Kölner Totenkarneval - Stefan Keller - E-Book

Kölner Totenkarneval E-Book

Stefan Keller

4,2

Beschreibung

Es ist der Albtraum einer ganzen Stadt. Zum Karnevalsauftakt sprengt sich ein Attentäter in einer überfüllten Kölner Kneipe in die Luft. Sieben Menschen sterben. Wenige Tage später präsentiert das ermittelnde BKA den türkischen Studenten Ali Öçzan als Täter. Niemand zweifelt an der Version des Attentats eines islamistischen Einzeltäters mit Verbindungen zum internationalen Terrorismus. Nur Alis Eltern beharren auf seiner Unschuld und beauftragen Privatdetektiv Marius Sandmann, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist.

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Titel

Stefan Keller

Kölner Totenkarneval

Sandmanns zweiter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: René Stein, Meßkirch

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: bit.it / photocase.com

Druck: Appel & Klinger, Schneckenlohe

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3754-0

Zitat

Es fiedeln die Geigen,

Da tritt in den Reigen

Ein seltsamer Gast,

Kennt keiner den Dürren,

Galant aus dem Schwirren

Die Braut er sich fasst.

Joseph von Eichendorff: Der Kehraus.

TEIL 1– ANGST

1

Graue Wolken hingen über der Stadt, doch die Kölner Straßen flimmerten förmlich vor Farben. Rotschwarze Teufel, hellgrüne Chirurgen, weiße Krankenschwestern, gelbe Küken, blaue Schlümpfe, Lappenclowns in allen Farben zogen in Gruppen durch die Stadt oder sammelten sich vor den Eingängen der Kneipen. Um hineinzugelangen oder um einen Moment frische Luft zu schnappen.

In der frühen Dunkelheit des Abends standen sie auch vor dem Lokal ›Zum Treuen Husar‹ in der Kölner Südstadt und warteten frierend auf Einlass. Vor der Eingangstür hielten zwei kräftige, ganz in schwarz gekleidete Männer mit roten Perücken die leise protestierende Menge davon ab, hineinzugehen. Denn das Lokal war bereits bis zum Bersten gefüllt. Vor der Theke warteten die Durstigen in drei Reihen und wurden von vier zügig arbeitenden Kellnern bedient. Dahinter drängelten die Gäste zum Ausgang oder zu den Toiletten und in den hinteren Saal hinein. Dieser war bis auf die fest installierten Bankreihen an der Wand leer geräumt, doch die Bänke waren lediglich zu erahnen, denn die Jecken, die auf ihnen standen, überragten alle anderen um zwei Köpfe. Viele hielten sich in den Armen, schunkelten und sangen, was das Zeug hielt; einträchtig tanzten Polizisten mit Piraten, Engelchen mit Teufelchen. Zu ihren Füßen hockten– ganz dicht am Rand der Bank und in steter Gefahr, abzustürzen– die ersten knutschenden Pärchen– der Clown mit der Matrosin, das Känguru mit der Fee–, die sich erschöpft und erhitzt von der Tanzfläche an die Seiten durchgekämpft hatten.

In der Mitte des Saals tobte das Leben am lautesten. Polonaisen umkreisten tanzende Gruppen von Piloten und Stewardessen, Schornsteinfeger, Prinzessinnen und Kühe tanzten Ringelreigen und sangen lautstark mit, wobei sie den Sound aus den viel zu kleinen Boxen in den Ecken des Raumes locker übertönten.

Niemand beachtete den Scheich mit der dunklen Sonnenbrille und dem schwarzen Rucksack, der sich allein bis an den Rand des Saals vorkämpfte. Hinterher würde sich keiner daran erinnern können, ob er dort noch gestanden hatte, als die Fröhlichkeit in einem dumpfen, erschreckend unspektakulären Knall endete.

Rauch füllte den Raum binnen weniger Augenblicke. Schmerzensschreie übertönten die Musik, die kurz darauf abrupt endete. In der folgenden Stille wirkten die Hilferufe und das Getrampel Hunderter Fußpaare weit hoffnungsloser. Panisch stürmte jeder, der noch konnte, auf den engen Gang an der Theke zu, um nur irgendwie ins Freie zu gelangen. Manche hielten ihre Begleiter an der Hand, andere klammerten sich an wildfremde Menschen, um von der verängstigen Menge nicht überrannt zu werden.

Dabei hatten die, die es bis hierhin schafften, noch Glück im Vergleich zu denen, die in der grauen Wolke zurückblieben.

Als die Kölner Kriminalkommissarin Paula Wagner den Opel Vectra ihres Chefs, Hauptkommissar Hannes Bergkamp, eine halbe Stunde später vor dem Eingang der Eckkneipe parkte, hatte sich die Szenerie vor dem Lokal vollkommen verändert. Den Ubierring hinunter standen drei Feuerwehrfahrzeuge gegen die Fahrtrichtung, die Querstraßen waren durch Krankenwagen und Einsatzfahrzeuge der uniformierten Kollegen blockiert. Dutzende kreisende Lichter tauchten die Kreuzung in ein kaltes, unwirklich scheinendes bläuliches Licht.

Sanitäter, Streifenbeamte und Feuerwehrleute gingen auf den ersten Blick routiniert ihrer Arbeit nach, Kostümierte sammelten sich abseits auf der rheinwärts führenden Straßenseite des Rings und beobachteten stumm das Geschehen; vor den Eingängen der anderen Eckkneipen und in der Nähe der Kreuzung standen ebenfalls verkleidete Menschen und sahen zu, wie die Helfer ihr Bestes gaben. Paula beobachtete die Szene einen Augenblick aus dem Wagen heraus, Hannes Bergkamp neben ihr stieß sie kurz an, dann stieg er aus und die Kommissarin folgte ihm.

Es war die Stille, die den stärksten Eindruck hinterließ, als sie das Dienstfahrzeug verlassen hatten. Niemand sprach, die Menschen hinter den Absperrungen blickten stumm hinüber, einige hatten Handys gezückt und filmten das Geschehen. Paula war sich sicher, dass sie in spätestens einer Stunde die ersten dieser Filme im Internet würde sehen können. Diese Stille würden die Filme nicht greifen können. Es war das, was man am wenigsten erwartete, wenn man an den Tatort eines Anschlags kam, wenn dort dutzende Menschen standen und Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei ihr in Übungen durchgespieltes und in der Wirklichkeit bisher nie erprobtes Programm abspulten.

Sie ging mit Bergkamp hinüber zur Kneipe, ihr Blick fiel auf die Menschen, die dort an der Hauswand hockten, ihre Kostüme teilweise verdreckt, mit Blut verschmiert, zerrissen. Manche weinten stumm, die meisten jedoch hockten einfach da, apathisch auf den Boden stierend, allein oder in den Armen von Freunden oder vielleicht auch Fremden. Eine Warteschlange, an der sich die Sanitäter nach und nach abarbeiteten.

Als Bergkamp und sie die Kneipe betreten wollten, stellte sich ihnen wortlos ein Feuerwehrmann in den Weg. Ebenso stumm zückten Paula und Bergkamp ihre Ausweise und hielten sie dem Mann entgegen, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Der Feuerwehrmann nickte kurz und ließ sie passieren.

Das Innere des Lokals irritierte Paula weitaus mehr als die Situation draußen vor der Tür. Sie hatte etwas völlig anderes erwartet. Der Raum an der Theke wirkte auf eine verstörende Weise normal. Nichts war zerstört. Das Ungewöhnlichste waren die Feuerwehrleute in ihren schwarzen Mänteln und den typischen gelben Helmen mit dem weit geschwungenen Kragenabschluss. Nur der Geruch war anders. Es roch nach einer Melange aus typischem Kneipenmief, Löschmitteln und verkohltem Holz, jedoch durchdrungen vom penetranten Geruch verbrannten Fleisches. Einer der Feuerwehrmänner erblickte die beiden Polizisten und winkte sie zu sich. Es schien fast, als läse er Paulas Gedanken.

»Sie müssen nach hinten durch«, sagte er nur.

Paula und Bergkamp gingen an der schweren hölzernen Theke vorbei, bogen um die Ecke und für einen Augenblick hörte Paula Wagner auf zu atmen. Die Wände des alten Tanzsaals waren in einer Ecke völlig verkohlt, Löschschaum tropfte von der Decke und sammelte sich in Lachen auf dem Fußboden, Ärzte und Sanitäter hockten zwischen menschlichen Körpern und einzelnen Gliedmaßen. Paula schaute weg. Auf Hannes Bergkamp, der sich an einer Holzstütze festklammerte, die das geschnitzte Dach der Theke trug. Dann zwang sie sich erneut hinzuschauen.

Niemand beachtete die beiden Polizisten. Etwas abseits stand ein Team der Spurensicherung und wartete darauf, dass die Ärzte den Tatort freigaben. »Verletzte zuerst«, lautete die Devise. Zwar wurden so wertvolle Beweise vernichtet, nur, was blieb ihnen anderes übrig?

Hinter sich vernahm Paula ein Räuspern, wie Bergkamp drehte sie sich um und blickte einem jungen Mann Anfang 30 ins Gesicht. Er trug einen dunkelblauen Anzug unter einem hellen Trenchcoat, das blonde Haar streng nach hinten gekämmt, und schaute sie aus grünen Augen tadelnd an, während er gleichzeitig Bergkamp seine rechte Hand hinstreckte.

»Goldberg, BKA, die Kollegen von der Kripo Köln, vermute ich?«

Bergkamp nickte und stellte sich und Paula vor.

»Sie und Ihre Leute sollten jetzt das Feld räumen. Wir übernehmen das hier. Das ist unser Job.«

Bergkamp zuckte mit den Achseln und winkte zum Abschied der Spurensicherung zu. Hinter Goldberg wartete das eigene Team des Bundeskriminalamtes. Der Hauptkommissar war vermutlich froh, sich an diesem Ort nicht länger als nötig aufhalten zu müssen. Paula Wagner konnte ihn verstehen, hielt aber inne, als sich Goldberg an ihr vorbeischieben wollte.

»Warum?«

Überrascht stoppte der Mann im blauen Anzug.

»Was– warum?«

»Warum übernehmen Sie diesen Fall? Das ist erst einmal eine Kölner Angelegenheit, keine Bundessache.«

Goldberg schaute sich kurz um, in der Hoffnung, dass Hannes Bergkamp ihm diese Störung vom Hals schaffen würde, doch der stand, mit einem uniformierten Kollegen ins Gespräch vertieft, an der Theke und schaute konzentriert aus dem Fenster hinaus auf die Straße. Verlegen und etwas herablassend lachte der BKA-Beamte.

»Gute Frau, schauen Sie sich um. Wir stehen hier mitten an einem Anschlagsort des internationalen Terrorismus. Das ist sehr wohl eine Bundessache.«

»Was macht Sie so sicher, dass es sich um einen Terroranschlag handelt?«

Goldberg legte Paula Wagner die Hand auf die Schulter.

»Glauben Sie mir, Frau…«, er zögerte kurz, bevor er fortfuhr, »wir haben unsere Informationen. Und außerdem bin ab jetzt ich hier weisungsbefugt. Auf Wiedersehen!«

Damit ließ er die Kommissarin stehen, seine Techniker von der Spurensicherung folgten ihm wie eine kleine Armee in ihren blütenweißen Plastikuniformen. Hannes Bergkamp wartete mittlerweile draußen auf seine Kollegin.

»Smartes Kerlchen«, begrüßte er sie.

»Zu smart für meinen Geschmack. Wahrscheinlich gerade 30 geworden und weiß schon genau Bescheid, was hier abgelaufen ist. Ohne sich einmal umgesehen zu haben!«

»Er wird seine Quellen haben.«

»Mir hat man in der Ausbildung beigebracht, Fragen zu stellen und offen an einen Tatort heranzugehen. Und erst danach Antworten zu geben. Oder gar ein Urteil zu fällen.«

»Aber dein Urteil über Jan-Peter Goldberg hast du schon gefällt, Paula?«

Mit einem kurzen Schnauben ließ die Kommissarin ihren Chef stehen, zog den Schlüssel seines Wagens aus der Jackentasche und drückte die automatische Türentriegelung. Kurz flackerte das gelbe Warnblinklicht des Vectras auf und bot so einen warmen Kontrast zum immer noch vorherrschenden kalten blauen Licht der Einsatzfahrzeuge. Bergkamp folgte ihr.

»Er hat uns einen Fall weggenommen«, gab sie als Antwort, nachdem sie ins Auto gestiegen waren.

»Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Fall haben wollte«, entgegnete Bergkamp.

»Ich schon«, erwiderte die Kommissarin, trat einmal ordentlich das Gaspedal durch und jagte den Wagen aus der Parklücke.

2

Am späten Abend parkte der Privatdetektiv Marius Sandmann seinen alten Renault 19 auf der Vogelsanger Straße in Köln-Ehrenfeld, gut hundert Meter vom Büro seiner Detektei entfernt. Als er ausstieg, meinte er einen leichten Hauch von Alkoholausdünstungen in der Luft zu riechen. Aber vielleicht war das auch die überzogene Wahrnehmung des Abstinenzlers. Einige Karnevalisten torkelten an ihm vorbei nach Hause, eine Kuh rannte fast in seine Autotür, entschuldigte sich bei ihr und wankte weiter.

Lieber hätte er einen anderen Parkplatz gewählt, nur war um diese Zeit nichts zu bekommen. Deshalb musste er wohl oder übel am Obst- und Gemüseladen vorbei, bei dem er Stammkunde war und bei dem er seit Wochen nur unregelmäßig bezahlte. Ahmed, der Inhaber des Ladens, sagte nie etwas, doch von Mal zu Mal hatte Marius den Eindruck, dass er die Tüten unwilliger abwog, die ihm Marius auf die Theke stellte. Er konnte ihn nur zu gut verstehen. Normalerweise zahlte Marius seine Rechnungen. Er hasste es, wenn er Leuten etwas schuldig war. Zu seiner Verwunderung brannte im Ladenlokal Licht. Selbst die Ware stand noch draußen auf der Straße. Dabei hatten am 11. November die Geschäfte normalerweise bereits gegen Mittag geschlossen. So spät am Abend hatte ohnehin niemand mehr geöffnet. Es war keine Bösartigkeit, die ihn die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf ziehen ließ, als er an dem kleinen Ladenlokal mit der bunten Auslage vorbeigehen wollte, in der absurden Hoffnung, dann vielleicht nicht erkannt zu werden. Es war Scham. Vor den Äpfeln beschleunigte er unwillkürlich sein Tempo und atmete erst erleichtert auf, als er die Kartoffeln passiert hatte. Schon hielt er die Schlüssel für das Büro in der Hand, als er hinter sich das typische Glockenklingeln von Ahmeds Ladentür hörte.

»Detektiv! Detektiv!«, rief der Ladeninhaber und packte ihn am Arm. Marius steckte den Schlüssel zurück in die Tasche seiner Seemannsjacke und drehte sich um. »Du musst kommen, sofort! Reden!« Ahmed, der gut einen Kopf kleiner war als Marius, zog den Detektiv in Richtung Geschäft. Marius folgte ihm widerwillig.

In dem kleinen Laden schien Ahmeds ganze Familie versammelt zu sein. Marius konnte Ahmeds Frau, deren Namen er nicht kannte, und zwei der Söhne hinter der Verkaufstheke erkennen. Außerdem den Großvater der Jungen und ein weiteres Paar in Ahmeds Alter. Schon von draußen hatte Marius erregte Diskussionen und lautes Geschrei gehört. Das allerdings verstummte, als sie das Geschäft betraten. Alle Augen richteten sich auf die Eintretenden.

»Das ist der Mann, von dem ich gesprochen habe«, unterbrach Ahmed die Stille. Keiner sagte etwas. Ahmed hatte ihn endlich losgelassen und Marius stand in der Mitte des Raumes, wo er von sieben Augenpaaren begutachtet wurde. Er nickte den beiden Jungen und ihrer Mutter grüßend zu, sie antworteten nicht. Der Obsthändler übernahm es schließlich, dem Detektiv seinen Vater, seinen Bruder Mustafa und dessen Frau Gönmez vorzustellen. Während sich Ahmed, sein Vater und die Söhne mit dicken Pullovern vor der Kälte, die im Laden herrschte, schützten, trug Mustafa einen feinen, eng geschnittenen dunkelblauen Mantel, darunter einen dezent gemusterten hellgrauen Schal. Seine Frau trug ebenfalls einen Mantel, schwarz, tailliert, der über den Knien endete, dazu ein Paar hohe, ebenfalls schwarze Winterstiefel. Marius schüttelte den Männern die entgegengestreckten Hände. Der Händedruck des Bruders war fest, die Frau senkte den Blick, als er vor ihr stand. Immer noch hatte der Detektiv keinen Schimmer, warum er hier war.

»Vielleicht können wir nach hinten gehen?«, fragte Mustafa Ökçan. Ahmed nickte eifrig, antwortete etwas auf Türkisch und führte seinen Bruder, dessen Frau und den Detektiv mit hektischen Bewegungen in einen mit einem Vorhang abgetrennten Raum hinter dem eigentlichen Ladenlokal. Sie betraten ein kleines, mit Bananenkisten, zwei Stühlen und einem Uralt-Computer vollgestelltes Zimmer, das ihn an eine Gefängniszelle erinnerte. Während die Frau an der Tür stehen blieb, setzten sich Marius und Mustafa auf die beiden Stühle in der Mitte des Raumes. Ahmed lehnte sich für einen kurzen Moment an den Schreibtisch, sprang auf und lief in dem kleinen Raum hin und her, dabei permanent auf Türkisch auf seinen Bruder einredend. Marius verstand kein Wort, außer seinem Namen. Für eine unbezahlte Rechnung war das alles entschieden zu dramatisch. Schließlich unterbrach er den Redefluss des kleinen Gemüsehändlers.

»Dürfte ich vielleicht mal erfahren, worum es eigentlich geht?«

An Ahmeds Stelle antwortete sein Bruder. »Unser Sohn! Sie sagen, er wäre ein Terrorist!« Mehr zu sagen, gelang ihm nicht, denn seine Frau unterbrach weitere Ausführungen ihres Mannes mit einer samtweichen, energievollen Stimme. Zu gerne hätte Marius verstanden, was Gönmez Ökçan ihrem Mann gesagt hatte.

»Vielleicht fangen wir ganz von vorn an?«, schlug der Privatdetektiv vor.

»Gut«, der Mann im blauen Mantel stimmte zu. »Mein Name ist Mustafa Ökçan, ich bin Ahmeds Bruder. Zusammen mit meiner Frau habe ich einen Sohn, Ali.« Mustafa zögerte, bevor er sich korrigierte. »Ich hatte einen Sohn. Jetzt ist er gestorben.« Ahmeds Bruder versuchte vergeblich, eine Zigarette aus einem Päckchen in seiner Jackettasche zu nesteln. Seine Hände zitterten zu stark. Der Gemüsehändler reichte ihm eine aus seiner Packung und gab ihm Feuer. Dann bot er Marius ebenfalls eine an, der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. Mustafa inhalierte tief, bevor er weitersprach. »Sie haben von dem Attentat gehört?«

»Natürlich.«

»Die Polizisten sagen, mein Sohn habe das getan.« Der Türke ließ Marius keine Zeit, diese Nachricht sacken zu lassen.

»Das ist unmöglich.« Mustafas Frau fiel ihrem Mann erneut ins Wort. »Unser Sohn ist kein Terrorist! Er ist ein guter Junge. Er studiert!«

Es lag eine Bestimmtheit in diesen Worten, die Marius irritierte. Gönmez Ökçan wirkte um einiges gefasster als ihr Mann. Dennoch zweifelte Marius nicht an ihrer Aufgewühltheit, die sie vor ihm, dem Fremden, zu verbergen suchte.

Ahmed schaltete sich ein. »Ich kenne meinen Neffen von klein auf. Er hat hier gearbeitet, als meine Söhne noch zu jung waren. Es ist unvorstellbar, dass er das getan hat. Wirklich unmöglich!«

»Er kann…– er konnte niemandem etwas zuleide tun«, ergänzte sein Bruder.

»Warum sollte er so etwas tun? Er fühlt sich wohl in diesem Land. Er hat hier eine Zukunft.« Die Stimme der Frau hatte einen fast flehenden Unterton,

Marius unterbrach die drei. »Also, die Polizei sagt, Ihr Sohn sei der Attentäter aus der Südstadt? War er denn unter den Opfern?«

Ahmed, Mustafa und Gönmez Ökçan schwiegen einen Moment.

»Auch wenn er unter den Opfern ist: Sie müssen uns glauben, er könnte so etwas nicht tun. Das ist unmöglich.«

Eigentlich hätte Marius den Ökçans erklären müssen, dass nur die wenigsten Eltern eine Vorstellung davon hatten, was ihre erwachsenen Kinder trieben. Marius’ Vater erkundigte sich immer noch danach, wie das Studium lief, dabei hatte Marius die Kunstgeschichte schon vor Jahren aufgegeben.

»Wie alt war Ihr Sohn?«

»22«, antwortete Ahmed, während die Mutter ein Foto hervorkramte, das sie Marius in die Hand drückte.

»Schauen Sie! Sieht mein Sohn aus wie ein Mörder?«

Marius betrachtete den jungen Mann auf dem Foto, dessen braune Augen warm und ernst in die Kamera schauten. Sein Hemd strahlte weiß unter einem schwarzen Sakko. Vermutlich ein Bewerbungsfoto. Er gab es der Frau zurück. »Sicher nicht.« Was sollte er sonst sagen? »Nur: Was wollen Sie von mir?«

»Die Wahrheit!«, fuhr es förmlich aus dem Vater heraus. »Wir müssen allen zeigen, dass unser Sohn unschuldig ist.«

»Wir wollen«, ergänzte seine Frau, »dass Sie alles untersuchen, allen Hinweisen nachgehen und beweisen, dass unser Sohn kein Terrorist, kein Mörder ist.«

Marius überlegte einen Moment, bevor er sich für eine Antwort entschied. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich glaube nicht, dass ich der Richtige dafür bin.«

»Wir haben niemand sonst«, antwortete Ahmed.

Nach der Enge des Hinterzimmers wirkte das Büro wohltuend leer. Auf dem Küchentisch im ehemaligen Besprechungsraum, den Marius jetzt als Arbeitszimmer nutzte, lag ein dicker Umschlag mit 50- und 100-Euro-Scheinen, die Anzahlung der Ökçans, die Marius schließlich akzeptiert hatte. Als er das Hinterzimmer verlassen hatte, standen auf dem Tresen drei Tüten mit Obst und Gemüse, die Ahmeds Söhne für ihn gepackt hatten. Marius wollte sie zunächst nicht annehmen, genau wie das Geld, aber der Händler hatte darauf bestanden. Daraufhin hatte Marius die Gelegenheit genutzt und seine offenen Rechnungen bezahlt. Jetzt standen die Tüten neben dem Umschlag auf dem Tisch und Marius räumte ihren Inhalt, soweit nötig, in den Kühlschrank. Im Anschluss warf er seine Jacke im hinteren Zimmer, das früher das Büro seines Chefs gewesen war, auf seine Matratze. Nachdem er die Detektei übernommen hatte, hatte er sich recht bald schon fragen müssen, ob er zuerst seine Wohnung oder sein Büro kündigen müsse, weil das Geld hinten und vorne nicht reichte. Er hatte sich für die Wohnung entschieden. Das Büro war billiger und lag besser.

Der Detektiv hatte sich breitschlagen lassen, eine Untersuchung zu führen, die ihn wahrscheinlich überforderte, und von der er annahm, dass sie zu einem Ergebnis führen könnte, das der Familie des Toten nicht gefallen würde. Marius hatte keinen Grund daran zu zweifeln, dass Ali Ökçan das Attentat verübt hatte. Vielleicht würde die Gewissheit seinen Eltern helfen? Von daher konnte es nicht schaden, sich die Ermittlungen der Polizei einmal genauer anzuschauen und um ein paar eigene Recherchen zu ergänzen.

Er verschob sein abendliches Krafttraining. Stattdessen setzte er sich an den Laptop und las online die Presseberichte zum Anschlag auf den Treuen Husar. Das BKA hatte zügig gearbeitet und Ali Ökçan als Täter identifiziert. Er war unter den Opfern und hatte Kontakte zu islamistischen Kreisen. Laut einem Gutachten, das der ermittelnde Beamte Jan-Peter Goldberg präsentiert hatte, passte Ali genau in das Profil eines fundamentalistischen Selbstmordattentäters: männlich, jung, technisch interessiert, islamistisch vernetzt, unauffällig.

Während die überregionale Presse sich im Anschluss an die aktuelle Berichterstattung auf die politische Diskussion nach Sinn und Unsinn neuer Sicherheitsmaßnahmen stürzte, ging die Berichterstattung der Kölner Medien in eine andere Richtung. Sie kreiste um die Frage, ob Karneval weitergefeiert oder abgesagt werden sollte. Wie Marius erwartet hatte, argumentierten die meisten Offiziellen des Karnevals für ein Weiterfeiern: Die echten Kölner ließen sich die Feierei ohnehin nicht verbieten. Die Diskussion über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen wurde dabei erstaunlich sachlich geführt. Ein Wirt brachte es auf den Punkt: Es gebe keine totale Sicherheit. ›Wir können alle durchsuchen, die reinwollen‹, zitierte ihn eine Kölner Zeitung auf ihrer Homepage, ›dann sprengt sich der Islamist halt im Pulk vor der Kneipe in die Luft.‹

Das brachte Marius auf einen anderen Gedanken. Wenn er davon ausging, dass Ali Ökçan unschuldig war, stellte sich eine einfache Frage: Was hatte er in der Kneipe zu suchen? Alis Vater hatte ihm zum Abschied eine elegante Visitenkarte in die Hand gedrückt und Marius dabei unbeabsichtigt daran erinnert, dass er so etwas Praktisches nicht besaß. Der Detektiv wählte die Nummer auf der Karte. Doch niemand hob ab: »The person you have called is temporarily not available«, sagte eine künstliche Frauenstimme stattdessen.

Marius spann den Gedanken weiter: Wenn nicht Ali Ökçan der Attentäter war, wer dann? Im hinteren Teil der Küche stand ein Whiteboard, für Marius Sandmann das erste Instrument, wenn er in einem neuen Fall seine Gedanken sortieren musste. Mit einem roten Textmarker begann er, das Board vollzuschreiben. Wer war in den Fall involviert? Worum ging es überhaupt? Welchen Spuren wollte er nachgehen? Nach zehn Minuten war auf der Tafel kein Platz mehr. Marius trat einen Schritt zurück und betrachtete die Notizen. Selbst ein scheinbar klarer Fall barg noch genügend offene Fragen.

Im Internet las er weitere Berichte über das Attentat. Dieses Mal ergänzte er seine Lektüre um die offiziellen Verlautbarungen der Kölner Polizei und des BKA. Mit seinen Fragen im Hinterkopf musste er feststellen, dass weder Presse noch Polizei viel Konkretes zu berichten hatten. Entweder hielten die Ermittler Informationen zurück oder sie hatten erstaunlich wenige Beweise für eine Täterschaft Ali Ökçans. Er würde versuchen, mit den ermittelnden Beamten des BKA Kontakt aufzunehmen. Zwar war er sich nicht sicher, ob dieser Goldberg mit einem Privatdetektiv über seine Ermittlungen reden würde, einen Versuch war es in jedem Fall wert, und das Argument, dass die Familie des Terroristen versuchte, Gewissheit zu erlangen, sollte vielleicht den Zugang zu dem Beamten erleichtern.

Bis dahin allerdings konnte er vielleicht seine erste Frage klären. Aus dem Anrufspeicher seines Mobiltelefons suchte Marius Mustafa Ökçans Nummer heraus und drückte auf die Wahltaste. Dieser meldete sich fast augenblicklich.

»Eine Frage habe ich noch«, sagte der Detektiv, »hat Ihr Sohn Karneval gefeiert?«

Der Vater überlegte keine Sekunde. »Nein, wir sind alle nicht mit diesen Bräuchen vertraut. Das war nichts für meinen Sohn.«

Marius bedankte sich und legte auf. Zumindest an der Ehrlichkeit seines Klienten bestand für ihn kein Zweifel. Nur: Wenn Ali nicht Karneval feiern wollte, was hatte er dann am 11. November in einer vollen Karnevalskneipe verloren?

3

Kommissarin Paula Wagner blieb nicht lange Zeit, um sich über Jan-Peter Goldberg zu ärgern. Wenige Stunden, nachdem sie die Kneipe ›Zum Treuen Husar‹ verlassen hatte, weckte sie ihr Mobiltelefon aus einem unruhigen Schlaf.

»Wagner«, murrte sie in das Gerät, während sie sich schwerfällig aus den Laken schälte. Dabei stellte sie fest, dass sie nur die Jeans ausgezogen, den dunkelbraunen Rollkragenpullover aber angelassen hatte.

»Paula?«, hörte sie Bergkamps Stimme, die am Telefon immer ein wenig schrill klang. »Wir haben zu tun.«

Während die Kommissarin in die Jeans vom Vortag schlüpfte, klingelte es bereits an der Wohnungstür. Die Hose im Laufen hochziehend, zumachend und dabei missmutig bemerkend, dass sie wieder zugenommen hatte, drückte sie den Knopf der Gegensprechanlage.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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