Kölner Vergeltung - Myriane Angelowski - E-Book

Kölner Vergeltung E-Book

Myriane Angelowski

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Beschreibung

Ein aufwühlender Kriminalroman über Schuld, Verlust und die verzweifelte Suche nach Gerechtigkeit. Eine junge Mutter wird bei einer brutalen Messerattacke schwer verletzt. Ihr kleiner Sohn ist spurlos verschwunden. Während Hauptkommissarin Maline Brass bei der fieberhaften Suche nach dem Kind gegen die Zeit ankämpft, wird ihre Kollegin Lou Vanheyden durch einen tragischen Schicksalsschlag zu eigenen Ermittlungen getrieben. Auf der verzweifelten Jagd nach Gerechtigkeit gerät sie immer weiter an den Rand der Legalität und an die Grenzen ihres eigenen Gewissens. "Kölner Vergeltung" ist ein schonungsloser, realistischer Kriminalroman voller Spannung, der tief in menschliche Abgründe blickt.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Myriane Angelowski, in Köln geboren und im Bergischen Land aufgewachsen, studierte Sozialarbeit und arbeitete als Referentin für Gewaltfragen bei der Kölner Stadtverwaltung. Neben ihrer Arbeit als Autorin leitet sie Krimi-Seminare und Schreibworkshops. »Kölner Vergeltung« ist der siebte Fall der Kölner Kommissarinnen Maline Brass und Lou Vanheyden.

www.angelowski.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock/cc-images

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-248-2

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Steffa und für Anne

Nahe Klef, Bergisches Land

Zip liegt tot auf dem Tisch. Nola beobachtet, wie Kondenswasser vom Küchenfenster abperlt. Die Heizung bollert auf höchster Stufe. Zip soll es warm haben, wenigstens von außen. Brot und Butter stehen unangetastet vor Nola, außer Kaffee kriegt sie nichts runter.

In der Früh hat sie Zip draußen unter dem Fenster gefunden und ins Mobilheim getragen. Sie balancierte den kleinen Kerl auf der Handinnenfläche und streichelte unentwegt die vom Morgentau vollgesogenen, feuchtkalten Federn. Mit tattrigen Händen kramte sie schließlich den hellblauen Samtstoffrest hervor und legte Zip darauf ab. Irgendwann hat sie die Morgenroutine abgespult, den Frühstückstisch gedeckt und ist auf die Eckbank gesackt. Gleich ist es Mittag, und Nola sitzt immer noch auf dem Platz, starrt das tote Rotkehlchen an und verheddert sich in Erinnerungen.

Die Gedanken kreisen um den Tag, an dem sie den Vogel auf der Veranda entdeckte, ausgemergelt und mit gebrochenem Flügel. Zip hüpfte ihr gleichsam vor die Füße. Zu diesem Zeitpunkt spielte Nola mit dem Gedanken, das irdische Dasein abzuschließen. Sie fand aus der Dunkelheit, indem sie den Piepmatz mit dem ausgeprägten Kehlfleck hingebungsvoll aufpäppelte. Sie hatte keine Ahnung, dass Rotkehlchen als Krafttiere gelten, die für Hoffnung stehen und zum Loslassen ermutigen. Und Nola wusste erst recht nicht, dass es Regionen gibt, in denen diese Art als Bote verehrt wird, den ein Verstorbener entsendet, um einem geliebten Menschen Trost zu spenden. Nola kümmerte sich schlicht um einen kranken Vogel. Erst viel später, als sie alles verschlang, was je über Rotkehlchen geschrieben wurde, kam sie zu der Überzeugung, dass es sich bei Zips Ankunft keinesfalls um einen Zufall handeln konnte.

In den ersten Wochen nach der Genesung hackte Zip abends mit dem Schnabel gegen die Tür, wenn Nola ihn aussperrte. Es dauerte, bis er den umgedrehten ausgedienten Blumentopf unter dem Vordach für ein sicheres Zuhause hielt. Aber sobald Nola morgens die Tür öffnete, flog Zip herein, saß beim Frühstück auf ihrer Schulter und flatterte nur davon, um Fressen zu suchen. Fast fünf Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Eine beachtliche Zeit für Rotkehlchen, deren Lebenserwartung in der Regel nicht besonders hoch ist. Nola war aufgrund dieser Tatsache anfangs besorgt, bis sie las, dass manche Vögel in der Obhut des Menschen bedeutend älter werden. Den Rekord hält ein Rotkehlchen, das siebzehn Jahre bei einem Ehepaar in England lebte.

Nolas Kaffee ist längst kalt. Vorsichtig zupft sie den Samtstoff glatt. Der Tod schleicht sich von hinten an, die Erfahrung macht Nola nicht zum ersten Mal. Ihr Blick bleibt am Küchenkalender hängen, der für jeden Tag einen Leitspruch bereithält. Nola liest den heutigen Satz laut. »Nur leere Hände lassen sich füllen.«

Sie zieht die Schultern hoch. Loslassen ist der Schlüssel zum Glück, sagt Buddha. Nola denkt, dass Buddha gut reden hat. Sie kennt niemanden, außer vielleicht ihren Vater, für den Loslassen ein Kinderspiel ist. Vermutlich, weil ihm nichts auf der Welt irgendetwas bedeutet.

Nola erhebt sich schwerfällig, streift Mütze sowie das gefütterte Fleecehemd über und hängt gedanklich bei dem Tagesspruch. Nur leere Hände lassen sich füllen. Als Zip in ihr Leben trat, lebten Axel und Carlotta seit zwei Wochen nicht mehr.

Nola atmet durch, geht hinaus, überquert die Wiese zum Schuppen und schiebt das Fahrrad samt Anhänger ins Freie. Sie ist spät dran. Normalerweise kehrt sie um diese Zeit von der Donnerstagstour zurück. Remo wird jeden Moment mit Kuchen oder Brötchen aufkreuzen und erwarten, dass die Kaffeemaschine läuft. Die Donnerstagsbesuche ihres Bruders sind obligatorisch, gehören dazu, seit Nola und Axel aufs Land gezogen sind. Remo wohnte bereits in der Gegend und versuchte sich von Anfang an nützlich zu machen. Der Einzelgänger freundete sich mit Axel an, umso härter traf auch ihn dessen Tod.

Seit Kurzem bedrängt Remo Nola andauernd. Er möchte bei ihr einziehen, seine Miete steigt konstant. Unzählige Male hat sie ihm eine Abfuhr erteilt, schon wegen des Platzmangels im Mobilheim. Doch Remo stellt die Ohren auf Durchzug, ist immun gegen Kritik und Zurückweisungen. Schon als Kind war er schwer zu händeln und resistent gegen Regeln und Grenzen. Als Jugendlicher ließ er die Fäuste sprechen und schlug schon wegen Kleinigkeiten zu. Regelmäßig hatte er Stress, auch mit der Polizei. Mit den Jahren ist er umgänglicher geworden, aber Nola weiß, dass sie ihn auf Abstand halten muss. Der Spruch mit dem kleinen Finger und der ganzen Hand passt, was Remo betrifft, perfekt.

Dummerweise besitzt Nola zwei linke Hände und ist seit Axels Tod auf Hilfe angewiesen. Ob es darum geht, das Dach auszubessern, bei Problemen mit dem Gas, egal, was anliegt, Nola steht schnell auf dem Schlauch. Auch wenn sie sich einiges angeeignet hat und durchaus mit der Bohrmaschine umgehen kann. Jetzt rächt es sich, dass sie und Axel sehr zurückgezogen lebten. Frühere Freundschaften sind längst zerbrochen.

Insofern ist Remo nicht gänzlich unerwünscht. Er kommt angeradelt, verrichtet, was ansteht, und nimmt dafür nur kleines Geld. Womit er ansonsten den Lebensunterhalt bestreitet, ist Nola schleierhaft. Im Ort wird gemunkelt, dass er zwielichtige Leute kennt. Nola gibt nicht viel auf das Gerede und stellt keine Fragen. Remo schlägt sich irgendwie durch und pumpt Nola niemals an. Wie auch immer, sie kann sich nicht leisten, es sich grundsätzlich mit ihm zu verscherzen. Zudem ist er einsam, und das ist ein Punkt, der bei Nola verfängt. Menschen, die allein sind, rühren etwas in ihrem tiefsten Innern.

Sie ist außer Atem, als sie die Anhöhe erreicht, und stoppt am Hochsitz. Hier oben weht ein eisiger Wind, die Autos, die über die A 4 rasen, sind zu hören. Es beginnt zu nieseln. Nola dreht sich um, blickt zu den Wiesen hinunter und hört Remo im selben Moment kommen. Das Schutzblech seines Fahrrads klappert seit geraumer Zeit und scheppert extralaut, wenn er über die Unebenheiten des alten Feldwegs rumpelt. Jetzt biegt er auf die Schotterpiste ab, die am Mobilheim endet.

Nola verschanzt sich hinter einem blühenden Ginsterbusch, der zwischen zwei alten Kastanien steht, und blickt in die Senke hinab. Remo stellt das Rad ab und läuft zur Veranda.

Angespannt radelt Nola aus der Deckung und strampelt sicherheitshalber mit eingezogenem Kopf in den Wald, obwohl Remo sie auf die Entfernung unmöglich erspähen kann. Mit ordentlichem Tempo holpert sie über Tannenzapfen und Wurzeln den schmalen Weg hinab, der Kölner Straße entgegen. Innerlich ist Nola erleichtert. Remos Sprüche bleiben ihr heute wenigstens erspart.

Marienhagen, Bergisches Land

Anna hält das Smartphone am Ohr, obwohl der Bauleiter das Gespräch beendet hat. Sie starrt durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite. Jemand hat »ZORRO« in großen Lettern auf die frisch renovierte Fassade des Mietshauses gesprayt. Unglaublich, wie schnell der sonnengelbe Anstrich verunstaltet wurde.

Anna könnte einen Retter mit Maske und Umhang gebrauchen, der Dinge für sie regelt, die Liste ist ellenlang. Im Zeitlupentempo steckt sie das Handy ans Ladekabel, registriert das Rauschen in den Ohren und lässt sich auf den nächstbesten Küchenstuhl fallen. Oskar sitzt dicht neben Opa, die beiden bemalen Eier und stecken die Köpfe zusammen.

Annas Vater schaut auf. »Was sagt der Bauleiter?«

»Nichts, alles bestens«, lügt Anna und greift nach den Autoschlüsseln. »Komm, Oskar, wir müssen los.«

»Ich bleibe bei Opa!«, verkündet der Dreijährige und tunkt demonstrativ den Pinsel in kräftiges Rot. Oskars Lieblingsfarbe.

Anna nimmt das Smartphone und drückt Cems Nummer. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Sie versucht es mehrfach, aber Cems Handy ist offenbar ausgeschaltet. Bestimmt wegen des dummen Streits am Morgen. »Du musst konsequenter handeln«, hat er gesagt und hinzugefügt: »Wenn es um Oskar geht, verhältst du dich wischiwaschi.« Ein Wort gab das andere, bis Cem wütend aus der Wohnung stapfte. Über das »Wischiwaschi« regt sich Anna noch Stunden später auf. Trotzdem kommt ihr die Auseinandersetzung jetzt kindisch vor.

Der Bauleiter hat Anna mitgeteilt, dass sich die Fertigstellung des Hauses um mindestens sieben Monate verschiebt. Er hat Lieferschwierigkeiten, fehlende Fachkräfte und die Kostenexplosion angeführt. Anna weiß, dass die Arbeiten an anderen Objekten längst ruhen. Ein Freundespaar hat es besonders hart getroffen. Deren Haus ist an der Nordseite abgesackt, steht schief wie der mittelalterliche Wehrturm von Gau-Weinheim, und niemand will Verantwortung übernehmen.

Anna unterdrückt den Impuls loszuschreien. Die jetzige Wohnung ist gekündigt und neu vermietet. In drei Monaten müssen sie raus. Das Ohrenrauschen verstärkt sich. Im Geiste sieht sie sich unter der Zoobrücke kampieren. Das ist natürlich eine maßlose Übertreibung, aber Cem hat keine Familie, und Annas Vater lebt in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung.

Der Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Sie schaut auf die Uhr. In einer Stunde ist sie mit ihrem Mann in der Kölner City verabredet. Er hat eine Sofalandschaft in einem Einrichtungshaus auf dem Hohenzollernring entdeckt. Aber logischerweise sind ab jetzt alle unnötigen Ausgaben gestoppt, nur davon ahnt Cem noch nichts. Der verzögerte Einzug wird nicht nur eine logistische Herausforderung, auch finanzielle Abstriche sind unvermeidbar. Anna fehlt die Phantasie, sie weiß nicht, wie sie die Mehrausgaben stemmen sollen. Schon vor der Hiobsbotschaft ist ihnen der Hausbau über den Kopf gewachsen. Zeitweise fühlt sich Anna wie gelähmt und schafft es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Cem erzählt sie davon nichts. Er wertet psychische Probleme vorschnell als Zeichen von Schwäche, da tickt er wie Annas Vater. »Augen zu und durch« lautet die übereinstimmende Devise. Dabei schläft Anna kaum noch, kämpft gegen Angstzustände, die sie in immer kürzeren Intervallen überrollen. Zusätzlich versucht sie, die Aggression in Schach zu halten, die sie huckepack trägt. Kürzlich hat sie Oskar eine gescheuert und schämt sich unsagbar dafür. Es fehlt nur ein Quäntchen, und Annas Nervensaiten reißen endgültig.

»Zieh bitte deine Schuhe an, wir müssen jetzt aufbrechen«, sagt sie bemüht liebenswürdig und löst das Handy vom Netzstecker, es ist nur halb geladen.

Oskar zieht eine Grimasse und malt demonstrativ weiter. Annas Vater beugt sich zu ihm hinunter, sie flüstern miteinander. Der Junge schlingt die Arme um den alten Mann, kuschelt sich kurz an ihn und klettert dann tatsächlich vom Stuhl. Opa bindet dem Kind die Schuhe, hilft ihm in die rote Kapuzenjacke und zwinkert Anna zu.

»Wo ist Lulu?«, fragt Oskar, als Anna die Haustür öffnet, und flitzt zurück in die Küche, bevor seine Mutter reagieren kann.

Ohne Puppe geht Oskar derzeit nirgendwohin. Leider Gottes versteckt er sie an unmöglichen Orten. Lulu zu finden ist des Öfteren reine Glückssache. Anna weiß, dass Diskussionen an dieser Stelle das Drama nur verlängern, und fängt ebenfalls an, nach der Puppe zu suchen. Opa schaut mit dem Kleinen in die Abstellkammer und unter das Sofa. Oskar weint bitterlich, und Annas Nervenenden vibrieren.

»Gefunden!«, ruft Opa.

Lulu liegt im Kartoffelkorb. Oskar drückt die Puppe an sich, beruhigen will er sich jedoch nicht. Er schreit mit weit geöffnetem Mund in einer Frequenz, die an Lärmbelästigung grenzt. Anna schiebt ihren Sohn Richtung Tür, der Junge ist bockig und macht sich steif.

»Ich will aber bei Opa bleiben!«

Oskar trotzt. Für ihn münden Lappalien geradewegs in einen Weltuntergang. Die Wangen des Kindes sind tomatenrot, der Pony schweißnass. Opa versucht vergeblich, Oskar mit guten Worten zu besänftigen. Also schafft Anna Fakten. Sie schnappt sich den Kleinen, trägt ihn, trotz gehöriger Gegenwehr, zum Auto, schnallt den Krakeeler fest und drückt ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Beinahe halb zwei. Anna muss die verlorene Zeit herausfahren, brettert über die Landstraße zur Auffahrt der A 4, fährt mit überhöhtem Tempo auf die Autobahn und schielt in den Rückspiegel. Oskar tritt plärrend mit den Schuhen gegen den Beifahrersitz. Anna muss das Handy per Finger-Scan entsperren und probiert anschließend erneut, Cem über den Kurzwahl-Button zu erreichen, aber der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend immer noch nicht erreichbar.

Die Anzeige im Bordcomputer leuchtet auf. Druckverlust hinten links. Seit Tagen erscheint die Fehlermeldung. Cem hat das Fahrzeug gecheckt, eine Schraube steckt mittig im Profil. Der Reifen muss gewechselt werden, im ungünstigsten Fall alle vier. Bei reduziertem Tempo ist die befristete Weiterfahrt laut Werkstatt kein Problem. Theoretisch könnte Anna die Landstraße nehmen, aber das ist zeitlich nicht mehr zu schaffen.

Sie schwitzt und reißt den Schal vom Hals, nur um ihn kurz darauf wieder umzuwickeln. Hitzewallungen und Schüttelfrost wechseln neuerdings ständig.

Anna spielt »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer« ab. Oskar liebt das Lied und trällert es andauend, auch wenn Weihnachten ewig vorbei ist. Der erhoffte Effekt bleibt diesmal leider aus. Oskar trotzt weiter und verschmäht sogar die Kekse, die Anna ihm anbietet.

Ein Rastplatz kommt in Sicht. Anna muss zwingend auf die Toilette, wollte noch bei ihrem Vater gehen, aber durch die Lulu-Suchaktion hat sie persönliche Bedürfnisse hintangestellt. Jetzt drücken sämtliche Straßenunebenheiten unangenehm.

Gereizt schaltet sie den CD-Player aus und dreht das Radio laut, wenngleich sie eigentlich nichts hören will. Auch nicht »Komet« von Lindenberg und Apache. Aber Oskars Schreierei ist unerträglich.

Im Rückspiegel sieht Anna, dass der Junge an der Verschlussschnalle des Sicherheitsgurts herumspielt. Seit er nur noch auf einer Sitzerhöhung angeschnallt wird, kann er den Gurt neuerdings selbstständig lösen. Kürzlich hat er sich auf dem Supermarktparkplatz abgeschnallt, und im Anschluss ist es ihm gelungen, die Tür zu öffnen. Die Kindersicherung ist seit Wochen ausgeschaltet und lässt sich aus unerfindlichen Gründen nicht reaktivieren. Die Werkstatt meint, das System benötigt ein Update. Aber Cem findet einfach nicht die Zeit, den Wagen zum Checken dorthin zu fahren. Hoffentlich geht er die Sache jetzt an, das Problem mit dem Reifen lässt sich schließlich nicht aufschieben. Davon abgesehen ist Anna überzeugt, dass der Wechsel auf die Hartschale altersmäßig zu früh erfolgt ist. Cem besteht aus Bequemlichkeit darauf, denn so lässt sich der Sitz einfacher in andere Autos verlegen.

»Lass bitte die Finger vom Gurtverschluss!«, schreit Anna gegen Udo und Apache an. »Sonst kommst du nächstes Mal wieder in den Babysitz!«

»Neeeein!« Oskar ballt die Fäuste, trommelt heftiger mit den Schuhen gegen den Vordersitz, lässt aber zu Annas Erleichterung die Finger vom Gurt und klatscht stattdessen pausenlos in die Hände. Anna bittet ihn entschieden um Ruhe und rast prompt an der Abfahrt des Rastplatzes mit WC vorbei.

Cem bleibt unerreichbar, und zu allem Überfluss hängt sich Annas Smartphone auf. Der Startbildschirm friert ein, das Gerät benötigt einen Neustart. Das passiert in letzter Zeit vermehrt. Anna braucht ein neues Handy, aber das kann sie in der angespannten finanziellen Situation vergessen. Sie schaltet das Gerät aus, schiebt es in die Jackentasche, dreht das Radio leiser und spürt die volle Blase heftiger. Der Schmerzdruck ist unerträglich. Bis zur nächsten Raststätte sind es nur wenige Kilometer. Anna drückt das Gaspedal durch.

Kurz darauf registriert sie, dass von der Rückbank kein Piep mehr zu hören ist. Oskar schläft. Dickköpfigkeit macht offenbar müde. Der Kopf des Kindes ist zur Seite gesackt, die Arme hängen schlaff herunter. Lulu liegt auf Oskars Oberschenkeln. Anna schaltet das Radio aus und atmet durch. Endlich Ruhe.

Der Rastplatz Aggertal wird angekündigt. Für die Strecke nach Köln benötigt sie locker weitere zwanzig Minuten, wenn sie gut durchkommt und sich nicht wieder alles an der nervigen Baustelle hinter Refrath staut. Anna kann den Blasendruck unmöglich weiterhin ignorieren, auch wenn Cem auf Unpünktlichkeit allergisch reagiert. Entschlossen gibt sie Gas, setzt den Blinker, zieht gleichzeitig rechts rüber, schert dicht vor einem Fahrzeug ein und rast mit hohem Tempo auf den Zubringer des Rastplatzes.

Es ist wenig los. Auf den Lkw-Parkstreifen klaffen zahlreiche Lücken. Anna fährt durch den Tankstellenbereich und parkt den Wagen direkt vor dem Eingang der ausgeschilderten Toiletten. Sie schaut hinüber zum Gebäude des Serways-Restaurants, die fehlende Betriebsamkeit registriert sie nur am Rande, schaltet den Motor aus, löst den Gurt, verlässt das Fahrzeug und schließt die Tür fast geräuschlos. Normalerweise würde sie Oskar mitnehmen, aber sie möchte ihn um keinen Preis wecken.

Mit wenigen Schritten erreicht sie die Glastür. Der kleine Tisch im Eingangsbereich steht verwaist.

Bevor Anna im Frauenbereich verschwindet, dreht sie sich noch einmal zum Wagen und drückt auf das Verriegelungssymbol des Autoschlüssels. Die Scheinwerfer blinken auf. Anna nutzt Cems Auto nur selten und weiß nie, wann die Türen verschlossen sind. Also betätigt sie die Mechanik vorsichtshalber mehrmals und huscht in die Toilette.

Sie spürt augenblicklich die Erleichterung, ertastet das Handy in der Jackentasche, fährt es hoch und probiert es noch einmal bei Cem. Zum Glück nimmt er diesmal das Gespräch an. Anna weint, während die Verzweiflung aus ihr heraussprudelt. Sie lässt nichts unerwähnt. Die Verzögerung der Bauarbeiten, die Problematik mit der gekündigten Wohnung, die Angst, dass sie finanziell ruiniert sind, und das nervige Aufblinken des Bordcomputers. Cem schweigt beharrlich.

»Hallo?«

Kein Balken, kein Empfang. Anna weiß nicht, ob Cem überhaupt irgendetwas mitbekommen hat. Unbeherrscht tritt sie gegen die Toilettentür, flucht, spült ab, verlässt das Gebäude und drückt permanent die Wahlwiederholung. Toll, jetzt ist besetzt. Womöglich versucht Cem zurückzurufen.

Anna eilt zum Wagen und bekommt tatsächlich ein Freizeichen, als sie hinter dem Lenkrad sitzt, der Empfang ist dürftig, es rauscht in der Leitung.

»Cem, hörst du mich?«

»Anna?«

»Hallo?«

Stille, die Leitung ist wieder tot. Anna klemmt das Handy in die Plastikhalterung, rast auf den Beschleunigungsstreifen und drückt parallel ununterbrochen die Wahlwiederholung. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Es ist zum Heulen.

Der Verkehr ist nun dichter. Nieselregen setzt ein. Rasch verschlechtern sich die Sichtverhältnisse, und prompt schleichen manche Fahrzeuge regelrecht über die Autobahn. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist …

»Mist! Verdammt!«, ruft Anna, schlägt mit den Handballen auf das Lenkrad, überholt riskant, schnippelt mehrere Fahrer beim Einfädeln und erntet Lichthupen.

Sie ist erst ein kurzes Stück gefahren, schon wird die Ausfahrt Overath angekündigt. Anna wirft einen Blick auf die Rückbank.

Die Sitzschale ist leer. Ruckartig blickt sie über die Schulter und gerät dabei aus der Spur. Autos hupen. Anna wedelt mit der rechten Hand durch den hinteren Fußraum. Oskar ist definitiv weg. Lulu ebenfalls. Sie bremst, schlingert abermals, lenkt den Wagen mit einer kantigen Bewegung auf den Standstreifen und stoppt. Erneut hupen Fahrzeuge. Anna schaltet die Warnlichter an, löst den Sicherheitsgurt, steigt aus, öffnet die hintere Wagentür und kriecht regelrecht über den gesamten Rücksitz. Panisch fuchtelt sie mit ausgestreckten Armen noch einmal in jeden Winkel, als bestehe die Chance, dass Oskar einfach nur unsichtbar ist oder sich in die hinterletzte Ecke verkrümelt hat. Anna ruft nach ihm, bittet ihren Sohn, mit dem Unsinn aufzuhören, und klappt die Hälfte der Rückenlehne nach vorn, um den Kofferraum zu inspizieren. Dabei kann Oskar dort ohne Hilfe unmöglich hineinkrabbeln.

Die Ladefläche liegt voller Gerümpel und ist aus Annas Perspektive nicht komplett einsehbar. Sie eilt um das Auto zum Kofferraum, durchwühlt ihn hektisch und ruft pausenlos nach ihrem Jungen. Es vergehen wertvolle Minuten, bis Annas Verstand die Schlussfolgerung zulässt, die unübersehbar ist. OSKAR IST NICHT MEHR IM FAHRZEUG.

Er muss das Auto am Rastplatz verlassen haben. Anscheinend ist er aufgewacht, hat den Sicherheitsgurt gelöst und ist aus dem Auto geklettert. Anna steht wie festgewachsen. Sie hat Cems Wagen also doch nicht richtig verriegelt, bevor sie auf die Toilette stürmte. Hinterher war sie einfach zu sehr darauf bedacht, mit Cem zu sprechen.

Erfolglos versucht sie, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Was ist, wenn Oskar nicht selbstständig losgestiefelt ist, sondern aus dem Wagen gezerrt wurde?

Anna hat das Gefühl zu ersticken. Sie zwingt sich, logisch zu denken. Wie realistisch ist es, dass ein Täter an der Raststätte Aggertal auf ein unbeaufsichtigtes Kind wartet? Es stand kein anderes Fahrzeug vor dem Toilettenhaus, und die wenigen Lkw parkten in erheblicher Entfernung. Zitternd wischt sich Anna Speichel vom Kinn, zieht das Smartphone hervor und drückt Cems Kurzwahl-Button. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.

Das Ohrensausen ist zurück. Voller Angst geht Anna die Optionen durch. Zurücklaufen ist eine Möglichkeit. Die Raststätte Aggertal ist, wenn überhaupt, nur einen guten Kilometer entfernt. In Annas Alltag spielt Sport allerdings keine Rolle. Einen Kilometer läuft sie schnellstens in fünfzehn Minuten, und das ist großzügig geschätzt. Abgesehen davon ist sie ohne Auto am Rastplatz aufgeschmissen. Vielleicht ist es möglich, auf dem Standstreifen rückwärts zurückzufahren. Blöderweise ist Cems Auto äußerst unübersichtlich. Rückwärts einzuparken vermeidet Anna in der Regel. So eine lange Distanz im Rückwärtsgang zu bewältigen, ohne auf die Fahrbahn zu geraten, ist für sie unvorstellbar.

Die Ausfahrt Overath befindet sich gleich hinter der Kurve. Anna kennt die Gegend wie ihre Westentasche. Wenn sie in Overath abfährt, am Hotel Restaurant Lüdenbach rechts nach Bernsau abbiegt und die Straße so weit wie möglich durchfährt, gelangt sie innerhalb weniger Minuten von hinten auf den Rastplatz. Die rückwärtige Zufahrt ist weder durch eine Schranke gesichert, noch behindern Poller die Weiterfahrt. Logischerweise darf sie nur von Zulieferern und Rettungskräften genutzt werden, aber das ist jetzt irrelevant.

Anna springt in den Wagen, riskiert ein gefährliches Einfädelmanöver und erntet Lichthupen sowie etliche Stinkefinger. Druckverlust hinten links, der Bordcomputer meldet sich erneut. Sie umklammert das Lenkrad, schiebt den Oberkörper vor und drosselt die Geschwindigkeit minimal. Oskar braucht sie. Ihm ist nicht geholfen, wenn sie einen Crash baut. Annas Handy verlangt erneut nach einem Fingerprint zum Entsperren. Das nervt zusätzlich. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist …

Anna nimmt ein Schild wahr. Die Abfahrt Overath ist gesperrt. Schon tauchen die ersten rot-weißen Warnbaken auf, die in regelmäßigem Abstand aufgestellt sind, um die Ausfahrt zu blockieren. Das darf doch einfach nicht wahr sein. Die nächste Abfahrt ist Kilometer entfernt und damit überhaupt keine Option. Oskar braucht dich.

Anna reduziert das Tempo radikal, lenkt das Fahrzeug beherzt und mit einem Ruck durch die Lücke zweier senkrechter Baken. Dabei touchiert der Kotflügel eine dritte, die zu Boden fällt und unter den linken Hinterreifen rutscht. Anna guckt in den Rückspiegel. Der Wagen schleift die Absperrung mit, bis sie wegrutscht und auf dem Asphalt liegen bleibt. Für eine Sekunde ist sie erleichtert, bis die Karosserie des Audis enorm vibriert. Im Cockpit blinken mehrere Symbole gleichzeitig, zudem vernimmt sie ein dröhnendes Klopfgeräusch. Im Außenspiegel ist Rauch zu sehen, das linke Heck ist komplett eingenebelt. Unbeirrt brettert Anna über den Verzögerungsstreifen auf die Ampel zu. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist …

Für die gesperrte Ausfahrt gibt es keinen ersichtlichen Grund. Die Blockierung sorgt aber anscheinend für eine gespenstige Leere. Kein anderes Fahrzeug ist zu sehen. Anna biegt links ab. Der Bord-Assistent fordert sie auf, den Motor unverzüglich auszuschalten. Sie ignoriert den Appell. Gegen jede Vernunft drückt sie das Gaspedal durch. Oskar braucht dich.

Das Auto ruckelt wie verrückt. Bevor Anna die schmale Zufahrt nach Bernsau erreicht, knallt es extrem laut. Sie schreit vor Schreck auf und verreißt das Steuer. Der Wagen schießt von der Straße unmittelbar in den rechten Graben. Anna schlägt mit dem Gesicht auf die Emblem-Nabe des Lenkrads. Die Nase schmerzt höllisch. Oskar braucht dich. Weinend legt sie den Rückwärtsgang ein. Der Wagen blockiert. Anna stößt die Fahrerseite auf.

Bis zu den Gehöften von Bernsau und dem darüberliegenden Rastplatz benötigt sie zu Fuß zwar locker zwanzig Minuten, aber eine Alternative sieht sie nicht.

Kein Mensch weit und breit. Kein Auto in Sicht. Anna weint vor Schmerz und Angst. Oskar braucht dich. Sie rennt los und zieht das Smartphone hervor. Ausgerechnet jetzt erfolgt eine PIN-Abfrage. Laufend tippt Anna die Nummer ein und dreht sich ständig um. Sie hat die Zufahrt nach Bernsau nahezu erreicht, als sich von hinten ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit nähert. Was für eine günstige Fügung. Anna steckt das Handy in die Jackentasche. Kaltweiße Scheinwerfer blenden auf. Sie eilt dem Fahrzeug entgegen. Egal, wer sich darin befindet, die Person muss helfen.

Das Tempo des Wagens verlangsamt sich nicht. Anna befürchtet, dass der Pkw vorbeirast, reißt die Arme empor, winkt, schreit, stellt sich dem Auto in den Weg und springt erst in letzter Sekunde in den Graben. Reifen quietschen. Der Pkw kommt zum Stehen. Die Fahrertür wird aufgestoßen. Anna rappelt sich auf und schaut in ein vertrautes Gesicht. Die Irritation, die kurzfristig aufflackert, schlägt auf der Stelle in Erleichterung um.

Anna kann in dieser völligen Ausnahmesituation nicht logisch denken und steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Sie sucht nach Worten, um die Brisanz ihrer Lage unverzüglich und anschaulich zu umreißen. Doch bevor sie Oskar überhaupt erwähnen kann, spürt Anna einen durchdringenden Schmerz im Oberschenkel. Sie steht wie paralysiert und starrt ungläubig auf die Wunde, die im Bein klafft. Instinktiv macht sie eine Rückwärtsbewegung. Der zweite Hieb trifft sie am Bauch, durch die Wucht fällt sie zu Boden.

Merkwürdigerweise spürt Anna jetzt keinen Schmerz mehr. Adrenalin und Cortisol. Der Körper schüttet beide Stoffe im extremen Maße aus. Herzfrequenz und Blutdruck steigen. Die Zirkulation zentriert sich auf überlebenswichtige Organe wie Herz und Gehirn.

Sie liegt seitlich neben Cems Auto. Der linke Hinterreifen ist geplatzt, die Karosserie steht auf der Felge. Es beginnt heftig zu regnen. Oskar braucht dich. Anna bewegt die Lippen und versucht, den Namen ihres Jungen auszusprechen. Ohne Erfolg.

Polizeischießanlage Brühl

Hauptkommissarin Maline Brass steht breitbeinig und hält die Arme ausgestreckt in Schulterhöhe. Sie befindet sich in einer Reihe mit drei Kollegen aus unterschiedlichen Kommissariaten, hat die Position ganz links ergattert und damit einen minimalen Vorteil. Leere Patronenhülsen fliegen nach rechts und können dort stehende Schützen leicht irritieren. Das Training dauert schon zwei Stunden, langsam lässt die Konzentration nach. Die Entfernung zur Leinwand beträgt jetzt fünfzehn Meter. Bei der nächsten Übung müssen Maline und die anderen nach jedem Schuss holstern, also die Waffe zurückstecken, gleich wieder ziehen, schießen und, wenn nötig, nach einer Hemmung neu laden. Blitzschnell, ohne Pause. Keine leichte Aufgabe, wenn die Aufmerksamkeit schwindet. Auch Maline fällt es zunehmend schwer, sich zu sammeln.

Seit Wochen verbringt sie jede freie Minute in der Werkstatt und baut gemeinsam mit einer Schreinerin ein vierundzwanzig Quadratmeter großes Tiny House. Maline und ihre Partnerin Amy wollen Ballast abwerfen, sich verkleinern und autark leben. Der Neustart ihrer Liebe ist geglückt. Maline läuft mit einem breiten Grinsen durch die Gegend – niemals hätte sie gedacht, dass sie und Amy eine zweite Chance bekommen. Die kurze Leidenschaft mit der Ärztin, die ihren sterbenden Vater behandelt hat, entwickelte sich damals rasant und endete abrupt. Amys Nähe-Distanz-Problematik verhinderte eine ernsthafte Beziehung. Maline zog die Reißleine, ohne Amy vergessen zu können, egal, welche Frau in ihr Leben trat. Jahre später ist sie nun am Ziel ihrer Träume. Für den Abend hat Maline einen Tisch im Schnackertz reserviert. Sie schätzen beide die gutbürgerliche Küche und Atmosphäre des Restaurants in Nippes.

»Gleich werden tellergroße Scheiben auf die Leinwand projiziert, sie sind nummeriert«, ruft der Trainer. »Maline, du bist die Nummer eins, zielst also ausschließlich auf die Einser und so weiter.«

Maline fokussiert sich. Der Gehörschutz drückt, und das rechte Glas der Sicherheitsbrille beschlägt am unteren Rand. Sie schwitzt, hätte das Sweatshirt doch ausziehen sollen. Die Kommandos hört Maline laut und deutlich, während sie die Schüsse nur gedämpft vernimmt. Der im Bügel integrierte Tonempfang schließt automatisch, sobald geschossen wird.

»Auf geht’s!«, ruft der Coach.

Maline schießt fehlerlos bis zur letzten Patrone. Kein Kollege hat ein vergleichbares Trefferbild. Der Trainer bedenkt Maline mit einem anerkennenden Blick.

Das Schießtraining ist für Polizeibedienstete zweimal im Jahr verpflichtend. Maline absolviert das Training gern. Von Anfang an ist ihr der Umgang mit der Waffe leichtgefallen. Sie kennt Kolleginnen und Kollegen, die vor der jährlichen Überprüfung von Handhabung und Treffsicherheit richtig Bammel haben. Das betrifft sowohl junge Kollegen als auch erfahrene Polizeibeamte, wenngleich die Gründe unterschiedlich sein mögen. Eventuell mangelt es Berufsanfängern oft an Übung, wohingegen Ältere eher mit Konzentrationsschwächen oder einem schwindenden Reaktionsvermögen kämpfen.

Zusammen mit den Kollegen verlässt Maline die Halle und folgt ihnen in den Reinigungsraum. Ohne viele Worte nehmen sie die Pistolen zum Putzen auseinander.

Malines Gedanken schweifen ab. Amy steht dem Leben im Tiny House aufgeschlossen gegenüber, obwohl sie erst vor Kurzem eine Eigentumswohnung erworben hat. Sie wohnt im Clouth-Viertel, kann die Domspitzen sehen, schaut auf den Johannes-Giesberts-Park und geht zu Fuß ins Kinderkrankenhaus. Erfreulicherweise schwebt ihr trotzdem ein gemeinsames Zuhause vor, und sie ist bereit, ihre tolle Wohnung zu vermieten. Das ist ein eklatanter Kurswechsel für die junge Ärztin. Damals im ersten Anlauf wollte Amy unter keinen Umständen mit Maline zusammenziehen, und nun freut sie sich auf ein Abenteuer auf engstem Raum. Natürlich ist nichts in Stein gemeißelt. »Wenn es nicht funktioniert, finden wir eine Lösung«, hat sie neulich gesagt.

Während Maline die P99 reinigt, überlegt sie zum x-ten Mal, wie sie ihrer Vermieterin Helene Vanheyden die Kündigung ihrer Wohnung nahebringen soll. Das Thema schiebt sie schon ewig vor sich her, wartet auf einen günstigen Zeitpunkt. Seit dem Tod ihres Vaters muss Maline ohne Familie klarkommen. Helene, die Mutter ihrer Freundin und Arbeitskollegin Lou Vanheyden, hat sie unter die Fittiche genommen und wurde Familienersatz. Die Auszugspläne werden die über Achtzigjährige kaum begeistern. Maline mag Helene, kauft manchmal für sie ein und kümmert sich um den Garten. So gesehen ist es gut, dass die Arbeit am Mini-Haus schleppend vorangeht.

Zurzeit macht Helene Vanheyden einen Roadtrip. Auch wenn sie nicht mehr so fit scheint wie vor Jahren, ist sie immer noch abenteuerlustig. Wer nicht neugierig ist und sich den Herausforderungen verweigert, hat verloren, ist ihre Devise. Vor ein paar Jahren ist sie noch ein Stück des Jakobswegs gegangen und hat im hohen Alter angefangen, Schlagzeug zu lernen. Nun ist sie zusammen mit Nikodemus im Wohnmobil zum Nordkap unterwegs. Helenes Koch und Haushaltshilfe bezieht längst Rente, regelt aber weiterhin den Haushalt in Marialinden. Über die Jahre ist er zu Helenes bestem Freund und treuem Begleiter geworden. Jetzt kutschiert er das Wohnmobil Richtung Nordkap.

Die Reise haben die beiden lange geplant und Maline früh eingeweiht. Wohingegen Lou erst durch ein Selfie, das Helene und Nikodemus vom Ableger Puttgarden sendeten, von der Aktion erfuhr. Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen, logischerweise sorgt sie sich. Helene stellt ihre Tochter gern vor vollendete Tatsachen, auch um Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, die Lou in diesem Fall hundertprozentig vom Zaun gebrochen hätte. Seit dem Selfie ist Helene nicht erreichbar, offenbar ist das Handy ausgeschaltet. Allein diese Tatsache bringt Lou auf die Palme.

Maline seufzt und nimmt sich vor, sofort mit Helene zu sprechen, wenn sie von der Reise zurück ist, auch wenn sich der Auszug verzögert. Denn erstens kommt Maline mit dem Bau nicht so zügig voran, und zweitens ist die Stellplatzfrage für das Tiny House ungelöst. Maline und Amy schwebt ein Ort in der Natur vor, ein Platz nahe an einem Wald oder, wenn möglich, in Seelage. Am liebsten im Bergischen Land. Hier fühlt sich Maline pudelwohl. Marialinden kommt ebenfalls in Frage. Aber die Gemeinde tut sich schwer mit winzigen bezahlbaren Bauplätzen, wie andere Kommunen auch. Die Realisierung des Vorhabens gestaltet sich daher ziemlich kompliziert.

Maline erhebt sich, nachdem die Waffe sauber und wieder zusammengesetzt ist. Sie verschwindet auf die Toilette, schmiert Paste auf die Hände, schrubbt das Öl mit einer Bürste ab und wirft einen Blick in den Spiegel. Vor einigen Monaten hat sie das Piercing entfernt, das viele Jahre ihre Augenbraue zierte. Auch die wuschelige Kurzhaarfrisur ist Geschichte. Die Haare sind schulterlang und meist zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. Maline braucht Veränderung, auf allen Ebenen, und wünscht sich darüber hinaus eine lange Auszeit vom täglichen Trott. Wie alle Kollegen sammelt sie unfreiwillig Überstunden um Überstunden und kommt kaum dazu, sie abzubauen. Die Personalnot auf den Dienststellen ändert sich einfach nicht und steht dem Abfeiern der Mehrdienstzeit oft im Weg.

»Maline!« Der Trainer steht in der Tür. »Deine Dienststelle hat versucht, dich zu erreichen, anscheinend ist dein Handy stumm geschaltet.«

»Was ist denn los?«

»In der Nähe von Overath wurde eine Frau mit einem Messer angegriffen, schwebt in Lebensgefahr und wird gerade in die Uniklinik gebracht. Es sieht nicht gut aus für die Verletzte. Der Ehemann wurde verständigt und ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Wir haben den Fall von den Bergisch Gladbacher Kollegen übernommen. Ben Stolberg leitet die Ermittlungen. Du sollst dich mit deiner Kollegin Leslie in der Notfallambulanz treffen, sie wird dich weiter briefen.«

Uniklinik Köln, Kerpener Straße

Maline parkt den Smart vor der Uniklinik, macht den Motor aus und fischt einen Schokoriegel aus dem Handschuhfach. Auf der Fahrt zum Krankenhaus hat sie mit Amy telefoniert. Dass die Pläne für den Abend gecancelt sind, sieht Amy locker. Ihr Bruder ist unangemeldet hereingeschneit und bleibt bis Sonntag. Gerade essen sie eine Kleinigkeit im Café Culture, das sich mitten im Nippeser Gewusel befindet.

Schnell ruft Maline noch in der Werkstatt an. Die Arbeit am Tiny House fällt wahrscheinlich für mehrere Tage flach. Sie beißt in den Schokoriegel, will gerade aussteigen und zuckt regelrecht zusammen, als das Handy klingelt.

»Bist du im Stress?« Lou hat Urlaub und klingt entspannt.

Maline umreißt kurz die Lage.

»Hat meine Mutter sich bei dir gemeldet?«

»Nein, wir haben doch abgemacht, dass ich dir Bescheid sage, wenn Helene mich kontaktiert.«

»Ich weiß, aber …«

»Vertraust du mir nicht?«

»Klar, natürlich.« Lou holt tief Luft. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass meine Mutter im Wohnmobil durch die Landschaft gondelt.«

»Helene ist eben für Überraschungen gut.«

»Aber in so einem Gefährt ist es eng«, sagt Lou. »Die Betten nicht annähernd so gut wie zu Hause, und du weißt, was für ein Brimborium sie veranstaltet, keine Matratze ist ihr bequem genug, egal, wohin sie reist, und popeligste Unannehmlichkeiten regen sie kolossal auf.«

Maline stimmt Lou zu. In ihrem Landhaus in Marialinden ist Helene von zahllosen Annehmlichkeiten, teurer Kunst, Mahagonimöbeln, Teewagen und Perserteppichen umgeben. Lous Mutter stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, ist mit Kindermädchen und Chauffeur auf einem Gut im Sauerland aufgewachsen. Dort wurden die Mahlzeiten auf hauchdünnem Porzellan serviert, das heute ausgezeichnet zu Nikodemus’ kulinarischen Kreationen passt.

»Was mich am meisten nervt, ist, dass Nikodemus kein Handy hat und meine Mutter ihres ständig ausschaltet.«

»Die beiden werden schon klarkommen«, sagt Maline, »sie sind ein eingespieltes Team. Nikodemus wird auf Helene aufpassen, auf ihn ist Verlass.«

Lou räuspert sich. »Ich wollte dich, Amy und Hanna am Sonntag zum Essen einladen.«

»Ich weiß nicht, wie sich der Fall entwickelt«, sagt Maline. »Und Amy hat ab Sonntag eine Woche Nachtdienst, aber ich würde gern kommen, auch wegen Hanna.«

Lous beste Freundin ist Inhaberin einer Bäckerei in Nippes und längst auch Maline ans Herz gewachsen. Spätestens nachdem sie ihr das Apartment über der Backstube für kleines Geld vermietet hatte, als Maline nach einem Beziehungsende auf die Schnelle keine Wohnung fand. Seitdem gehören auch die regelmäßigen Mädelsabende zu ihrem Leben.

»Ich rechne mit dir«, sagt Lou. »Tessa bleibt bis Montag bei meinem Ex, und Frieda geht zu irgendeinem Umweltschutz-Vortrag.«

»Deine Tochter ist ganz schön aktiv, was das Thema angeht. Ich finde es toll, dass sie sich so engagiert. Trotz Kind.« Friedas Tochter Tessa ist fast sechs.

»Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich Frieda verzettelt.«

»Wieso?«

»Tessa, das Studium, der Job.«

Maline entdeckt in dem Moment die neue Kollegin. Leslie sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer Mauer, die ein Blumenbeet einfasst, in dem Krokusse blühen. Sie trägt schneeweiße Sneaker, grüne Hosen, einen pinken Pulli und darüber eine hellblaue Bomberjacke. Leslie mag es offenbar bunt. Sie plaudert mit einer Frau im Bademantel, die einen rollbaren Infusionsständer umklammert.

»Okay, wir reden Sonntag«, sagt Maline. »Was machst du morgen?«

»Ich radele mit Frieda nach Libur. Der letzte Besuch liegt schon mehr als zwei Jahre zurück.«

Nach Möglichkeit besucht Lou einmal im Jahr St. Margaretha im südlichsten Stadtteil Kölns. Dort hat ihre Urgroßmutter geheiratet, weshalb das Gotteshaus zu den gesetzten Familienausflugszielen gehört.

»Es soll regnen, prognostiziert die Wetterapp«, sagt Maline.

Lou lacht. »Darauf verlasse ich mich nicht, die Vorhersagen sind total ungenau.«

»Ich muss los.«

»Dann bis Sonntag.«

»Ich verspreche nichts, aber ich versuche zu kommen.« Maline beendet das Telefonat, schiebt das Papier des Schokoriegels in die Tasche der Lederjacke und steigt aus dem Wagen.

Leslie Rauch arbeitet erst wenige Wochen auf der Dienststelle. Bisher hat Maline keine drei Sätze mit der frischgebackenen Kriminalkommissarin gesprochen, die aus der Verkehrsdirektion zum Kriminalkommissariat 11 gewechselt ist. Leslie ist allenfalls Mitte dreißig, hat kaum Erfahrung mit der Ermittlungsarbeit bei Tötungsdelikten, scheint diese Tatsache aber hinter einer ziemlich großen Klappe zu verbergen. Die Kollegen reden. »Viel Rauch um nichts«, hat jemand gestern gescherzt. Maline macht sich gern ein eigenes Bild.

Sie begrüßt Leslie und erfährt, dass der Ehemann der verletzten Frau zusammen mit der Polizei eingetroffen ist. »Was wissen wir?«, fragt sie und läuft mit ihrer Kollegin die wenigen Stufen zum Haupteingang hinauf.

»Die Verletzte heißt Anna Aydin. Ein Autofahrer hat sie gegen Viertel vor drei auf der Kölner Straße gefunden. Sie lag blutüberströmt neben einem Audi.«

Maline schaut auf die Uhr. »Das ist keine neunzig Minuten her!«

»Frau Aydin hatte Glück im Unglück, ein Streifenwagen fuhr zufällig auf der Gegenfahrbahn, und ein Rettungshubschrauber befand sich wegen einer Übung in der Nähe. Die Schwerverletzte wurde deshalb ziemlich schnell per Helikopter in die Klinik gebracht.«

»Sie hat ohne Zweifel einen Schutzengel.«

»Sieht ganz so aus«, sagt Leslie. »Die Kollegen vor Ort haben eine Platzwunde an der Stirn sowie Schnitte, vermutlich Stichverletzungen, im Oberschenkel und Bauchbereich festgestellt. Der Notarzt konnte die Blutung erst mal stoppen, das Opfer war nicht ansprechbar. Schaulustige haben Polizei und Rettungskräfte gestört. Ungeniert haben sie versucht, Bilder vom Geschehen zu machen. Zwei Männer lieferten sich Handgreiflichkeiten mit den Kollegen bei dem Versuch, die –«

»Gaffer und Störer gehören heutzutage leider zu fast jedem Einsatz«, sagt Maline etwas unwirsch und bleibt im Foyer stehen, genau zwischen zwei riesigen Kübelpalmen. »Konnte die Tatwaffe sichergestellt werden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist Frau Aydin jetzt ansprechbar?«

»Ich glaube nicht, wir müssen abwarten, was die Ärzte sagen.«

»Wohnt sie in der Nähe des Tatorts?«

»Nein, die Familie lebt in Köln«, sagt Leslie und schiebt die Hände in die Taschen der Cordhose. »An Frau Aydins Audi ist ein Reifen geplatzt, womöglich hat sie die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.«

»Tja, die Frage ist, wie die Stichverletzungen ins Bild passen.« Maline öffnet den Reißverschluss der Lederjacke. »Nach einem gewöhnlichen Verkehrsunfall sieht die Sache eher nicht aus.«

»Der Kotflügel vorne links ist demoliert«, sagt Leslie. »Ebenso gibt es Schäden an der Karosserie hinten auf derselben Seite.«

»Möglicherweise hat sie jemand von der Straße abgedrängt, und es gab Streit, solche Sachen können ja neuerdings sehr schnell eskalieren. Gibt es denn irgendwelche Hinweise auf den Täter?«

»Nichts, die ganze Situation … die Umstände sind bisher rätselhaft.«

Die Kommissarinnen folgen den Schildern Richtung Notfallambulanz.

»Denkbar wäre doch auch eine Beziehungstat«, sagt Leslie und bleibt stehen. »Vielleicht handelt es sich um ein Eifersuchtsdrama. Rache, Besitzansprüche, Missgunst und Neid verleiten Menschen zu schrecklichen Taten. Würde mich nicht wundern, wenn wir es damit zu tun haben.«

»Ich unterlasse nach Möglichkeit vorschnelle Spekulationen«, sagt Maline. »Konnte Frau Aydins Handy sichergestellt werden?«

»In ihrer Jackentasche haben die Kollegen ein Smartphone gefunden.«

»Okay, was wissen wir über die Familie?«

»Der Ehemann heißt Cem Aydin, ihm gehört das Fahrzeug, mit dem sie unterwegs war, deshalb konnte er direkt ermittelt und kontaktiert werden.«

»Gut, vorsichtshalber fragen wir den Ehemann gleich nach dem PIN-Code, den wir wahrscheinlich benötigen, um an die Handydaten seiner Frau zu gelangen. Wo befindet sich das Smartphone jetzt?«

»Bei den sichergestellten Wertsachen, denke ich«, sagt Leslie. »Ich kann Ben vorsichthalber anrufen und fragen.«

»Ja, ist auf jeden Fall besser. Viele Köche … du weißt schon, am Ende vergisst man die einfachsten Dinge.«

Pigs-Welt

Ich atme in Simons Reich. Wir dürfen bleiben, bis wir eine bezahlbare Wohnung finden. Er und Mum sind in diesem Haus aufgewachsen. Früher fuhren wir regelmäßig her. Ich half Omi mit den Hühnern und saß bei Opa auf dem Traktor, wenn er Felder bestellte. In den Sommerferienwochen streifte ich durch die Landschaft. Opa ist gestorben. Omi folgte ihm nur wenige Wochen später. Tief in meinem Innern habe ich Omi und Opa händchenhaltend konserviert, so als wären sie gemeinsam ins Moor gefallen.

Onkel Simon hat Mum beim Erben beschissen. Was genau geschehen ist, kann ich nicht sagen. Ein gutes Verhältnis hatten Mum und er nie. Sie druckste schon immer herum, wenn es um Simon ging. Nach dem Tod der Eltern herrschte über drei Jahre Funkstille zwischen den Geschwistern. Dann ist Papa an Krebs erkrankt. Ihm blieben nur mickrige wenige Monate. Bis zum Schluss hat er Mundharmonika gespielt, tapfer gelächelt und behauptet, dass alles gut wird. Krebs klang für mich harmlos. Ich mag Krebse, besonders orangerote. Aus dem Internet erfuhr ich, dass sich hinter dem Begriff im Zusammenhang mit Krankheiten etwas Dramatisches verbirgt. Papa hat mich angelogen. Nichts wurde wieder gut. Er starb an einem warmen Frühlingstag, mitten in der Spargelzeit. Seitdem hasse ich die weißen Stangen und ertrage ihren Anblick kaum.

Papa hat uns einen Schuldenberg hinterlassen, den Mum abstottern muss. Mit Extraschichten versuchte sie zunächst, das Drama abzuwenden. Sie hat sich, trotz Schwangerschaft, ein Bein ausgerissen und gespart, wo es ging. Aber kurz nach meinem zwölften Geburtstag standen Leute vor der Tür, die uns aus der Wohnung schmeißen wollten. Mum lag nach der Geburt meiner Schwester noch im Krankenhaus.

Dem Himmel sei Dank pflegten meine Eltern gute nachbarschaftliche Kontakte. Auch wenn ich anfangs nur Bahnhof verstand, weiß ich mittlerweile, dass wir auf der Straße gelandet wären, wenn unsere Nachbarn nicht so couragiert eingegriffen hätten.

Es ist ein schrecklicher Gedanke, mir vorzustellen, dass das Leben der kleinen Elsa um ein Haar in einem Obdachlosenheim begonnen hätte. Trotzdem schwebte die Räumungsklage eine Zeit lang über uns, wie das von Mum viel zitierte Damoklesschwert.

Auch aus diesem Grund gab sie sich schließlich einen Ruck, rief Onkel Simon an, und unsere Probleme lösten sich auf einen Schlag. Er verlangt kaum Miete für die sechs Zimmer, durch die ich anfangs vor Glückseligkeit flatterte. Freudestrahlend richtete ich mich ein und war genervt von Mum, die nachdrücklich betonte, dass wir uns nur auf der Durchreise befinden.

Der Einzug ist jetzt über zwei Jahre her, und meine Einstellung hat sich verändert. Ich befürchte, dass der vorübergehende Unterschlupf ein Dauerzustand bleibt. Vielleicht findet Mum es einfach gerecht, dass wir quasi mietfrei in ihrem Elternhaus leben. Das Gebäude ist riesig, alt und ziemlich verwinkelt. Ein typisches Fachwerkhaus. Kalkweiße Lehmwände, dunkle Balken und grüne Schlagläden vor den Fenstern. Simon bewohnt die gesamte erste Etage und das Dachgeschoss. Er bewirtschaftet die Felder, vermietet Landmaschinen und interessiert sich scheinbar herzlich wenig für Mum, Elsa und mich. Der Schein trügt gewaltig.

Ich denke, Simon ist heilfroh, dass Mum aufgehört hat, Besichtigungstermine für eine neue Wohnung zu vereinbaren. Wenn er mitbekommt, dass ich sie auf Inserate hinweise, die ich im Internet entdecke, wird er stinksauer. Ich habe Angst, dass Mum irgendwie aufgegeben hat, von einem erneuten Umzug will sie jedenfalls nichts hören. Immerhin weint sie seltener.

Mum arbeitet bis zum Umfallen und kommt auf keinen grünen Zweig. Simon steckt ihr Geld zu, füttert sie regelrecht an mit der Scheißkohle. Neulich habe ich in einer Dokumentation gesehen, dass man mit Haien, Rochen und Delphinen genauso verfährt. Guides schmeißen blutige Fischreste ins Meer, damit sie angeschwommen kommen und von den Touristen bestaunt werden können. Na ja, der Vergleich hinkt etwas. Simon ist der Hai.

Ich habe versucht, Mum zu erzählen, was Simon mir antut. »Er ist mein Bruder«, hat sie gesagt und mich aufgefordert, derartige Anschuldigungen zu unterlassen. Mum fürchtet sich vor Simon und reißt mich mit in den Abgrund.

Simon leidet an Protanopie. Die Diagnose bekam er erst vor ein paar Monaten. Für Rottöne ist er blind. Hätte Simon eine Deuteranopie, würde ich in grünen Klamotten herumlaufen. Aber er erfasst kein Rot, während ich fortlaufend rotsehe.

»Du rennst rum wie die Bhagwan-Anhänger früher«, meinte Oma Ide neulich beim Skypen zu mir. Papas Mutter wohnt in Robertsbridge, in der Grafschaft Sussex im Südosten Englands. Einmal bin ich mit Papa dort gewesen. Damals hat Oma Ide ihren ehemaligen Vermieter Alan geheiratet. An das Kaff erinnere ich mich kaum, aber ich weiß noch, dass Papa und ich mit der Fähre nach Dover übersetzten. Von dort fuhren wir nur ein kurzes Stück mit dem Auto.

Oma Ide gondelte schon immer durch die Weltgeschichte. Früher lebte sie im US-Staat Oregon in der Nähe von Antelope, einen Steinwurf von der Big Muddy Ranch entfernt, auf der sich die Sekte 1981 niederließ. Ich habe Bhagwan Shree Rajneesh gegoogelt. Er war ein uralter Mann, dem orangerot gekleidete Massen folgten. Oma Ide sagt, die Jünger säumten den staubigen Straßenrand, standen Spalier, wenn der Guru morgens mit seiner Limousine an ihnen vorbeifuhr, um sie zu segnen. Ich stelle mir einen endlos langen orangeroten Wurm vor, der sich durch die Wüste schlängelt.

Oma Ide erzählt irre Sachen. Leider ist sie nicht besonders zuverlässig. Sie vergisst Video-Calls und manchmal auch meinen Geburtstag. Nach Papas Tod hat sie versprochen, immer für mich da zu sein, und steht damit in einer Reihe mit all den Menschen, die in meinem Leben wortbrüchig wurden. Ich vertraue niemandem mehr, der älter ist als vierzehn.

Wegen Simons Protanopie könnte es eigentlich relativ leicht sein, von der Bildfläche zu verschwinden. Außerdem ist er schmächtig und nicht besonders groß. Eine halbe Portion, ohne Muskeln, betont Mum gern. Körperlich ist er mir kaum überlegen. Leider bin ich zum Gehorchen erzogen. Sobald Simon ruft, trotte ich ihm entgegen. Wie ein Schoßhund, sagt er und tätschelt meinen Nacken. Zudem verrät mich die Atmung. Wenn ich aufgeregt bin, gebe ich hörbare Zischlaute von mir, die klingen wie Mums Dampfbügeleisen. Deshalb trainiere ich das Luftanhalten. Im Schwimmbad und in der Badewanne. Hundertneunzig Sekunden sind bisher mein bestes Ergebnis. Der Weltrekord im Apnoetauchen liegt bei elf Minuten, daran orientiere ich mich. Kontinuierlich werde ich besser, allerdings ist mir unbegreiflich, wie ich die blöde Folgsamkeit abtrainieren soll. Unzählige Male habe ich mir geschworen, das Traben zur Schlachtbank abzustellen.

Dir fehlt es grundsätzlich an Mumm, du bist faul, schwach und blöd, sagt Simon. Ich fürchte, da ist was dran. Heute Morgen hatte ich mich fein verdünnisiert und stand zur Salzsäule erstarrt vor dem roten Vorhang, als er mich lautstark anforderte. Ich hielt den Atem an und rührte mich nicht. Zweimal ist er an mir vorbeigelaufen, brüllte und drohte mit Konsequenzen.

Nach knapp zwei Minuten meldeten die Chemorezeptoren dem Atemzentrum im Gehirn, dass sich eine Menge Kohlendioxid in meinem Blut angereichert hatte und die Atmung unmittelbar einsetzen musste. Ich verstehe die biologischen Abläufe inzwischen bis ins Detail. Aber unter Stress ist das Luftanhalten reine Glückssache, und ich flog auf.

Immerhin konnte ich die Psyche aufs Sofa betten, bevor ich die Stiegen beim Hochgehen belastete. Sie balancierten mich laut stöhnend aus, schnaubten, als wären sie persönlich von mir enttäuscht. Auf Zementfüßen bewältigte ich Stufe um Stufe, betrat Simons Warteraum, verfügbar und eingefroren, sein stummer Diener. Er tat beschäftigt, ließ mich zappeln, bis er endlich nach mir rief.

Bimssteinhände begrapschten meine Oberfläche und schmirgelten neue Furchen. Es gelang mir, meinen mit Helium gefüllten Geist zur Zimmerdecke aufsteigen zu lassen, und dann presste ich die Lippen aufeinander. Keinen Mucks gab ich von mir. Schon allein wegen Elsa, die unten schlief. Verlässlich schwebte das Kinderlied herbei, diesmal mit Akkordeonbegleitung. Oh, du lieber Augustin, alles ist hin. Rock ist weg, Stock ist weg, Augustin liegt im Dreck. Oh, du lieber Augustin, alles ist hin. Ich weiß nicht, woher die Volksweise kommt, aber sie schirmt mich zuverlässig ab, stößt wie ein Magnetfeld fort, was zu mir durchdringen will. Rigoros im Dreivierteltakt. Schrumm, schrumm, schrumm.

Der Dauerlutscher, den Simon mir danach in die Hand drückte, kostete mich ein Lächeln. Das erwartet er, und ich füge mich stumpf, will nicht riskieren, dass ich mir eine fange.

Wie immer schlug Simon zum Abschied die Hacken zusammen, als hätte er nur seine Pflicht erfüllt. Kein Laut entfuhr den morschen Stiegen, als er vor mir ins Erdgeschoss schritt.

Dadurch fühle ich mich stets doppelt verraten. Warum die Holzdielen schweigen, wenn er sie belastet, ist nicht nachvollziehbar. Die Bretter sind altersschwach, und Simons Verfehlungen wiegen zentnerschwer. Meiner Meinung nach müssten sie brechen, im doppelten Sinn.

Ich habe den Lolli zu den anderen gestopft. Sie quellen aus der Schublade meines Kleiderschranks. Bunt und rund. Die vielen Exemplare kleben zusammen wie ein Riesenklumpen. Elsa würde sie am liebsten stibitzen. Allesamt hochgiftig, lüge ich konsequent und halte meine kleine Schwester so in Schach. Noch, Elsa wird dieses Jahr drei. Um dieses kleine Mädchen dreht sich mein Leben.

Elsa ist ein ganz besonderes Kind. Wie besonders sie ist, wurde mir klar, als wir in der Schule die Weltreligionen durchgenommen haben. Es ging um das Jenseits, das Paradies und Reinkarnationen. Bei dem Thema Wiedergeburt bekam ich Gänsehaut am ganzen Körper. Ich habe Oma Ide gelöchert und stundenlang alles gegoogelt, was ich finden konnte. Es dauerte nicht lange, bis sich die Puzzleteile zusammenfügten. Auf wundersame Weise ergab schlagartig alles einen Sinn. Die Erkenntnis hat mich zwischenzeitlich umgehauen und überrascht mich am Ende doch nicht wirklich.

Die kleine Elsa ist die Reinkarnation der Königin von England. Ja, ich spreche von Elisabeth II., die am 8. September 2022 exakt um zehn Minuten nach fünfzehn Uhr auf Schloss Balmoral in Schottland verstarb. Elsa erblickte am 11. September das Licht der Welt, exakt um zehn nach vier MESZ, also der Zeit, zu der die Queen für immer die Augen schloss.

Oma Ide sagt, Reinkarnationen brauchen manchmal Zeit, vollziehen sich nicht unbedingt in dem Moment des Todes oder der Geburt. Mein früherer Religionslehrer ist fasziniert von Jesus, vor allem die Auferstehung hat es ihm angetan. Drei Tage brauchte Jesus, um aus dem Grab herauszukommen. Exakt die gleiche Zeit benötigte die Seele der Queen, um meine Schwester zu finden. Elsa umgibt unübersehbar und fraglos eine majestätische Aura. Ohne Krone im Haar geht sie nicht in den Kindergarten, und sie liebt Prinzessinnenkleider. Ich weiß, viele Mädchen verhalten sich ähnlich. Nur, zwischen Elsa und Elisabeth II. gibt es haufenweise Parallelen.

Wie die Queen kam Elsa per Kaiserschnitt zur Welt. Sie hat, als Einzige in unserer Familie, hellblaue Augen und dunkelblondes Haar. Elsa ist brav, wissbegierig, sprachlich ihrem Alter voraus und ordnungsliebend. Wenn etwas nicht genau an dem Platz steht, an den es gehört, runzelt sie die Stirn und schüttelt das Haupt. Sie flippt vor Begeisterung aus, wenn sie den ABBA-Song »Dancing Queen« hört, der Elisabeth II. insgeheim supergut gefiel, neben der vielen Klassik und dem Kirchenkram. Elsa liebt Pferde und Hunde, mag knallige Farben und isst für ihr Leben gern Frischkäse mit Lachs. Das ist doch exotisch für ein kleines Mädchen. Das durchschlagendste Argument für die Reinkarnation ist allerdings die Tatsache, dass der vollständige Name meiner Schwester Elsa Alexandra Maria lautet, und damit heißt sie exakt wie die verstorbene Queen. Elsa ist bekanntlich eine der vielen Kurzformen für den Vornamen Elisabeth. Das alles kann unmöglich Zufall sein.

Ich habe Mum gefragt, warum sie meiner Schwester die Namen gegeben hat. Sie konnte die Frage nicht beantworten. Typisch Mum, aber für mich ist die Sache sonnenklar. Elsa wurde mir anvertraut, und ich werde sie beschützen. Denn so wie ich das sehe, ist kein Kind sicher in diesem Land. Ich trage eine große Verantwortung und kann keine Hilfe erwarten.

Simon schleicht um Elsa herum. Die Zeit hat Beine, schaukelt im Dreivierteltakt erbarmungslos vorwärts. Schrumm, schrumm, schrumm.

Simon hat die Rechnung ohne mich gemacht. Er unterschätzt die Verachtung, die mir bis zum Hals steht. Zudem ist, für Simon unbemerkt, der Kampfgeist erwacht, den ich von meinem Vater geerbt habe. Papa hat zwar das Ringen gegen den Krebs verloren, aber im Laufe seines Lebens viele Schlachten geschlagen. Mum behauptet das Gegenteil. Sie sitzt im Schlamassel, sagt sie, ist weiterhin stinkwütend auf Papa und schimpft ihn Schwächling.

Ich habe ihn anders in Erinnerung, sehe ihn vor mir, wie er lautstark mit dem Finanzamt stritt. Und Onkel Gregor hat er ein Glas Bier ins Gesicht geschüttet, weil der ohne Scham nach einem neuen Führer schrie und niemand sich traute, ihm die Stirn zu bieten. Von Papa weiß ich, dass es Ewiggestrige gibt, die lauter brüllen als die anständige Masse. Ich wünschte, Papa hätte keinen Krebs bekommen. Das Leben ist ungerecht, da sind Mum und ich ausnahmsweise einer Meinung.

Bis aufs Blut werde ich Elsa verteidigen. Einen zweiten Schoßhund kann Simon sich abschminken. Ich manipuliere meine kleine Schwester unermüdlich. Rot ist neuerdings auch Elsas Lieblingsfarbe. Ich bin alt für mein Alter. Wenn ich will, kann ich Menschen beeinflussen. Wie Simon. Und doch bin ich ein gänzlich anderes Kaliber.

Uniklinik Köln

Im Wartebereich der Notfallambulanz herrscht Gedränge. Die Plätze sind besetzt, deshalb lehnen einige Menschen an den Wänden des Flurs, der zu den Toiletten führt. Zwei Kollegen in Uniform befinden sich in unmittelbarer Nähe eines aufgebrachten Mannes. Ein Beamter spricht beruhigend auf ihn ein, ein zweiter, deutlich jüngerer Polizist winkt Maline und kommt direkt auf sie zu. Theo arbeitet auf derselben Dienststelle wie Lous Ex-Mann Henry. Vor ein paar Wochen hat Maline mit ihm an einem Fall zusammengearbeitet. Ein Studienanfänger lag tot in einem winzigen Apartment. Bei der Überbringung der Todesnachricht erlitt die Mutter des jungen Mannes einen Herzinfarkt. Eine furchtbare Tragödie und doch kein Einzelfall in der Großstadt.

»Herr Aydin will zu seiner Frau«, sagt Theo nach einer kurzen Begrüßung, kratzt sich am Doppelkinn und wirkt unschlüssig. »Aber sie wird gerade im Schockraum behandelt.«

»Habt ihr mit den Ärzten gesprochen?«, fragt Maline.

»Bisher hat sich keiner blicken lassen.«

Cem Aydin sinkt auf einen Plastiksitz, der gerade frei wurde, und hält die Hände vors Gesicht.

»Ich gehe mal allein zu ihm rüber«, sagt Maline und nähert sich langsam. »Herr Aydin, ich bin von der Kölner Kriminalpolizei. Wir versuchen, uns ein Bild von der Gesamtsituation zu machen, und haben ein paar Fragen. Fühlen Sie sich in der Lage zu antworten?«

»Stimmt es, dass Anna mit einem Messer angegriffen wurde?« Cem Aydin starrt sie an.

»Dazu kann ich noch nichts sagen«, weicht Maline aus. »Soll ich jemanden für Sie anrufen?«

Keine Reaktion.

»Kann ich irgendetwas für Sie tun?« Sie geht vor ihm in die Hocke und versucht, Blickkontakt herzustellen. »Ich könnte Ihnen ein Glas Wasser bringen.«

Schweigen.

Maline richtet sich auf. Leslie steht auf einmal dicht hinter ihr.

»Wir möchten die Person finden, die Anna verletzt hat«, wendet sie sich an Aydin. »Können Sie schildern, wie …?«

»Wir haben uns gestritten, heute Morgen«, flüstert er. »Ich habe ihr vorgeworfen … Es war eine dumme Auseinandersetzung, so überflüssig.«

»Sie können sicher bald mit Ihrer Frau sprechen«, sagt Maline.