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Beschreibung

Von Aníbal Quijano, Anfang der 1990er-Jahre eingeführt, wurde das Konzept der "Kolonialität der Macht" von einer Vielzahl von DenkerInnen – vor allem in und aus Lateinamerika – aufgenommen und weitergeführt. Daraus hat sich eine kritische Denkrichtung entwickelt, von der aus es möglich ist, die Macht- und Wissensverhältnisse in der modernen Welt und im globalen Zusammenhang zu beleuchten. In diesem Band wird den deutschsprachigen LeserInnen ein Zugang zu dem Werk von Aníbal Quijano und dem Konzept der "Kolonialität der Macht" ermöglicht. Dies wird mit Arbeiten von lateinamerikanischen ForscherInnen ergänzt, die konkrete Zusammenhänge unter dem theoretischen Einfluss von Quijano herausfordern und Beiträge für die Überwindung der Kolonialität leisten. Aníbal Quijano selbst formuliert es so: »Es geht darum, sich von den Verknüpfungen der modernen Rationalität mit der Kolonialität loszulösen sowie von jeden Machtverhältnissen, die nicht durch die freie Entscheidung von freien Menschen begründet sind.«

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Herausgeber:

Pablo Quintero, geboren in Venezuela, hat an den Universitäten Central de Venezuela und FLACSO Anthropologie und lateinamerikanische Geschichte studiert und gründete im Jahr 2008 die Forschungsgruppe GESCO (Grupo de Estudios sobre Colonialidad). Im Moment schließt er seine Doktorarbeit an der Universität von Buenos Aires ab.

Sebastian Garbe, geboren in Deutschland, hat an den Universitäten von Wien und Buenos Aires Kultur- und Sozialanthropologie studiert und ist seit 2009 Mitglied der Forschungsgruppe GESCO an der Universität von Buenos Aires.

Pablo Quintero & Sebastian Garbe (Hg.)

Kolonialität der Macht

De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Pablo Quintero & Sebastian Garbe (Hg.):

Kolonialität der Macht

1. Auflage, März 2013

eBook UNRAST Verlag, September 2023

ISBN 978-3-95405-121-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Dieter Kaufmann, www.dk-kunst.de

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Pablo Quintero/Sebastian GarbeEinleitung

Hinführung zum Konzept der Kolonialität der Macht

Beschreibung des Inhalts

Anmerkungen zur Übersetzung der Texte und den sprachlichen Feinheiten

Danksagung

Literatur

Glossar

Literatur

Sebastian GarbeDas Projekt Modernität/Kolonialität – Zum theoretischen/akademischen Umfeld des Konzepts der Kolonialität der Macht

Einleitung

Zur Entstehung

Zu den Fremd- und Eigenbezeichnungen

Zu den Werken

Einflüsse und Abgrenzungen

Konzepte und Forschungsschwerpunkte

Schlussbemerkungen

Anhang

Literatur

Pablo QuinteroMacht und Kolonialität der Macht in Lateinamerika

Einleitung

Macht und Gesellschaft

Kolonialität der Macht und die soziale Strukturierung der Moderne

Kolonialität der Macht, Modernität und Lateinamerika

Literatur

César GermanáEine Epistemologie der anderen Art. Der Beitrag von Aníbal Quijano in der Neustrukturierung der Sozialwissenschaften in Lateinamerika

Kolonialität des Wissens und die »Epistemologie einer anderen Art« im Werk von Aníbal Quijano

Eine Epistemologie der anderen Art und die Neustrukturierung der Sozialwissenschaften

Literatur

Pablo QuinteroEntwicklung und Kolonialität

Einleitung

Entwicklung und eurozentrische Modernität/Kolonialität

Entwicklung und kolonialer/moderner Kapitalismus

Entwicklung und Reorganisation des Kapitalismus und der Modernität/Kolonialität

Einige Schlussbemerkungen

Literatur

Boris MarañonIn Richtung eines alternativen Horizontes von Diskursen und Praktiken deskolonialer Widerstände. Anmerkungen über ökonomische Solidarität und Buen Vivir

Deskolonialität der Macht und ein neuer deskolonialer historischer Ideenhorizont: Das Buen Vivir

Die Spannungen zwischen Extraktivismus/Entwicklungspolitiken und der Ökonomie des Buen Vivir

Einige zentrale Elemente der ökonomischen Diskussion

Abschlussbemerkungen

Literatur

Martin E. DíazBiopolitik und Kolonialität in der Entstehung des modernen Argentinien

Einleitung

Die geplante Nation: Vom ›lebensleeren Raum‹ zur Medikalisierung des sozialen corpus

Die Stadt vom Verfall und dem ›schlechten Leben‹ heilen

Die Möglichkeit einer ›raza argentina‹

Literatur

Zulma PalermoDie lateinamerikanische Universität auf dem dekolonialen Scheideweg

Die Kolonialität nimmt Orte ein

In Richtung einer Loslösung

Die Universität für/mit wem?

Übermittlung

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Pablo Quintero/Sebastian Garbe

Mitte der 1990er Jahre bildeten sich in Lateinamerika eine Reihe kritischer Überlegungen heraus, die versuchten, eine Theorie über die eigene historisch-kulturelle Erfahrung aus einer neuen Perspektive zu produzieren. Die darin erklärten Phänomene sollten jedoch nicht nur analysiert, sondern vor allem überwunden werden. Diese Überlegungen haben sich um ein Projekt angeordnet, das mit dem Namen Modernität/Kolonialität (Modernidad/Colonialidad i.O.) bezeichnet wurde.

Diese Perspektive stellt vielleicht die vielversprechendste Strömung des gegenwärtigen lateinamerikanischen kritischen Denkens dar, das sich um die analytische Kategorie der Kolonialität (Colonialidad i.O.) gesammelt hat. Diese Kategorie stellt einen epistemischen Knotenpunkt dar, der von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen wurde und von dem aus die Macht- und Wissensverhältnisse in der modernen Welt betrachtet werden können – vor allem aus lateinamerikanischer Perspektive und aus der historischen Herausbildung der Sozialwissenschaften.

Die Konzeptualisierung der Kolonialität impliziert daher notwendigerweise, wie wir zeigen zu hoffen, auch eine kritische Revision der Moderne, wie sie bereits ausgehend von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule unternommen wurde, diesmal jedoch aus einer anderen Verortung heraus. So wird aufgrund der historisch-kulturellen Erfahrung der Region Lateinamerika eine weitere ›dunkle Seite‹ der Moderne sichtbar, die in anderen kritischen Perspektiven nur eine geringe Betrachtung erhält.

Ein zweiter Schritt, den wir hier mit der Einführung in die Idee der Kolonialität machen möchten, bezieht sich auf die Reflexion über soziokulturelle Machtasymmetrien in globaler Ausbreitung und historischer Ausdehnung. Die Kolonialität der Macht unternimmt den Versuch eben darüber Auskunft zu geben und stellt einen lateinamerikanischen Beitrag über diese weltweit geführt Debatte dar. Seien es kritische Analysen anhand des Imperiums von Antonio Negri oder Michael Hardt, der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells, des neuen Imperialismus von David Harvey, die dem deutschsprachigen Publikum vielleicht am bekanntesten sind. Die Gemeinsamkeit dieser Vorschläge ist es, eine radikale Kritik an der globalen Ausbreitung des Kapitalismus sowie dessen symbolischer Ordnung zu formulieren und einen Aspekt des Werkes des späten Karl Marx sowie von Lenin und Rosa Luxemburg fortzusetzen. Dabei ist es uns wichtig, das Konzept der Kolonialität, so wie es ursprünglich von Aníbal Quijano herausgearbeitet wurde, und, damit inbegriffen, diese einzigartige systematische Reflexion über dieses Konzept vorzustellen. Die Idee von Kolonialität wird zwar bereits in globalen Strömen kritischen Denkens verwendet (z.B. in Stam/Shohat 2012 oder Hardt/Negri 2009), ein Rückbezug auf das Werk von Quijano ist jedoch nicht vorhanden.

Drittens möchten wir einen Aspekt innerhalb der Perspektive von Aníbal Quijano und des Konzepts der Kolonialität der Macht betonen, der für eine kritische Wissensproduktion unumgänglich ist, eine ethische Komponente beinhaltet und wo es, in den Worten von Karl Marx, nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Dies besteht nach Aníbal Quijano im ›Loslösen‹ (desprenderse i.O.) von den Implikationen der Kolonialität der Macht und seinen Dimensionen, wovon sich das Präfix ›des-‹ für die Bezeichnung dieser deskolonialen Perspektive ableitet. All diese Schnittstellen zwischen Kolonialität der Macht und der Loslösung davon, als politische Praxis oder kritische Theorie, bezeichnen wir hier als de/koloniale Konflikte zwischen Theorie und Praxis.

Dieser Sammelband stellt daher den Versuch dar, einen Ausschnitt der lateinamerikanischen Debatte rund um das Konzept der Kolonialität der Macht einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen und einen systematischen Zugang zum Verständnis dieser Idee zu ermöglichen. Wenn man sich aus europäischer Perspektive, spezifischer aus deutschsprachiger Sicht, mit politischen Transformationsprozessen in Lateinamerika beschäftigen möchte, sei es als interpretatives Unterfangen oder aus Solidarität, halten wir es für unumgänglich das Vokabular dieser Prozesse zu kennen. Wie jedes Vokabular sind auch die Konzepte, Kategorien und Ideen der hier vorgestellten Perspektive sprachliche Werkzeuge, um gewissen Situationen einen Sinn und eine Erklärung zu geben, aber auch – beginnend mit der Kolonialität der Macht – mögliche gesellschaftliche Veränderungen zu denken und anzutreiben.

Hinführung zum Konzept der Kolonialität der Macht

Eines der wichtigsten Charakteristika des Projektes Modernität/Kolonialität ist sein gemeinsames systematisches Feld von theoretischen (Heraus-)Forderungen, die zum einen auf einige Aspekte der westlichen Sozialtheorie gerichtet sind und zum anderen versuchen, die Grenzen der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften aufzubrechen, die sich an den hegemonialen Theorien orientiert. Diese theoretischen (Heraus-)Forderungen und konzeptionellen Schwerpunkte sind: 1) Der Versuch, die Ursprünge der Moderne in der Eroberung Amerikas und in der europäischen Hegemonie über den Atlantik ab Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts zu verorten. Dies im Gegensatz zur herkömmlichen Perspektive über die Moderne als Phänomen der Aufklärung, industriellen Revolution oder Reformation. 2) Ausgehend davon werden die durch den Kolonialismus entstehende Machtstruktur und die Gründungsdynamiken des modernen/kapitalistischen Weltsystems mit seinen spezifischen Akkumulations- und Ausbeutungsregimes auf globaler Ebene betont. 3) Dadurch wird die Moderne als ein weltweites Phänomen betrachtet, das durch asymmetrische Machtverhältnisse begründet wurde statt durch symmetrische Phänomene innerhalb Europas, die später auf den Rest der Welt übertragen wurden. 4) Diese asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Europa und den anderen Weltregionen und -bevölkerungen stellt eine konstitutive Dimension der Moderne dar und impliziert notwendigerweise die Subalternisierung der Wissens- und Seinsformen der kolonisierten Bevölkerungen. 5) Die Subalternisierung des Großteils der Weltbevölkerung geschah durch eine spezielle und bisher nicht bekannte Form von sozialer Klassifikation (clasificación social i.O.) anhand von, heute würde man sagen, phänotypischen Unterschieden zwischen Menschen sowie von Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen. 6) Schließlich wird der Eurozentrismus als eine spezifische Wissensform und Produktionsweise von Subjektivitäten innerhalb dieses globalen Machtmusters identifiziert, auf den notwendigerweise und auf unterschiedliche Art alle institutionalisierten Wissensformen reagieren müssen – natürlich auch die Sozialwissenschaften.

Aus diesen (Heraus-)Forderungen leiten sich nun einige alternative Ideen ab, um die historische Entstehung und gemeinsame Konstitution von Modernität und Kolonialität (der Macht) zu verstehen: 1) Das Hinterfragen der traditionellen unilinearen Geschichtsschreibung der Moderne, der ihr einen ausschließlich europäischen Ursprung zuschreibt (Dussel 2000). 2) Ein neues räumliches und zeitliches Verständnis der Moderne (Escobar 2005), das die Zentralität des spanischen und portugiesischen Kolonialismus in der Entstehung der modernen Welt, des Kapitalismus und der globalen Zusammenhänge (Globalisierung) betont (Mignolo 2000). 3) Der Kontinent Amerika hat nun eine Hauptrolle in der Moderne als das erste in ihr ›entdeckte‹ Territorium. Es wird behauptet, dass sich mit der Eroberung Amerikas und in diesem historischen Wendepunkt ein neues System von Beherrschung (dominación i.O.) und von sozialer Ausbeutung (explotación social i.O.) herausbildet und damit ein neues Konfliktmuster (patrón de conflicto i.O.) (Quijano 2007). 4) Die historisch-strukturelle Abhängigkeit Lateinamerikas und anderer Peripherien im Weltmarkt ist keine vormoderne Etappe, sondern ganz im Gegenteil die versteckte Seite des modernen Projektes und ihrer Beherrschungs- und Ausbeutungslogiken. 5) Die Moderne besitzt somit eine dunkle Seite, die durch ein bisher so nicht bekanntes Machtmuster (patrón de poder i.O.), in diesem Falle durch die Kolonialität, gebildet wird. Somit repräsentiert die Moderne nicht nur das befreiende Potenzial für die Menschheit, sondern die Moderne selbst ist voll von Widersprüchen und Gewalt (Horkheimer/Adorno 2005). Aber nicht nur nach innen, auf Europa selbst gerichtet, sondern auch nach außen, auf die nicht-europäischen Bevölkerungen. 6) Die Kolonialität ist als Machtmuster der Moderne nicht nur eine Form der Beherrschung oder die Ausübung von direkter Gewalt, sondern enthält auch andere Formen von Gewalt gegenüber Wissensformen und der Herstellung von Subjektivitäten (epistemische Gewalt). Das heißt, die Kolonialität festigt die asymmetrischen geopolitischen Wissens- und Machtverhältnisse (Lander 2000).

Die Kategorie Kolonialität oder Kolonialität der Macht, so wie wir sie hier im Sinne von Aníbal Quijano verstehen, benennt ein spezifisches strukturelles Machtmuster der Moderne, das ausgehend von der Eroberung Amerikas und in der darauffolgenden weltweiten Hegemonie Europas entstand. Sie setzt sich historisch hauptsächlich aus der Verknüpfung von zwei Elementen zusammen: erstens einem Beherrschungsmuster, das auf einem Geflecht von intersubjektiven gesellschaftlichen Beziehungen und der hierarchischen Sozialklassifikation der Weltbevölkerung beruht. Zweitens einem Ausbeutungssystem, das in der Verbindung von allen bekannten Formen der Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft besteht und diese in einer einzigen Struktur unter der Hegemonie des Kapitalismus anordnet. Die Kolonialität ist in diesem Sinn eines der konstitutiven Elemente des globalen kapitalistischen Machtmusters. Es setzt die Eroberung Amerikas voraus, mit der sich das entstehende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit globalisiert und die hegemonialen Zentren sich an den Gebieten des Nordatlantik festschreiben, die sich später als Europa und Nordamerika identifizieren (lassen). Eine der zentralen Achsen der weltweiten kapitalistischen Verhältnisse ist also die Kolonialität.

Beschreibung des Inhalts

Der erste Teil dieses Sammelbandes möchte der deutschsprachigen Leserschaft eben dieses Konzept der Kolonialität der Macht vorstellen, an das wir uns bereits knapp angenähert haben.

Der Text »Das Projekt Modernität/Kolonialität« von Sebastian Garbe, Kultur- und Sozialanthropologe der Universität Wien und Mitglied der Forschungsgruppe GESCO (Grupo de Estudios sobre Colonialidad – Forschungsgruppe über Kolonialität) in Argentinien, stellt das ebenfalls bereits erwähnte intellektuelle Umfeld des Forschungsprojektes oder Kollektivs Modernität/Kolonialität in seinen unterschiedlichen Dimensionen dar, das sich ausgehend von der Kategorie der Kolonialität der Macht von Aníbal Quijano entwickelt und dessen grundlegenden Postulate weiter präzisiert hat.

Der Beitrag von Pablo Quintero, Anthropologe der Universidad Central de Venezuela, nähert sich der Kategorie der Kolonialität der Macht zum einen in seiner analytischen und zum anderen in seiner historisch-deskriptiven Dimension an. Der Autor möchte dabei die Reflexion von Aníbal Quijano über das soziale Phänomen der Macht hervorheben, die sich von eurozentrischen Machttheorien unterscheidet und somit für die Erklärung der sozio-historischen Erfahrung Lateinamerikas besser geeignet ist.

Darauf stellt César Germaná, Soziologieprofessor an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima/Peru, das Denken zwei der wichtigsten lateinamerikanischen Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, José Carlos Mariátegui und Aníbal Quijano, als eine Epistemologie »der anderen Art« vor. Das intellektuelle und politische Werk von Mariátegui und Quijano wird gemeinsam vorgestellt und anhand der Perspektive der Kolonialität der Macht und der Eurozentrismuskritik von Quijano präzisiert.

Im zweiten Abschnitt dieses Buches beschäftigen sich zwei Arbeiten mit der Analyse anhand der Kolonialität der Macht von einer konkreten de/kolonialen Praxis- und Theorieform, der Idee von Entwicklung(-spolitiken) und einem alternativen Vorschlag dazu aus Lateinamerika.

Pablo Quintero wendet die explikative Weite der Kategorie der Kolonialität der Macht in einer Dekonstruktion des Entwicklungsgedanken und seiner spezifischen Verortung innerhalb der Moderne und ihrer hegemonialer Wissensform, dem Eurozentrismus, an. Diese Arbeit leitet somit zu der notwendigen Frage nach Alternativen nicht nur im Entwicklungsdiskurs, sondern allgemein als historischem Erwartungshorizont (horizonte de sentido i.O.) für lateinamerikanische Gesellschaften über.

Darauf antwortet nun Boris Marañon, Ökonom der Universidad Nacional Agraria la Molina in Lima/Peru und Doktor in Lateinamerikastudien der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko Stadt, mit der Idee des Buen oder Bien Vivir als eine an der Schnittstelle zwischen Kolonialität und Modernität entstandene und nun zur Debatte stehende Kategorie als Ausrucksform sozio-ökonomischer Alternativen in Lateinamerika.

Die praktischen Konsequenzen aus der theoretischen Diskussion um Kolonialität werden im letzten Teil des Buches behandelt und tragen zu einem Verständnis der Kolonialität der Macht in lokalen, in diesem Falle argentinischen, Kontexten bei. Wir halten diese regionale Komponente für einen wichtigen Beitrag, um die lokale Wirkungsmacht der Kolonialität zu verdeutlichen und zwar in dem Raum, wo wir uns als Intellektuelle innerhalb des wissenschaftlichen Betriebes verorten und dessen spezifische Geschichte von Kolonialität heute noch zu sehr vernachlässigt wird.

Martín E. Díaz, Philosoph und Historiker der Universidad Nacional del Comahue in Neuquén/Argentinien, zeigt in seinem Beitrag, wie um die 1900er Jahrhundertwende in Argentinien spezifische gesellschaftliche Mechanismen in der Produktion von gewünschtem und unerwünschtem Leben wirkten. Ein Verständnis dieser Biopolitiken wäre in einem nicht-europäischen Land und nur anhand eurozentrischer Introspektionswerkzeuge kaum zu erreichen, weswegen auf die Kolonialität als Analyseinstrument zurückgegriffen wird.

Zum anderen möchte Zulma Palermo, Literaturprofessorin an der Universidad Nacional de Salta in Argentinien darauf aufmerksam machen, wie in peripheren Gebieten die Problematik der Wissensproduktion und -reproduktion, vor allem an den Universitäten, aber auch darüber hinausgehend, gedacht wird und wie die Kolonialität des Wissens überwunden werden kann. Als eine der Mitbegründerin des Projekts Modernität/Kolonialität schließt Zulma Palermo diesen Sammelband ab und überlässt uns die Übermittlung von Kolonialität in de/koloniale Theorie und Praxis.

Anmerkungen zur Übersetzung der Texte und den sprachlichen Feinheiten

Da all diese Texte (bis auf den Beitrag von Sebastian Garbe) das erste Mal in deutscher Sprache übersetzt werden und auch die Perspektive der Kolonialität der Macht von Aníbal Quijano sowie des Kollektivs Modernität/Kolonialität bisher kaum ins Deutsche übertragen wurden, stellen diese Arbeiten einen ersten, vorläufigen Übersetzungsversuch und -vorschlag dar.[1] Da eine Übersetzung aber immer auch eine Transformation des Originals ist, möchten wir einige sprachliche Besonderheiten klären.

In diesem Sinne haben sich die Übersetzerinnen und Übersetzer nah an den Originaltexten orientiert, um einen möglichst unvermittelten Eindruck der spanischsprachigen Arbeiten zu belassen. Bereits in dieser Einleitung haben wir spezifische Ausdrücke der Perspektive von Aníbal Quijano als elementare Bestandteile des Konzepts der Kolonialität der Macht, die in fast allen weiteren Texten auftauchen, im Original hinzugefügt. Ausdrücke, deren deutsche Übersetzung wir nicht für sinngemäß erachteten, werden in diesem Sammelband im Original gelassen und in einem Glossar erklärt. Dieses Glossar erklärt vor allem einige der zentralen Begriffe des in Lateinamerika geläufigen rassistischen Vokabulars, das leider benannt werden muss, um die dadurch legitimierten historischen Prozesse aufzudecken und zu kritisieren. Diejenigen, die sich dadurch diskriminiert fühlen sollten, möchten wir daher um Verständnis und Entschuldigung bitten. Wegen folgender Motive möchten wir dieses Vokabular im Original belassen:

Ein elementarer Bestandteil der Kolonialität der Macht ist die Diskussion von und die Kritik an hierarchisierenden Sozialklassifikationen, vor allem anhand der Idee von biologischen, phänotypischen oder vererbten Unterschieden der Menschheit. Die These, dass es zentrale Unterschiede zwischen identifizierbaren menschlichen Gruppen gibt und diese zu verschiedenen körperlichen, intellektuellen oder moralischen Fähigkeiten führen, ist ein Element des sogenannten wissenschaftlichen Rassismus oder in den Worten von Aníbal Quijano, einer »Idee von Rasse« (idea de raza i.O.), die bereits mit der Eroberung Amerikas und somit vor den systematisierten rassistischen Vorstellung entstand. Wir haben uns dazu entschieden, raza im Spanischen zu übernehmen, um erstens auf diesen historischen Unterschied aufmerksam zu machen. Zweitens, um eine nach wie vor übliche Sozialkategorie im spanischsprachigen Lateinamerika sichtbar zu machen (und damit zu denunzieren), die den lokalen Rassismus und die darauf aufbauenden Machtverhältnisse legitimiert. Drittens, um das Phänomen des Rassismus zwar als ein globales Phänomen der Moderne zu erkennen, ohne aber seine spezifischen und unterschiedlichen lokalen/regionalen Ausprägungen zu verwischen, da sonst unterschiedliche historische Erfahrungen, die zwar alle auf eine Form des Rassismus aufbauen, nicht zu verstehen wären. Denn es sind unterschiedliche rassistische Ausprägungen, die z.B. auf der einen Seite in Europa die Shoah ermöglichten und auf der anderen Seite in Amerika die sklavenartige Ausbeutung der indigenen Bevölkerung. Viertens, um dem deutschsprachigen Äquivalent keinen Raum zu geben, der rassistische Sozialkonstruktionen als etwas anderes als eben Konstruktionen erkennen ließe.

Eine weitere Problematik dieser Übersetzungen ist, dass wir die genderspezifischen Sprachformen wie im Original übernommen haben, sodass in einem Großteil der Texte keine gendersensibele Sprache verwendet wird. Dies soll kein Ausdruck der Ignoranz der Herausgeber und Übersetzer_innen gegenüber den Verknüpfungen von Sprache und Macht in Bezug auf Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen sein, sondern sichtbar machen, dass die Praxis des gendersensibelen Schreibens so gut wie kaum bei lateinamerikanischen Intellektuellen verbreitet ist.[2] Demnach ist es uns ein Anliegen, diesen androzentrischen Schreibstil bewusst offenzulegen.

Danksagung

Die Herausgeber möchten sich bei allen an diesem Projekt beteiligten Personen herzlich bedanken: Allen voran den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbands für die Möglichkeit, ihre Texte übersetzen und für diesen Band verwenden zu dürfen. Dies gilt auch für die Autorinnen und Autoren, deren Texte letztendlich nicht zwischen diesen Seiten auftauchen, aber deren Lektüre und Übersetzung dieses Projekt ebenfalls unterstützt haben.

Besonderer Dank gilt selbstverständlich den Übersetzerinnen und Übersetzern der Artikel, die allesamt viel Zeit und Mühe aufgebracht haben und ohne die dieser Sammelband über die Kolonialität der Macht nicht möglich gewesen wäre: Caroline Garbe, Julia Stranner, Tobias Boos, Sebastian Kratzer und Verena Melgarejo Weinandt.

Abschließend bedanken wir uns herzlich beim Unrast-Verlag für die Unterstützung und Ermutigung in dieser Idee und für die unkomplizierte und geduldige Kommunikation zwischen Deutschland und Argentinien.

Literatur

Dussel, Enrique. 2000. Europa, Modernidad y eurocentrismo. In: Lander, Edgardo [ed]. La Colonialidad del Saber. Buenos Aires. CLACSO. 39-51

–. 2012. Der Gegendiskurs der Moderne. Frankfurter Vorlesungen. Wien. Turia+Kant.

Escobar, Arturo 2005. Mas allá del Tercer Mundo, Globalización y Diferencia. Universidad del Cauca

Hardt/Negri. 2009. Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt/Main. Campus Verlag

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor. 2005. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main. Fischer

Lander, Edgardo [ed]. 2000. La Colonialidad del Saber. Buenos Aires. CLACSO.

Mignolo, Walter. 2000. Local Histories/Global Designs. New Jersey. Princeton University Press

–. 2012. Epistemischer Ungehorsam. Wien. Turia+Kant.

Quijano, Aníbal. 2007. Colonialidad del poder y clasificación social. In: Castro-Gómez, Santiago/Grosfoguel, Ramón [ed]. El giro decolonial. Bogotá. Siglo del Hombre Editores. 93-126

Stam/Shohat. 2012. Race in Translation. Cultural Wars Around the Postcolonial Atlantic. New York. New York University Press.

Glossar

Anderssein – Damit haben wir alle Ausdrücke übersetzt, die auf Spanisch als alteridad und/oder otredad sowie auf Englisch als Other benannt werden. Gemeint ist die ontologische Verneinung von Individuen oder Kollektiven aufgrund rassistischer Markierungen und der Annahme einer fundamentalen Abweichung des Seins, das außerhalb der bestehenden Norm steht (siehe auch Díaz, Fußnote 13).

Blanco/a – Scheinbar europäischstämmiges Individuum weißer Hautfarbe (siehe auch criollo/a).

Blanqueamiento – Dies bezeichnet das Dispositiv, nach dem sich alle lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen einem rassistisch konstruierten ›weißem‹ Ideal annähern sollen, wörtlich ›weiß machen/werden‹, sowohl für das eigene als auch das gesellschaftliche Wohl. Dies ist je nach Kontext durch kulturelle Assimilation, blanqueamientocultural (›weißes‹ Verhalten), oder biologische Reproduktion mit ›weißen‹ Individuen, blanqueamientoracial (›weiße‹ Nachkommen), möglich. Eine Loslösung von Machtbeziehungen wird paradoxerweise also nur möglich, indem deren rassistische Basis akzeptiert wird.

Cono Sur – Die Länder und Regionen des südlichsten Lateinamerikas mit einer europäischstämmigen Bevölkerungsmehrheit, wörtlich der ›Südkegel‹. Dazu gehören Argentinien, Chile, Uruguay und in einem weiteren Sinne die Region Río Grande do Sul in Brasilien.

Conquista – Der Eroberungs- und Kolonisierungsprozess des amerikanischen Kontinents ab 1492.

Criollo/a (und Gaucho) – Die Bevölkerungsgruppen oder Individuen die in Lateinamerika geboren sind, aber ausschließlich europäischen Vorfahren haben. Die Vorstellung über die eigene Nation wird im Cono Sur mit der Figur des Gauchos (in Chile Huaso) personifiziert, eine Projektionsfläche der eigenen Nation in einer lateinamerikanischen Cowboy-Figur.

Democracia racial – Mit diesem Ausdruck wird der Begriff für ein politisches System der gleichberechtigten Teilhabe auf die rassistisch gedachte Zusammensetzung der Bevölkerung angewandt: Sowohl die ›Farbenvielfalt‹ der Bevölkerung als auch die gleichen Rechte innerhalb eines Staates unabhängig von der Hautfarbe werden damit als Mythos, vor allem in Venezuela, Kolumbien und Brasilien, behauptet.

Entwicklung – Der Begriff der Entwicklung ist an manchen Stellen kursiv gesetzt, um die Wirkungsmacht der Idee von Entwicklung hervorzuheben. Diese bezieht sich auf einen allgemeinen sozialen Veränderungsprozess, der in einem positiven und natürlichen Sinne formuliert wurde und zeitlich kumulativ und progressiv ist. Er ist nicht vom Zufall abhängig, sondern folgt ganz im Gegenteil als universell postulierten spezifischen und kontinuierlichen Etappen.

Extraktivismus – Ein im Deutschen noch nicht gebräuchlicher Ausdruck, um das derzeitig hegemoniale Akkumulationsmodell in vielen lateinamerikanischen Ländern zu bezeichnen, das die massive Ausbeutung von natürlichen Ressourcen privilegiert (siehe auch FDCL/RL-Stiftung 2012).

Historische Erinnerung – Wenn in Lateinamerika von memoria histórica die Rede ist, dann meistens um den Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung und die Erinnerung an systematisch verschwiegene historische Prozesse/Ereignisse zu betonen.

Ideen- oder Zukunftshorizont – Ein horizonte de ideas oder defuturo meint die Vorstellung einer zukünftigen oder zu erwartenden Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensumstände, einer zu erreichenden Utopie.

Indio/a und Indígena – Im Gegensatz zu linguistischen oder kulturalistischen Versuchen, diese Kategorie zu bestimmen, halten wir indio/a oder indígena für eine koloniale und rassistische Kategorie, da sie eine generelle Unterschiedlichkeit der amerikanischen ›entdeckten‹ und kolonisierten ›Urbevölkerung‹ annimmt (siehe auch raza).

Limpieza/pureza de sangre – Nach Walter Mignolo und Santiago Castro-Gómez ist dies der erste universalistische Diskurs der Moderne, der im 16. Jahrhundert als Klassifikationsschema der Weltbevölkerung funktionierte. »Weiß zu sein war weniger eine Frage der Hautfarbe, als vielmehr der Inszenierung einer kulturellen Vorstellungswelt, in der religiöse Bekenntnisse, Insignien sozialer Distinktion, Verhaltensweisen und […] Formen der Wissensproduktion miteinander verwoben waren.« (Castro-Gómez 2005: 8) »Obwohl er nicht erst im 16. Jahrhundert aufkam, sondern im christlichen Mittelalter entstand, gewann der Diskurs über die ›Reinheit des Blutes‹ dank der spanischen Handelsexpansion in Richtung Atlantik und des Beginns der europäischen Kolonisierung weltweiten Einfluss.« (ebd.: 39)

Mestizo/a und mestizaje – Neben india/o und criollo/a ist hier der Ausgangspunkt für eine rassistische Taxonomie der Bevölkerung in Lateinamerika, da ein/e mestizo/a ein ›Mischling‹ zwischen indio/a und blanca/o sei. Darauf baut sich die restliche spontane Soziologie für die Bevölkerung in Lateinamerika auf, immer konstruiert durch den ›Reinheitsgrad‹ des Blutes und gemessen am Abstand zum letzten nicht-europäischen Nachfahren: mulata/o (Nachfahren von einem Spanier und einer ›Schwarzen‹), tercerón/a (drei Generationen ohne ›schlechtes Blut), quinterón/a (vier Generationen ›Abstand‹), quinterón/a (fünf Generationen, wodurch die ›Reinheit des Blutes‹ wiederhergestellt wurde). Amarillos/as (›Gelbe‹) steht dem europäischen Rassismus in nichts nach und bezeichnet scheinbar asiatischstämmige Individuen und zambo/a ist ein Nachfahre von negro/a und indio/a.

Mito de blancura – Aufbauend auf der limpieza de sangre ist der ›Mythos der Weißheit‹ eine nationalistisch geprägte Selbstkonstruktion über die rassistisch konzipierte Zusammensetzung der Bevölkerung. Der mito de blancura bestreitet daher vor allem im Cono Sur die Existenz von nicht europäischen Bevölkerungsgruppen und Individuen (siehe v.a. den Beitrag von Martin E. Díaz in diesem Band).

Negro/a – scheinbar afrikanischstämmiges Individuum dunkler Hautfarbe

Rassiologisch/rassialisieren – Wenn etwas einer rassistischen Logik folgt, ist es rassiologisch. Damit übersetzen wir den spanischen Ausdruck racial und weisen auf die Unhaltbarkeit der These von ›Menschenrassen‹ hin. Außerdem kann damit neben dem ideologischen Charakter die spezifische Logik (siehe z.B. mestizo/a) des Rassismus betont werden. Nach rassistischen Konstruktionen z.B. eine Bevölkerungsgruppe zu benennen, wäre demnach, diese zu rassialisieren.

raza – Dieser Ausdruck bleibt auf Spanisch bestehen, um auf den historischen Unterschied des Rassismus aufmerksam zu machen, seine lokalen/regionalen Ausprägungen in Lateinamerika, den Gebrauch dieser Kategorie zu denunzieren, und viertens, um dem deutschsprachigen Äquivalent keinen Raum zu geben (auch wenn es selbstverständlich Überschneidungen gibt). In den Worten von Quijano wird diese unterschiedliche Bedeutung erkennbar: »Mit der Entstehung Amerikas bildet sich eine neue gedankliche Kategorie, die Idee von raza, heraus. Seit dem Beginn der Conquista, starteten die Eroberer eine historisch fundamentale Diskussion für die späteren Beziehungen der Menschen auf dieser Welt, speziell zwischen Europäern und Nicht-Europäern: ob die Eingeborenen von Amerika eine Seele besitzen oder nicht.« (Quijano 1993: 167)

Soziale Vorstellungen – Unter dem Einfluss von Aníbal Quijano hat sich Cornelius Castoriadis‘ Konzept eines ›gesellschaftlich Imaginären‹, eines imaginario social, durchgesetzt. Wir bevorzugen jedoch diese Übersetzung für gesellschaftliche, kollektive Projektionsflächen.

Reoriginalización – Das Konzept von Quijano steht in einem innigen Verhältnis zur Idee der Subversion in kolonialen Kontexten. Es meint eine (Wieder-)Aneignung und gleichzeitige Transformation des sozio-kulturellen Erbes eines Kollektivs, das nun auf die neuen Umstände reagiert und sich diesen gegenüber subversiv positioniert.

Literatur

Castro-Gómez, Santiago. 2005. Aufklärung als kolonialer Diskurs. Inauguraldissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität. Frankfurt a. Main

Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika/Rosa Luxemburg Stiftung. 2012. Der neue Extraktivismus. Berlin. FDCL-Verlag.

Quijano, Aníbal. 1993. Raza, etnia y nación en Mariátegui: cuestiones abiertas. In: Forgues, Roland [ed]. José Carlos Mariátegui y Europa. El otro aspecto del descubrimiento. Lima. Editorial Amauta

Das Projekt Modernität/Kolonialität – Zum theoretischen/akademischen Umfeld des Konzepts der Kolonialität der Macht

Sebastian Garbe

Einleitung

Eine Einführung in das Konzept der Kolonialität der Macht wäre ohne eine kurze Darstellung des theoretischen/akademischen, aber auch politischen Umfeldes unvollständig, das sich rund um dieses Konzept Ende der 1990er Jahre in Lateinamerika zu formieren begann. Die lateinamerikanischen Intellektuellen, die sich im Zuge der Reflexion über die Aktualität und Dauerhaftigkeit von kolonialen Strukturen in Lateinamerika gemeinsam als das Forschungsprojekt Modernität/Kolonialität artikulierten, antworteten somit mehr oder weniger direkt auf das Konzept der Kolonialität der Macht und die damit implizierten Fragestellungen, die Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal von Aníbal Quijano aufgeworfen wurden. In den darauffolgenden Jahren bildete dieses Kollektiv somit die vielleicht produktivste Diskussionsplattform zu den Fragen von Modernität und Kolonialität in Lateinamerika, nachdem ein großer Teil kritischer Intellektueller in den Jahren der lateinamerikanischen Militärdiktaturen ›verschwunden wurde‹ und somit viele kritische Denkrichtungen ohne Wortführer_innen blieben.

Daher ist es die Absicht dieser Zeilen, das Forschungskollektiv Modernität/Kolonialität vorzustellen, dessen theoretische Produktion nachvollziehbar zu machen und einem deutschsprachigen Publikum einen Einstieg in die deskoloniale Diskussionsgemeinschaft in Lateinamerika zu ermöglichen. Diese Arbeit beruht zum größten Teil auf meinen Forschungen und meiner langjährigen Mitarbeit innerhalb der Forschungsgruppe über Kolonialität (Grupo de Estudios sobre Colonialidad – GESCO) an der Universität von Buenos Aires.

Während die theoretischen, akademischen und politischen Diskussionen aus anderen postkolonialen geopolitischen Räumen wie im deutschsprachigen Raum bereits breit diskutiert wurden und werden, möchte ich im Folgenden eine kurze übersichtsartige Einführung in die Diskussionen über Auswirkungen des Kolonialismus und der Kolonialität in Lateinamerika liefern und eine Möglichkeit bieten, gegenwärtigen kritischen Diskussionen der lateinamerikanischen Sozial- und Geisteswissenschaften ohne spanische Sprachbarriere folgen zu können.

Zwar möchte ich in dieser Einführung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, bin aber trotzdem davon überzeugt, dem/r Leser_in einen möglichst umfassenden Einstieg in die Werke und konzeptuellen Werkzeuge dieser Diskussionsgemeinschaft zu gewähren. Auch wenn diese hier nur erwähnt oder aufgelistet werden können, sollte es dem/r Interessierten dadurch ermöglicht werden eine eigene Lektüre zu unternehmen.

Um den inhaltlichen Weg vorzuzeichnen, der von dem Kollektiv Modernität/Kolonialität (im Folgenden M/K) begangen wird, möchte ich bereits vorab die wichtigsten theoretischen Formulierungen zusammenfassen (nach Escobar 2003; GESCO 2010; 2012; siehe auch die Einleitung in diesem Band):

Die Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität in und seit der Eroberung Amerikas 1492

Die Überschneidung von Kolonialismus, kapitalistischem Weltsystem und Moderne als weltweites machtasymmetrisches Modell und kapitalistischer Akkumulationsform

Die Betrachtung der Moderne als weltweites Phänomen

Die Fokussierung auf weltweit soziale Ungleichheiten, Subalternisierungsprozesse, ungleiche soziale Klassifizierungen und Fremdbestimmungen

Der Eurozentrismus als moderne/koloniale Wissens-, Repräsentations- und Reproduktionsform

Zur Entstehung

Der formale Entstehungsweg des Projektes M/K lässt sich anhand einer Reihe von verschiedenen akademischen Veranstaltungen, vor allem in Lateinamerika und den USA, sowie an den gemeinsamen Publikationen in Sammelbändern und Zeitschriften zurückverfolgen.

Keine Einführung zu M/K würde ohne die Betonung der drei wichtigsten Figuren dieses Projektes und allgemein des lateinamerikanischen kritischen Denkens auskommen. Diese sind zum einen der peruanische Soziologe Aníbal Quijano, der die für das Projekt namensgebende Kategorie, die Kolonialität (Quijano 1992a)[3], entwickelte. Zum zweiten der in Argentinien geborene und in Mexiko lebende Philosoph Enrique Dussel, dessen intellektuelle Arbeit vor allem seit den 1990er Jahren die Grundsteine für M/K legte und der an der Mitentwicklung der lateinamerikanischen Befreiungsphilosophie seit den 1970er Jahren von zentraler Bedeutung ist. Zum dritten Walter Mignolo, ein in den USA lebender argentinischer Semiologe, der durch seine intellektuelle Kreativität und Vernetzungsarbeit die heutige Sichtbarkeit der generellen Postulate von M/K entscheidend mitprägte. Neben diesen drei Figuren besteht das Projekt vor allem aus: Edgardo Lander (Venezuela; Soziologe); Fernando Coronil (Venezuela; Anthropologe); Arturo Escobar (aus Kolumbien, in den USA lebend; Anthropologe); Catherine Walsh (aus den USA, in Ecuador lebend; Linguistin/Aktivistin); Javier Sanjinés (Bolivien; Literatur- und Kulturwissenschaftler); Nelson Maldonado-Torres (aus Puerto Rico, in den USA lebend; Philosoph); Zulma Palermo (Argentinien; Semiologin); Santiago Castro-Gómez (Kolumbien; Philosoph), Ramón Grosfoguel (aus Puerto Rico, in den USA lebend; Philosoph); Adolfo Albán-Achinte (Kolumbien; Künstler/Aktivist/Dozent) und noch mehr ohne weniger assoziierte Intellektuelle aus und in Lateinamerika (Escobar 2003: 11; Quintero/Petz 2009), sowie eine sogenannte zweite Generation des Projektes (Castro-Gómez/Grosfoguel 2007: 12/13).

Grundlegend für die gemeinsame Auseinandersetzung dieser Intellektuellen war zum einen der Weltsoziologiekongress 1998 in Montreal, auf welchem von Edgardo Lander ein Symposium über alternatives lateinamerikanisches Denken organisiert wurde und Dussel, Quijano, Coronil, Escobar und Castro-Gómez teilnahmen und auf grundlegende Gemeinsamkeiten trafen. Ein weiteres Treffen fand in Binghampton an der New York State University statt, was von Grosfoguel und Lao-Montes organisiert wurde und zum ersten Mal Quijano, Dussel und Mignolo in einen Dialog brachte (Restrepo/Rojas 2010: 31/32). Eine Vertiefung der Diskussionen und weitere gemeinsame Treffen wurden im Folgejahr ermöglicht durch ein universitäres Abkommen des Romance Studies Centre der Duke University von North Carolina unter der Leitung von Mignolo und dem Instituto Pensar der Universidad Javariana deBogotá unter Castro-Gómez. Diese institutionelle Einschreibung führte auch zu einer Öffnung der Debatte und der Einladung von weiteren Intellektuellen (Quintero/Petz 2009) . Nach weiteren Treffen wurde im Jahr 2001 die Universidad Andina de Simón Bolívar (UASB) in das Abkommen aufgenommen, was somit als die Konsolidierung des Projektes und die vielleicht bisher produktivste Phase gelten kann.[4] Nach weiteren Kongressen (Quito in 2002, 2006, 2011; Berkeley in 2003, 2004, 2005; North Carolina in 2004) fand das letzte Treffen des Kollektivs im Oktober 2012 in Neuquén/Argentinien statt und wurde von CEAPEDI und GESCO, zwei der Forschungsgruppen aus der deskolonialen Perspektive in Argentinien, organisiert. An diesem Treffen wurde allerdings deutlich kritisiert, dass sich die Debatte um Kolonialität und deren Überwindung zunehmend intellektualisiert habe. Der ursprüngliche politische Anspruch dieses Projekts solle nicht vernachlässigt werden, die intellektuelle/akademische Praxis sei nur eine Form von politischer Praxis und der Austausch mit politischen Bewegungen müsse vertieft werden.

Zu den Fremd- und Eigenbezeichnungen

Seit dem Beginn der gemeinsamen Diskussionen der oben genannten Persönlichkeiten des kritischen lateinamerikanischen Denkens tauchten eine Fülle von verschiedenen Fremd- und Eigenbezeichnungen auf, um dieses Projekt und die damit implizierte Perspektive zu bezeichnen.

So findet sich beispielsweise die Bezeichnung der »postokzidentalen Kritik« (Schlosberg 2004), was sich auf die Kategorie des Okzidentalismus bezieht, die von Mignolo (1998) und Coronil (1998) vorgeschlagen wurde und in Anlehnung an den Orientalismus von Said »the overarching geopolitical imaginary of the modern/colonial world-system« (Mignolo 2000: 59), hier aber mit Fokus auf die ›neue Welt‹ im Gegensatz zum ›Orient‹, bedeutet. Eine weitere Fremdbezeichnung beschreibt das Projekt M/K als »inflexión decolonial« (Restrepo/Rojas 2010), was als dekoloniale Biegung oder Wendepunkt übersetzt werden kann. Allerdings hängt dieser Formulierung im Spanischen die Konnotation von etwas nicht Biegsamen (in-flexión) an und verkennt dadurch die Heterogenität der Diskussionen in und um das Kollektiv M/K.

Wenn ich hier also von dem Projekt M/K oder der deskolonialen Perspektive schreibe, gilt es eine zentrale Unterscheidung zu treffen: Auf der einen Seite die gemeinsamen Projekte, Veröffentlichungen und Treffen von den oben erwähnten Personen sowie deren Schüler_innen und Student_innen. Auf der anderen Seite das komplexe und heterogene theoretische und konzeptionelle Feld, das vor allem durch diese Personen aufgebaut wurde, die dadurch inspirierten Forschungen sowie die politischen Bewegungen in Lateinamerika, welche aus diesem intellektuellen Feld symbolisches Kapital schöpfen.

In Bezug auf die Personen beziehungsweise das Kollektiv stammt die bisher gebrauchte Bezeichnung Modernität/Kolonialität von Arturo Escobar (2003), um auf die gemeinsame Diskussionsbasis aufmerksam zu machen: Zum einen das Konzept der Kolonialität der Macht (Quijano 1992a) und zum anderen die bereits heiß geführte Debatte über Modernität in Lateinamerika (unter anderem Quijano 1988; Dussel 1994; Mignolo 1995). Daneben wird oftmals das Konzept der De- oder Deskolonialität als epistemischer und politischer Horizont im Gegensatz zur formal-politischen Dekolonisierung von Staatsgebilden hinzugefügt, wodurch man zur Bezeichnung Modernität/Kolonialität/Deskolonialität kommen würde (GESCO 2010). Da aber weder innerhalb des Kollektivs noch in der dadurch geprägten Perspektive Einigkeit über eben diesen Horizont herrscht, bleibe ich hier bei der Bezeichnung M/K (GESCO 2012).[5] Somit kann man hier von einer Argumentationsgemeinschaft sprechen, welche transdisziplinär, gemeinsam und aus einer lateinamerikanischen Perspektive heraus an politischen und epistemologischen Konzepten und Strategien arbeitet (Escobar 2003: 69ff), die in Bezug auf die Modernität und Kolonialität »(größtenteils akademisch) die Betonung auf das Epistemische und die Frage des Rassismus gelegt haben« (Lao-Montes 2006: 181).

Um den Fokus nun auf die von diesem Kollektiv angestoßenen Diskussionen, konzeptionellen Vorschläge oder davon beeinflussten Forschungen zu legen, wurden Begriffe wie Perspektive, Vorschlag, Option, Theorie, Studien oder turn vorgeschlagen. All dies kann als ein gemeinsames Feld von Diskussionen und Konzepten bezeichnet werden, wo bestimmte epistemische Schlüsselmomente sowie das Ziel geteilt werden, »ein analytisches umfassenderes Schema aus einer Geopolitik des Wissens, situiert in Lateinamerika, zu produzieren« (GESCO 2010), welches vor allem unter dem Einfluss der Ideen aus dem Kollektiv M/K entsteht, das heißt einer gemeinsamen Betrachtung von Kolonialität und Modernität in Lateinamerika.

Zu den Werken

Die Idee dieses Abschnittes ist es, einen angemessenen Überblick über die akademisch/intellektuelle Produktion in der deskolonialen Perspektive möglichen Interessierten in deutscher Sprache vorzuschlagen. Zwar ist eine Vielzahl von Artikeln oder Büchern auf Englisch erhältlich, aber auf Deutsch wurden wenige Versuche übernommen, die Diskussionen um M/K nachvollziehbar zu machen und deren wichtigsten Bausteine zu erklären.[6] Gerade aber die Abwesenheit von Übersetzungen von Quijano ist hier auffällig, wo dessen Konzeptionen doch namensgebend für dieses intellektuelle und politische Projekt sind.

In einer bibliographischen Annäherung an M/K kommt man nicht an der ›deskolonialen Dreifaltigkeit‹, Dussel, Quijano und Mignolo, vorbei, wie man diese drei Autoren in Anlehnung an die Holy Trinity der postkolonialen Theorie (Castro-Varela/Dhawan 2005) nennen könnte, wobei aber nur die für M/K wichtigsten Werke genannt werden sollen. Bei Dussel muss hier auf zahlreiche Werke verzichtet werden, wie zum Beispiel auf die ersten zur Befreiungsphilosophie in Lateinamerika[7], die Trilogien über die Philosophie der monotheistischen Religionen oder die theoretische Produktion von Karl Marx. Relevant für M/K sind vor allem das Werk über die Eroberung Amerikas und die »Vertuschung des Anderen« (Dussel 1994), die philosophischen Dialoge mit postmodernen und der kritischen Theorie affinen europäischen Philosophen (1996) und die Befreiungsethik im Kontext der Globalisierung (1998). Bei Walter Mignolo sind die Werke über die sogenannte erste Moderne in Lateinamerika (1995), die Fragen der Transformation von epistemischen und territorialen Grenzen in der heutigen globalisierten Welt (2000a) und eine Kritik an dem Konstrukt von Lateinamerika (2005a) zu nennen. Ein Zugang zu Aníbal Quijanos Werk ist hingegen deutlich schwieriger[8], da kaum veröffentlichte Monographien von ihm erschienen sind, wobei die Produktionen über die Fragen von Macht und Kultur in der peruanischen Gesellschaft (1980) sowie über Moderne, Modernisierung, Rationalität und Utopien in Lateinamerika (1988) hervorzuheben sind. Empfehlen kann man allerdings die Arbeit von Pablo Quintero in diesem Band, um das Schaffen von Quijano rund um das Konzept der Kolonialität nachzuvollziehen.[9]