Kolonien - Welt unter Dampf - Andre Geist - E-Book

Kolonien - Welt unter Dampf E-Book

Andre Geist

0,0

Beschreibung

Steampunk, das heißt Abenteuer in einem fiktiven 19. Jahrhundert: Eloquente Hochkultur und verklärte Historie. Hier nicht: In dieser Anthologie dreht sich alles um die Auswüchse des Imperialismus, die Grausamkeiten in den Kolonien und den gnadenlosen Raubbau an Rohstoffen. Und doch finden sich auch hier glanzvolle Abenteuer auf der ganzen Welt. Die Reise führt zu fremden Kulturen, abseits von klassischen europäischen Schauplätzen. Sie erzählt von Forscherdrang, Leid und Respekt für das Unbekannte. In die Kolonien navigieren die Autoren Anja Bagus, Stefan Cernohuby, André Geist, Peter Hohmann, Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser, Ann-Kathrin Karschnick, Thorsten Küper, Kristina Lohfeldt, Niklas Peinecke, Chris Schlicht, Vincent Voss und Marco Ansing. Mit einem Vorwort von Stephan Kühn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kolonien

Welt unter Dampf

Anthologie

Herausgeber: AndrÉ Skora & Marco Ansing

© 2018 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

© der Kurzgeschichten bei den jeweiligen Autoren

ISBN TB – 978-95869-367-8Printed in the EU

Cover- und Umschlaggestaltung: Christian Günther, Atelier Tag 1Lektorat & Korrektorat: Lilly RautenbergerAlle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter

http://dnb.d-nb.de abrufbar

Fremden Boden betreten

Als mich Marco fragte, ob ich ein Vorwort für die Steampunk-Anthologie »Kolonien« schreiben wollte, war ich erst etwas skeptisch. Hatte ich doch noch nie ein Vorwort verfasst. Dann war ich aber doch aufgeregt und sagte zu.

Nun versuche ich allerdings irgendwie die passenden Worte zu finden. Ich bewege mich auf unbekanntem Terrain und trotz aller Hilfsmittel, die die heutige Zeit so bietet, bin ich förmlich auf mich gestellt. Es ist wie mit Kolonisten, die ihre Heimat verlassen, um woanders neuen Lebensraum urbar zu machen. Ich komme eigentlich aus dem Comic-Bereich – Bilder sind meine Heimat. Schreiben zählt nicht unbedingt zu meinen Stärken. Trotzdem ist für mich das Verfassen dieses Vorworts ein kleines Abenteuer.

Aber auch Steampunk war einmal »nur« ein kleines Abenteuer. Ich sah schöne Bilder im Internet und dachte mir so: »Das ist eine nette Sache«. Dann fing ich an mich weiter mit der Materie zu beschäftigen, schaute Animes mit Steampunk-Thematik, las Steampunk-Comics und malte auch selbst Bilder. Ich hatte einen ersten Schritt auf diese Steampunk-Welt gesetzt. Und diese Welt war sehr freundlich und im Gegenzug benahm auch ich mich so wie es ein Gentleman tun würde.

Oft sah die Geschichte der Kolonisation jedoch ganz anders aus. Die Kolonien waren meist billige Rohstoff-Lieferanten, die Ureinwohner Wilde oder günstige Bedienstete. Für viele europäische Nationen und Königreiche war es schicklich mindestens eine Kolonie zu besitzen. Imperialismus war en Vogue. Manchmal war eine Kolonie auch Privatbesitz eines Königs, wie im Fall der belgischen Kolonie Kongo. Das Land wurde komplett ausgebeutet. Truppen des Königs überfielen ganze Dörfer und brannten sie nieder, nur um die Bewohner zur Arbeit auf den Kautschukfeldern zu zwingen. Wer sich weigerte, dem wurde die Hand abgeschlagen. Der Schriftsteller Joseph Conrad schrieb sein Buch »Herz der Finsternis« über diese Zeit an diesem grausamen Ort.

Dieses Grauen wurde meistens hingenommen, auch von sehr weltoffenen und liberalen Menschen, sah man sich doch selbst als zivilisatorisch weit überlegen an. Auch der eigene Wissensdrang war damals einfach größer als die Menschlichkeit, etwa um die Kontinente genauer zu erforschen, die weißen Flecken auf der Landkarte zu tilgen. Bis in die heutige Zeit haben Kolonien vielen Gegenden ihren Stempel aufgedrückt. So tragen in Zentralafrika einige Orte deutsche Namen. In Südafrika spricht man mit Afrikaans eine Art niederländischen Dialekt. Und in Südamerika wird sich in Spanisch und Portugiesisch unterhalten. Der sogenannte Kolonialstil prägt bis heute so manche Altstadt in den ehemaligen Kolonien. Doch auch umgekehrt gab es Einfluss, wenn auch nur subtil. Das Geschäft mit Kolonialwaren hat überall kleine Dynastien begründet, gradliniges Möbel-Design mit Lackoberflächen entstammen stark der Bauweise aus Japan. Die Wurzeln der Gospelsongs liegen oft in den sogenannten Negro-Spirituals, die von den amerikanischen Sklaven gesungen wurden. Und wer heute seinen Kaffee oder Tee trinkt, nimmt damit auch ein bisschen Geschichte zu sich. Es ist eben alles keine Einbahnstraße.

Das ist eine Erfahrung, die auch ich als Zeichner bei meinen ersten Steampunk-Kontakten gemacht habe. Dachte ich anfangs, Steampunk wäre nur viktorianisch oder nur Wild-West-europäisch, musste ich doch sehr bald einsehen, dass es viel größere Möglichkeiten gab und gibt. Steampunk geht genauso gut auf asiatisch, eurasisch-russisch, orientalisch oder mesoamerikanisch. Steampunk kann eine bessere Vergangenheit zeichnen, die es (leider) nicht gegeben hat. Niemand in der Szene wünscht sich heutzutage die alten Zeiten mit König, Kaiser und Kolonien zurück (außer vielleicht ein paar Spinner, aber das ist ein anderes Thema). Man will nur das Gefühl von damals zurückfinden: Entdeckung, Abenteuer und eine viktorianische Höflichkeit. Und manch einer ist sich auch der schwierigen Aspekte der damaligen Zeit bewusst. Deswegen laufen eben nicht alle als Abenteurer, Lords und Ladies umher. Es gibt auch Ingenieure, Dienstmädchen oder Kutscher. Nur treten diese viel selbstbewusster auf, als es ihre Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert taten. Und vielleicht ist das die Hauptessenz von Steampunk: Sich seiner Möglichkeiten bewusst zu sein, egal woher man stammt.

Stephan Kuhn, Illustrator

www.stephan-kuhn.de

Die letzte Vorstellung

André Geist

»Die Aufstände breiten sich wie ein Lauffeuer aus. Im Norden drohen wir die Kontrolle zu verlieren. Schickt mehr Truppen!«

(aus einer Depesche des Indischen Vizekönigs Victor Alexander Bruce an Königin Victoria, 1892)

»Willkommen in meinem Palast! Es ist mir eine Freude, Sie alle in dieser lauen Sommernacht hier begrüßen zu dürfen. Lehnen Sie sich zurück und staunen Sie über die Schönheit und die Wunder der modernen Welt!«

Mit diesen Worten ließ sich Sayaji Rao III. Gaekwad auf seinem Diwan nieder. Obwohl er, gemessen an anderen Fürsten, zu einem eher zurückhaltenden Äußeren neigte, hatte sich der Maharadscha von Baroda an diesem Abend prächtig herausgeputzt. Jeden einzelnen Finger zierte ein goldener Ring. Seinen Hals schmückte ein edelsteinbesetztes Collier, um das ihn jede Lady beneidet hätte. Am imposantesten war jedoch sein Turban, den ein einzelner Diamant mitten auf der Stirn des Maharadschas krönte – der Stern des Südens. Neben dem Gaekwad wirkten seine Gäste beinahe blass. Aber auch sie konnten sich sehen lassen. Ich erblickte nicht nur die Radschas und Nawabs der nahegelegenen Fürstentümer, sondern auch die bedeutendste Delegation dieser verdammungswürdigen Engländer, die ich bis zu diesem Tag gesehen hatte.

Während ich noch die Gruppe der britischen Gentlemen musterte, begann unten in der Arena der erste Programmpunkt. Zwei Nashörner, durch eine tagelange Zuckerdiät wild gemacht, kämpften gegeneinander. Beide waren in den Farben Barodas bemalt; das eine Tier rot und das andere weiß. So beeindruckend dieses Spektakel auch war, gehörte es doch zum Standardrepertoire regionaler fürstlicher Veranstaltungen und war beinahe klassisch zu nennen. An die Programmpunkte, die mein Meister mit meiner Hilfe vorbereitet hatte, reichte dieses Schauspiel jedenfalls nicht heran und so wand ich meine Aufmerksamkeit wieder den Briten zu.

Neben dem amtierenden Vizekönig Petty-Fitzmaurice saß tatsächlich His Royal Highness Edward, der Prince of Wales und designierte Thronfolger des Empires. Vermutlich machte er eine kleine Weltreise, um ein wenig Abstand von den Folgen der Tranby Croft-Affäre zu gewinnen. In drei anderen Herren erkannte ich hohe Beamte des Indian Civil Service. Wieso wurden diese Besatzer, nichts anderes waren die Briten in meinen Augen, nur überall in Indien so wohlwollend aufgenommen? Gut, seit dem Sepoy-Aufstand hatte es den einen oder anderen Anschlag auf einen der heaven born, wie sich diese Männer gern selbst nannten, gegeben. Die Attentäter waren allerdings in allen Fällen einfache Männer gewesen. Die Mächtigen dieses Landes hatten den Widerstand schon vor Jahrzehnten aufgegeben.

Applaus riss mich aus meinen Gedanken. Als ich meinen Blick wieder dem Schauspiel in der Arena zuwandte, sah ich, dass der Kampf schon beendet war. Das weiße Nashorn war blutend aus der Arena geflohen. Unter dem anhaltenden Beifall des Publikums bugsierten sechs Männer mit langen Stäben das siegreiche rote Nashorn hinaus. Nun war es an der Zeit für die erste Darbietung aus unserer Programm.

Zunächst betraten zwei Männer in der wohl typischen Kluft der schottischen Highlands die Arena. Ich hatte einen Dilruba-Spieler vorgeschlagen, aber mein Meister hatte auf Dudelsäcke bestanden; angeblich, weil die indischen Fürsten diese britische Musik liebten.Vermutlich aber eher, weil er selbst an seiner alten Heimat hing.

Natürlich waren die Musiker nicht der erste Programmpunkt, sondern nur schmückendes Beiwerk. Sobald sie mit ihrem Spiel begonnen hatten, stapfte eine schwerfällige Maschine in die Arena. Der Automat, den wir aus Gründen, die für das Publikum jetzt noch nicht zu erahnenwaren, Saraswati getauft hatten, war einem Menschen nachempfunden. Er war etwa sechseinhalb Fußgroß und hatte die Statur eines Dockarbeiters. Sein Äußeres war schlicht und kantig. Als der Automat die Mitte der Arena erreicht hatte, verlangsamte die Dudelsackmusik. Der mechanische Mensch begann mit dem Kopf zu kreisen und seine Arme und Beine zu bewegen; gerade so, wie ein echter Mensch es getan hätte, bevor er versuchte eine sportliche oder akrobatische Leistung zu erbringen. Dabei knackten seine metallenen Gelenke so laut, dass es bis in die letzte Reihe deutlich zu vernehmen war.

Irgendwo im Publikum lachte ein Mann. Als ich versuchte ihn zu erspähen, blieb mein Blick am Gesicht des Gaekwads hängen. Während seine geliebten Engländer um ihn herum alle ob der scheinbar gerade misslingenden Aufführungen schmunzelten, war sein Blick wütend. Er hatte gutes Gold für diese Aufführung bezahlt. Verständlich, dass er nun nicht blamiert werden wollte.

Aus der Arena war nun ein Krachen zu hören. Der Miniaturkoloss hatte ein Stück seiner Schulterverkleidung verloren. Aus der Lücke trat Dampf aus. Jetzt konnte auch die britische Delegation ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. Ins Gesicht des Maharadschas war eine ungesunde Röte gestiegen und kurz hatte ich Angst, dass er die Nummer vor ihrem Höhepunkt unterbrechen würde.

Die Dudelsäcke wurden ein wenig schneller und der mechanische Mensch schüttelte sich. Mehr und mehr Teile fielen von ihm ab. Durch den dabei austretenden Dampf erkannten die Anwesenden, dass nun nur noch eine Art Grundgerüst dastand. Dann verstummte die Musik vollends. Mit langsamen Schritten trat das, was alle für einen rudimentären Rest des Automaten gehalten hatten, aus der Dampfwolke.

Ein Laut des Staunens war aus dem Publikum zu vernehmen. Der Kern des grobschlächtigen Automaten entpuppte sich als die Darstellung einer wohl proportionierten Frau. Die Musik setzte wieder ein und Saraswati begann mit einem Tanz, den die Ausländer sicherlich als exotisch beschrieben hätten. Die Bewegungen der Tänzerin waren so perfekt und geschmeidig, dass ich sie für eine mit silberner Körperfarbe bemalte Frau gehalten hätte, wäre ich nicht zuvor bei ihrem Bau anwesend gewesen.

Das Publikum war begeistert. Alle staunten über die Anmut der Tänzerin und die, die begriffen, dass es sich um einen Automaten handelte, auch über die Kunstfertigkeit meines Meisters. Als die Musik schließlich endete, brandete Applaus auf. Rufe wie »Wunderbar!«, »Herrlich!« oder auch »Brilliant!« waren zu hören. Natürlich war es einer der Engländer, dem es am nötigen Anstand mangelte. »Die kaufe ich mir!«, sagte er deutlich vernehmbar zu seinem Nebenmann. Oh, wie ich diese Himmelsgeborenen, die glaubten, ihnen gehöre die ganze Welt, verabscheute! Warum unternahm niemand etwas gegen sie? Warum nur ließ man zu, dass sie alles für sich beanspruchten?

Jetzt war es aber erst einmal Zeit für den nächsten Programmpunkt. Die Tänzerin war vollständig von meinem Meister gebaut worden, aber an dem, was jetzt folgte, hatte auch ich einen großen Anteil.

Zum Klang der unsäglichen Dudelsäcke, die uns leider bis zum Ende begleiten würden, stapfte ein Flusspferd in die Arena - natürlich kein echtes, sondern ein mechanisches. Allerdings war es so detailliert ausgearbeitet, dass dies von keinem der Zuschauer erkannt wurde. Auf seinem Rücken saß ein metallisch glänzender Vögel.

Das Flusspferd lief langsam im Kreis. Nach einer Runde stampfte es in die Mitte der Arena, wo es regungslos stehen blieb. Möglicherweise wurde nun den ersten bewusst, dass es gar kein lebendes Tier war. Doch wir gaben ihnen nicht die Möglichkeit, lange bei diesem Gedanken zu verweilen. Denn jetzt kam Leben in den Vogel. Zunächst stolzierte er ein wenig auf dem Rücken des grauen Kolosses auf und ab. Dann breitete er seine Flügel aus und begann damit zu schlagen. Ein Raunen ging durch das Publikum. Der Vogel hatte sich tatsächlich in die Luft erhoben und kreiste über der Arena. Das Publikum jubelte. So etwas hatte es noch nie gesehen.

Ich gerate immer noch ins Schwärmen, wenn ich an diese Bravourleistung meines Meisters zurückdenke. Obwohl ich bei der Konstruktion anwesend war, habe ich bis heute nur in Ansätzen verstanden, wie dieser Vogel fliegen konnte. Ein wesentlicher Aspekt war die leichte Bauweise. Die Außenhaut bestand nicht wirklich aus Metall, sondern war aus speziellen Fasern gewoben, die lediglich wie Metall glänzten. Das Innere war, bis auf einen winzigen, aber sehr starken Motor und eine Art Getriebe, leer. Einen Auftriebskörper gab es nicht.

Ich hätte damals wirklich noch so vieles von meinem Meister lernen können, aber meine Interessen galten anderen Dingen. Allem voran beschäftigte mich die Frage, wie wir Inderdie Engländer loswerden und unsere mannigfaltige Kultur bewahren könnten.

Während der Vogel noch seine Kreise zog, erwachte das Flusspferd aus seine Starre und richtete sich auf zwei Beine auf, bis es wie eine Art Flusspferdmensch dastand. Ursprünglich hatte ich – ja, diese Maschine war mein Entwurf – für diese Nummer einen Elefanten bauen wollen, aber die Ähnlichkeit zu Ganesha hatte ich dann doch als unpassend empfunden.

Nun nahm der Flusspferdmensch die Yogaposition des Kriegers ein, was bei einigen Einheimischen eine gewisse Belustigung hervorrief. Das Licht wurde gedämpft und die Musik verklang langsam. Ruhe kehrte in der Arena ein. Alles wartete gespannt.

Unvermittelt wurde die Musik wieder lauter und Feuerwerk schoss aus den nach oben gerichteten Armen meines Konstrukts. Das Publikum war Feuer und Flamme. Natürlich nur im übertragenem Sinn. Das Feuerwerk war selbstverständlich auf den inneren Bereich der Arena begrenzt. Undenkbar was hätte passieren können, wenn es durch ein Versehen direkt in das Publikum geflogen wäre. Oder wenn es gar jemand absichtlich so eingerichtet hätte.

Das Finale unserer Aufführung stand jedenfalls unmittelbar bevor.

Zum letzten Mal begannen die Dudelsackspieler ihre grausige, westliche Musik zu spielen. Dieses Mal musizierten sie allerdings nicht um eine Darbietung zu untermalen, sondern um das Publikum während der nun folgenden Umbauarbeiten bei Laune zu halten. Allerhand Kisten, die groß genug waren, dass sich ein Mann dahinter verstecken konnte, wurden in die Arena geschafft. Sie sollten während der letzten Vorführung als Hindernisse dienen und den Kampfplatz für die Kombattanten unübersichtlich machen, während die Zuschauer von ihrer erhöhten Position aus genau sehen konnten, was geschah.

Dann führte mein Meister, der seinen Platz an meiner Seite während des Feuerwerks verlassen hatte, einen weiteren Automaten in die Arena. Dieser war über acht Fußgroß und einem muskulösen Mann nachempfunden. Augenscheinlich war er unbewaffnet. Den beiden folgten acht weitere, wesentlich einfacher gearbeitete humanoide Maschinen. Als die Musik verklang, ergriff mein Meister das Wort:

»Verehrter Maharadscha, liebe Gäste von nah und fern! Ich präsentiere Ihnen den ersten vollautomatischen Soldaten!«

Die Reaktion des Publikums war verhalten. Mehr oder weniger autonom handelnde Automaten, die an Fließbändern oder auch als Butler hoher Herren agierten und auf ein festgelegtes Repertoire von Befehlen reagieren konnten, waren mittlerweile zu einem alltäglichen Anblick geworden.

Doch jeder Versuch einen Automaten zu bauen, der selbst Entscheidungen treffen konnte, war bisher gescheitert. Zuletzt hatten die Briten bei der Schlacht am Atbara versucht, automatische Soldaten einzusetzen. Die drei Prototypen konnten erst gestoppt werden, nachdem sie 22 Mann des Royal Warwickshire Regiments, dem sie zugeordnet waren, getötet hatten.

»Ah, ich sehe, dass Sie diesem Konzept noch skeptisch gegenüberstehen«, fuhr er unbeirrt fort. »Verständlich, verständlich. Aber sehen sie selbst! Irgendjemand aus dem Publikum wird nun diese acht Gegner platzieren, die meine Erfindung dann bekämpfen wird. Währenddessen werden mein junger Gehilfe und ich zwischen den Kämpfern umhergehen, da wir wissen, dass es für uns sicher ist.«

Ein leises Raunen ging durch das Publikum, während ich mir, ob dieser Überraschung, ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Das würde es noch leichter machen, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

Während ich meinen Platz im Publikumverließ und ebenfalls in die Arena hinabstieg, stülpte mein Meister Cassius, wie ich den automatischen Soldaten im Stillen nannte, einen Sack über den Kopf, damit dieser nicht sah, wo die Gegner platziert wurden. Ein Freiwilliger, der diese Aufgabe übernahm, war schnell gefunden. Natürlich war es einer der Engländer, der diese Chance ergriff, sich ein wenig in den Mittelpunkt zu rücken.

Wenig später war es dann so weit – mit den Worten »Verteidige uns!« riss mein Meister Cassius den Sack vom Kopf. Dann tauchten auch schon die ersten beiden Automaten, die als Gegner dienten, hinter einer Kiste auf. Cassius hob die Arme und zeigte auf sie. Mit einem leisen Klicken klappten seine Hände nach oben weg und offenbarten zwei Kanonenrohre mit einem Durchmesser von mehr als einem Inch. Ein einziger Knall erklang, doch ich wusste, dass es eigentlich zwei waren. Zwei perfekt synchronisierte Schüsse. Die beiden Angreifer wurden zurückgeworfen und landeten auf dem Boden, wo sie regungslos liegen blieben. Beide hatten ein großes rauchendes Loch an der Stelle, an der sich bei einem echten Menschen das Herz befunden hätte.

Dem Publikum schien dieser Auftakt zu gefallen. Wir aber waren noch lange nicht am Ende unserer Vorführung. Insbesondere stand ja auch noch meine Überraschung aus. Nachdem Cassius einen weiteren Gegner, der hinter ihm aufgetaucht war, auf gleiche Weise erledigt hatte wie die ersten, begann mein Meister die Sache interessanter zu machen, indem er in der Arena umherging. Dabei verschwand er immer wieder aus Cassius‘ Blickfeld und tauchte wieder auf, ohne von diesem angegriffen zu werden. Auch ich setzte mich jetzt in Bewegung. Immer wieder gingen wir hinter die Kisten. Dann fielen plötzlich die nächsten Schüsse. Cassius hatte drei weitere Gegner erledigt.

Das Publikum war begeistert, wie gut der automatische Soldat Freund und Feind unterscheiden konnte. Der nächste Schritt würde ihnen aber wohl kaum gefallen.

Als ich wieder einmal hinter einer Kiste hervortrat, zog ich einen Zettel hinter meinem Gürtel hervor, den ich sogleich entfaltete und Cassius zeigte. Dieser verharrte für den Bruchteil einer Sekunde.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ruckartig drehte sich Cassius um und schoss. Die Zuschauer schrien auf. Der Schuss hatte keinem Ziel in der Arena gegolten.

Noch immer hielt ich den Zettel für alle deutlich sichtbar hoch. Auf diesem war eine einfache Zeichnung zu sehen – ein stilisierter Diamant. Die Blicke waren jedoch nicht auf mich gerichtet, sondern auf den Erschossenen.

Sayaji Rao III. Gaekwad war tot. Daran gab es keinen Zweifel. Das Projektil hatte ihn am Kopf getroffen; genau an der Stelle, die zuvor der Stern des Südens geziert hatte.

Ich stieg auf eine der Kisten und ergriff das Wort.

»So wird es allen ergehen, die die Briten gewähren lassen und sogar noch ihren Nutzen aus ihrer Besatzung ziehen! Radschas, Nawabs, all Ihr Mächtigen! Schließt Euch zusammen! Wenn wir zusammenstehen, haben die Briten keine Chance! Führt uns gegen die Besatzer! Kommt Eurer Pflicht nach oder der Zorn des Volkes wird auch Euch treffen.«

Während der Prinz und die anderen Engländer, die wohl fürchteten, dass der nächste Schuss ihnen gelten könnte, panisch nach dem schnellsten Weg von der Tribüne suchten, bewies eine der Wachen des toten Maharadschas Geistesgegenwart.

»Ergreift ihn!«

Nun würde der von mir umprogrammierte Cassius beweisen können, wie gut er gegen echte Gegner kämpfen würde.

Die ersten Wachen, die die Arena betraten, hatten keine Chance. Drei schnell auf einander folgende Schüsse beendeten ihr Eingreifen jäh. Die verbliebenen Wachen, von denen es leider noch reichlich gab, verharrten und trauten sich nicht näher.

Ich sprang von der Kiste und trat direkt hinter Cassius.

»Bring mich hier raus!«, befahl ich ihm. Wenn alles weiterhin nach Plan verlief, wäre ich schon bald auf dem Weg in den Norden, um mich dem sich dort langsam formenden Widerstand anzuschließen und meine nächste Aktion vorzubereiten. Oh, ich hatte ja noch so viele Ideen.

Langsam setze die Maschine sich in Bewegung, wobei ich ihr dicht folgte. Die Wachen wichen vor uns zurück. Wir hatten den Ausgang schon fast erreicht, als mich etwas Hartes am Hinterkopf traf. Bewusstlos sank ich zu Boden.

Cassius hätte mit Leichtigkeit jeden Gegner erledigt, der sich uns in den Weg gestellt hätte. Tragischerweise hatte er in meinem Meister keinen Gegner erkannt. Akribisch hatte ich die Programmierung des Automaten manipuliert. Ein Detail hatte ich wohl übersehen: die Automatengesetze, die mein Meister so tief in seiner Programmierung verwurzelt hatte, dass mein Eingriff sie nicht hatte umgehen können. Das erste dieser Gesetze lautete:

»Ein Automat darf seinen Erbauer nicht verletzen.«

Jetzt sitze ich hier in meiner Zelle und warte auf meine Hinrichtung. Mein Leben ist verwirkt und doch bereue ich nichts. Denn während ich auf meinen Henker warte, erreichen Gerüchte mein Ohr. Geschichten über Attentate, Aufstände, ja sogar über offene Kämpfe. Richtet mich ruhig! Der Funke wurde entzündet, das Feuer entfacht. Noch sind es einzelne Brände, doch schon bald werden sie sich ausbreiten. Indien wird brennen. Und aus der Asche wird sich ein neues Indien erheben! Ein starkes Indien! Ein unabhängiges Indien!

Piraten!

Anja Bagus

Endlich war ein Ende der Reise in Sicht. Lotta war es leid, seit sechs Wochen fast keine Privatsphäre zu haben. Für ihren Bruder Lasse war das nicht so schlimm gewesen. Er hatte sich prächtig mit den Mitreisenden verstanden. Lotta hatte zwar eine winzige Kajüte für sich gehabt, den Abort hatte sie sich aber mit den anderen ausschließlich männlichen Mitseglern teilen müssen, und mehr als einmal hatten angetrunkene oder einfach besonders leidenschaftliche Mitreisende versucht, in ihr Quartier zu kommen.

Zum Glück hatten sie außergewöhnlich gutes Wetter gehabt, und Lotta hatte viele Stunden am Bug des Dampfseglers verbringen können. Meist hatte sie wie hypnotisiert in die Gischt gestarrt. Die Farben des Meeres hörten nicht auf, sie zu inspirieren. Sie wünschte sich, sie hätte Malsachen mitnehmen können, aber ihr Gepäck war auf das wesendlichste reduziert. Daher fieberte sie jetzt dem Land entgegen: Borneo. Sie war gespannt auf die Farben und die Gerüche. Hier an Bord roch es manchmal schlimm, je nachdem, wo sie stand und von wo der Wind herkam. Aber seit gestern waren vermehrt Vögel über sie hinweggeflogen, und die Seeleute brummten etwas von »Bald ist es so weit.« Lotta hatte ihre letzte Wäsche an Bord gewaschen - so hoffte sie - und versucht die anderen Dinge so zu lüften, dass sie nicht nach Bilgenwasser müffeln würden. Und jetzt stand sie wieder am Bug.

»Sie sagen, dass wir morgen an der Flussmündung ankommen.«

Lotta zuckte zusammen. Es war Jean Brasseur, der Franzose. Er konnte gut Deutsch und Englisch und war eigentlich nett. Man konnte sich mit ihm unterhalten, ohne gleich anzügliche Bemerkungen zu hören. Sie drehte sich zu ihm um. Er hatte seine Haare gewaschen und die dunklen Locken wehten im Wind. Später würde er sie wohl wieder mit Pomade glattstreichen. Das war bedauerlich, aber notwendig. Lottas Mutter schnitt Haare und hatte ihr erklärt, dass Pomade ja auch gut gegen diverse lästige Mitbewohner war. Lotta juckte es schon bei dem Gedanken und sie hatte auch deshalb allen näheren Kontakt vermieden.

»Ich bin so gespannt«, sagte Lotta.

»Ab dann sind wir Konkurrenten.«

»Das waren wir schon immer«, erwiderte Lotta.

»Aber dann wird es ernst.« Jean trat neben sie und griff an die Reling. Sie stand in seinem Windschatten und roch einen Hauch von Duftwasser. Er war frisch rasiert und sein Hemd sah sauber aus. Er wollte offenbar auf ihre Gastgeber einen guten ersten Eindruck machen.

»Mir war es schon immer ernst«, sagte sie dann. »Sonst wäre ich sicher nicht auf diese Fahrt mitgekommen.«

»Sag mir eins«, sagte Jean und lehnte sich so an die Reling, dass er ihr zugewandt war. »Das Ding, also das Gerät für den Wettbewerb - das hast du gebaut, oder?«

»Wie kommst du darauf?« Sie duzte Jean, so wie er es mit ihr tat. Am Anfang hatte sie gedacht, er tat es, weil sie erst 17 war und er mindestens 25. Aber Jean duzte alle, es war seine Eigenheit. Er war jemand, der keine Barrieren kannte, aber dennoch respektvoll bleiben konnte. Das war ihr lieber als einer, der sie siezte und von hinten angrabschte. Jetzt schob er sich allerdings eine seiner stinkenden Zigaretten zwischen die Lippen. Das war ein Minuspunkt. Aber sie hatte ja nicht vor, ihn zu küssen, oder?

»Dein Bruder ist nicht einmal im Laderaum gewesen. Aber du ... ich glaube, du schaust jeden Tag nach, oder?«

Das stimmte und Lotta nickte unwillkürlich. Sie musste doch überprüfen, ob jemand die Kiste manipuliert hatte? Nicht, dass die Maschine voll einsatzfähig wäre; natürlich hatte sie die wichtigsten Teile in ihrer Kabine. Sie selbst war ebenfalls gespannt auf die Erfindungen der anderen. Genau wie ihre, waren deren Kisten fest verschlossen und die Siegel ungebrochen.

»Du nicht?«, fragte sie zurück.

»Sicher. Aber Lasse nicht.«

»Ohne Lasse hätten sie mich nicht mitgenommen«, sagte sie.

»Ja, ich weiß. Du bist zu hübsch, um klug zu sein.«

Lotta wurde rot. Sie hasste das, und konnte es dennoch nicht verhindern. Sie wandte sich ab und starrte auf die glitzernden Wellen.

»Entschuldigung«, sagte Jean. »Ich wollte das nicht ... aber, Lotta, wenn wir den Wettbewerb beendet haben, würdest du dann mit mir ausgehen?«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Lotta. »Wo denn? In Sarawak? Oder bei mir zuhause in Wismar? Oder in Frankreich, wo auch immer du herkommst?«

»Das ist mir egal.«

»Wenn ich gewinne, dann überlege ich es mir«, sagte Lotta selbstbewusst. Sie hatte zwar keine Zeit für Liebelei, die zu nichts führte, aber winzige Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch.

»Oh, dann sollte ich dich vielleicht gewinnen lassen«, sagte Jean und zwinkerte ihr zu.

»Das würdest du nicht tun, oder?«

»Nicht?«, fragte Jean listig.

»Niemand fährt mal eben über den Stillen Ozean, um dann 500 Pfund auszuschlagen!«

»Aber deine Augen und mein Herz und l‘amour!« Jean griff sich theatralisch an die Brust und dann lachten sie. Lotta war erleichtert. Die kurze Spannung war gebrochen.

»Was hast du mit deinem Gewinn vor?«, fragte Jean dann.

»Ich will studieren.«

»Studieren? Das überrascht mich nicht. Lotta-Schwan, du wirst sicher einmal berühmt.«

»Nicht, wenn ich vorher heiraten muss«, entgegnete sie.

»Na, da sehe ich keine Schwierigkeiten. Du hast dich hier der Annäherungen von wie vielen Männern erfolgreich erwehrt?«

»Ja, und einer ist sehr lästig und rückt mir immer wieder zu nahe.« Lotta wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

»Da, sieh!«, sagte Jean plötzlich. Lotta blinzelte und blickte in die Richtung, in die er zeigte.

»Was?«

Er rückte näher, legte einen Arm um ihre Schulter und drehte sie. »Da! Ich sehe Land!«

Sie schluckte und bemühte sich, es auch zu sehen, und gleichzeitig die widersprüchlichen Impulse in ihr zu bekämpfen,. Aber er machte es ihr leicht und ließ sie schnell los. Dann sah sie den winzigen Streifen Dunkelheit, der sich über dem grünen Wasser abzeichnete. Land! Sie waren angekommen!

Natürlich würde es noch länger dauern, als Lottas Ungeduld es zulassen wollte, bis sie die Flussmündung des Sarawak erreicht hätten. Die ersten Dinge schwammen jetzt auf den Wellen: Blätter, Algen, Äste. Die Besatzung wurde nach den langen Wochen auf einmal richtig hektisch und auch ein wenig ausgelassen. Alle freuten sich auf frisches Wasser und Lebensmittel.

»Was ist mit dir und diesem Franzosen?«, fragte Lasse mürrisch. Lotta musterte ihren Bruder. Er hatte gestern Abend wieder getrunken, sie sah es ihm an. Er hatte vor einer Woche sein ganzes Geld verspielt und sie war froh, dass sie ihren Teil in ihrer Kabine gebunkert hatte. Etwas war auch in ihrer Unterwäsche versteckt, die sie jetzt am Leib trug. Wenn sie nicht gewannen, brauchten sie noch genug Geld, um die Rückreise bezahlen zu können.

»Nichts«, sagte Lotta bissig. Sie musste an sich halten, um ihren Bruder nicht zu schelten.

»Dann ist gut. Du sollst dich hier mit keinem einlassen.«

Lasse hätte sich besser an seine eigene Nase gefasst. Er war nur drei Jahre älter als sie, aber oft dachte Lotta, dass sie die Vernünftigere war. Lasse war kein schlechter Kerl, aber er hatte keinerlei Zurückhaltung. Er hielt sich für etwas Besonderes, weil ihre Mutter ihm das eingeredet hatte. Er übersah völlig, dass es erstens Lotta war, die die ganze Arbeit machte und zweitens, nicht seine Aufgabe war, sie zurechtzuweisen.

»Manchmal bin ich einfach froh, wenn ich mich mit jemandem unterhalten kann, der nicht betrunken ist.«

»Herrgott, Karlotta. Du hast keine Ahnung. Das gehört dazu.«

Lotta wollte keine Ahnung haben. So wie Lasse keine Ahnung hatte, was sie eigentlich gebaut hatte. Möglicherweise war ihm nicht einmal bewusst, dass es ihm tatsächlich an den Kragen gehen könnte. Also besser gesagt, an den Kopf, denn die Piraten, denen sie begegnen konnten - oder besser gesagt würden, denn darum ging es ja - waren scharf auf die Schädel ihrer Opfer. Sie benutzten sie als Trophäen und sie hatten eine wichtige spirituelle Bedeutung.

Lasse dachte, spirituell habe etwas mit Alkohol zu tun. Deshalb war er auch aus der Kochlehre geflogen und verprasste gerade Mutters wenige Ersparnisse, weil er von Opa nichts bekam. Aber andererseits könnte er auch nicht mit ihr um die halbe Welt schippern, wenn er weiter kochen müsste. So hatte es sich gefügt und Lotta hatte ihre Mutter mit bedeutender Hilfe ihres Opas mütterlicherseits überredet. Nicht, dass Mama wirklich wusste, worum es ging! Lotta und Opa hatten ihr nur das nötigste erzählt. Helmine Wagner dachte, ihre Kinder Karlotta und Lasse wären auf dem Weg nach England, um dort eine neue Dampfmaschine für Opa Hinrich zu kaufen.

Opa Hinrich war der einzige, der sie wirklich verstand. Opa war zwar nur Schreiner, aber er hatte Ahnung. Er war wach im Kopf und hatte sich immer weitergebildet. Als die Dampfmaschinen in Wismar Einzug gehalten hatten, hatte er sie sich angeschaut, wo er konnte und zuletzt eine kleine für seine Säge erworben. Das hatte seine Arbeitszeit verringert, so dass er schneller liefern konnte, und bald die Grundlage für einen soliden Wohlstand gebildet.

Lotta war in der Schreinerei aufgewachsen. Sie hatte auf Hobelspänen gespielt und geschlummert und könnte nicht mehr zählen, wie viele Splitter sie sich zugezogen hatte. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war die Hintergrundmusik der Maschine gewesen. Opa hatte sie immer selbst repariert und sie hatte die Schrauben gehalten. Erst nur eine, dann viele und dann hatte sie ihm die Werkzeuge gereicht. Schließlich hatte sie begonnen, einige Dinge zu machen, weil sie gelenkiger war, und als Opas Augen nachließen, hatte sie sich an seine Anweisungen gehalten. Irgendwann kannte sie die Maschine in- und auswendig. Da war sie etwa zwölf gewesen. Opa hatte ihr dann erlaubt, neue Teile zu kaufen. So wie andere Puppen zum Geburtstag bekamen, bekam Lotta ihre eigenen Werkzeuge und andere Maschinen.

Opa war es auch gewesen, der ihnen das Geld gegeben hatte, damit sie die Reise antreten konnten. Er wusste, warum Lotta diesen Wettbewerb unbedingt gewinnen wollte.

»Ach, meine liebe Lotta«, hatte er gesagt. »Bist du dir sicher? Du weißt, dass deine Mutter das nicht wissen darf.«

»Ich weiß, Opa«, hatte sie geantwortet. »Aber Mama wird mir nie sagen, warum Papa uns nicht anerkannt hat. Ich muss es selbst herausfinden.« Helmine Wagner sprach nie über Carl Schwaner. Sie hatte den Kindern noch nicht einmal seinen Namen gesagt; Lotta wusste ihn von Opa.

Opa hatte genickt. Er war nicht einverstanden, aber er liebte seine Enkeltochter mehr als alles. Daher hatte er ihr und Lasse erlaubt, auf diese haarsträubende Reise zu gehen, um ihrem Vater nachzuspüren. Carl Schwaner war ein Abenteurer gewesen. Er hatte als erster Borneo gänzlich bereist, um Informationen über Flora, Fauna und die kartographischen Verhältnisse nach Hause zu bringen. Kurz bevor er zu seiner ersten Reise aufgebrochen war, hatte er Helmine Wagner geschwängert. Leider war er nicht zu ihr zurückgekommen und nun war er tot. Sie hatten es zufällig erfahren, da ein Museum eine Ausstellung über ihn geplant und ein gemeinsamer Studienkollege Mama zu Eröffnung eingeladen hatte. Lotta wollte unbedingt mehr wissen. Sie wusste, dass er eine Zeitlang am Hof von James Brooke gelebt hatte, dem weißen Raja von Sarawak. Das war alles sehr exotisch und schier unglaublich. Immer wenn Lotta in den Dünen von Wismar von ihrem Vater geträumt hatte, waren ihr Tiger und Papageien in den Kopf gekommen, und Männer mit bunten Gewändern, Kronen und Reichtümern.

Nun war sie fast da, in diesem Königreich am Nordrand von Borneo. James Brooke hatte dem einheimischen König einen Gefallen getan und dafür dieses Stück Land am Fluss Sarawak bekommen. Im Austausch dafür sollte er weiterhin die Piraten und diekriegerischen Eingeborenen in Schach halten. So hatte nämlich alles angefangen: Die Eingeborenen von Borneos Nordküste hatten festgestellt, dass der Handel der Europäer mit ihren Rajas regen Schiffverkehr bedeutete. Sie hatten ebenfalls begonnen, Schiffe zu bauen und waren zu einer wahren Pest der Küstengewässer geworden. Brooke hatte ein kleines Vermögen geerbt und wollte seine Abenteuerlust befriedigen. Statt es standesgemäß zu verprassen, hatte er ein Schiff gekauft, war hierhin gesegelt und hatte mit der Demonstration seiner Waffen einen kurzen Frieden geschaffen. Aber die Eingeborenen waren stur und noch dazu Kopfjäger. Das passte nicht zu der Vorstellung, die die Engländer von ihnen hatten. Die Briten fanden zwar, dass diese Naturvölker und ihre Lebensweisen wildromantisch waren, aber Köpfe abschlagen ging zu weit.

Brooke hatte mit Hilfe der Royal Navy getan, was er für richtig hielt und zuletzt in einer Seeschlacht mehrere hundert Piraten auf einmal getötet. Das war dann doch zu viel gewesen. So nicht, hatte die Regierung aus England verlauten lassen und ihm die Unterstützung versagt. Als die Piraten die Gewässer wieder unsicher machten, blieben die Holländer und Portugiesen erneut aus und Brooke musste sich etwas einfallen lassen.

Also hatte er den Wettbewerb ausgerufen. Wer die Piraten verscheuchen konnte - am besten ohne Blutvergießen - der sollte 500 Pfund gewinnen, einen Pokal und unbegrenzten Aufenthalt in seinem Königreich. Lotta hatte sofort gewusst, dass das ihre Chance war. Sie hatte mit Opas Hilfe etwas gebaut und nun ...

»Piraten!«, erklang es aus dem Ausguck.

»Was?«, entfuhr es Lotta. Sie sah sich hektisch um. Im Nu war das Deck voller Seemänner und Mitreisender, die die Wellen absuchten. Schnell wurde klar, dass der Ausguck recht hatte. Mehrere seltsame Schiffe hielten auf sie zu. Lotta wusste ungefähr, was sie erwartete: Die Boote waren nicht hochseetauglich, aber in den Küstengewässern durch viele Ruderer schnell und