Kommissar Handerson - Sammelband - Adrienne Träger - E-Book

Kommissar Handerson - Sammelband E-Book

Adrienne Träger

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Beschreibung

Dieses Buch vereint erstmals alle drei bislang erschienen Bände der beliebten Menschenrechtskrimireihe um Kommissar Handerson und sein Team in einer überarbeiteten und korrigierten Form. Unbekannt verstorben: Eine junge Frau springt von einer Brücke vor einen Güterzug — an sich ein Routinefall für die Carlshavener Mordkommission, doch was für Björn Handerson und sein Team zunächst wie der simple Selbstmord einer jungen Afrikanerin aussieht, entpuppt sich als diplomatischer Skandal und als Reise in die Abgründe der menschlichen Natur. Willkommen in Amberland: Seit Tagen herrscht winterliches Chaos in Amberland. Die dichte Schneedecke hat jedoch nicht nur Carlshaven und seine Wälder unter sich begraben, sondern auch die Leiche eines afghanischen Flüchtlings. Wer wollte diesem couragierten jungen Mann bloß schaden? Endstation Containerhafen: Eine Journalistin recherchiert undercover, aber die Story nimmt einen tödlichen Ausgang und stellt die Carlshavener Mordkommission vor ein Rätsel. Zu welchem Thema hatte Monique van Leeuwen zuletzt Nachforschungen angestellt und was hatte sie Brisantes herausgefunden?

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Adrienne Träger

Kommissar Handerson Sammelband

Unbekannt verstorben Willkommen in Amberland Endstation Containerhafen

Unbekannt verstorben ©2015, 2019Adrienne Träger

Willkommen in Amberland ©2015, 2019 Adrienne Träger

Endstation Containerhafen ©2017, 2019 Adrienne Träger

Umschlaggestaltung: Adrienne Träger

Coverfotos: ©2015,2017,2019 Ingeborg Heck-Böckler und Michael Seidlitz

Verlag:

Amnesty International, Asylgruppe Aachen Adrienne Träger Adalbertsteinweg 123a/b 52070 Aachen

www.amnesty-aachen-asylgruppe.de

[email protected]

http://facebook.com/amnesty.asylgruppe.aachen

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/der Autoren bzw. Herausgeber unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Aufführung oder sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Unbekannt verstorben

Carlshaven, 25. August 2014

Sie konnte nicht mehr. Es sollte endlich vorbei sein. Das war alles, woran sie denken konnte, als sie über die Brüstung der Brücke kletterte und hinuntersprang. „Endlich bin ich frei“, war ihr letzter Gedanke, bevor sie mit dem Kopf auf den Bahngleisen aufprallte und die ewige Dunkelheit sie umschloss. Den Zug, der sie im nächsten Moment überrollte, spürte sie schon nicht mehr.

Am selben Tag

Als Kommissar Björn Handerson in den schmalen Feldweg einbog, der zur Bahnstrecke führte, konnte er die blau rotierenden Lichter der Streifenwagen schon von weitem sehen. Es war unverkennbar, dass hier etwas geschehen war und es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Schaulustigen versammelten. Als er an der Absperrung angekommen war und den Motor abgestellt hatte, wunderte er sich, dass sie nicht schon längst da waren. Aber vielleicht war dieser Ort einfach zu weit abseits gelegen, um so schnell die vor Neugier geifernden Gaffer anzuziehen. Wie er sie hasste, diese Schaulustigen. Seit über dreißig Jahren war er nun bei der Kriminalpolizei im amberländischen Carlshaven, aber an diese sensationsgeilen Glotzer, die sich wie die Aasgeier auf jedes Unglück stürzten, weil es in ihrem Leben sonst nicht viel gab, worüber sich zu berichten lohnte, konnte und wollte er sich nicht gewöhnen.

Er hatte gerade zur Arbeit fahren wollen, als der Anruf kam. Ein vermeintlicher Selbstmord an der Güterzugstrecke zum Hafen. Als Mordkommission wurden er und seine Kollegen in so einem Fall pro forma dazu gerufen, obwohl es für sie meist nicht viel zu tun gab. Hier war der Fall sonnenklar – eine junge Frau hatte sich von der Brücke auf die Gleise gestürzt, als der Güterzug kam. Der Zugführer konnte nicht mehr bremsen und hatte sie überrollt. Ein klassischer Fall von Freitod. Zu ermitteln gab es da wahrscheinlich nicht viel.

Sergeantin Anna Carenin kam ihm, sich unter der Absperrung aus schwarz-gelbem Tatortband hindurchduckend, entgegen. Er lächelte. Die hochgewachsene, rothaarige junge Frau mit der sportlichen Figur war immer als erste am Tatort. Wie machte sie das bloß?

„Und?“

„Sieht nicht gerade schön aus. Der Zug hat sie voll erwischt.“

„Wissen wir schon, wer sie ist?“

„Nein, an der Leiche war zumindest kein Hinweis auf die Identität zu finden. Einen Ausweis hatte sie nicht einstecken. Die Uniformierten suchen das Gelände ab, ob dort vielleicht eine Geldbörse oder ähnliches liegt, die ihr beim Sturz aus der Tasche gefallen sein könnte. Außerdem sammeln sie die restlichen Teile von ihr ein.“

„Ist Weidmann schon da?“

„Ja. Und schlecht gelaunt wie immer.“

Handerson seufzte. „Was auch sonst.“

Er ging zum Kofferraum seines Wagens, um den Koffer mit der sterilen Schutzkleidung herauszuholen, die an jedem Tatort Vorschrift war, damit die Spurenlage nicht verfälscht wurde. Als er sich fertig umgezogen hatte, folgte er Anna hinter die Absperrung.

Der kleine, untersetzte Gerichtsmediziner Morton Weidmann saß über den Leichnam gebeugt und schaute grimmig.

„Hallo, Mort“, grüßte Handerson ihn.

„Nichts ‚Mord‘. Selbstmord. Zumindest deutet im Moment alles darauf hin. Ich wollte einen von den Plattfüßen losschicken, damit der nach dem Rest von der Frau sucht, da hat der mir doch glatt neben die Leiche gekotzt. Unprofessionell so etwas. Ich meine, das gibt es doch gar nicht. Lernen die heute auf der Polizeischule eigentlich gar nichts mehr?“

„Na ja, also schön ist nun wirklich anders...“, versuchte Björn ihn zu beschwichtigen.

Weidmann ignorierte seinen Einwand. „Also, für mich gibt es hier erst mal nichts mehr zu tun“, verkündete der kleine Gerichtsmediziner und stand auf. „Der Leichenwagen müsste gleich kommen. Die sollen den Leichnam und die restlichen Teile, die noch gefunden werden, in mein Institut schaffen. Ich beschäftige mich dann damit, wenn ich Zeit habe. Schönen Tag noch, man sieht sich.“

Weidmann stand auf und ging Richtung Absperrung. Handerson sah ihm hinterher und seufzte; der Mediziner konnte sehr anstrengend sein. Er wandte sich wieder der Unfallstelle zu. Die Leiche sah wirklich nicht schön aus. Ein Bein und ein Arm waren von den Zugrädern abgetrennt worden und nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie irgendwo in dem Gestrüpp an den Bahngeleisen gelandet. Das Gesicht war zwar von Blut verklebt und kaum erkennbar, schien aber nach dem Zusammenstoß mit dem Zug noch bemerkenswert intakt zu sein. Die Tote war dunkelhäutig und in ein teuer aussehendes Abendkleid gehüllt. Es sah zerrissen aus, aber das konnte auch eine Folge des Unfalls sein. An den Füßen waren keine Schuhe. Handerson schaute sich um, konnte aber auch keine entdecken. Vielleicht standen sie noch oben auf der Brücke. Aber zieht man sich denn die Schuhe aus, bevor man Selbstmord begeht?

Er blickte zur Brücke hinauf. Für ihn sah es zumindest aus wie ein klassischer Selbstmord. Sie war in dem Moment von der Brücke gesprungen, als der Zug kam. Alles passte zusammen. Das Einzige, das es jetzt noch zu klären gab, war ihre Identität und die Frage, wieso sie es getan hatte. Eine reine Routinesache. Wenn sich heute kein Hinweis auf ihre Identität finden würde, dann würde sich innerhalb der nächsten Tage bestimmt jemand melden, der sie vermisste. Und dann würde man auch herausfinden, wieso sie von der Brücke vor den Zug gesprungen war.

Neben dem Ende des Güterzuges stand ein Krankenwagen. Die Sanitäter kümmerten sich dort um den Zugführer, der nach dem Unfall ziemlich geschockt war und verzweifelt versuchte, damit fertig zu werden, dass er einen Menschen totgefahren hatte. Handerson ging zu ihm.

„Kommissar Handerson, Mordkommission Carlshaven. Sind Sie in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?“

„Ich kann nichts dafür, ehrlich. Die ist mir einfach vor den Zug gefallen. Da war so ein Schatten auf der Brücke und im nächsten Moment hängt die mir voll vorne drauf.“

„Ein Schatten?“

„Na ja, die Frau halt. Die hatte die Sonne im Rücken. Ich habe immer Angst davor gehabt, dass mir das irgendwann mal passiert. So eine verdammte Scheiße.“

„Sind Sie sicher, dass da nur eine Person auf der Brücke stand?“

„Ja, da war definitiv nur sie. Ich wollte die nicht überfahren, ehrlich, aber Bremsen ging wirklich nicht mehr.“

Handerson legte dem Mann beruhigend die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen.

„Das glaube ich Ihnen. Sie können nichts dafür. Aber Sie stehen unter Schock und sollten jetzt ins Krankenhaus.“

„Wir fahren jetzt auch – oder brauchen Sie uns noch?“, fragte einer der Sanitäter.

„Nein. Der Mann muss dringend ins Krankenhaus und gegen den Schock behandelt werden. Fahren Sie nur.“

Die Sanitäter verfrachteten den Zugführer in den Rettungswagen, schlossen die Türen und machten sich auf den Weg. Der Mann tat Handerson leid. Er war nun schon seit über dreißig Jahren bei der Polizei und hatte in dieser Zeit mehrfach solche Fälle miterlebt. Die Lokführer konnten nichts dafür, dass sich jemand vor ihren Zug geschmissen hatte, aber das Gefühl, die Schuld dafür zu tragen, einen Menschen totgefahren zu haben, wurden sie nicht los. Viele von denen, die er kennengelernt hatte, waren nach einem solchen Zwischenfall nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Beruf weiter auszuüben. Für den Mann hoffte er, dass er nicht zu diesen vielen gehören würde.

Er hielt nach Anna Ausschau. Sie sprach mit ein paar Uniformierten, die sich kurz darauf in Richtung Gestrüpp bewegten. Er ging zu ihr.

„Ich habe sie angewiesen, weiter nach den restlichen Leichenteilen und eventuellen persönlichen Gegenständen zu suchen. Wahrscheinlich ist etwas dahinten im Gebüsch gelandet“, sagte Anna und wies in die Richtung, in die die Uniformierten gingen.

„Sag mal, hat man irgendwo auf der Brücke ihre Schuhe gefunden?“

„Nein, wieso?“

„Weil sie keine anhat.“

„Komisch. Ich werde den Jungs noch sagen, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollen.“

„Da das hier kein Mord zu sein scheint, können wir wohl auch wieder fahren. Soll ich dich mitnehmen? Wie bist du überhaupt ohne Auto hergekommen?“

„Ich war schon im Präsidium, als der Anruf kam und  habe mich von einem Streifenwagen herfahren lassen.“

„Kluges Kind. Wo steckt eigentlich Peter?“

„Der meinte, da es sich augenscheinlich um einen Selbstmord handele, bräuchte nicht unbedingt die ganze Mordkommission hier aufzutauchen. Einer müsse ja die Stellung halten, falls etwas wirklich Wichtiges passieren sollte, und da er der dienstältere sei, sei es wohl meine Aufgabe, mir die Hände schmutzig zu machen. Komm, lass uns fahren und ihm erzählen, was er Schönes verpasst hat.“

Anna sagte noch schnell einem Uniformierten Bescheid, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollten, dann gingen sie. Als sie die Autos erreichten, konnten sie sehen, dass sich eine kleine Menschenmenge an der Absperrung versammelt hatte. Ein Beamter in Uniform hatte alle Mühe, sie zurückzuhalten. In der ersten Reihe stand ein hochgewachsener, schlanker Glatzkopf in den Vierzigern mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Notizblock in der Hand.

„Der schon wieder“, dachte Handerson. Wie gesagt, er hasste menschliche Aasgeier, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich am Unglück anderer zu weiden. Aber wenn er eines noch mehr hasste, dann waren es Reporter, die damit noch versuchten, Geld zu machen. Und Hans Schreiber vom Carlshavener Kurier war irgendwie immer da, wo es eine Leiche gab. Handerson hegte die dumpfe Vermutung, dass er heimlich den Polizeifunk abhörte, um sofort zur Stelle zu sein, wenn sich etwas Schlimmes ereignete. Anscheinend gab es im beschaulichen Carlshaven einen großen Markt für Nachrichten über Mord und Totschlag.

„Kommissar Handerson, können Sie schon etwas sagen?“

„Nein“, knurrte Handerson den Reporter an. „Und selbst wenn, würde ich es dir bestimmt nicht verraten. Mach, dass du weg kommst.“

„Soll ich das zitieren?“

„Arschloch.“

„Na, na, Herr Kommissar, wer wird denn gleich so ausfallend werden?“

Handerson überlegte ernsthaft, Schreiber eine reinzuhauen. Er hasste diesen Typen wie die Pest, aber Anna legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter.

„Kein Kommentar. Komm, Björn, wir gehen.“

Sie zogen die Schutzkleidung aus und stiegen ein. Handersons Wagen rollte langsam durch die sich vor ihm teilende Menge.

Kontuba, Mitte August 2013

Einer der Nachbarn hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Er war Gärtner in einem der besseren Viertel von Kontuba und hatte es irgendwie aufgeschnappt. Eine Agentur in der Stadt vermittelte Jobs nach Europa. Die Bezahlung dort sollte sehr gut sein. Sie fand das Angebot interessant, hatte sie doch eine kranke Mutter zu unterstützen. Der Vater war schon lange tot und viele ihrer Geschwister noch klein. Mit ihren achtzehn Jahren war sie die älteste. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester wollte mit, als sie ihr davon erzählte, doch wenn sie selber nach Europa ginge, dann müsste Maria zu Hause in Kontuba bleiben, um sich um die kranke Mutter und den Rest der Familie zu kümmern. Denn sie konnte nun einmal nicht gleichzeitig in Europa Geld verdienen und zu Hause in Afrika die Mutter pflegen. Also hatte sie es ihrer Schwester ausgeredet, sich ihre besten Sachen angezogen und war mit dem Bus zu dieser Agentur gefahren.

Nie hätte sie gedacht, dass man sie dort nehmen würde, aber es kam bekanntlich immer alles anders, als man denkt, und die Hoffnung starb zuletzt. Lange hatte sie nicht warten müssen. Eine freundliche Frau war auf sie zugekommen und hatte sie in ein Büro gebeten. Sie besaß glücklicherweise gute Referenzen, da sie in den letzten Jahren schon öfter als Dienstmädchen in den reicheren Vierteln von Kontuba gearbeitet hatte. Die Frau war beeindruckt und erklärte ihr, dass sie eine Stelle als Dienstmädchen für sie im amberländischen Carlshaven habe. Das Ehepaar für das sie arbeiten würde, käme auch aus Mabunte und wollte eine Haushaltshilfe aus der Heimat. Sie könnte schon in zwei Wochen anfangen. Die Kosten für den Flug übernähme die Agentur. Auch eine Unterkunft würde für sie organisiert werden.

Sie fühlte sich wie im siebenten Himmel. Nun gut, sie hätte lieber nach Deutschland oder England gewollt. Von Deutschland hatte sie schon viel gehört und Englisch sprach sie zumindest ein bisschen. Amberland sagte ihr so gar nichts, und sie kam sich ein wenig dumm vor, als sie die nette Frau von der Agentur fragte, wo es denn liege. Die musste doch denken, dass sie so ein ungebildetes Mädchen aus den Slums von Kontuba war, das nicht richtig lesen und schreiben konnte. Dabei war sie ein paar Jahre zur Schule gegangen, als ihr Vater noch lebte. Lesen und schreiben konnte sie. Aber eben nur mabuntisch und ein ganz klein wenig englisch. Die Frau von der Agentur blieb aber freundlich und machte nicht den Eindruck, als ob sie das Mädchen vor sich für dumm hielte. Sie holte einen Atlas heraus und zeigte ihr Amberland auf der Karte. Es lag an der Ostsee zwischen Deutschland und Polen. Ein sehr kleines Land, das wohl seinen Namen daher hatte, dass dort an den Stränden regelmäßig kleine Mengen Bernstein angespült wurden. Die nette Frau erklärte ihr, man spräche dort Deutsch, und viele Menschen, vor allem die jüngeren, sprächen auch Englisch. Das beruhigte sie etwas.

Sie fuhr mit dem Bus nach Hause, erzählte ihrer Familie und ihren Freunden im Township von ihrem Erfolg und machte sich sofort daran, ihre Koffer zu packen, auch wenn sie nicht viel besaß, das sie hätte hineinlegen können. In zwei Wochen würde sie gutes Geld im Ausland verdienen und ihre Familie unterstützen können. Vielleicht verdiente sie auch so viel, dass die Familie sich endlich ein besseres Zuhause leisten könnte.

Carlshaven, Polizeirevier, 08. September 2014

„Weidmann hat gerade angerufen“, begrüßte Sergeant Peter Müller seine Kollegen an diesem düsteren Morgen. „Er hat die Autopsie an unserer Unbekannten abgeschlossen. Der Bericht liegt bei ihm in der Gerichtsmedizin. Wenn wir ihn möglichst schnell haben wollen, sollen wir ihn bitte persönlich abholen.“

Handerson verdrehte die Augen. Wie überall war auch die Polizei von Amberland chronisch unterfinanziert. Auf Tatortbefunde musste man Wochen, wenn nicht sogar Monate oder Jahre warten. Mit den Autopsien sah es nicht besser aus. Zwar waren Mord und Totschlag in Carlshaven nicht gerade an der Tagesordnung, weshalb die Mordkommission so klein war, aber auch in der Gerichtsmedizin fehlte es an Geld und Personal, um Autopsien möglichst schnell durchführen zu können. Es war also keine Seltenheit, dass eine Leiche einmal zwei Wochen auf Eis lag, bis Weidmann die Zeit hatte, sich ihr zu widmen. Da Morton Weidmann es aber hasste, wenn man ihn drängelte – und das hatte Peter in den letzten Tagen zu Genüge getan, weil die Identität der Selbstmörderin immer noch nicht feststand – kam er dann auf so geniale Ideen, wie Berichte persönlich abholen zu lassen, um sich die Verzögerung durch den Postweg zu ersparen, schließlich brauchte ein Standardbrief laut der Amberländischen Post offiziell drei Tage, um zugestellt zu werden.

„Vielleicht solltest du dann ganz schnell hinfahren, damit du in der Zwischenzeit nicht noch mehr graue Haare bekommst“, stichelte Anna.

„Na, na, ich bin immer noch der dienstältere, also pass’ auf, was du sagst. Aber vielleicht sollte ich zur Abwechslung tatsächlich einmal in die Gerichtsmedizin fahren. Ich habe Weidmann schon länger nicht gesehen“, konterte Peter und erhob sich.

Mit Anfang vierzig war er zwar noch nicht allzu alt, die Natur hatte es aber nicht besonders gut mit ihm gemeint, weshalb ihm schon mit Anfang dreißig die ersten grauen Haare gesprossen waren. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass seine Kollegen ihn des Öfteren damit aufzogen. Er nahm es mit Humor. Was blieb ihm auch anderes übrig? Ändern konnte er daran eh nichts und sich die Haare zu färben, hätte nur noch mehr dumme Sprüche mit sich gebracht. Gelegentlich behauptete er spaßeshalber, dass es der Dienst in der Mordkommission sei, der für seine Haarfarbe gesorgt habe, denn entweder gäbe es gar keine Leichen oder der Fall gestalte sich als so schwierig, dass einem davon nur graue Haare wachsen oder die wenigen, die man habe, ausfallen könnten.

„Komm, Björn, lass uns fahren. Vielleicht schaffen wir es ja dann doch noch innerhalb der nächsten Tage, die Identität unserer großen Unbekannten zu lüften.“

~

Eine halbe Stunde später betraten die beiden Polizisten das Gebäude der Gerichtsmedizin. Es war in einer großen, weißen Villa aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert untergebracht und mit dem kleinen, grünen Park drumherum wirkte es ganz und gar nicht so, als ob dort drinnen Leichen lagerten und darauf warteten, von Weidmann und seinen Kollegen aufgeschnitten zu werden.

Handerson und Müller kannten sich in dem Gebäude gut aus und steuerten daher geradewegs auf das Büro des Gerichtsmediziners im Erdgeschoss zu. Björn hämmerte gegen die Tür, die im nächsten Moment von dem kleinen, dicklichen Weidmann aufgerissen wurde.

„Mann, schlag mir doch nicht gleich die Tür ein!“

„Wieso? Wecke ich sonst am Ende noch die Leichen im Keller?“

„Sehr lustig. Ich lache später. Willst du deine große Unbekannte sehen?“

„Nein, danke. Sag uns doch einfach, was du herausgefunden hast.“

„Setzen“, Weidmann zeigte auf die kleine Sitzgruppe in der Ecke seines geräumigen Büros. Peter ließ sich das nicht zwei Mal sagen und sank auf das kleine, rote Ledersofa. Handerson nahm daneben Platz. Der Gerichtsmediziner kramte noch einen Moment auf seinem Schreibtisch herum, bevor er die Akte fand, die er suchte und sich ihnen gegenüber in den Ledersessel setzte.

Er schlug die Akte auf und reichte den Polizisten zwei Fotos. Sie zeigten das Gesicht der Selbstmörderin mit den nun für immer geschlossenen Augen. Sie sah noch recht jung aus. Die Gesichtszüge wirkten schön und anmutig.

„Todesursache war eine Kopfverletzung, die vom Sturz auf die Schienen herrührte. Sie war vermutlich schon tot, als der Zug sie erfasste. Zudem hat sie heftige Verletzungen im Genitalbereich und auch etliche Hämatome an Armen und Beinen, die nicht von dem Aufprall mit dem Zug stammen. Sieht für mich nach einer recht brutalen Vergewaltigung aus.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wer weiß, vielleicht war es aber auch einvernehmlich und extra hart, so genau kann man das nie sagen, wenn die Leute nicht mehr reden können.“

„Sperma?“, fragte Peter.

„Ja, in der Vagina, auf den Schenkeln und auf der Brust“, antwortete Weidmann und fügte genervt hinzu: „Aber du weißt, wie lange so eine Analyse dauert. Also frage mich jetzt bitte nicht, von wem und ob wir das in einer Datenbank haben. Wenn du Glück hast, dann kann ich dir das nächstes Jahr sagen. Und bevor du mir jetzt die nächste Frage stellst: Hautpartikelreste habe ich unter ihren Fingernägeln keine gefunden.“

„Drogen?“, fragte Handerson.

„Ich habe Blut- und Haarproben ins Labor geschickt. Sie hatte noch Reste von Ketamin im Blut, das war aber schon fast wieder abgebaut. Sie muss es einige Stunden vor dem Sprung von der Brücke genommen oder eingeflößt bekommen haben. Als sie sprang, hatte die Wirkung auf jeden Fall schon stark nachgelassen. Das Betäubungsmittel könnte aber auch erklären, wieso ich keine Abwehrverletzungen gefunden habe, falls es doch nicht einvernehmlich gewesen sein sollte. Wenn sie betäubt war, konnte sie sich auch nicht richtig wehren. Das würde dann wiederum auf Vergewaltigung hindeuten. Na ja, das ist eure Aufgabe, das rauszufinden. Aber ich habe da noch etwas Seltsames gefunden.“ Er nahm die Akte wieder in die Hand.

„Hast du das Gefühl, dass sie die Drogen freiwillig genommen hat?“, fragte Handerson.

„Schwer zu sagen, aber ich habe weder Einstichstellen gesehen, noch sind ihre Nasenschleimhäute kaputt. Das spricht dafür, dass sie es oral zu sich genommen hat und das ist bei Ketamin eher ungewöhnlich. Sie hatte auch eine geringe Menge Restalkohol im Blut. Ketamin kann man Leuten auch ähnlich wie GHB ins Getränk mischen, sodass sie nichts davon mitbekommen.“

Weidmann blätterte noch einmal in der Akte und zog vier weitere Fotos hervor. Sie zeigten die rechte und linke Hand der jungen Frau.

„Was ist denn das da?“, fragte Peter.

„Das sind Hautschäden, die vermutlich durch Putzmittel verursacht wurden. Entweder hat unsere Unbekannte jeden Tag mehrere Stunden mit der Hand im Putzkübel verbracht oder das Zeug ist so schädlich, dass es alles wegätzt.“

„Sag mal, die sieht sehr jung aus. Kannst du sagen, wie alt die in etwa war?“, fragte Björn.

„So um die zwanzig, würde ich sagen. Aber nagele mich bloß nicht darauf fest.“

„Sonst noch etwas, das du uns sagen kannst?“

„Nein, nicht wirklich. Ich hoffe, ihr könnt damit etwas anfangen.“

„Na ja, viel weiter hat uns das jetzt nicht gebracht, schließlich wissen wir immer noch nicht, wer sie ist“, stellte Handerson fest.

„Hellsehen kostet extra und so langsam muss ich mal wieder an die Arbeit. Also raus mit euch.“

Damit erhob er sich und ging zur Tür, die er den beiden provokant aufhielt.

„Gastfreundlich wie immer, lieber Morton“, lächelte Handerson ihn an und verließ mit Peter im Schlepptau schleunigst das Büro des Gerichtsmediziners. Hinter ihnen fiel die Tür krachend ins Schloss.

„Sag mal, kommt mir das nur so vor oder war der froh, uns wieder los zu sein?“, fragte Peter.

„Ach, du kennst ihn doch. Wenn er keine schlechte Laune hat, dann ist er krank“, antwortete Björn achselzuckend. Die beiden verließen das Gebäude mit der Akte so zielstrebig, wie sie gekommen waren und machten sich wieder auf den Weg zurück ins Büro.

Carlshaven, Anfang September 2013

Sie war angekommen. Soweit hatte alles gut geklappt. Die nette Dame von der Agentur hatte das mit ihrem Pass geregelt und auch den Flug gebucht. Sie hatte mit dem Bus vom Township aus in die Stadt fahren und dort zu einem bestimmten Sammelpunkt kommen müssen. Da stieg sie mit mehreren Mädchen in einen anderen Bus um, der sie zum Flughafen brachte. Sie hatte sich mit den anderen unterhalten und dabei festgestellt, dass sie die einzige war, die nach Amberland kam. Ein bisschen traurig hatte sie das schon gemacht, dass sie nun so ganz alleine in ein fernes Land gehen musste. Aber als sie endlich als einzige in der Gruppe das Gate für den Flug nach Amberland passiert hatte, überkam sie die Abenteuerlust.

Der Flug dauerte mehrere Stunden und sie war sehr aufgeregt. Am Flughafen in Carlshaven sollte sie von einem Betreuer der Agentur namens Michel abgeholt werden. Dieser Michel sollte sie dann zu dem Ehepaar bringen, bei dem sie arbeiten und wohnen sollte. Dieses Arrangement war ihr ganz recht. So brauchte sie nicht noch extra Geld für eine Unterkunft auszugeben und konnte mehr von dem Geld, das sie verdienen würde, sparen, um es an ihre Familie in Kontuba zu schicken.

Es hatte alles auch exakt so funktioniert. Nachdem sie ihren Koffer abgeholt hatte, war sie ohne weitere Probleme zum Ausgang des Flughafens gelangt und dort wartete ein Mann mit einem Schild, auf dem ihr Name stand. Das musste wohl dieser Michel sein. Sie ging zu ihm hin und sagte, wer sie sei. Er fragte sie, ob sie sich ausweisen könne. Sie gab ihm den Pass. Er sah kurz hinein und steckte ihn dann in seine Hemdtasche. Bei ihm sei der Pass besser aufgehoben, erklärte er ihr. Er würde ihn in einem Schließfach deponieren, dann könne er nicht verloren gehen. Das klang für sie ganz logisch. Außerdem machte sie sich auch nicht wirklich viel aus dem Pass. So ein Dokument hatte sie vorher nie besessen und war auch nie danach gefragt worden. Also würde sie vermutlich auch jetzt nie einer danach fragen. Michel nahm ihr ihren Koffer ab und brachte sie zu einem Auto.

Die Autofahrt dauerte etwas über eine halbe Stunde. Carlshaven war so anders als Kontuba. So sauber und so schön. Sie hätte nie zu träumen gewagt, einmal in einer solch schönen Stadt leben zu dürfen. Dann hielten sie vor dem größten und schönsten Haus, das sie je gesehen hatte. Dieses Ehepaar, für das sie arbeiten sollte, musste wirklich sehr reich sein, dass sie sich eine solche Residenz leisten konnten. Michel öffnete ihr die Autotür und bat sie, ihm zu folgen.

Carlshaven, Polizeirevier, 10. September 2014

„Und? Was hat Weidmann gesagt?“, fragte Anna ihre Kollegen, die gerade von der Gerichtsmedizin zurückkehrten.

„Sie wurde möglicherweise brutal vergewaltigt. Dabei stand sie vermutlich auch unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln, aber als sie sich von der Brücke stürzte, muss die betäubende Wirkung kaum noch spürbar gewesen sein. Und Weidmann hat an ihren Händen Hautschäden festgestellt, die darauf hindeuten, dass sie entweder sehr viel oder mit sehr aggressiven Mitteln geputzt hat. Hier hast du den Bericht“, antwortete Handerson.

„Mh. Aber wirklich weiter sind wir jetzt immer noch nicht, oder? Hat er euch ein brauchbares Foto gegeben?“

„Ja“, antwortete Peter. „Aber bevor wir eine Fahndung einleiten, sollten wir noch einmal die Vermisstenmeldungen durchgehen, ob eine junge Frau um die zwanzig mit afrikanischen Wurzeln irgendwo als vermisst gemeldet ist.“

„Wie schön politisch korrekt du das formulierst“, stichelte Handerson. „‚Junge Frau mit afrikanischen Wurzeln‘.“

„Na, Afrikanerin kann ich ja wohl schlecht sagen. Wer weiß, vielleicht ist sie ja hier geboren. Denk doch mal daran, was die anhatte. Das waren richtig teure Sachen.“

„Ja, ja, hast ja recht.“

Anna rief die Vermisstendatenbank im Computer auf und gab die Daten ein.

„Nein, laut Datenbank ist keine junge Frau als vermisst gemeldet, auf die diese Beschreibung passt. Sehr schade, da werden wir wohl oder übel kreativ werden müssen, um die Identität unserer großen Unbekannten klären zu können.“

„Tja, dann werdet ihr mal kreativ“, meinte Peter. „Ich muss mit Hektor zum Training.“

„Das tut dir jetzt vermutlich auch gar nicht leid“, grummelte Handerson.

„In der Tat nicht. Ihr könnt mir ja dann morgen berichten, was ihr herausgefunden habt. Viel Spaß noch.“

Peter griff seine Jacke und die Autoschlüssel und ging. Eigentlich war es nicht üblich, dass ein Polizeibeamter in seiner Position einen Diensthund führte, aber es war immer sein großer Traum gewesen, einen Spürhund zu haben. Seine Frau war lange Zeit Rettungshundeführerin gewesen und es hatte ihn immer fasziniert, was die Tiere leisteten, aber ein Rettungshund kam für ihn nicht in Frage. Er hatte so lange auf die Revierleiterin eingeredet, bis sie nachgegeben hatte. Den Hund durfte er sich sogar selber aussuchen. Er hatte sich für einen Groenendael entschieden. Die tiefschwarzen belgischen Schäferhunde hatten es ihm schon lange angetan. Hektor war jetzt sechs Monate alt und musste noch viel lernen. Wenn Peter mit Handerson oder Anna unterwegs war, dann passte derzeit noch seine Frau auf das Tier auf. Helga arbeitete als Sekretärin bei der Polizei und hatte ihr Büro auf demselben Gang wie die Mordkommission. Peter fand dieses Arrangement äußerst praktisch. Er holte Hektor ab und verschwand danach mit ihm auf den Trainingsplatz, wo er, wie jeder gute Polizeihund, zunächst als Schutzhund ausgebildet wurde. Später sollte Hektor noch eine Ausbildung zum Leichenspürhund bekommen – was auch sonst, wenn Herrchen bei der Mordkommission arbeitete?

„Oh, da fällt mir ein, ich habe gleich noch ein Meeting mit den anderen Abteilungsleitern. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber vermutlich lange, da wir den Haushaltsplan für nächstes Jahr diskutieren müssen. Du wirst also alleine weiter machen müssen“, sagte Handerson und setzte einen Blick auf, von dem er dachte, dass er tiefstes Mitgefühl ausdrückte.

„Na, das war ja wieder mal klar…“

~

Eine Stunde später war Anna alleine im Büro. Sie war immer noch wenig begeistert davon, dass die Herren der Schöpfung sie mit der Arbeit einfach so alleine gelassen hatten. Nachdem Handerson gegangen war, hatte sie sich erst mal einen Kaffee und ein Stück Kuchen aus der Cafeteria geholt. Kaffee und Zucker halfen ihr immer beim Denken. Jetzt saß sie wieder am Computer. Auch eine nochmalige Datenbankabfrage hatte sie nicht weitergebracht. Sie hatte zur Sicherheit noch den Kollegen bei der Vermisstenstelle angerufen und gefragt, ob er vielleicht in der Zwischenzeit eine Meldung hereinbekommen habe. Aber auch das war nicht der Fall. Der Kollege dort war aber sehr hilfsbereit und versprach, sich umgehend bei ihr zu melden, wenn eine Meldung hereinkäme, die auf die unbekannte Tote passte.

Nun überlegte sie, was sie tun könnte. Sie schaute sich noch einmal die Fotos an und da kam ihr eine Idee. Grit von der IT-Abteilung hatte ihr neulich beim Mittagessen erzählt, dass sie ein Programm geschrieben hatte, das das Gesicht auf einem eingescannten Foto mit Fotos verglich, die es im Internet fand. Es hatte irgendetwas mit Suchmaschinen und Algorithmen zu tun. So richtig hatte Anna es nicht verstanden, zumal sie von solchen Dingen eh wenig Ahnung hatte. Grit hatte das Programm geschrieben, weil ihre Freundin wissen wollte, ob es irgendwo peinliche Partyfotos von ihr im Netz gab. Die üblichen Suchmaschinen halfen da nicht weiter, da sie nur Fotos ausspuckten, die irgendwie mit dem Namen der Person oder dem Ort verknüpft waren. Wer erinnerte sich schon an alle peinlichen Partys, auf denen er einmal war? Nun gut, um der Freundin zu helfen, hatte Grit also dieses Programm geschrieben und die Freundin hatte wohl tatsächlich Fotos von sich gefunden, die sie vorher über die Eingabe von Stichwörtern in die Suchmaschine nicht angezeigt bekommen hatte. Vielleicht war das ja die Lösung für Annas Problem. Die Unbekannte war jung und heutzutage waren doch alle irgendwo im Internet zu finden. Einen Versuch war es zumindest wert. Sie griff zum Telefon.

„Polizei Carlshaven, IT-Abteilung. Grit Seidler am Apparat.“

„Hallo, Grit, hier ist Anna. Sag mal, hast du noch dieses Programm, von dem du mir neulich erzählt hast?“

„Ja, wieso?“

„Na ja, ich habe hier so einen Fall und komme nicht weiter. Vielleicht hilft mir die Software ja herauszufinden, wer die Frau ist.“

„Ich habe gleich Dienstschluss, dann bringe ich es dir vorbei. Du bist doch im Büro, oder?“

„Ja, bin ich, bis gleich.“

Zwanzig Minuten später stand Grit mit einem USB-Stick in Annas Büro.

„Hier ist es drauf.“

„Und wie funktioniert das?“

„Ganz einfach. Zunächst musst du es erst mal auf dem Rechner installieren. Dann scannst du das Foto ein, stellst sicher, dass du mit dem Internet verbunden bist, und klickst auf „OK“. Den Rest macht das Programm von alleine. Es erkennt bestimmte Parameter im Gesicht einer Person und gleicht diese mit Fotos ab, die es im Internet findet. Wenn es etwas findet, zeigt es dir das Ergebnis in einem Fenster an. Da brauchst du dann nur noch auf das Bild klicken und gelangst so zu der Webseite, auf der das Bild drauf ist. Es dauert etwa eine Dreiviertelstunde, bis der Suchlauf beendet ist.“

Grit half Anna, die Software zu installieren und das Foto zu scannen. Zehn Minuten später tranken die beiden eine Tasse Kaffee, während das Programm vor sich hinarbeitete. Die beiden Frauen waren zusammen zur Schule gegangen und hatten auch da schon ähnliche Interessen gehabt, daher hatten sie sich immer viel zu erzählen und die Zeit verging schnell. Sie unterhielten sich gerade über einen Roman, den Grit vor Kurzem ausgelesen hatte, als der Computer ein deutlich hörbares „Ping“ ertönen ließ.

„So, da wollen wir doch einmal sehen, ob er etwas gefunden hat“, sagte Grit.

Sie gingen zum Computer hinüber. Tatsächlich. Das Programm zeigte einige Fotos von der unbekannten jungen Frau. Aber auf diesen lebte sie noch und lächelte winkend  in die Kamera. Anna klickte auf eines der Fotos. Sie landete in einem sozialen Netzwerk, von dem sie noch nie gehört hatte und auch die Sprache auf der Seite verstand sie nicht.

„Mh, sieht so aus, als käme deine Unbekannte irgendwo aus Afrika.“

„Ja, scheint so. Komisch. Die sah gar nicht so arm aus, wie hier auf dem Foto. Hast du irgendeine Ahnung, was das für eine Sprache ist?“

„Nee, aber vielleicht kann dir Kemi weiterhelfen.“

Eines Tages, als sie beide in der sechsten Klasse gewesen waren, kam die Schulleiterin herein und brachte ein dunkelhäutiges Mädchen mit. Kemi war damals gerade mit ihren Eltern als Flüchtling nach Amberland gekommen, weil in ihrem Heimatland Bürgerkrieg herrschte. Anna erinnerte sich noch gut daran, dass das fremde Mädchen damals die ersten Wochen in der Schule nur geweint hatte. Sie hatte Anna und Grit sehr leid getan und sie hatten ihr geholfen, wo es nur ging. Mit Händen und Füßen hatten sie sich verständigt, bis Kemi irgendwann genug Deutsch sprach, um sich auch einmal richtig mit ihnen unterhalten zu können. Kemi hatte ihnen damals erklärt, dass sie so viel geweint hatte, weil sie in diesem Land, das so ganz anders war als ihres, zur Schule gehen musste und nichts verstand. Dabei war sie früher immer so gut in der Schule gewesen. Sie war Anna und Grit sehr dankbar dafür, dass sie ihr so viel geholfen hatten und die drei waren bis heute gut miteinander befreundet und halfen sich, wo sie nur konnten.

„Dann fragen wir sie doch am besten gleich“, sagte Anna und druckte die Seite aus.

Carlshaven, Anfang Oktober 2013

So hatte sie sich das mit dem Job in Europa nicht vorgestellt. Sie war jetzt schon vier Wochen hier. Die Madame hatte ihr bislang nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Nur einmal hatte sie in den Garten gehen dürfen. Das aber auch nur, um das Unkraut zu jäten. Überhaupt arbeitete sie den ganzen Tag von morgens um fünf bis abends um elf. Pausen gab es nicht wirklich. Wenn sie sich einmal länger als ein paar Minuten irgendwo hinsetzte, um auszuruhen, schrie die Madame sie an. Sitzen durfte sie nur zu den offiziellen Essenszeiten, nachdem sie Madame und Monsieur bedient hatte, und essen durfte sie nur das, was von den Mahlzeiten übrigblieb. Geld hatte sie bislang auch noch keines gesehen.

Michel war einmal da gewesen. Als sie ihn darauf angesprochen hatte, hatte er ihr erklärt, dass das Geld, das sie verdiene, auf ein spezielles Konto eingezahlt werde. Sie bekäme demnächst Zugriff darauf. Aber sie müsste sich keine Sorgen machen. Er habe es so geregelt, dass ein Teil ihres Geldes direkt an ihre Familie in Mabunte ausgezahlt würde. Das beruhigte sie zumindest ein bisschen.

Gerne wäre sie einmal vor die Tür gegangen, um sich die Stadt anzusehen, aber das ging nicht. Andauernd musste sie arbeiten und die Madame war ständig in ihrer Nähe. Und die beiden großen Hunde, die das Haus bewachten, machten nicht den Eindruck, als ob sie sie gerne hinausließen.

Auch die Unterbringung war nicht das, was sie sich erhofft hatte. Das Zimmer im Haus, das man ihr versprochen hatte, hatte sich als karger Kellerraum entpuppt, in dem nur eine Matratze lag. Nachts schloss die Madame sie ein. „Zu deiner Sicherheit“, so hieß es. Angeblich hätte es hier schon Einbrüche gegeben und wenn die Einbrecher auf Frauen träfen, täten sie ihnen schlimme Dinge an. Hinter der Eisentür des Kellers sei sie sicher. Aber das glaubte sie der Madame nicht. Sie kannte sich mit den Gepflogenheiten dieses fremden Landes nicht aus, hatte aber langsam das Gefühl, dass sie betrogen worden war.

Carlshaven, Kemis Wohnung, 10. September 2014, 19 Uhr

Anna und Grit waren direkt vom Präsidium aus zu ihrer Freundin Kemi gefahren. Sie hatten Glück gehabt, denn Kemi war gerade vom Einkaufen gekommen, als Grit den Wagen parkte. Sie hatten zusammen gekocht und gegessen und nun saßen sie an dem runden Küchentisch in Kemis kleiner Wohnung am Stadtrand von Carlshaven.

„Mh, die Sprache kommt mir bekannt vor“, sagte Kemi.

„Wirklich?“, Anna schöpfte Hoffnung.

„Ja, ich glaube, das ist Mabuntisch.“

„Mabuntisch?“, fragte Grit

„Mabunte ist ein sehr armes Land in Westafrika. Oder besser gesagt, der größte Teil der Bevölkerung ist sehr arm und ein kleiner Teil ist sehr, sehr reich.“

„Aber verstehen kannst du das nicht, oder?“, fragte Anna.

„Leider nein. Aber ich habe neulich jemanden kennen gelernt, der aus Mabunte kommt. Ich kann dir die Adresse geben, wenn du magst.“

„Das wäre super. Ich will jetzt langsam wirklich wissen, wer diese Frau ist und was sie hier in Carlshaven gemacht hat. Irgendeinen Grund muss sie ja schließlich gehabt haben, um von Mabunte aus nach hier zu kommen,“ erwiderte Anna.

„Vermutlich hat sie Arbeit gesucht“, sagte Kemi, die emsig in einer Schublade kramte. „Ah, hier ist die Telefonnummer von meinem Bekannten. Er heißt David. Sag ihm, dass du eine Freundin von mir bist. Aber um auf die Frage zurückzukommen, wieso sie hier in Carlshaven war, also, wie gesagt, die meisten Menschen in Mabunte sind sehr arm. Viele träumen von einem besseren Leben im Ausland. Sie möchten hier arbeiten und ihre Familien in Mabunte mit dem Geld unterstützen, das sie hier verdienen. David erzählte mir neulich, dass es Menschenhändler gibt, die arme, naive Mädchen aus den Slums anwerben. Sie machen ihnen weis, dass sie nach Europa kommen und da als Dienstmädchen arbeiten dürfen. David kann dir da aber sicher mehr zu erzählen, da er bei Amnesty International arbeitet.“

„Amnesty?“, fragte Grit. „Ist das nicht so eine Menschenrechtsorganisation?“.

„Ja, und zwar die größte weltweit“, antwortete Kemi.

Carlshaven, Polizeirevier, 11. September 2014

„Einen wunderschönen guten Morgen“, sagte Peter, der Hektor ins Büro folgte. Der junge Hund lief sofort zu Anna und ließ sich von ihr durchknuddeln.

„Und, hast du etwas herausgefunden?“

„Klar, im Gegensatz zu euch war ich fleißig. Aber ich warte jetzt, bis Björn kommt, sonst muss ich alles doppelt erzählen.“

Im nächsten Augenblick ging die Bürotür auf und Handerson trat ein.

„Wenn man vom Teufel spricht…“, sagte Peter.

„Was heißt hier ‚Teufel‘? Der einzige Teufel, der hier rumrennt, ist das Mistvieh hier. Wieso ist der eigentlich immer so wild darauf, mich zu begrüßen?“, schnaubte Handerson, während er versuchte, den ungestüm an ihm hochspringenden Hektor abzuwehren.

„Wahrscheinlich riecht der deine beiden Katzen. Die sind für so einen pfiffigen Suchhund in Ausbildung wie Hektor total spannend. Riechen ist schließlich seine größte Leidenschaft.“

Handerson schob den übermütigen, jungen Hund mit dem Fuß zur Seite und bahnte sich einen Weg zu seinem Schreibtisch.

„So, jetzt ist Björn da. Du kannst also erzählen, was du weißt.“

„Du hast etwas herausgefunden?“, fragte Handerson verwundert.

„Ja, denn im Gegensatz zu euch war ich gestern sehr kreativ und sehr fleißig.“

„Was du nicht sagst. Also, dann erleuchte uns mal: wer war die Tote?“, fragte Björn.

„Also, das kann ich euch nicht sagen. Noch nicht.“

„Was meinst du mit ‚noch nicht‘? Was hast du denn nun herausgefunden?“, fragte Peter.

„Grit hat ein Programm geschrieben, mit dem man nach Fotos von Personen im Internet suchen kann. Wir haben das Foto, das Weidmann und seine Kollegen gemacht haben, einge