt ein sensibles Organ wie Ihr Gehirn nicht so einfach weg. Dazu kommt noch der Schock. Viele meiner Patienten erinnern sich nicht oder nur in Teilen. Dass sich ein einzelnes Bild einprägt, der Rest der Szene aber verschwimmt, ist auch nicht ungewöhnlich. Wobei ich zugeben muss, dass der Erpel das witzigste Detail in meiner Laufbahn als Arzt ist.«

»Freut mich, dass ich Sie erheitern kann«, sage ich müde.

Draußen gibt es einen großen Teich. Keine Ente weit und breit. Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen entlang des Ufers. Das Kind ist so dick eingepackt, dass man es kaum erkennt.

»Wann kann ich wieder nach Hause?«

Nicht, dass ich scharf darauf wäre. Aber die Frage erscheint mit angemessen.

»Das kommt ganz auf die Testergebnisse an. Die Scans sehen gut aus, aber wir müssen sicher sein, dass Ihrem Gehirn nichts fehlt.«

»Nichts außer diesem Mittwoch …«

»Und dem Kontext zur Ente.«

»Erpel …«

»Genau.«

Eine Stunde lang darf ich mir Wortreihen merken, Muster in Zahlen erkennen und eine Art Memory spielen. Es ist alles kein Problem, mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert und auch Erinnerungen aus der Schule, aus meiner Kindheit und den Tagen vor dem Unfall kann ich beschreiben. Ich weiß sogar noch die Namen meiner Hamster. Gustav, Pummel und Ottilie. Die hatte ich nacheinander, bis in die neunte Klasse. Keiner lebte besonders lange.

Daniel – der mir seinen Nachnamen nicht verraten hatte, zumindest erinnere ich mich nicht (ich bin mir ziemlich sicher, er hat ihn nicht gesagt) – macht sich eifrig Notizen.

Unter dem Gips juckt es. Ich komme nicht an die Stelle, nicht einmal mit dem Löffel, den ich mir vom Mittagessen geklaut habe. Es ist fast so schlimm wie mein löchriges Gedächtnis. Frustriert schüttle ich den Arm aus, was mehr schmerzt, als es bringt.

Daniel schaut von seinen Unterlagen auf.

»Ich würde Sie gerne noch zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten. Wenn Sie keine weiteren Symptome zeigen, dürfen Sie wieder in die freie Wildbahn. Und als Tipp unter uns: Blicken Sie nach vorne. Ihre Erinnerungen werden möglicherweise wieder kommen, wenn Sie nicht mehr damit rechnen – oder gar nicht. Aber diesem Tag nachzujagen, wird Sie nicht weiterbringen.«

Der hat gut reden, denke ich, als ich den Krankenhausflur zu meinem Zimmer zurückgehe. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Nicht mehr über den Tag nachdenken … Madeleine hat mich angefahren. Sie selbst liegt hier irgendwo im Gebäude, unerreichbar.

Was zur Hölle ist da nur passiert? Was tat ich auf dieser Landstraße? Und wenn ich noch einmal diesen gottverdammten Erpel sehe …

»Jonathan?«

Ich drehe mich um. Die Stimme schallt aus Richtung der Aufzüge.

Ein Mädchen und ein Junge kommen auf mich zu. Sie trägt eine weiße Winterjacke mit künstlichem Fellkragen. Ihre Wangen glühen rot und ihre blonden Haare kleben in ihrem Gesicht. Wahrscheinlich hat es wieder angefangen zu regnen.

»Hallo Nadia«, sage ich. Sie umarmt mich kurz.

Der Junge – Echo – verbirgt seine Igelfrisur unter einer Wollmütze. Er nickt mir nur kurz zu.

Auf dem Weg in mein Zimmer erklärt sie mir ausführlich, dass sie unbedingt herkommen wollte, sobald ich Besuch empfangen durfte und sie sehnsüchtig auf den Anruf meiner Mutter gewartet hätte und dass ich mir unbedingt schnell ein neues Handy zulegen solle, zur Not könnte ich auch ihr altes haben.

Echo sagt kein Wort. Ich ahne warum. Es gibt da nämlich eine Sache, an die ich mich zwar nicht erinnern kann, die aber die einzige logische Herleitung für meinen Aufenthalt auf der nächtlichen Landstraße ist.

Kaum sitzen wir auf dem Krankenbett – mein Zimmergenosse, ein Junge mit irgendeiner Nasen-Krankheit, ist glücklicherweise ausgeflogen – platzt es auch aus ihm heraus.

»Du hättest fragen müssen, Spargel! Einfach eine kurze Nachricht: Hey, kann ich mir Betty noch mal ausleihen? Natürlich immer gerne. Aber du hast nicht gefragt …«

»Habe ich Betty geschrottet in der Nacht?«

»Natürlich hast du das!«

»Sorry, mein Kopf ist löchrig wie ein Schweizer Käse.«

»Hört auf diesem verdammten Mofa einen Namen zu geben!« Nadia sah ihren Freund an. Die beiden gehen seit ihrem Geburtstag miteinander.

»Sie ist nur noch ein großer Haufen Altmetall!«

Ich kann Echo verstehen. Dieses Mofa war sein ganzer Stolz. Ein Stück Freiheit in unserer ländlichen Gegend.

»Tut mir leid, echt! Bin sicher, ich wollte fragen, aber irgendwas ist dazwischen gekommen.«

»Ja, Mads wahrscheinlich!«

»Jungs!« Nadia stand auf. »Beruhigt euch. Wichtig ist, dass Jo lebt!«

»Tu ich«, bestätigte ich.

Echo lässt wütend seinen Atem entweichen.

»Sie war zu jung für den Schrottplatz …«

»Ich ersetze sie dir.«

»Vergiss es!«

Nadia, die nun wohl endgültig die Schnauze voll hat von unserer Mofa-Fete, lehnt sich gegenüber meines Bettes an die Wand und verschränkt die Arme.

»Wie geht es Madeleine?«

»Sie lassen niemanden zu ihr.«

»Nicht einmal Violett?«

»Doch schon, aber die verrät nichts.«

»Klingt nicht gut …«

Vierundsechzig Tage davor

Man beurlaubte mich für einen Tag, um das Drama von Weidenfelds Tod zu verdauen. Ich verbrachte den Großteil des Nachmittags im Bett; döste vor mich hin. Abends brachte mein Vater Asiatisch vom Lieferdienst mit, was wir ohne viel zu reden aßen. Danach half ich ihm, Kisten mit neuen Kunstblumen in die Garage zu tragen. Von dort betrieb er seinen Versandhandel. Rosen, Tulpen, aufwendig gefertigte Orchideen und andere tropische Blüten mit komplizierten Namen gab es hier. Es könnte einer der schönsten Orte überhaupt sein, doch er roch nur nach Plastik.

Fit wurde ich erst abends. Nachts lag ich wach. Um Mitternacht sprang ich unter die Dusche.

Erst als meine Fingerkuppen schrumpelig wurden, drehte ich das Wasser ab und warf mich frustriert zurück aufs Bett.