Kölner Grätsche - Stefan Keller - E-Book + Hörbuch

Kölner Grätsche E-Book und Hörbuch

Stefan Keller

4,8

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Beschreibung

Rui Barque war aufstrebender Profi beim 1. FC Köln, ehe ein brutales Foul seiner Karriere ein jähes Ende setzte. Als seine Freundin entführt wird, wendet er sich an Marius Sandmann. Widerwillig nimmt der Detektiv den Fall an. Denn eigentlich ist eine Entführung eine Nummer zu groß für ihn. Er gerät in einen Sumpf aus Wettmafia, Drogenhandel und Kunstraub, von dem Marius glaubt, ihn nur in Rio de Janeiro trockenlegen zu können. Dort muss er erkennen, dass dieser Fall und die Metropole am Zuckerhut tatsächlich eine Nummer zu groß für ihn sind …

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Seitenzahl: 309

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Zeit:7 Std. 25 min

Sprecher:Bernd Hölscher

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Stefan Keller

Kölner Grätsche

Sandmanns vierter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lario Tus – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4346-6

Zitat

»Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es viel ernster ist.«

Bill Shankly, schottischer Fußballtrainer

Teil I: ABSEITS

1

»Scheiße! Was machen die da?«

Rui Barque bremste scharf. Andernfalls wäre er mit seinem weißen Audi Q5 auf den Kleintransporter geknallt, der in der Auffahrt des Parkhauses stand und in der Spirale, die ins Freie führte, erst im letzten Moment zu sehen war. Es sah aus, als habe der Fahrer den Wagen einfach hier abgestellt.

Seine Freundin Gabriela, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, wurde kurz nach vorne geworfen und vom Gurt nach hinten gezogen.

»Verdammt, Rui! Ich kotz gleich!«

Rui wollte auf die Hupe drücken, stoppte mitten in der Bewegung, als sich die beiden Türen des Transporters öffneten. Zwei schwarz gekleidete und mit Sturmhauben maskierte Männer sprangen aus dem Wagen und liefen auf sie zu. Der Mann auf Ruis Seite zielte mit einer Art Sturmgewehr auf den jungen Brasilianer, sein Kompagnon mit einer Pistole auf Gabriela. Der Mann mit dem Gewehr blieb vor der strahlend weißen Motorhaube des Q5 stehen. Rui konnte seine blauen Augen in der schwarzen Maske sehen, die ihn unverwandt anstarrten. Der andere Mann zwängte sich am Wagen vorbei und riss die Beifahrertür auf. Er beugte sich in den Wagen hinein, hielt Gabriela seine Waffe an die Schläfe, während er über sie hinweggriff, um den Gurt zu lösen. Schließlich packte er Ruis Freundin, zerrte sie aus dem Audi heraus und in den Transporter hinein.

Erst als Gabriela und der Mann mit der Pistole im Wagen saßen, zog sich der zweite Angreifer zurück, Gewehr und Augen weiter auf Rui gerichtet.

»No police!«, brüllte er. »No police!«

Schließlich sprang er in den Transporter, startete den Motor und gab Gas. Der Wagen schleuderte leicht, als er die kurvige Auffahrt hochjagte. Ruis Hand hing immer noch über der Hupe.

2

»Eigentlich erlauben wir das nicht.«

Der Mann mit den grauen Haaren und dem elegant geschnittenen hellblauen Hemd musterte Marius Sandmann abschätzig. Der Privatdetektiv stand in einem Büroflur in der Straße mit dem schönen Namen Obenmarspforten, nur einen Steinwurf vom Wallraf-Richartz-Museum entfernt.

Dessen Direktor, Anton Malven, hatte ein gutes Wort für Marius eingelegt. Immerhin hatte Marius dem Wallraf vor einigen Jahren ein Gemälde des mittelalterlichen Malers Stephan Lochner wiederbeschafft. Ein Sensationsfund, den Malven ins Zentrum einer spektakulären Ausstellung gerückt hatte.

Jetzt stand der Detektiv in den Büros des ›International Art and Antique Loss Register‹, dessen deutsche Niederlassung in einem schlichten Wiederaufbau aus den 1950er-Jahren untergebracht war. Der Leiter dieser Niederlassung hieß Wolfgang Breitbach und schien sich an fast allem an Marius zu stören – den kurzen Haaren, der schwarzen Brille, der Umhängetasche, dem ebenfalls schwarzen Kapuzenpulli unter der Seemannsjacke, den Jeans und den Vans. Wahrscheinlich passte seine Anwesenheit Breitbach generell nicht in den Kram. Dass er so tat, als habe das Telefonat, das sie beide gestern geführt hatten, nie stattgefunden, ergänzte dieses Bild. Manche Gespräche, überlegte der Detektiv, sollte er vielleicht einfach aufzeichnen.

In gewisser Weise verstand Marius ihn sogar. Selbst wenn er bezweifelte, jemals mit einer Institution wie dem Art Loss Register konkurrieren zu können, holte sich Breitbach einen potenziellen Konkurrenten ins Haus. Das Unternehmen hinter dem Register fahndete nach verschwundenen Kunstschätzen und sammelte Informationen über sie in der weltweit größten Datenbank zu diesem Thema. Wer immer auf ein Bild stieß, dessen Herkunft ihm zweifelhaft erschien, hatte hier die Möglichkeit herauszufinden, ob es eventuell gestohlen war. Ebenso konnte man sich einen Überblick verschaffen, nach welchen Bildern derzeit gefahndet wurde. Aus diesem Grund war Marius hier.

Trotz einiger spektakulärer Fälle lief seine Detektei schleppend. Umso mehr, weil er bestimmte Auftragsangebote, etwa das Ausspionieren von Mitarbeitern größerer Firmen, ausschlug. Als früherer Kunstgeschichtsstudent hoffte er, mit der Suche nach verschwundenen Kunstwerken sein Auskommen zu finden. Zwar hätte sich Marius ebenso gut über das Internet Zugang zu den Informationen des ALR verschaffen können, nur hätte das 70 Euro gekostet – für jede Anfrage! Er musste zunächst prüfen, bei welchen Bildern oder Kunstgegenständen in der Datenbank sich für einen Einzelkämpfer wie ihn Ermittlungen überhaupt lohnten. Breitbachs Verhalten ließ ihn kurz darüber nachdenken, dass eine Online-Anfrage vielleicht die bessere Alternative gewesen wäre, doch der Grauhaarige lenkte schließlich ein und deutete auf einen Garderobenständer neben der Tür.

»Sie können Ihre Jacke dort aufhängen. Ihre Tasche lassen Sie bitte ebenfalls hier.« Mit diesen Worten wandte er sich um und ließ Marius im Flur zurück. Der Detektiv legte seine Jacke ab, nahm Stift, Papier und Handy aus der Tasche und folgte Breitbach in ein funktional eingerichtetes Büro.

Breitbach schüttelte den Kopf. »Ich muss Sie bitten, Stift und Papier hier zu lassen. Sie dürfen keine schriftlichen Aufzeichnungen machen.«

Mit einem Achselzucken legte der Detektiv sie auf Breitbachs Tisch. Er konnte genauso gut ins Handy tippen, sprechen oder Bilder machen. »Das Handy hätte ich ebenfalls gerne. Die kleinen Biester haben heute exzellente Kameras und Aufnahmefunktionen.«

Ein kurzes triumphierendes Grinsen huschte über Breitbachs Gesicht, als Marius ihm sein Smartphone aushändigte. Dann wies er ihm einen Computer in einem fensterlosen Nebenraum zu. »Und beeilen Sie sich, um halb eins machen wir Mittag.«

Zum Glück wusste der Detektiv, wonach er suchen musste. Er wollte sich auf Kunst beschränken, die in Köln gestohlen worden war. Hier konnte er eine Suche am besten beginnen. Also gab er Köln als Tatort in die Suchmaske des Registers ein. Die Datenbank war ergiebiger, als der Detektiv erwartet hatte. Es war erstaunlich, wie viele Bilder tagtäglich ›verloren‹ gingen. Selbst aus den Kölner Museen waren in den letzten Jahren einige Werke abhanden gekommen. Er scrollte die Liste langsam herunter, die wenigsten Bilder schienen ihm wertvoll genug zu sein, als dass jemand bereit wäre, für ihre Wiederbeschaffung viel Geld zu bezahlen. Marius rechnete mit nicht mehr als zehn Prozent des Schätzwertes und das nur bei wirklich namhaften Künstlern. Dennoch war er überzeugt, dass die Suche nach verschwundenen Kunstwerken ein profitabler Geschäftszweig sein könnte. Schließlich blieb er bei einem Bild hängen.

Das Foto des Gemäldes zeigte eine surrealistische Landschaft in kräftigen Rot-, Blau- und Brauntönen, die Figuren schienen zugleich mit der Landschaft zu verschmelzen und sich halb abstrakt aus ihr herauszuschälen. Ein weißer Fleck in der Mitte wirkte wie ein Ball, um den herum sich die Figuren zu gruppieren schienen. Bis vor einem Jahr hatte dieses Bild in einer Kölner Galerie gehangen, aus der es unter ungeklärten Umständen verschwunden war. Der Name des Künstlers ließ Marius aufhorchen: Max Ernst, geboren in Brühl und bis Anfang der 1920er-Jahre in Köln aktiv gewesen, war einer der ganz großen Maler des letzten Jahrhunderts. ›Die Ballspieler‹, dessen Foto Marius vor sich sah, war definitiv das wertvollste Gemälde, das in den letzten Jahren in Köln gestohlen worden war.

Ein Bild aus der gleichen Periode hatte bei einer Versteigerung 16 Millionen Euro gebracht, bei einem Schätzwert von sieben Millionen. Bei zehn Prozent Finderlohn könnte es sich lohnen, die ein oder andere Frage zu stellen. Kurz schaute er sich hinten um. Breitbach hockte an seinem Schreibtisch und telefonierte. Gelegentlich sah er zu Marius hinüber.

Der Detektiv überzeugte sich, dass Breitbach den PC nicht im Blick hatte. Anschließend zog er einen USB-Stick aus der Hosentasche und kopierte den Inhalt der Seite. Hinter sich hörte er Schritte. Rasch zog er den Stick ab und hielt ihn in der Hand verborgen. Breitbach stand im Türrahmen und musterte ihn. Marius’ Herz pochte leicht.

»Sie müssen langsam zum Ende kommen. Ich schließe gleich ab.«

Erleichtert lächelte der Detektiv. »Kein Problem, ich bin hier in zwei Minuten fertig.«

Breitbach nickte und ging. Marius ließ den Stick erleichtert in der Hosentasche verschwinden.

Nicht einmal eine Stunde hatte sein Termin beim Art Loss Register gedauert. Fünf verpasste Anrufe zeigte das Display seines Handys, als Marius es draußen auf der Straße überprüfte. Breitbach bog da bereits um die Ecke zur Gürzenichstraße, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Alle Anrufe kamen von der gleichen ihm unbekannten Nummer. Insgesamt dreimal hatte der Anrufer eine Nachricht hinterlassen. Es eilte offenbar.

Gerade als er die Mailbox abhören wollte, kam ihm eine lärmende Gruppe Schüler entgegen, von denen sich einige übermütig hin und her schubsten. Marius wechselte auf die andere Seite der schmalen Straße. Dem Lärmpegel tat das keinen Abbruch. Erst ein paar Schritte auf Obenmarspforten in Richtung Hohe Straße verschafften ihm mehr Ruhe.

Die Marspfortengasse, auf der er nun stand, sah aus, als diente sie der parallel verlaufenden Hohe Straße als eine Art Hinterhof. Im Grunde tat sie das auch. Gesichts- und teilweise fensterlose Fassaden, Mülltonnen vor Eisentoren und keine Menschenseele weit und breit. Im Mittelalter war dies eine der besten Adressen der Stadt gewesen, dachte der Kunsthistoriker. Jetzt war ihre Leblosigkeit perfekt für Marius, der sich das Handy ans Ohr hielt.

»Hallo. Ist dort Sandmann? Privatdetektiv Sandmann? Ich müsste Sie sprechen. Bitte rufen Sie mich zurück.« Keine weiteren Angaben. Marius hasste das.

Piep.

»Hallo? Herr Sandmann? Bitte melden Sie sich! Es ist dringend!« Der leichte Akzent ließ Marius auf einen ausländischen Anrufer tippen. Ein kurzes Geräusch wie von einem Schluchzen. »Sehr dringend!«

Die dritte Nachricht bestand nur aus einem kurzen Knacken, als der Anrufer die Verbindung unterbrach. Seufzend drückte der Privatdetektiv die Rückruftaste. Nach dem ersten Klingeln hob jemand ab.

»Hallo?«

»Sandmann, Privatdetektiv. Sie haben mich angerufen?«

»Ja, ja, ja! Richtig. Gut, dass Sie zurückrufen. Ich wusste schon gar nicht mehr, was ich tun sollte. Es ist wichtig!« Eine schnelle, atemlose Stimme. Marius konnte leise Schritte hören, als liefe sein Gesprächspartner auf und ab. Der Detektiv dachte an einen nervösen Tiger hinter den Gitterstäben eines Zirkuswagens.

»Sagen Sie mir doch erst einmal Ihren Namen!«

»Rui Barque! Ich brauche Ihre Hilfe. Dringend!«

»Worum geht es?«

»Meine Freundin! Sie ist weg!«

Das kam vor, dachte Marius zynisch. Vor etwa einem Jahr hatte seine eigene Freundin ihn ohne ein Wort der Erklärung verlassen. »Okay, Rui. Was heißt ›weg‹? Ist sie verschwunden? Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein, nein! Sie verstehen mich nicht. Riela wurde entführt!« Rui gab Marius einen ausführlichen Bericht über das, was am Vormittag geschehen war. Marius versuchte dem atemlosen Tempo seines Gesprächspartners so gut es ging zu folgen.

Er überlegte nicht lange, was er antworten sollte. »Ganz ehrlich, Sie sollten die Polizei anrufen, Rui, ich sehe …«

»Nein!«, brüllte Barque in das Telefon. »Sie haben gesagt: ›Keine Polizei!‹ Sie werden Gabriela etwas antun!«

»Okay, okay, nur weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich habe nicht die Möglichkeiten, die die Polizei hat, und ich bin mir sicher, dass die Beamten einen solchen Fall unauffällig untersuchen können, ohne dass die Entführer das bemerken.«

»Nein, nein, nein! Das ist zu gefährlich. Ich möchte, dass Sie vorbeikommen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, Rui«, sagte Marius.

»Ich muss doch irgendetwas tun«, erwiderte Rui. Falls er mehr hatte sagen wollen, ging es in einem Schluchzen unter.

Eine halbe Stunde später parkte Marius seinen alten Renault 19 vor einem zweistöckigen Klinkerbau in Hürth. An der Seite des Hauses befanden sich zwei Garagen. Vor einem der weißen Tore parkte ein ebenso weißer Audi SUV. Im Vorbeigehen blickte Marius hinein. Auf dem Rücksitz standen vier Einkaufstüten mit den Labels ziemlich teurer Designer. An der Haustür schellte er an der oberen der beiden Klingeln. Aus der Gegensprechanlage erklang verzerrt Ruis schnelle Stimme mit dem leichten Akzent. Ein brasilianischer Akzent, wie Marius inzwischen herausgefunden hatte. Trotz der Verzerrung war ihm seine Unruhe anzuhören.

»Ja, bitte?«

»Sandmann, Privatdetektiv. Wir sind verabredet.«

»Ja, ja …« Eine kurze Pause. Marius fragte sich bereits, ob die Freundin inzwischen heimgekommen war, dann sprach Barque weiter. »Haben Sie einen Ausweis, den Sie mir zeigen können?«

Marius zog seinen Personalausweis aus dem Portemonnaie und hielt ihn vor das Fischauge neben der Klingel, hinter dem sich eine Kamera verbarg. Der Summer ertönte, Marius drückte die Tür auf.

Rui Barque erwartete den Detektiv an seiner Wohnungstür im ersten Stock. Er mochte kaum älter als 23 Jahre sein. Hätte er keine Plastikschlappen an den Füßen getragen, hätte er in seiner kunstvoll zerschlissenen Jeans, dem wild bedruckten T-Shirt und dem locker um den Hals geworfenen Tuch einem Modemagazin für Männer entsprungen sein können. Der Detektiv streckte ihm die Hand entgegen, Rui erwiderte den Händedruck flüchtig. Er schwitzte.

Gemeinsam betraten sie einen großzügigen Wohnraum mit Marmorfußboden. Die Möbel wirkten einfach, wie aus dem Katalog zusammengekauft, sah man von dem Flachbildfernseher ab, der eine der schmalen Wände des Raums beherrschte und vor dem ein schwarzes Sofa aus Lederimitat den Raum unterteilte. Rui ging an ein Fenster und blickte hinaus, als erwarte er, dort gleich seine Freundin zu erblicken. Vielleicht stellte er sich vor, wie sie ihn sah, lachte und ihm zuwinkte. Doch nichts geschah. Rui verharrte ein paar Sekunden, bevor er in eine hinter einer offenen Theke liegenden Küche lief und sich ein großes Glas Wasser am Hahn eingoss.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, schlug Marius vor und deutete auf drei schwarz lackierte Hocker vor der Theke.

»Natürlich, entschuldigen Sie!« Er kam um die Theke herum.

Marius registrierte, dass Rui das linke Bein leicht nachzog. Als er sich auf einen der beiden Hocker setzte, hielt er das Knie seltsam ungelenk. »Was ist mit Ihrem Bein?«

»Sportverletzung.« Auf dem Weg hatte Marius einen raschen Blick mit dem Smartphone ins Internet geworfen, um herauszufinden, mit wem er es überhaupt zu tun hatte. Rui Barque war bis vor zwei Jahren Fußballprofi beim 1. FC Köln gewesen. Eine Verletzung aus einem belanglosen Testspiel gegen eine russische Mannschaft hatte seiner Karriere ein jähes Ende bereitet. Da Rui darüber nicht weiter reden wollte, ließ Marius das Thema fallen. Er konnte sich später immer noch im Netz darüber informieren.

»Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht?«

»Welchen Vorschlag?« Der Ex-Fußballprofi blickte ihn fragend an. Mit einem Bein stand er bereits wieder auf dem Boden. Marius vermutete, dass es nur noch Sekunden dauern würde, bis Rui erneut durch den Raum tigern würde.

»Zur Polizei zu gehen.« Rui sprang vom Hocker herunter, lief ein paar Schritte, kehrte um. »Es ist wirklich das Beste, das Sie tun können. Die haben Experten für solche Fälle und treten sehr diskret auf.«

Rui schüttelte energisch den Kopf. Seine scharfen Gesichtszüge ließen immer noch den Profisportler erkennen. Die geröteten Augen zeugten jedoch deutlich von dem Stress, unter dem der Junge stand. »Nein! Wenn Polizei und Prominenz zusammentreffen, bleibt nichts geheim. Selbst wenn meine Karriere im Arsch ist«, führte er nach einer kurzen Pause bitter an. »Irgendwer wird reden.«

Marius hätte gerne ein Argument dagegen vorgebracht. Leider kannte er die Presse in dieser Stadt so gut wie die Polizei. »Sie«, Rui packte Marius am Arm, »können sich viel unauffälliger umhören. Sie haben bestimmt Informanten, die Ihnen helfen!« Hoffnung lag in Ruis Augen. »Oder?« Mit roten Äderchen durchzogener Zweifel verdrängte die Hoffnung rasch. Marius fragte sich, wie lange Barque diese Gefühlswechsel aushalten würde. Vielleicht brauchte er einen Psychologen dringender als einen Privatdetektiv. Seine schlanken Finger bohrten sich in Marius Oberarmmuskeln. »Sie müssen mir helfen! Bitte!« Marius sah die Tränen im Gesicht des jungen Mann und wusste, dass er aus diesem Fall nicht mehr herauskonnte.

3

Obwohl er kleiner war als alle anderen, ließen sie ihn immer mitspielen. Der zehnjährige Rui Barque war eine kleine Berühmtheit in seiner Straße. Nicht einmal so sehr wegen seiner Ballsicherheit und den Tricks, die er auf dem Sandplatz zwischen den halbfertigen Häusern zeigte, sondern wegen seiner Ruhe und Umsicht am Ball. Selbst die älteren Jungen verloren schnell die Übersicht im Eifer des Gefechts. Rui nie. Am Ball hatte er alles unter Kontrolle. Er liebte das Spiel. Als das Mädchen mit den braunen Locken das erste Mal auf dem kleinen Hügel aus Ziegelsteinen saß, der neben dem Platz aufgetürmt war und Nacht für Nacht immer kleiner wurde, leistete er sich seinen einzigen Fehlpass an diesem Nachmittag und die anderen Jungen lachten.

»Macht sie dich nervös, die kleine Riela?«, riefen sie. Übermütig versuchte ihn einer der Gegner zu tunneln. Das konnte Rui ihm nicht durchgehen lassen. Er spitzelte ihm den Ball vom Fuß, legte ihn sich kurz zurecht und hob ihn über fast das gesamte Feld, Freund und Feind hinweg ins gegnerische Tor, ein mit Kreide gezeichnetes Rechteck auf der gegenüberliegenden Hauswand. Seine Mitspieler klatschten ihn begeistert ab.

»Willst die kleine Riela wohl beeindrucken«, rief ihm einer aus der anderen Mannschaft zu. Alle lachten. Außer Rui, der den Ball, den ihm jemand zurückgeworfen hatte, wütend wegdrosch. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Riela mitlachte. Sie klatschte in die Hände, in ihrem Lachen war keine Spur von Spott. Es erschien Rui wie die reine Freude. Von diesem Tag an kam sie täglich zu dem Sandplatz zwischen den beiden Häusern.

4

Kopf nach unten hing Marius Sandmann an der Stange seines Türrecks. Die Hände hielt er hinter dem kurzgeschorenen Schädel verschränkt, dann zog er sich zusammen und versuchte mit dem Kopf so nahe an die Knie zu gelangen, wie es nur ging. Was früher einmal sein gemeinsames Wohnzimmer mit der Journalistin Verena Talbot gewesen war, nutzte er inzwischen fast ausschließlich als Sportraum. Nachdem sein Vermieter sich bereit erklärt hatte, die Fenster im Erdgeschoss mit abschließbaren Türgriffen zu versehen, hatte er die Kugelhanteln, die er als Einbruchssicherung vor ihnen aufgebaut hatte, aus dem Büro hoch ins Wohnzimmer der Maisonette gebracht, das Türreck fest in einer Ecke des Zimmers verdübelt und seine neueste Errungenschaft, eine Langhantelbank, dort aufgebaut, wo ein Couchtisch hätte stehen sollen. Das Training half ihm, die unangenehmen Gefühle aus dem Gespräch mit Rui Barque abzubauen und seine Gedanken zu klären. Zuvor hatte er über den früheren Fußballprofi und seine Freundin im Internet recherchiert.

Rui war mit 17 aus Brasilien nach Deutschland gekommen und spielte zunächst in der Jugend von Bayer Leverkusen. Nach einem Jahr wechselte er auf die andere Rheinseite zur U19 des 1. FC Köln. Ein weiteres Jahr später gab er sein Debüt in der Profimannschaft des Vereins. Er galt als talentiert, wenngleich Marius bei Durchsicht einiger YouTube-Filme den Eindruck hatte, dass sich Barque neben Talent durch ein ausgeprägtes Phlegma auszeichnete. Auf der anderen Seite interessierte sich der Privatdetektiv nicht für Fußball und war wahrlich kein Experte. Selbst die bevorstehende Weltmeisterschaft in Ruis Heimat Brasilien ließ ihn kalt. Ganz im Gegenteil: die Vorstellung eines Public Viewings mit Tausenden von Menschen ängstigte ihn.

Ein Artikel, den er bei seiner Internetrecherche gelesen hatte, hatte ihn in seiner Abneigung noch verstärkt. Frank Schaffrath, ein junger Rechtsanwalt, war zufällig bei einem Spiel des FC in einen Polizeieinsatz geraten und von einem Beamten zusammengeschlagen worden. So zumindest stellte es die Journalistin dar, die Marius nur allzu gut kannte: Verena Talbot. Meist widerstand er der Versuchung, Neuigkeiten über sie im Netz zu suchen. Dennoch las er regelmäßig, was sie schrieb, persönlich gesprochen hatten sich die beiden seit einem Jahr nicht mehr. Trotzdem wusste er, dass Verena in diesen Bericht persönlich involviert war, handelte es sich bei dem Rechtsanwalt doch um ihren neuen Freund.

Rui stand bei diesem Spiel schon nicht mehr auf dem Platz. Bevor er sein Phlegma ablegen konnte, traf der Fuß eines Gegenspielers sein Kniegelenk, zertrümmerte mehrere Bänder und mit 22 Jahren war Ruis Traum einer Fußballkarriere in Europa ausgeträumt. Was er seitdem tat, hatte Marius weder dem Internet noch dem Mann selbst entlocken können. Nichts davon half dem Detektiv weiter. Über Ruis Freundin Gabriela wusste das Netz fast gar nichts zu berichten. Der Brasilianer hatte von ihr geschwärmt. Für einen kurzen Augenblick schien die Erinnerung die Sorgen zu verdrängen. Nie zuvor hatte Marius jemanden gesehen, der über seine Freundin in derartige Verzückung geriet. Das Foto, das er dem Detektiv für seine Suche mitgegeben hatte, zeigte eine hübsche Dunkelhaarige mit ausgeprägten Locken und einem sympathischen Lächeln. Der Detektiv hatte sich Spielerfrauen immer anders vorgestellt und die Bilder, die eine entsprechende Suche im Internet hervorgebracht hatten, bestätigten ihn.

Doch nirgends fand sich ein Hinweis auf mögliche Entführer und selbstverständlich war Rui überzeugt, dass niemand in seinem Umfeld dahintersteckte. Ebenso selbstverständlich war ihm nichts in den letzten Tagen aufgefallen oder verdächtig vorgekommen. Nur zögernd hatte er Marius gestattet, ihre persönlichen Sachen zu durchsuchen. Auch diese hatten ihm keine Hinweise auf den Hintergrund ihrer Entführung geben können. Ohne wirklich zu glauben, dass sie ihm weiterhelfen würden, hatte er ein paar Papiere Gabrielas mitgenommen. Darunter einen Zettel mit drei Nummern. Er hatte sie angerufen. Zwei ließen sich keinem Anschluss zuordnen. Die dritte gehörte einer Familie im südlichen Stadtteil Godorf. Die Frau, mit der Marius gesprochen hatte, konnte sich nicht erklären, wie Gabriela an ihre Telefonnummer gekommen war. Marius hatte die Namen der Frau und ihres Mannes im Netz recherchiert und ebenfalls keinerlei Verbindung mit Gabriela feststellen können. Vielleicht hatte sie mit dem Mann ein Verhältnis?

Marius zog die Bauchmuskeln an, als er sich nach vorne beugte und den Kopf bis hoch an die Knie zog. Er spürte einen ersten, leichten Schmerz in den Muskeln, der verschwand, als er den Kopf senkte.

Was sollte er tun? Sich in Ruis Nachbarschaft umhören? Vielleicht hatte jemand einen Wagen beobachtet, der dort geparkt hatte, oder Männer, die dort nicht hingehörten. Die Chancen waren gering. Er bereute es, dass Ruis Verzweiflung ihn weichgeklopft hatte. Das war kein Fall für einen Detektiv. Vermutlich mussten sie einfach warten, bis die Entführer sich meldeten. Bis dahin würde er sich in Ruis Umfeld umhören. Mehr konnte er nicht tun.

Nur auf den ersten Blick wirkte Esteban Chavez entspannt. Bereits zum dritten Mal in fünf Minuten schob er den violetten Ärmel seines Hemdes hoch, um auf die Uhr zu schauen. Ebenso häufig hatte der Mann mit dem grau melierten Haar und dem kräftigen Schnauzbart sich in der Lobby des Lindner Hotels der Leverkusener BayArena umgeschaut. Marius Sandmann saß ihm in einem tiefen, weißen Sessel gegenüber, ein ebenfalls weißer, wie ein S geschwungener Beistelltisch trennte sie.

»Auf wen warten Sie?«, fragte Marius.

»Oh, auf niemand Bestimmtes«, antwortete Chavez, »in meinem Geschäft muss man immer schauen, wer einem begegnen könnte. Vor allem an einem Ort wie diesem. Außerdem habe ich gleich noch einen Termin.« Er zog sich den Hemdärmel zurecht und beugte sich nach vorn. »Wir sprachen über Rui.«

Marius nickte. »Erzählen Sie über Rui Barque! Sie waren sein Berater, nicht wahr?«

»Das stimmt. Eine Schande, was ihm passiert ist. Ein so begabter Spieler! Aus ihm hätte ein richtig Großer werden können.«

»Ich habe mir ein paar Videos angeschaut. Auf mich wirkte er ein wenig phlegmatisch.«

Chavez kniff das Gesicht zusammen. »Teils, teils. Manchmal war er natürlich zu ruhig. Da fehlte ihm der Biss. Trotzdem: dieses Talent!« Er warf theatralisch die Arme in die Luft.

»Kennen Sie seine Freundin?«

»Gabriela?« Chavez wackelte abwägend mit dem Kopf. »Flüchtig. Sie kennen sich aus Brasilien und sind gemeinsam nach Europa gekommen. Ohne sie hätte er es hier nicht ausgehalten. So eine Bezugsperson ist für einen jungen Spieler extrem wichtig.«

»Ja, er liebt sie sehr, nicht wahr?«, fuhr Marius fort. Chavez lächelte zustimmend. Der Detektiv sprach weiter. »Die beiden waren noch recht jung. Rui war gerade 17, als er nach Deutschland gekommen ist. Gabriela dürfte kaum älter gewesen sein.«

»Sie war 18. Sie ist ein Jahr älter als er.«

»Wo haben sie gewohnt?«

»Rui kam bei einer Familie unter. Wenn möglich vermitteln wir den jungen Spielern, die aus Südamerika kommen, Gastfamilien, in denen sie leben können. Das erleichtert das Zurechtkommen hier.«

»Und Gabriela?«

»Ich weiß nicht, wo sie gewohnt hat. Mit 18 ist Rui mit ihr zusammengezogen. Als er zum FC gewechselt ist.«

»In die Wohnung in Hürth? Schicke Wohnung für einen so jungen Mann.«

Der Berater zuckte mit den Achseln. »Er hatte seinen ersten Profivertrag unterschrieben. Da kann man sich das gönnen. Und unter uns: eine Wohnung ist solider als das, was sich manch andere Spieler bei so einer Gelegenheit leisten. Gabriela hat einen guten Einfluss auf ihn.«

»Könnten Sie sich vorstellen, dass Rui in irgendwelche krummen Dinger verwickelt ist?«

»Rui?« Chavez schüttelte den Kopf. Nach einem weiteren Blick auf die Uhr schaute er hinter sich in den Raum. Als er nur den Barkeeper wahrnahm, der an der Kasse beschäftigt war, wandte er sich zurück an den Detektiv. »Ich wüsste nicht, in was er verwickelt sein könnte. Sie sagten, er werde bedroht?«

»Nun, ich kann Ihnen nichts Genaueres sagen. Er fühlt sich nicht sicher zurzeit.«

»Er macht eine schwierige Phase durch.«

»Das meinte ich nicht.«

Chavez fixierte Marius. »Sagen Sie mir, in welchen Schwierigkeiten Rui steckt, Herr Sandmann. Selbst wenn er nicht mehr spielt, er ist immer noch ein Freund. Außerdem: Ich habe ihn hergeholt. Wenn es Ärger gibt, bin ich dafür ein Stück weit mitverantwortlich.«

Marius hatte Rui versprechen müssen, mit niemandem über die Entführung zu reden. Der frühere Fußballprofi fürchtete, dass irgendetwas zu den Entführern durchsickern und seine Freundin gefährden könne. Der Detektiv hatte ihn darauf hingewiesen, dass das seine Ermittlungen erschwere und dass er eventuell sein Versprechen brechen müsse. Er entschied sich für die halbe Wahrheit.

»Es scheint so, als plane jemand, ihn oder Gabriela zu entführen.«

»Ihn entführen? Oh Gott!« Chavez schlug die Hand vor den Mund, lehnte sich weit zurück, als könne er sich damit von der schlechten Nachricht, der Drohung, die über seinem früheren Schützling hing, fernhalten. »Er soll bloß vorsichtig sein.«

»Kommt es öfter vor, dass Spieler entführt werden? In den Zeitungen liest man wenig davon.«

»Hier in Europa, gerade in Deutschland, passiert das selten. Da, wo ich herkomme, in Brasilien, werden öfter Verwandte von Spielern, manchmal Spieler selbst, entführt. Meist geht es glimpflich aus. Wenn die Familien Lösegeld zahlen.«

»Ist bei Rui viel zu holen? Seine Karriere ist vorbei und selbst wenn er ein, zwei Jahre gut verdient hat – er ist kein schwerreicher Fußballstar.«

»Für Sie nicht. Nach brasilianischen Maßstäben ist er immer noch sehr reich.«

»Reich genug, damit jemand nach Europa kommt, um hier, in der Fremde, einen wenig bekannten Jungprofi zu entführen?«

»Rui und ich sind nicht die einzigen Brasilianer in Köln, Herr Sandmann. Und wir gehören bestimmt zu denen mit den geringsten Geldsorgen.«

Die Tänzerin hob beide Arme langsam auf die Höhe der Schultern, drehte sich mit kleinen trippelnden Schritten um die eigene Achse und schüttelte ihre Schultern im rasend schnellen Tempo der Percussion aus den kleinen Boxen. Ihre Brüste wippten im Takt mit. Marius schaute ihr durch die Fenster des Restaurants einen Moment zu, bevor er das Lokal betrat. Sie kam aus dem Tritt, warf dem Detektiv einen zornigen Blick zu. Marius konnte sie auf Portugiesisch schimpfen hören. Sie zeigte auf ihn, er fühlte sich ertappt. Ein Mann in weißer Hose und schwarzem Polo-Shirt drehte sich zu ihm um. Laut Chavez war es Ruis Stammlokal und Treffpunkt der brasilianischen Gemeinde in Köln. Allerdings eher des wohlhabenden Teils, wie Marius beim Blick auf die Speisekarte festgestellt hatte. Nicht nur Brasilianer verkehrten gerne hier. Die Homepage des Restaurants zeigte eine ganze Reihe Bilder von Fußballprofis, die als Gäste hier gewesen waren. Ein perfekter Platz für seinen Klienten. Der Mann in dem Polo-Shirt kam Marius mit schnellen Schritten entgegen. Seine Absätze knallten auf das Parkett.

»Wir haben geschlossen«, bellte er.

Marius hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht wegen des Essens hier.«

»Das hat man gesehen«, rief die Tänzerin aus dem Hintergrund. Sie besprach sich mit einem zweiten Mann in einem roten Sakko, er drückte auf den Startknopf eines CD-Players und die Musik begann. Die Tänzerin warf Marius einen bösen Blick zu, bevor sie erneut mit ihren Drehungen begann. Der Detektiv bemühte sich, nicht hinzuschauen. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Mann ihm gegenüber, der gut einen Kopf kleiner war und einen akkurat frisierten Schnauzbart sein eigen nannte.

»Bitte«, sagte der Mann und deutete mit der ausgestreckten Hand auf die Tür, durch die Marius eben erst hineingegangen war, »wir bereiten gerade den Abend vor und sind sehr eingespannt.«

»Ich habe nur ein paar ganz kurze Fragen. Es geht um einen Freund von Ihnen: Rui Barque.«

»Rui? Was hat der Junge angestellt?« In seiner Stimme lag nun eine leichte Zärtlichkeit. Offenbar konnte dieser Mann auf Knopfdruck jedes Gefühl in seine Stimme legen. Verachtung. Strenge. Zärtlichkeit. Eine beeindruckende Gabe. Der Detektiv fragte sich, ob eine dieser Gefühlsbezeugungen echt war.

»Rui hat gar nichts angestellt.«

»Das würde mich wundern.« Der Mann lachte leise, die Tänzerin im Hintergrund schüttelte ihre Schultern erneut und warf Marius strafende Blicke zu. »Erzählen Sie, was Sie zu mir führt.« Nun deutete seine Hand einladend auf einen Tisch neben der Tür. Sie setzten sich. Die Tänzerin warf trotzig den Kopf hoch.

»Mein Name ist Marius Sandmann, ich bin Privatdetektiv.« Marius reichte dem Mann seine Visitenkarte. »Sie müssen Fabiano sein?« Der Mann nickte. »Schönes Restaurant haben Sie. Sehr beliebt auch bei Ihren Landsleuten, oder?« Fabiano nickte, ohne eine Spur von Freundlichkeit zu zeigen. Da er für Höflichkeit nicht empfänglich zu sein schien, kam Marius auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen. »Rui fühlt sich in letzter Zeit unsicher«, sprach Marius weiter. »Er hat mich beauftragt, mich ein wenig umzuhören. Vielleicht ist Ihnen etwas aufgefallen?«

»Was soll mir aufgefallen sein?«

»Leute, die neu in der Stadt sind und sich nach Rui erkundigt haben? Landsleute eventuell?«

»Landsleute?«

»Brasilianer.«

»Sie meinen kriminelle Südamerikaner.« Die Musik im Hintergrund verstummte. Fabiano stand auf, Marius ebenfalls. Spannung lag in der Luft. Da war es nicht verkehrt, den eigenen trainierten Körper zur Schau zu stellen. Der Mann im roten Sakko, mit dem sich die Tänzerin besprochen hatte, stand ebenfalls auf und schaute zu Marius und Fabiano hinüber.

»Ich meine ganz allgemein, Leute, die sich nach Rui erkundigt haben. Egal ob Brasilianer, Kanadier, Deutsche oder Togolesen. Mir geht es …«

»Sie wollen Ärger machen. Darum geht es. Sagen Sie Rui, er soll jemanden beauftragen, der ohne Vorurteile ermittelt. Denn das ist es doch: Sie haben ein paar Berichte gelesen, dass in Brasilien Fußballspieler entführt werden und jetzt denken Sie, dass das Rui droht. Ist ja naheliegend! Schließlich ist er Brasilianer! Wir werden alle naslang entführt. Hören Sie zu, Sandmann: Wenn irgendjemand Rui Barque bedroht, ist das bestimmt kein Brasilianer, der sich mit einem Touristenvisum hier eingeschmuggelt hat und einen abgehalfterten, früheren Fußballspieler im Visier hat. Und jetzt verlassen Sie mein Lokal!«

»Ich habe nichts von einer Entführung gesagt.« Marius blickte Fabiano kalt an.

»Was …«, zischte der.

›… erlauben Sie sich‹, ergänzte Marius in Gedanken.

Der Restaurantbesitzer lachte verlegen. »Rui wäre der Letzte, den ich entführen würde, Meisterdetektiv. Bei dem ist nichts zu holen. Der Mann ist pleite und hoch verschuldet. Möchten Sie seinen Deckel sehen?«

»Lassen Sie’s gut sein, ich glaube Ihnen«, erwiderte Marius.

»Egal! Verlassen Sie jetzt mein Lokal! Auf der Stelle!« Fabianos laute, schrille Stimme hatte nicht nur den Mann und die Tänzerin alarmiert, sondern ebenfalls die Angestellten, die in der Küche im Hintergrund arbeiteten und sich nun im Restaurant versammelten. Marius zog es vor, Fabianos Aufforderung nachzukommen. Draußen atmete er einen Augenblick tief ein. Durch die Scheibe konnte er die Männer sehen, die ihn immer noch anstarrten. Er ging ein paar Schritte. Wenn Rui tatsächlich Schulden hatte, würde Marius nicht nur Schwierigkeiten haben, sein Honorar zu bekommen. Wenn er kein Lösegeld zahlen konnte, hatten sie ein Problem. Ein großes Problem.

5

Es nieselte, was die Stimmung der vier Männer in den grünen Overalls nicht hob. Mit ihren schweren Stiefeln kämpften sie sich mühsam über den unebenen Waldboden und haderten leise fluchend mit dem halbnassen Laub, den versteckten Wurzeln und den abgebrochenen Ästen, die auf dem Boden lagen. Der Älteste von ihnen, ein grauhaariger Hüne um die 50 mit aufgeschwemmtem, rotem Gesicht, keuchte bereits nach wenigen Metern und machte sich keinerlei Mühe, das zu verbergen. Josef Krings war der einzige gelernte Waldarbeiter der vier und er war gereizt. Allerdings war er der Einzige des Quartetts, der nicht von dem Untergrund genervt war, sondern von seinen Begleitern.

Ein Wagen hatte sie an der Junkersdorfer Straße abgesetzt. Durch die Bäume konnten sie das Rhein-Energie-Stadion sehen, das an diesem Morgen ganz still da lag. Krings mochte die Ruhe um das Stadion außerhalb der Spieltage. Früher war er öfter zum Fußball gegangen. Damals, als der FC noch um die Meisterschaft mitgespielt hatte. Die Spieler heute jedoch waren für ihn überbezahlte Söldner ohne wirkliche Leistungsbereitschaft. Sie ähnelten in gewisser Weise den Männern, die ihn begleiteten. Ein gutes Stück südlich des Stadions ließ er die Gruppe anhalten.

Die Bagger hatten bereits gute Vorarbeit geleistet. Auf zehn Metern war der Boden etwa einen Meter tief und einen Meter breit ausgehoben. Sie würden nur wenige Zentimeter graben müssen, um die Leitung freizulegen, die die Stadt turnusmäßig erneuern ließ. Selbst mit diesen drei Gestalten sollte das bis zum Abend geschafft sein. Krings verteilte die Männer im Graben und ließ sie beginnen. Für sich hatte er das Stück am südlichen Ende gewählt. So konnte er die drei im Blick behalten. Besser war das! Wenn du nicht hingucktest, hörten die sofort auf zu arbeiten! In diesem Fall allerdings musste Krings ihnen erst einmal erklären, wie man mit einer Schaufel umging. Vielleicht würden sie doch zwei Tage brauchen. Seitdem die Stadt Stellen abgebaut und durch Hilfskräfte der ARGE ersetzt hatte, nichts anderes als zwangsverpflichtete und unmotivierte Gelegenheitsarbeiter, war alles mühsamer geworden.

Der Regen hatte nachgelassen, dennoch fühlte sich alles klamm und kalt an. Krings sah, wie der Erste der Männer, der Alte, dessen Namen er bereits vergessen hatte, die Schaufel in die Seitenwand des Grabens rammte und sich mit seinem Schal den Schweiß von der Stirn wischte. Anschließend zündete er sich eine Zigarette an, für die beiden Männer vor und hinter ihm ein Zeichen, ebenfalls Pause zu machen.

»Pause ist erst um halb zehn«, rief Krings. Der Alte schnippte die Zigarette achtlos weg und warf dem Vorarbeiter einen verächtlichen Blick zu. Immerhin griff er zur Schaufel. Das war alles, was den Vorarbeiter interessierte.

Josef Krings war nicht hier, um gemocht zu werden. Übermorgen wäre sowieso keiner der anderen mehr im Wald. Wütend zog der Mann an der Schaufel, die offenbar feststeckte. »Vorsicht!«, mahnte Krings noch, da rutschte bereits ein Stück der Wand in den Graben. Erde bedeckte den glatt ausgehobenen Boden und die geliehenen Arbeitsschuhe des Alten. Der sprang fluchend zur Seite und schaute entsetzt auf den weggebrochenen Teil der Umrandung. Zuerst dachte Krings, der Mann sei wütend, weil die Wand nachgegeben hatte. Dabei trug er selbst Schuld. Dann erst sah er die ledrige Hand.

Hauptkommissarin Paula Wagner ging mit festen Schritten durch den Wald. Sie war quasi im Wald aufgewachsen, das Gehen auf dem immer glitschiger werdenden Laub machte ihr nichts aus. Ihre Kollegin und Freundin, Kriminalkommissarin Franka Schilling, hingegen rutschte in ihren grünen Sneakern auf dem nassen Waldboden ein ums andere Mal weg. Paula sah es bereits kommen, als Franka endgültig den Halt verlor und fast auf dem Boden landete, hätte Paula sie nicht festgehalten. Wie eine gestrauchelte Eisläuferin versuchte sich Franka an Paula hochzuziehen, immer wieder wegrutschend, lachend, glücklich. Als sie endgültig stand, hielten die beiden Frauen sich umklammert, küssten sich, bevor sie weiter in Richtung des Absperrbandes gingen, das sich rot und weiß vom nassen Braun des Waldes abhob. Paula stützte Franka halb, mehr ein Vorwand, um sie anzufassen, Franka klammerte sich mit einem Arm an ihrer Chefin fest – aus dem gleichen Grund. Es waren diese Momente, die Paula in ihrer Beziehung am meisten liebte. Dieses ›Wir gegen den Rest der Welt‹, das sie verband. Egal, ob es sich um einen dämlichen Waldboden oder die dämlichen Kollegen der Kölner Polizei handelte, bei denen beide einen miserablen Ruf besaßen. Paula, weil sie keine Scheu hatte, gegen Kollegen zu ermitteln, Franka, weil sie sich einmal zu oft der Chauvi-Kultur der Kölner Polizei widersetzt hatte.

»Mir war nie klar, wie sehr ich asphaltierte Wege liebe«, sagte Franka, als sie weitergingen. »Das ist ja Horror, hier durch den Wald zu kraxeln.«

»Dabei ist das nicht einmal ein richtiger Wald.«

»Mir reicht das völlig. Ich stehe schon unter Naturschock.«

»So wie die Männer da vorne aussehen, stehen die unter einem ganz anderen Schock.« Paula deutete auf zwei Waldarbeiter, die abseits des Grabens auf einem modrigen Haufen alten Holzes saßen, der eine rotgesichtig und keuchend, eine Kippe zwischen den kräftigen Fingern, der andere blass, immer wieder auf die Uhr und verstohlen in einen Graben hineinstarrend, in dem Paula den Grund ihres Besuchs vermutete. Zwei jüngere Arbeiter standen abseits, rauchten und spielten gelangweilt mit ihren Handys. Die beiden Frauen ließen einander los. Es wurde genug unter den Kollegen über sie gelästert. Man musste ihnen nicht noch mehr Stoff liefern.

Die Hauptkommissarin hielt dem Polizisten, der die Absperrung des Tatorts bewachte, ihren Ausweis hin und schwang sich über das rot-weiße Absperrband. Franka kletterte ihr nach, rutschte dabei erneut auf dem glitschigen Boden aus. Der Polizist packte sie am Arm und half ihr über die Absperrung.

»Danke, Rob! Wie immer ein wahrer Gentleman.«