Kommissar Ludwig - Matthias Emde - E-Book

Kommissar Ludwig E-Book

Matthias Emde

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Beschreibung

Kommissar Ludwig ist meistens genervt - Geduld ist für ihn ein Fremdwort. Wegen seines Aussehens und seiner gelegentlichen cholerischen Anfälle wird er gerne "Mister L" genannt. Warum, ist ihm allerdings ein Rätsel, da er nie Comics gelesen hat. Bei seinen Fällen in und um Frankfurt haben er und sein Team viel zu tun: Wer erschoss den Mann im Westend? Wie kommt ein Toter in den Erlenbach? Wer vergiftet harmlose Bürger - oder sind sie vielleicht gar nicht so harmlos? Das und noch vieles mehr gibt es zu ermitteln. Eine Kriminalgeschichte für Freunde von Frankfurter Lokalkolorit und Wortspielen mit nerdigem Humor - warum wohl heißen zwei Star-Wars-Fans "Kai Loren" und "Anna Kiehn"?

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Der Fall im Westend

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Mr. Poison

Donnerstag

Montag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Montag

Freaky Fuckin' Funky Four

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Mr. Poison kommt zurück

Dienstag

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Montag

Zwei Wochen später

Die Katze

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Montag

Später

Epilog

Über den Autor

Danke!

Der Fall im Westend

Mit einem tiefen Surren fährt die U-Bahn der Linie U7 an der Hauptwache ab. Die Bahn ist mäßig gefüllt, es ist kein Problem, einen Sitzplatz zu bekommen. An den Haltestangen hängen, wie so oft, bunte Werbeflyer, die im Takt der Bahn hin und her wackeln. Ein Handy klingelt, jemand beginnt, leise zu reden. Auf dem grauen Boden zwischen den Sitzreihen hat jemand ein Bier verschüttet, das sich jetzt in organisch aussehenden Mustern wie ein Wurzelgeflecht verteilt.

Max Faller hat einen Sitzplatz in Fahrtrichtung in einer Vierergruppe erspäht, zu dem er jetzt geht. Er will gerade einen Schritt machen, als er mit seinen teuren, italienischen Lederschuhen an dem Bier kleben bleibt. Es gibt ein schmatzendes Geräusch, als er weitergeht. Widerlich! So etwas ekelt ihn einfach nur an. Er schnuppert. Der Geruch des Bieres vermischt sich mit dem olfaktorischen Potpourri aus Kokos-Shampoo, Parfum, Pommes, länger nicht gewaschen und dem Duft von neu bezogenen Sitzpolstern. Zum ersten Mal seit langem wünscht sich Faller eine FFP2-Maske zurück.

Aber bald schon muss er das nicht mehr ertragen. Noch zwei, drei Besuche bei seinem Kunden, dann hat er genug, dann kann er von hier verschwinden. Das wird diesem vornehmen Herrn zwar gar nicht gefallen, ganz bestimmt sogar, aber es hat ihm ja auch nicht gefallen, dass er, Max Faller, jetzt mehr für seine Dienste verlangt. Gezahlt hat er trotzdem. Dieser Banker hat schon zig Millionen mit ihm verdient, und jetzt kann er, derjenige, der das alles überhaupt möglich macht, auch mal das große Stück vom Kuchen abbekommen. Das ist nun mal die freie Marktwirtschaft, Angebot und Nachfrage. Und der Banker bekommt etwas für sein Geld, etwas Wertvolles. Informationen! Wissen ist Macht, aber vor allem ist Wissen Geld. Ganz besonders hier, in dieser Stadt, in Frankfurt „Bankfurt“ am Main.

Faller verzieht die Mundwinkel zu einem süffisanten Lächeln. Wohl etwas zu sehr, denn die junge Frau, die ihm schräg gegenübersitzt, schaut ihn an, als hätte er einen Karnevalshut auf. Sofort setzt er wieder die in der Frankfurter U-Bahn gebräuchliche, unbeteiligte Mimik auf und guckt aus dem Fenster. Der Zug fährt gerade in die Station „Westend“ ein und die Dunkelheit des Tunnels weicht einem diffusen Licht, als die blauen Wände der Station am Fenster vorbeiziehen. Hier muss er aussteigen. Er erhebt sich, hält seinen Aktenkoffer wie ein rohes Ei ein wenig hoch und huscht durch die Wagentür, durch die sich bereits einige Menschen nach innen drängeln. Dabei achtet er penibel darauf, nicht nochmal in die Bierlache zu treten.

Seit über sieben Jahren schon versorgt er seinen Kunden mit Insiderinformationen, die dieser im Wertpapiergeschäft in bare Münze umwandelt. Es ist mittlerweile Routine geworden, und die anfänglichen Skrupel oder die Angst, von seinem Arbeitgeber oder gar den Ordnungshütern erwischt zu werden, belasten schon lange nicht mehr sein Gewissen. Dass er überhaupt etwas Illegales oder Strafbares tut, daran denkt er eigentlich so gut wie gar nicht mehr. Machen doch alle so! Der Ehrliche ist der Dumme! Es gehört sozusagen zu seinem Tagesgeschäft, und er hat die nötige Vorsicht so verinnerlicht, dass es bisher – seiner Meinung nach – noch nicht einmal den Hauch eines Verdachtes gegen ihn geben könnte.

Faller schaut auf seine filigrane, goldene Uhr. Er ist über zwanzig Minuten zu früh dran. Aber das ist schon in Ordnung. Er kann warten, und man wird ihm sicher, wie immer, einen leckeren Cappuccino mit zwei, drei Cantuccini bringen, um ihm die Wartezeit zu versüßen.

Mit leichtem, federndem Gang kommt er zum Aufgang, der zur Straße führt. Er begibt sich mit einem etwas zu großen Schritt auf die wummernde Rolltreppe und hält sich am Laufband fest. Angewidert verzieht er die Mundwinkel. Der Handlauf ist auch klebrig. Heute klebt wohl alles! Sommerzeit ist Klebezeit. Er steckt seine Hand in seine Hosentasche und versucht, sie an der Innenseite seiner Anzughose abzuwischen. Taschentücher hat er heute keine dabei. Mist! Dann fällt sein Blick auf die vielen Kritzeleien auf dem Metall an den Flanken der Rolltreppe. Auch das noch. Dreck! Vandalismus! Wie er das hasst. Aber das muss er nicht mehr lange sehen. Wie gut! Er schaut wieder geradeaus, nach oben. Von irgendwo her blitzt es direkt in den U-Bahn-Aufgang, er wird geblendet und kneift die Augen zusammen.

„Julisonne“, denkt er sich.

Im selben Moment fängt der Presslufthammer einer Baustelle an zu dröhnen, ein großer Abbruchhammer, der auf einer Baggerspitze montiert ist. Faller zieht die Stirn in Falten. Dieser elende Krach! Wie ein zehn Meter großes Maschinengewehr. Aber bald wird er irgendwo in einem ruhigen Haus auf dem Land sitzen, ohne Baustellen, Dreck, Lärm und Graffitis! Bald! Er lächelt.

Max Faller merkt nicht mehr, wie er rücklings die Rolltreppe hinunterfällt, zwei weitere Passanten niederreißt und mit dem Kopf hart auf den metallenen Stufen aufschlägt.

Die Rolltreppe transportiert seinen leblosen, verrenkten Körper mitsamt dem Aktenkoffer bis an das obere Ende, wo er durch die sich weiterhin bewegende Rolltreppe mit einem rhythmischen Wackeln liegen bleibt. Solange, bis jemand den Nothalteknopf drückt.

Donnerstag

„Na, das war ja mal wieder aufregend. So 'ne Kikifatz-Scheiße!“

Lukas Anlack zog laut seine Nase hoch und hob verächtlich den linken Mundwinkel. Dann beugte er sich mit einem Schnauben vor und startete den Wagen. Er und seine Kollegin Lisa Reincke hatten gerade einen Auffahrunfall mit leichtem Blechschaden aufgenommen – Routineeinsatz. Anlack war erst seit kurzem im Dienst, ein „Newbie“, wie seine Kollegin ihn gerne nannte, aber er tat so, als würde er schon alles kennen und wissen – und er machte bei jeder Gelegenheit deutlich, dass er nicht sein Leben lang im „niederen Dienst“ bleiben wollte.

Reincke kommentierte den Satz des Kollegen nicht, lächelte stattdessen grimmig-wissend und widmete ihren Blick weiterhin der Straße vor sich. Sie war schon seit vier Jahren im Polizeidienst auf der Straße. „Der wird sich noch irgendwann freuen, wenn es nur Blechschäden sind“, dachte sie. Sie fand das zwar auch langweilig und oft etwas nervend, wenn die Leute sich wegen solcher Bagatellen aufführten, als ginge es ums Leben, aber immer noch besser als zu irgendwelchen Messerstechereien oder Familientragödien gerufen zu werden. Sie hatte schon viel erlebt und wusste genau, wie der Alltag in den Familien weiter ging, wenn die Polizei wieder weg war. Diese Ohnmacht machte sie oft wütend und traurig.

Das Funkgerät meldete sich.: „... im ,Wiesenau’ wurde ein eingeschlagenes Fenster gemeldet. Sieht nach Einbruch aus. Ihr seid doch noch ganz in der Nähe. Fahrt bitte mal schnell vorbei.“

„In Ordnung, wir sind schon so gut wie da. Ende.“

„Na, da hast du doch deine Action, Newbie“, spöttelte Reincke.

„Mein Name ist Lukas, verdammt!“, entgegnete Anlack beleidigt, als er rasant von der Bockenheimer Landstraße in die Freiherr-vom-Stein-Straße einbog.

Sie kamen vor dem gemeldeten Haus an.

„Halt da mal!“

Von der Vorderseite war nichts zu sehen. Sie stiegen aus und schauten sich den Eingangsbereich und den Vorgarten an. Nichts. Das Gebäude war ein mehrstöckiges Eckhaus, nach links ging ein kleiner, mit Steinplatten belegter Weg um das Haus herum. Als die beiden um die Ecke gingen, sahen sie bereits die eingeschlagene Scheibe im Erdgeschoss am hinteren Hausende. Leise, schleifende Geräusche waren zu hören. Lisa Reincke wollte gerade zu dem Fenster gehen, als plötzlich ein schlaksiger Mann, bekleidet mit einem schwarzen Hoody, in einer schnellen Bewegung aus dem eingeschlagenen Fenster kletterte.

„Halt, Polizei!“, rief Anlack.

Der Mann drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. Er war ziemlich groß, mit langen, dünnen Armen. Schneller, als Anlack und Reincke es ihm zugetraut hätten, warf er die Brechstange, die er bis eben in der Hand hielt, ungeschickt in Richtung der beiden Polizisten, griff dann in die Tasche seines Hoodys und zog eine Pistole hervor. Er richtete sie auf Anlack und begann nervös zu reden.

„D... du bleibst jetzt stehen, hör... hörst du! Ich ... gehe jetzt weg. Du ... bleibst ...“

Die Augen des Einbrechers flackerten, er zitterte. Dann feuerte er mit der Waffe vor Anlack in den Boden, drehte sich schnell um und lief mit langen, schnellen Schritten in den Garagenhof hinter dem Haus, die Waffe immer noch in der Hand. Eine große Umhängetasche, die er über der Schulter hatte, rutschte ab und landete auf dem Boden.

„Halt!“

Anlack schrie noch einmal, diesmal deutlich lauter. Doch der Mann rannte weiter. Anlack zog jetzt auch seine Waffe und feuerte einen Warnschuss in die Luft. Doch anstatt stehenzubleiben, rannte der Einbrecher erst recht wie vom Teufel gejagt, machte einen Hechtsprung auf eine Mauereinfassung und war mit einem Satz auf dem flachen Garagendach des Hinterhofes. Anlack sprintete hinterher. Leider fehlten ihm an dem Mauervorsprung die entscheidenden Zentimeter an Körperlänge, um ebenso schnell auf das Dach zu kommen. Stattdessen rutschte er von dem Mäuerchen seitlich ab und schlug der Länge nach hin. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sein Knie. Reincke war jetzt neben ihm, sah, dass er wieder aufstand und setzte die Verfolgung fort. Sie stieg auf die Garage – doch von dem Flüchtigen fehlte jede Spur.

Mit einer Kopfbewegung gab sie Anlack zu verstehen, dass sie raus auf die Straße laufen würde, um den Einbrecher dort abzupassen. Ihr Kollege war wieder auf den Beinen, nickte ihr kurz zu und war im selben Moment mit einem Hechtsprung über den Mauervorsprung auf dem Garagendach. Nichts. Keine Menschenseele. Reincke war jetzt in der Querstraße angekommen, doch sie konnte ebenfalls nichts sehen. Sie suchten die Nachbarhöfe und Gärten ab, gingen auf die Straße, schauten in alle Richtungen. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt.

„Verdammt. Der kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Komm, wir fragen die Leute da vorne.“

An der Ecke zur Eppsteiner Straße war ein Spielplatz, von dem vergnügte Stimmen spielender Kinder zu hören waren. Überrascht hoben die sich unterhaltenden Eltern den Kopf, als die beiden Beamten den Spielplatz betraten. Einige der Kinder – genauer gesagt die meisten Jungs – kamen sofort neugierig angelaufen.

„Haben Sie eben einen jungen Mann gesehen, der hier vorbeigerannt ist? Groß, schlank, schwarzer Kapuzenpulli ...“

„Nein, ich hab‘ hier niemanden gesehen. Schon gar nicht rennen. Du?“

„Nein.“

Anlack verzog wieder verächtlich das Gesicht. Das war ohnehin einer seiner häufigsten Gesichtsausdrücke. Ein Junge von vielleicht fünf Jahren schaute ihn mit leuchtenden Augen an und starrte dann auf die Pistole, die Anlack immer noch in der Hand hielt. „Peng, Peng“, machte der Junge. Seine Mutter lief rot an und tadelte ihren Sohn, und Reincke warf ihrem Kollegen einen fassungslos-vorwurfsvollen Blick zu. Anlack machte eine Grimasse und steckte die Waffe zurück ins Holster. Dann machten sie sich auf den Weg zurück zum Haus.

„Fuck! So eine Scheiße!“, fluchte Anlack, als sie gerade ein paar Meter gegangen waren, und hieb mit der Faust an einen Laternenpfahl. Eine der Mütter hielt schnell ihrem Jungen die Ohren zu. Das Kind grinste breit.

„Das gibt“s doch einfach nicht. Und jetzt ist der über alle Berge. Keine hundert Meter weit ist die Bockenheimer, der kann schon sonst wo sein. Mist, verdammter!“

Lisa Reincke verdrehte die Augen. „Tja, so ist es halt nun mal. Was macht denn dein Knie?“

Ihr war aufgefallen, dass ihr Kollege immer noch leicht humpelte. Er sagte nichts und gab nur ein unwilliges Schnauben von sich.

„Was war das denn eben eigentlich mit deiner Pistole? Vor den Kindern damit in der Hand rumzufuchteln? Hättest du die nicht wieder einstecken können?“

„Hey Schwester, der Kerl hat mich vorher mit einer Waffe bedroht, das hast du hoffentlich bemerkt, oder? Ich bin nicht so blöd, verstehst du! Der hätte ja jeden Moment um die Ecke kommen können!“

„Um, bitte schön, was zu tun? Dich abknallen?“

Anlack erwiderte nichts, denn er wusste, dass sein Verhalten nicht korrekt gewesen war. Während sie zurück zu der Stelle gingen, an der sie den Einbrecher auf frischer Tat ertappt hatten, schwieg Anlack und spürte ein äußerst unangenehmes Gefühl seine Speiseröhre hinaufkriechen. Seine Hitzköpfigkeit und Unbedachtheit hatten seinem Ehrgeiz schon oft im Weg gestanden.

An dem Fenster angekommen, sicherten sie den Tatort so gut es ging. Die Spurensicherung hatten sie bereits angefordert. Reinckes Blick fiel auf die schmuddelige, olivgrüne Stoffreisetasche, die der Einbrecher bei seiner Flucht verloren hatte. Sie war an einer Seite offen, sodass die Polizistin ein wenig des Inhaltes sehen konnten, ohne ihn zu berühren.

„Na, das ist doch schon mal was. Sein Werkzeug und seine Beute sind noch hier.“

Sie schaute vorsichtig tiefer in die Tasche. Dann hob sie ihre Augenbrauen.

„Schau mal.“

Anlack gab einen Pfiff von sich.

„Na, sieh mal einer an! Da frage ich mich doch, ob wir hier wirklich nur einen Einbrecher erwischt haben.“

„In der Tat! Wobei: ,Erwischt‘ ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck.“

Anlack verzog wieder verächtlich die Mundwinkel und ging zum Auto. Das Funkgerät knackte: „... gleich bei euch in der Nähe. Ein Toter am U-Bahn-Ausgang. Könnt ihr da vorbeifahren?“

„Das ist schlecht, wir müssen hier noch den Tatort sichern.“

Anlack biss sich auf die Unterlippe und ballte die Faust. Mist, jetzt war mal was los, ein richtiger Toter, und er musste hier auf die verdammte SpuSi warten.

Lars Burg zitterte am ganzen Körper. Es war dunkel und stank bestialisch, ihm taten die Knie weh von der unbequemen Haltung. Außerdem war es heiß, stickig heiß. Doch das war alles nicht so wichtig. Wo waren die beiden Bullen so plötzlich hergekommen? Das hätte alles safe sein sollen. Dass er entkommen war – reines Glück. Verdammtes reines Glück! Er musste jetzt hier ausharren. Warten. Wer weiß, vielleicht standen die noch ganz in der Nähe rum, oder ein ganzes Rudel war im Anmarsch. War etwas zu hören? Nein, wohl nicht. Oder doch? Konnte er einen Blick riskieren? Aber das würde nur verdächtigen Lärm machen. Nein, er musste hier warten. Wenn es sein musste, Stunden. Und hoffen, dass sein Glück ihn jetzt nicht verließ. Glück! Er verzog sein Gesicht zu einem zynisch-bitteren Grinsen.

Kriminalhauptkommissar Bernd Ludwig stieg mit grimmigem Gesicht aus dem Wagen.

„Wo haben Sie eigentlich Ihren Führerschein gemacht? In Offenbach?“

Michael Handke, Kriminalkommissar, wurde von Ludwig als dessen persönlicher Assistent betrachtet – sehr zu Handkes Leidwesen. Halb schuldbewusst, halb pikiert schaute er seinen Chef an, erwiderte jedoch nichts und schloss die Fahrertür. „Ich bin Offenbacher“, nuschelte er mehr zu sich selbst, doch Ludwig war ohnehin schon mit großen Schritten davon gestürmt und beachtete ihn nicht mehr. Die beiden gingen zu der abgesperrten Stelle. Der Notarzt war noch da und kniete neben der Leiche. Ludwig beugte sich zu dem Arzt hinunter.

„KHK Ludwig. Wie sieht’s aus?“

„Dr. Heddeck, guten Tag. Nun, schwere Schädelverletzung an der rechten Seite, die vermutlich zum Tode geführt hat. Sieht nicht so aus, als ob die Verletzung von dem Sturz herrührt. Sehr wahrscheinlich könnte es sich um eine Schussverletzung handeln. Das kann aber erst eine Obduktion genau klären.“

Ludwig richtete sich wieder auf und wandte sich an die umstehenden Passanten.

„Hat jemand von Ihnen gesehen, was hier passiert ist?“

„Ja, er ist auf der Rolltreppe einfach auf uns drauf gefallen.“

Die Frau deutete dabei auf sich und einen Mann an ihrer Seite. Sie hatte eine Schramme am Ellbogen, der Mann blutete etwas an der Nase. Er zitterte ein wenig.

„Es war ganz komisch. Er stand vor uns auf der Rolltreppe, und plötzlich, als er oben angekommen war, wurde sein Kopf heftig zur Seite gerissen. Er fiel genau auf uns drauf, und wir sind beide mit ihm zusammen die Treppe runtergefallen. Er wurde von der Rolltreppe nach oben getragen und blieb dort liegen. Ich habe mich dann schnell aufgerappelt und den Nothalteknopf gedrückt.“

„Haben Sie irgendetwas gehört? Einen Schuss oder so was?“

Die beiden sahen sich kurz fragend an.

„Nein. Aber es war ziemlich laut von der Straße. Da ist mal wieder eine Baustelle.“

Ludwig schwieg und reckte das Kinn. Dann ließ er seinen Blick schweifen, musterte die Gegend ganz genau. Ein Räuspern von Handke erinnerte ihn daran, dass er die Befragung noch gar nicht für beendet erklärt hatte und die beiden Zeugen erwartungsvoll wie zwei Hundewelpen auf Ludwig starrten.

„Gut. Geben Sie meinem Kollegen Ihre Personalien.“

„Das haben wir schon.“

„Umso besser.“

In diesem Moment kam ein Beamter auf Ludwig zu.

„Herr Ludwig, das dürfte Sie interessieren. Genau hier, genauer eine Straße weiter, sind zwei Kollegen, die haben einen vermeintlichen Einbrecher verfolgt.“

„Und was hat ein Einbruch bitte schön hiermit zu tun, häh? Belästigen Sie bitte jemand anderes!“

Der Beamte blieb cool. „Ich belästige aber Sie. Der Einbrecher hat seine Tasche mit dem Werkzeug und der Beute liegen gelassen. Bei der Flucht hat er eine Waffe gezogen und geschossen.“

Ludwig hob die Augenbrauen.

„Gut, die SpuSi ist ja hier beschäftigt. Handke, Zackzack, wir fahren eine Straße weiter. Das werden Sie hoffentlich unfallfrei hinkriegen.“

Diesmal würde Herr Schlemann ihn erwischen. Dieser Umweltsünder, der immer seinen Restmüll in die gelbe Tonne warf. Heute Morgen um fünf Uhr war alles in Ordnung gewesen, er hatte extra bei seiner Morgenrunde mit Prinz Fiffi nachgeschaut. Und vorhin, so gegen neun Uhr, war auch noch alles tiptop, alles, wie es sein sollte.

Da! Eben ging dieser Hippieschlacks aus dieser WG zur Tonne. Der ist das bestimmt immer! Wie der schon aussieht! Lange Haare!

Schiemann, der selbsterklärte Hauswart, stand im Schatten des Hauseingangs und schielte um die Ecke. Da kam er. „Student“, dachte er verächtlich. In seiner Hand hielt der Mann den Mülleimer. Restmüll, da war sich Schlemann sicher, er konnte es förmlich fühlen. Jetzt öffnete der Student die Metalltür des Mülltonnenunterstandes. Ein lautes, metallisches Quietschen war zu hören. Haha! Hinter dieser Tür war die gelbe Tonne für Plastikmüll. Jetzt war er fällig.

„Hey, Moment mal!“, rief der Mieter, als ein großer, dünner Mann mit schwarzem Hoody aus dem Mülltonnenunterstand sprang, ihn hart zur Seite warf und mit schnellen Schritten panisch davoneilte. Herr Schlemann machte große Augen und schaute dem jetzt auf der Straße verschwindenden Mann hinterher. Der junge Mann mit dem Müll rieb sich mit Leidensmiene den Arm und stand umständlich wieder auf.

„Haben Sie das gesehen? Was war das denn? Übernachten die Penner jetzt schon in unseren Müllkästen?“

Schlemann erwiderte nichts, schaute nur ratlos und betrachtete den Müll aus dem Eimer des Mieters, der jetzt vor der gelben Tonne verteilt war. Es war ausschließlich Recyclingmaterial. Enttäuscht hob er die Augenbrauen und zog wie ein kleiner Junge die Mundwinkel nach unten.

Lars Burg schaute sich um und versuchte, nicht zu schnell zu gehen. Endlich war er raus aus diesem stinkenden, unbequemen Versteck. Ihm taten noch die Beine weh von der eingekeilten Haltung, in der er viel zu lange hatte ausharren müssen. Aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn er heimlich zu einem späteren Zeitpunkt hätte gehen können. Ob die beiden ihn so gut gesehen hatten, dass sie ihn beschreiben konnten? Hatte er irgendwas angefasst an der Mülltonne? Er redete leise mit sich selbst. Da bemerkte er, dass er immer noch seine Handschuhe anhatte. Er zog sie aus und warf sie in einen öffentlichen Mülleimer.

„Ich sitze nicht schon wieder ein! Scheiße! Es hätte so gut laufen können. Ich hatte ja schon alles erledigt. Wenn diese beiden Bullen nur zwei Minuten später gekommen wären, dann wäre ich weg gewesen. Verschwunden. Und reich! Mist, verkackter!“

Er dachte an die zurückgelassene Tasche. Ein Stich ging ihm dabei durch die Magengrube. Alles futsch. Mist, Mist, Mist!

Die Pistole! Die Pistole, die er noch in seiner ausgebeulten Hoody-Tasche hatte. Sollte er sie behalten? Lieber nicht. Er musste sie irgendwo loswerden. Und jetzt hatte er auch noch seine Handschuhe weggeworfen. Wie dumm und voreilig. Fingerabdrücke auf der Knarre wären ja wohl das Allerletzte. Mist! Doppelmist!

Sein Weg hatte ihn zum Grüneburgweg geführt. Er ging jetzt genau auf den Eingang des Palmengartens in der Siesmayerstraße zu, vor dem sich eine Schulklasse lautstark tummelte, übertönt von einer sie resolut einhegenden Lehrerin. Er beachtete sie kaum und wandte sich nach rechts zum Grüneburgpark, der hier seinen südlichsten Ausläufer hatte. Noch einmal schaute er sich um, dann bog er in die Grünanlage ein. Er ging eine Weile. Langsam entspannte er sich ein wenig, das Zittern ließ nach. Es war kaum etwas los heute im Park, nur hier und da ein paar Leute und Hunde. Hier konnte er die Waffe loswerden. Merkwürdig eigentlich, so wenige Menschen. Das Wetter war doch so schön und sonnig. Aber vielleicht war es hier ja immer so, denn eigentlich war er nie in irgendwelchen Parks. Höchstens mal auf dem Hauptfriedhof zum Kiffen, aber auch nur nachts, wozu er am Haupteingang übers Mäuerchen kletterte. Er war jetzt knapp zehn Minuten gelaufen, mal hierhin, mal dorthin, aber tendenziell Richtung Norden. Die nahegelegene A66 war bereits deutlich zu hören, als er in einem Bereich des Parks ankam, in dem die Bäume am linken Rand des Weges etwas enger standen. Auch üppigen Bewuchs in Form kleiner Sträucher gab es, alles recht dicht. Ein Blick links, ein Blick rechts – niemand in der Nähe. Nur zwei dampfende Jogger, aber die liefen von ihm weg. Gut so. Schnell war er im dichten Gebüsch verschwunden und runter auf die Knie. Der Boden war kühl, feucht und weich. Es roch wie im Wald, aber auch die nahe Straße konnte er mit der Nase noch wahrnehmen. Seine Finger bohrten sich unter einem Gebüsch in den Boden. Mit bloßen Händen grub er ein kleines Loch, und als die Kuhle etwa zehn Zentimeter tief war, drückte er die Waffe tief hinein und bedeckte sie wieder mit Erde. Dann legte er noch etwas von dem vertrockneten Laub, das reichlich unter dem Gebüsch lag, darüber. „Perfekt, das findet keiner.“ Er seufzte. Schade um die Wumme, aber die war eindeutig zu heiß. Es war immerhin die, mit der er geschossen hatte.

Vorsichtig schaute er sich wieder um. Immer noch keiner in der Nähe. Weitab das nächste Joggerpärchen, und ganz weit hinten eine Frau mit einem Kinderwagen. Gut! Die würden sowieso höchstens nur denken, dass er ins Gebüsch gestrullert hatte und ihn deswegen vorwurfsvoll anschauen. Oder sie würden gar nichts denken und einfach durch ihn durchgucken. Was soll’s. Seine schmutzigen Hände wischte er an seiner Jeans ab, die sowieso von seiner Flucht und dem Kauern in der Mülltonnenumfassung reichlich mitgenommen aussah, und steckte dann seine Hände in die weiten Taschen seines Hoodys.

Der Weg machte jetzt einen großen Bogen Richtung Nordosten, dann war der Park zu Ende und er kam an die Miquelallee. Die ging er entlang, den Uni-Campus zu seiner Rechten, bis zur Eschersheimer Landstraße. Nach einigen Minuten strammen Gehens hatte er die Kreuzung erreicht. Er blieb stehen und schaute. Gegenüber lag das große, schwarz geklinkerte Polizeipräsidium. Sechs Stockwerke zählte er an dem Gebäude. „So viele? Das Ding sieht gar nicht so hoch aus.“ Verächtlich kräuselte er seine Nasenflügel.

„Aber ihr kriegt mich nicht, ihr Arschlöcher! Diesmal nicht!“

Mit langen Schritten ging er in die Unterführung, mischte sich unter die Leute und nahm die erste U-Bahn stadtauswärts. Es war die Linie U3 in Richtung Hohemark.

Freitag

Kein Auge hatte er zugemacht. Dieser verfluchte Ischias! Nachdem Kriminalhauptkommissar Bernd Ludwig ausgiebig seine schlechte Laune an einem Kollegen ausgelassen und sich den unvermeidlichen und mittlerweile vierten schwarzen Kaffee aus der Teeküche geholt hatte, veränderte er schon zum dritten Mal an diesem Tag die hydraulische Höhenverstellung seines Bürostuhls. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er sich an die Rückenlehne sinken und sah sich die Protokolle und die vorliegenden Daten des mysteriösen Todesfalles im Frankfurter Westend noch einmal an. Ein Mann wird an einem sonnigen Tag mitten an einem belebten U-Bahn-Zugang erschossen, und trotzdem gibt es bislang keinen Zeugen, der einen Menschen mit einer Waffe gesehen hat, und niemand hat den Schuss gehört. Aber zweifelsohne ist der Mann erschossen worden, denn in seinem Kopf steckte laut Arztbericht ein Projektil. Der genaue Obduktionsbericht stand zwar noch aus, aber was sollte da schon noch groß rauskommen? Vielmehr wartete er auf die Ergebnisse der Ballistik.

Es machte Ludwig rasend, auf die Ergebnisse warten zu müssen. Er wusste zwar, dass es nicht schneller ging, aber warten war nicht seine Stärke. Er hatte deshalb schon mal fast seine Karriere aufs Spiel gesetzt, weil er einen – seiner Meinung nach – zu langsam fahrenden Autofahrer auf der Autobahn so massiv bedrängt hatte, dass dieser Anzeige wegen Nötigung gestellt hatte. Zu Ludwigs Glück fanden sich keine Zeugen, und so verlief das Ganze im Sande. Aber zumindest auf der Autobahn beherrschte er sich seitdem. Er fuhr ohnehin kaum noch mit dem Auto.

Ludwig war Mitte fünfzig, von gedrungener, untersetzter Statur, hatte ein Doppelkinn und einen schwarzen Schnauzbart. Sein Haar war ebenfalls bis auf ein paar graue Stellen an den Schläfen schwarz und bestand nur noch aus einem Kranz am Hinterkopf. Er trug meistens einen Anzug ohne Krawatte, war aber durchaus eine gepflegte Erscheinung. Besonderen Wert legte er auf seine Schuhe, meistens elegante Herrenschuhe aus glänzendem Leder, die er bei jeder Gelegenheit blank wienerte. Sofern er sich, anders als die letzten Tage, zu seinen Schuhen hinunter bücken konnte. Sein Ischiasnerv ließ das im Moment jedoch nicht zu.

Aufgrund seines schwarzen Schnäuzers und seiner berüchtigten, ausgesprochen lautstarken Wutausbrüche wurde er von einigen Kolleginnen und Kollegen hinter der Hand „Mister L“ genannt. Das wusste er zwar in der Zwischenzeit auch, verstand aber nicht so recht, was das bedeutete. Und fragen wollte er auch nicht. Kriminalhauptkommissar Ludwig hatte sich leider nie für Comics interessiert.

Er las die Berichte der Beamten und der zuständigen Ermittler mit den bis dato vorliegenden Ergebnissen. Das Opfer hieß Max Faller, war 32 Jahre alt, ledig, keine Kinder, und war Mitarbeiter der auf der Goethestraße beheimateten Wertpapierhandelsfirma „Hertz, Staker & Partners“. Interessanterweise lag schon eine Akte über Faller vor: Gegen ihn liefen Ermittlungen wegen des Verdachts auf Insiderhandel, Wirtschaftsbetrug und Vorteilsnahme. Man verdächtigte ihn der Weitergabe von internen, vertraulichen Informationen, und zwar im Zusammenhang mit seinen Beziehungen zur Gelsenbank im Frankfurter Westend. Die Gelsenbank hatte ihren Firmensitz genau gegenüber des U-Bahn-Ausganges, in dem er erschossen worden war. Die Unterlagen in seinem Aktenkoffer lieferten deutliche Hinweise darauf, dass er in der Tat Informationen weitergab. Der Verdacht lag nahe, dass er gerade auf dem Weg zur Gelsenbank gewesen war, um dort sein „Informationshandelsgeschäft“ zu betreiben.

Bedauerlicherweise konnte man aus den vorliegenden Indizien nicht beweisen, dass er tatsächlich zu der besagten Bank gehen wollte. Man konnte es nur vermuten. Max Faller hatte keinerlei Terminaufzeichnungen oder Vermerke hinterlassen, weder in seinen Papieren noch an seinem Arbeitsplatz.

Die mit dem Fall befassten Ermittler waren jetzt außer sich, denn Ziel der Ermittlungen war in erster Linie, die Mittäterschaft des Bankhauses Gelsen zu beweisen und herauszufinden, wer in der Bank für diese Transaktionen verantwortlich war und wer noch involviert war. Man hoffte sogar, hier ein ganzes Netzwerk an illegalen Finanztransaktionen auffliegen lassen zu können. Im Fokus der Ermittlungen lag schon lange der Unternehmenschef und Haupteigentümer Solbert Habakuk Rottler.

Ludwig dachte kurz nach und stieß ein pfeifendes Geräusch durch die Zähne aus. Dann las er nochmal den Bericht des verdächtigen Einbruchs, der zur gleichen Zeit nur eine Straße weiter stattgefunden hatte. Hatten die beiden Fälle miteinander zu tun? Er würde fast darauf wetten. Aber es würde noch viel Arbeit werden, das wusste er.

Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Nachdem er sein Gespräch beendet hatte, schaute er auf seine große, teure Armbanduhr. Zehn Uhr. Besprechung bei Stolpe. Passt!

Als Ludwig zwei Minuten später ohne anzuklopfen das Büro von Stolpe geräuschvoll betrat, waren die beiden Polizisten Anlack und Reincke bereits da. EKHK Stolpe war gerade mit seiner wohlklingenden, vollen Stimme am Reden und beendete ungerührt seinen Satz, als Ludwig zur Tür hereinkam.

„... könnte ich mir gut vorstellen.“

Erster Kriminalhauptkommissar Hartmut Stolpe, Ludwigs direkter Vorgesetzter, war sowohl von der Statur als auch vom Temperament das Gegenteil von Ludwig. Während Ludwig eher korpulent war, konnte man Stolpe als „hager“, fast „dürr“ oder „ausgemergelt“ bezeichnen. Hochgewachsen, mit langen, dünnen Armen und Beinen. Sein Gesicht war gekennzeichnet von seiner schmalen Nase, auf der er gelegentlich eine rahmenlose Brille oder eine schmale Lesebrille hatte, und den auffällig hohlen Wangen. Sein Mund war ein lippenloser Strich; die dünnen, grauen Haare waren mit Pomade streng nach hinten gekämmt. Ohne Pomade würden sie ihm strähnig ins Gesicht hängen, was im Laufe des Tages, vor allem zum Abend hin, durchaus vorkam. Immer kam er in einem altmodischen, braunen Anzug zur Arbeit, der an ihm herumschlackerte wie an einer Vogelscheuche. Beim Laufen zog er kaum merklich ein Bein nach – ein Andenken an eine Schussverletzung, die ihn schließlich überwiegend in den Innendienst gebracht hatte. Sein Krawattenknoten war meistens schon um die Mittagszeit so oft weitergezogen worden, dass er irgendwo locker zwischen Hals und Brustbein baumelte. Stolpes Büro war immer vom Duft eines scharfen Rasierwassers geschwängert – ein Relikt aus der Zeit, als er noch ein starker Raucher gewesen war und den Geruch nach kaltem Zigarrenrauch so zu überdecken versucht hatte. Er wurde nie laut, ließ sich meistens Zeit, bis er antwortete, und seine Mimik konnte man als minimalistisch bezeichnen. Trotzdem genoss er durch seine Integrität und seine Erfahrung eine immense Autorität, und er konnte einen mit ruhigen, besonnenen Worten schlimmer zur Schnecke machen, als es Ludwig selbst in seinen exzessivsten Wutausbrüchen fertiggebracht hätte. Aber das kam selten vor.

„Hab’ ich was verpasst?“ fragte Ludwig, der unaufgefordert einen Stuhl gegriffen und sich hingesetzt hatte.

„Schönen guten Morgen, Bernd. Komm doch rein und setz’ dich.“

Stolpe sagte das in einem ruhigen und väterlichen Ton zu Ludwig. Für Ironie dieser Art waren die Wahrnehmungsorgane von KHK Ludwig nicht geschaffen, daher begann er, ohne auf Stolpes Spitze zu reagieren, sofort mit seinen Ausführungen. Stolpe verzog keine Miene.

„Wie du sicher weißt, ermittelt die Abteilung für Wirtschaftskriminalität schon seit einiger Zeit gegen das Gelsen-Bankhaus. Eine der Hauptfiguren in diesem Spiel war der gestern verstorbene Max Faller. Faller hatte Unterlagen bei sich, die sowohl ihn als auch den Kontaktmann in der Gelsenbank – sofern der bestehende Verdacht zutrifft ‒ des Betruges, der Weitergabe von Insiderwissen oder der illegalen Vorteilsnahme hätten überführen können. In den letzten Jahren sind hier durch diese Transaktionen vermutlich zehn- oder sogar hundertstellige Millionenbeträge an Euro ergaunert worden, also keine Kleinigkeit.“

„So wie Cum-Ex?“

„Nein, Hartmut, so schlimm nun auch wieder nicht. Aber das war ja auch legaler Betrug.“

„Ja, das stimmt. Wie beruhigend ...“

Ludwig grinste bitter, seufzte einmal laut und fuhr fort.

„Beweisen ließ sich aber bisher nichts. Vielleicht wollte Faller ja aussteigen oder singen. Wir haben also bei der Gelsenbank definitiv jemand Verdächtigen.“

Stolpe nickte langsam und konzentriert.

„Ja. Und es sind schon genug Leute für erheblich weniger ins Jenseits befördert worden. Wir sollten uns mal mit dem Direktor der Bank unterhalten. Den haben wir sowieso schon auf dem Kieker.“

Lukas Anlack beugte sich flüsternd zu seiner Kollegin. „Gelsenbank. Das ist aber ein schräger Name für ein Bankhaus.“ Sie zuckte nur mit dem Schultern.

Stolpe hörte die Bemerkung. „Genau, Herr Anlack. Das hat seinen Grund. Die Gelsenbank ist vor rund hundert Jahren, in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, als Familienunternehmen gegründet worden.“

Lisa Reincke und Lukas Anlack hoben den Blick und hörten ihm interessiert zu. Auch Ludwig ließ unter seiner grummeligen Miene – wegen der Unterbrechung seines Vortrages – einen Schimmer von neugierigem Interesse erahnen.

„Die Bank ist auch heute noch im Besitz der Familie Rottler. Und auch vor hundert Jahren hatte man genug Gespür für Marketing, um zu wissen, dass dieser Name für ein Bankhaus etwas ungeeignet ist. Daher entschloss sich die Familie, die Bank nach ihrem damaligen Wohnsitz zu benennen – Gelsenkirchen. Das -kirchen hat man dann weggelassen, warum auch immer. Vielleicht war ihnen das zu niedlich.“

„Na, wie gut, dass sie nicht aus Pleitersheim kamen“, frotzelte Anlack.

Reincke gab ihm einen Stubser mit dem Ellbogen in die Seite.

Ludwig fiel Ihnen ungeduldig ins Wort:

„Lasst uns mal zum Fall zurückkommen. Der Herr ..., ah, wie hieß der jetzt gleich nochmal, eben hatte ich’s doch noch gesagt. Der Mann, der von der Rolltreppe gefallen ist ...?“

„Faller. Max Faller“

„Richtig ...“

„Der Fall des Falles von Herrn Faller!“‚ gab Anlack mit einem Prusten von sich.

„Sie haben heute wohl einen Clown gefrühstückt, junger Mann?“, erwiderte Stolpe mit sonorer Stimme.

„Nein, ist schon gut ...“‚ entgegnete Lukas Anlack gepresst, „... ich muss mal aufs Klo.“ Er ging zur Tür.

„Ein nervöser junger Mann“, murmelte Stolpe.

„Tssss ... Scherzkeks!“, zischte Ludwig.

Zu seinem Missfallen entdeckte Stolpe auch um Reinckes Mundwinkel herum ein leichtes Zucken.

„Was denn, Sie auch? Finden Sie vielleicht irgendetwas besonders komisch?“

Die Beamtin atmete tief durch.

„Nein, nein ...“

Sie machte eine kurze Pause, sichtlich um Haltung bemüht.

„Ich ... kennen Sie den Film... von Monty ...? Ach, egal, ich muss auch mal auf die Toilette.“

Mit diesen Worten ging sie zur Tür hinaus. Sie hatte die Tür noch nicht richtig hinter sich geschlossen, als ein explosionsartiges zweistimmiges Lachen zu hören war.

Stolpe und Ludwig schauten skeptisch zur Tür und hoben beide synchron ihre linke Augenbraue.

„Genug von dem Hühnerhaufen. Bernd, was habt ihr denn noch, was ich noch nicht weiß?“

„Nicht viel. Wir haben gerade angefangen. Wir müssen noch auf die KTU und den Obduktionsbericht warten. Beides könnte aber noch etwas dauern, denn sowohl die KTUler als auch die Truppe von Frau Dr. Tulp haben gerade mit krankheitsbedingter Unterbesetzung zu kämpfen.“

„Schon wieder so ein Corona-Zeug?“

„Nein, wohl etwas anderes. Magen-Darm, glaube ich. So genau will ich das gar nicht wissen. Nervtötend, so was. Ich jedenfalls gehe mir schnell noch einen Kaffee holen, dann müsste auch der Kollege, den ich vorhin angerufen habe, da sein. Ich habe ihm gesagt, er soll gleich zu dir kommen. Bis nachher.“

Zehn Minuten später betrat Ludwig wieder Stolpes Büro, seine große, blaue Kaffeetasse in der Hand. Natürlich wieder ohne anzuklopfen. In der Zwischenzeit war Manfred Bender von der Abteilung Wirtschaftskriminalität eingetroffen, der Leiter der Ermittlungen gegen die Gelsenbank.

„Ah, da bist du ja wieder. Herr Bender ist schon da.“

„Hallo ,Bix’“, grinste Ludwig Bender an.

„Ach, ihr kennt euch so gut?“, fragte Stolpe. „Wieso ,Bix‘? Sie heißen doch Manfred, oder?“

„Ja-hrmja ...“‚ erwiderte Bender verlegen, „... auf einer Feier eines Kollegen habe ich neulich eine Runde geschmissen, dann kam eins zum anderen, und seitdem habe ich bei allen, die dabei waren, den Spitznamen ,Bix Bender’“. Stolpe schaute streng über den Rand seiner Brille und ließ seine Blicke zwischen Ludwig und Bender pendeln. Die beiden setzten sich wortlos hin.

Bender räusperte sich.

„Der Hauptverdächtige neben Max Faller ist auf Seiten der Gelsenbank der Haupteigentümer und Direktor des Bankhauses, Solbert Habakuk Rottler. Wir haben aber eigentlich nicht viel in der Hand. Einmal waren wir sogar kurz davor, die Ermittlungen einzustellen. Herr Hertz, einer der Chefs von ,Hertz, Staker & Partners‘, der Firma, bei der Faller beschäftigt war, fiel auf, dass das Bankhaus Gelsen in vielen Dingen immer verdächtig schnell reagiert hatte. Und ihm fiel auch auf, dass Faller des Öfteren mit dem Bankhaus in telefonischem Kontakt stand. Das konnte er an der Auflistung der ausgehenden Telefongespräche feststellen.“

Er zuckte kurz mit den Schultern.

„Diese brachen dann zwar ganz plötzlich ab – Herr Hertz vermutete, dass Faller vorsichtiger geworden war und nur noch von seinem privaten Handy aus telefonierte. Und für eine Handyüberwachung haben wir keine Genehmigung für eine Überprüfung bekommen, das war dem Staatsanwalt zu dünn. Aber weiterhin hatte das Bankhaus von Herrn Rottler in vielem die Nase vorn, und zwar vor allem bei Informationen, die direkt über ,Hertz, Staker & Partners‘ liefen. Hertz hatte außerdem Faller durch einen Privatdetektiv beschatten lassen und festgestellt, dass dieser öfter zur Gelsenbank ging, gelegentlich auch mit einem Aktenkoffer. Daraufhin brachte er das Ganze zur Anzeige und wir nahmen die Ermittlungen auf. Bisher leider ohne nennenswerten Erfolg. Die Papiere, die bei Max Faller gefunden wurden, geben natürlich dem Ganzen noch mal einiges an Futter.“

Er machte eine theatralische Pause und fuhr dann energisch fort:

„Die Informationen waren Gold wert, im wahrsten Sinne des Wortes, und zwar speziell und vor allem für das Bankhaus von Herrn Rottler. Wenn wir irgendwie beweisen könnten, dass er damit zu Rottler unterwegs war oder vielleicht sogar schon auf dem Rückweg – dann könnte man vielleicht einen Staatsanwalt zu einer Hausdurchsuchung bewegen.“

Ludwig schnaubte verlegen.

„Tut mir leid, Kollege, aber zum einen sieht es ganz danach aus, als ob er ‒ wenn überhaupt – auf dem Hinweg zur Gelsenbank war, und zum anderen können wir überhaupt nichts beweisen. Da lachen euch jeder Anwalt und jedes Gericht aus.“

Bender zog die Stirn kraus.

„Wenn du wüsstest, Bernd, wie viel Arbeit wir da reingesteckt haben. Jahre! Und nichts. Es ist zum ... In Bezug auf die Gelsenbank haben wir bis jetzt leider gar nichts in der Hand.“

Es schepperte, alle drei drehten gleichzeitig den Kopf. Die Tür öffnete sich mit einem großen Schwung und Frau Müller-Pfuhr trat ein, um die Abfalleimer zu leeren. Wie üblich grüßte sie nicht und warf erst dem Schreibtisch und dann den Anwesenden einen abfälligen Blick zu. „Schon 11:00 Uhr“, dachte Ludwig. Die Putzkolonne kam immer pünktlich.

Als die Dame gegangen war, saß Hartmut Stolpe auf seinem Stuhl, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und ließ die vorangegangenen Worte für ein paar Sekunden wirken. Ludwig schaute kurz mit einem Anflug von Mitleid auf Bender und ergriff wieder das Wort:

„Zumindest haben wir hier genug Anhaltspunkte für mögliche Motive. Da gibt es ja genug: Erpressung, Streit um das Geld, Angst vor Entdeckung. Das macht Rottler derzeit und in Ermangelung anderer zu unserem Hauptverdächtigen, würde ich sagen. Genauer gesagt zu unserem einzigen. Außerdem ist mir beim Durchlesen des Berichtes vom Tatort noch etwas aufgefallen: Das Gebäude des Bankhauses Gelsen ist genau gegenüber des U-Bahn-Schachtes, in welchem Faller erschossen wurde. Ein Schütze hätte dort an einem Fenster auf ihn warten und ihn dann von da aus erschießen können.“

„Hältst du das für wahrscheinlich?“, wandte Stolpe ein.

„Am helllichten Tag stellt sich jemand mit einer Schusswaffe an ein Fenster. Und dann auch noch auf diese Entfernung zu treffen, das schafft nur Lucky Luke.“

„Wer?“, fragte Ludwig.

„Ein Westernheld. Der Schütze müsste einerseits ein kaltblütiger Scharfschütze sein – der dann so dämlich ist, sich genau ins Gebäude des Hauptverdächtigen zu stellen, an einem Donnerstagmittag auf einer belebten Hauptstraße im Frankfurter Westend. Nicht sehr wahrscheinlich, oder?“

Ludwig zog die Augenbrauen zusammen. Einerseits wirkte es so einfach, andererseits schien nichts zu passen. Der Mann war tot, und er war deshalb tot, weil ihm jemand eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Es gab einen reichen Banker, der durchaus ein Motiv hätte haben können, und dieser Banker hatte keine hundert Meter vom Tatort entfernt sein Büro. So weit, so gut. Aber es gab niemanden, der irgendetwas gehört oder gesehen hatte – was an der lauten, hektischen Bockenheimer Landstraße allerdings weniger erstaunlich war – und es gab ansonsten auch keine Zeugen, außer dem jungen Pärchen, das Faller beim Sturz auf der Rolltreppe niedergerissen hatte. Ludwig bleckte seine Zähne. Dann holte er tief Luft und wandte sich an Stolpe.

„Ich bin gespannt, ob wir mit diesem zeitgleichen Einbruch um die Ecke noch einen Zusammenhang hinbekommen. Immerhin haben wir einen flüchtigen, bewaffneten Einbrecher. Wenn es denn tatsächlich nur ein Einbrecher war, wer weiß. Ach, wenn doch nur diese verfluchte KTU etwas schneller sein könnte ... Herrgottsakra. Bis dahin schlage ich vor, wir statten Herrn Rottler mal einen vorsichtigen Besuch ab und klopfen da etwas auf den Busch.“

„Eine gute Idee, Bernd. Herr Bender, vielen Dank. Und falls wir uns nicht mehr sehen bis dahin: ein schönes Wochenende!“

„Danke, Herr Stolpe, Ihnen auch. Auf Wiedersehen.“

Sie wollten sich gerade auf den Weg zur Gelsenbank machen, als Kriminalkommissar Handke mit einer Akte in der Hand auf die beiden zulief. Ludwig raunzte ihn gleich an.

„Was gibt‘s? Wir sind eigentlich schon weg.“

Obwohl Handke ein gutes Stück größer war als Ludwig, brachte er es trotzdem immer wieder fertig, neben Ludwig wie ein kleiner Junge auszusehen. Er kratzte sich am Kinn.

„Äh, wir haben da noch was rein bekommen. Einen Todesfall ...“

„Ach, tatsächlich? Und das hier, bei uns! Wahnsinn, Handke, Wahnsinn!“

„... einen Todesfall, der etwas mysteriös war – ein Mann ist mit Schüttelfrost und Krämpfen ins Bürgerhospital eingeliefert worden. Eine Stunde später war er tot. Und da man nicht so genau wusste, woran er gestorben war, hat man ihn obduziert.“

„Und? Ebola? Pest? Cholera? Corona??“

Ludwig und Stolpe machten unbemerkt einen kleinen Schritt von Handke weg.

„Und überhaupt, was geht uns das eigentlich an? Sind wir hier das Robert-Koch-Institut oder die WHO?“

„Keine Krankheit. Sehr wahrscheinlich eine Vergiftung. Womit genau, das wissen wir noch nicht, aber die Untersuchungen laufen.“

„Das geht uns doch genauso wenig was an. Ist das nicht eher was für die Leute vom BKA, BND, MAD oder von mir aus auch MI6, Mossad oder CIA?“

„Noch nicht. Die Person war nicht politisch aktiv und hatte auch keinen besonders aufregenden Beruf. Er war Bademeister.“

„Aha! Dass man sich im Schwimmbad sonst was holt, das wusste ich schon immer. Deswegen gehe ich da gar nicht erst rein, grundsätzlich nicht. Und wie hieß der Gute?“

Handke schielte über seinen Brillenrand auf die erste Seite.

„Wassili Wetzkin“

„Russe?“

„Nein, Bockenheimer.“

Ludwig seufzte genervt.

„Gut, gut. Sammeln Sie schon mal alles, was Sie über ihn herausfinden können. Ich schau‘s mir an, wenn wir wieder da sind. Irgendwann heute Nachmittag.“

Ludwig und Stolpe waren zwanzig Minuten später am Bankhaus Gelsen. Es war keine Filiale mit Schalter und regem Kundenverkehr, sondern ein mit Sandstein verziertes, pompöses Haus aus der Gründerzeit. Ludwig versuchte, das große Portal aufzudrücken.

„Zu! Die wollen hier wohl keine Kunden, oder was? Herrgottsakra!“

Stolpe lächelte seinen Kollegen beruhigend an.

„Schon. Aber nicht ,solche‘ Kunden. Sondern eher die Kronberg-Königstein-Fraktion.“

Er drückte den großen Knopf auf der verschnörkelten Messingklingel.

„Ja bitte, was kann ich für Sie tun?“‚ hörten sie eine dunkle Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

„Guten Tag. KHK Ludwig und EKHK Stolpe von der Kriminalpolizei. Wir würden gerne Herrn Rottler wegen des Todesfalles gestern vor Ihrem Haus ein paar Fragen stellen. Ist er im Haus?“

„Ja, Herr Rottler ist da, Sie haben Glück. Kommen Sie bitte herein.“

Der Türöffner summte und Ludwig drückte die große Tür auf, die mit einem satten Hall aufschwang.

Das Foyer war altmodisch und protzig eingerichtet. Roter Samtteppich, ein in Öl gemaltes Porträt des herrisch blickenden Firmengründers Maxim-Ammon Rottler an der Wand, Stuck an der hohen Decke. Eine hochgewachsene Dame von etwa fünfzig Jahren kam den beiden entgegen und streckte ihnen mit einem Lächeln die schmale, langfingerige und schön manikürte Hand entgegen.

„Schönen guten Tag, Herr Ludwig und Herr – ähm, entschuldigen Sie ... Stucke?“ „Stolpe. Guten Tag.“

„Ja richtig, Herr Stolpe, bitte um Verzeihung. Sie haben Glück, dass Herr Rottler gerade im Haus ist. Wenn Sie einen kleinen Moment Geduld haben und kurz hier Platz nehmen wollen?“

„In Ordnung“, entgegnete Stolpe mit ruhiger Stimme.

„Wie lange wird es etwa dauern?“, fiel Ludwig mit barschem Tonfall ein. „Wir haben nicht den ...“

Stolpe legte seine Hand auf den Arm seines Kollegen und blickte ihn an. Ludwig beendete seinen Satz nicht. Die Dame vom Empfang warf ihm einen höflich-freundlich-überheblichen Blick zu.

„Herr Rottler führt gerade ein Telefonat. Er wird sofort für Sie Zeit haben.“

Kaum hatten sie sich in die samtbeschlagene Sitzcouch versinken lassen, kam die Empfangsdame auch schon zu ihnen. Ludwig wuchtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch und hielt sich den Rücken.

„So, wenn Sie mir dann bitte folgen wollen.“

Sie gingen einen Korridor entlang, betraten einen Lift und fuhren drei Stockwerke nach oben in die oberste Etage. Mit einem tiefen Surren kam der Fahrstuhl zum Stehen. Es roch nach altem Holz und Büchern. Sie gingen einen verwinkelten, langen Gang entlang und kamen zu einer dunkelbraunen, massiven Holztür, die halb offenstand. Die Empfangsdame klopfte leise an.

„Ja, bitte?“, ertönte eine kräftige Stimme von der gegenüberliegenden Seite.

„Die Herren Ludwig und Stolpe von der Polizei sind jetzt da“.

„Ja, sollen reinkommen. Vielen Dank, Frau Obligat.“

Rottlers Arbeitszimmer war geradezu das Klischee des Büros eines reichen Geschäftsmannes. Mahagonimöbel, Kristalllüster, schwere, rote Samtgardinen, Parkettfußboden mit kunstvollem Perserteppich, dahinter ein deckenhohes Bücherregal mit Rollleiter. Hinter dem Schreibtisch stand ein voluminöser, mit schwarzem Leder bezogener, altmodischer Bürostuhl. Der Laptop auf dem Schreibtisch sowie das moderne Telefon wirkten neben der kleinen Art-Déco-Lampe sehr anachronistisch. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Ludwig ein kleines Kindertrampolin in der Ecke, was hier so gar nicht reinpassen wollte. Rottler bemerkte den fragenden Blick des Beamten.

„Das brauche ich manchmal zur Entspannung“, wandte er sich Ludwig zu.

„Was?“

„Das Trampolin. Das haben Sie sich doch gerade gefragt, oder?“

Rottler grinste jovial.

„Wenn meine Nerven mit mir durchgehen, hüpfe ich eine Runde, das entspannt ungemein. Kann ich nur empfehlen. Wollen Sie mal?“

„Nein, vielen Dank. Ich hab‘s im Rücken.“

Rottler wechselte in den Businessmodus und schaute sie geschäftsmännisch-einladend an.

„Gestatten, Solbert Habakuk Rottler. Ich bin der Direktor dieses Hauses. Was kann ich für Sie tun, Herr ...“

„Kriminalhauptkommissar Hartmut Stolpe“‚ fuhr Stolpe mit der weichen Stimme eines Geschichtenerzählers dazwischen.

„Und das ist mein Kollege, KHK Bernd Ludwig. Wir haben ein paar Fragen an Sie. Sicher haben Sie von dem Todesfall gestern bei Ihnen vor dem Haus etwas mitbekommen.“

„Oh ja ...“‚ entgegnete Rottler, „... tragische Sache. Und noch dazu ein Kunde unseres Hauses, Herr Faller. Ich kannte ihn gut. Was ist denn da passiert?“

Ludwig fluchte unmerklich in sich hinein, ließ sich aber nichts anmerken. Mist! Er kannte das Opfer, und auch noch gut, aber er gibt es von selbst ungefragt zu. Also weitermachen.

„Herr Faller war auf dem Weg zu Ihnen, stimmt das?“

„Wie gesagt, Herr Faller war einer unserer Kunden.“

„Kennen Sie alle Ihre Kunden so gut?“

„Oh nein, wo denken Sie hin. Aber Herrn Faller kannte ich in der Tat recht gut. Das hat sich irgendwie so ergeben.“

„Wollte er Sie gestern besuchen?“

„Nein, er hatte zumindest keinen persönlichen Termin mit mir. Aber ich will nicht ausschließen, dass er auch mal bei mir angeklopft hätte, sofern ich da gewesen wäre.“

„Und, waren Sie gestern da?“

„Nein. Zumindest nicht, als es passierte. Meine Sekretärin erzählte mir von dem Vorfall, als ich gerade von einem Meeting zurückkam. Sie hatte Herrn Faller am U-Bahn-Ausgang liegen sehen, umringt von Leuten, Polizei und Notarzt. Sie war darüber sehr erschrocken. Ich hatte nur gesehen, dass etwas abgesperrt war und dass da Polizei herumstand, aber ich hatte mir nicht viel dabei gedacht und bin mit meinem Wagen in die Tiefgarage gefahren.“

„Mit wem hatten Sie das Meeting?“

„Mit den Herren Bär und Hausser vom Vorstand. Aber wieso fragen Sie mich das alles?“

„Wir wollten nur wissen, ob Sie etwas gesehen haben. Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass Herr Faller aus diesem Gebäude heraus erschossen wurde.“

„Wie bitte? Erschossen?“

Rottler sah Stolpe und Ludwig mit großen Augen und fassungslosem Gesicht an.

„Ja, Herr Rottler. Tut mir leid“‚ entgegnete Stolpe.

Rottler rang kurz mit sich und machte dann ein skeptisches Gesicht.

„Aber wie hätte das denn gehen sollen? Hier kommt niemand so einfach rein. Und außerdem, die Fenster lassen sich nirgends öffnen, das Gebäude ist vollständig klimatisiert. Und wieso überhaupt sollte jemand so etwas Schreckliches hier im Haus tun?“

Stolpe schaute Rottler lange an. Dann zuckte er kurz mit den Schultern.

„Ja, da haben Sie wohl recht. Wir müssen nun mal allen Spuren nachgehen. Wäre es für Sie in Ordnung, wenn wir ein Ermittlerteam bei Ihnen vorbei schicken, das sich hier mal umsieht?“

Solbert Habakuk Rottler machte einen spitzen Mund.

„Das wäre in der Tat nicht in Ordnung für mich. Was sollen denn die Kunden denken? Nein, ohne Durchsuchungsbefehl muss ich leider Nein sagen, bedaure.“

Ludwig wollte etwas sagen, doch Stolpe warf ihm nur einen kurzen Blick zu.

„Das ist schade, aber Sie haben natürlich recht.“

Stolpe machte ein nachdenkliches Gesicht, dann griff er in sein Jackett.

„Ich gebe Ihnen auf alle Fälle mal meine Karte. Falls Ihnen noch etwas einfällt... hoppla!“

Stolpe hatte sich beim Griff in seine Jackett-Innentasche einen Füllfederhalter aus der Tasche gezogen, der jetzt direkt vor Rottlers Füße rollte. Dieser bückte sich, hob den Füller auf, taxierte ihn mit anerkennendem Blick und gab ihn Stolpe zurück.

„Ein schönes Stück!“

„Oh, vielen Dank. Wie ungeschickt von mir. Ja, dieser Füller ist wirklich etwas ganz Besonderes. Wissen Sie, der ist noch von meinem Vater, ein Familienerbstück.“

Er steckte den Füllfederhalter vorsichtig wieder ein.

„Aber wie gesagt, hier meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt oder falls Sie es sich mit der Untersuchung Ihres Gebäudes doch anders überlegen. Es wäre schade, wenn wir dafür eine Durchsuchungsanordnung bräuchten.“

Stolpe sah Rottler eindringlich an. Eine Pause trat ein. Die plötzliche Stille schien das Atmen zu erschweren. Nach einem kurzen Moment erwiderte Rottler Stolpes Blick. Um Rottlers Augen und Mundwinkel bildete sich ein leichtes, süffisantes Lächeln.

„Danke, die Herren. Ich möchte Sie bitten, jetzt mein Haus zu verlassen. Alles weitere besprechen Sie dann bitte mit Herrn Dr. Winkler, meinem Anwalt. Frau Obligat wird Sie nach draußen begleiten. Guten Tag.“

Als Stolpe und Ludwig wieder im Auto saßen, sprach zunächst keiner. Beide dachten nach. Ludwig trommelte mit den Fingerkuppen leise auf die Fensterkante der Autotür.

„Sag mal, Hartmut, warum hast du ihn so leicht von der Angel gelassen? Und was versprichst du dir davon, ihm deine Visitenkarte zu geben? Der wird im Leben nicht bei dir anrufen.“

Stolpe legte den Zeigefinger neben seine Nasenspitze und senkte leicht den Kopf.

„Nun. Wir haben nicht viel. Eigentlich gar nichts. Wenn du mich fragst: Wirtschaftskriminalität: Ja, da bin ich mir sicher. Das sagt mir mein Bauch, und die Recherchen von Bender deuteten ja auch schon in diese Richtung. Und das wird nicht alles sein, da bin ich sicher. Illegale Finanzgeschäfte jedweder Art würden wir hier finden, ganz bestimmt! Wir können derzeit jedoch nichts beweisen – aber das ist auch nicht unsere Baustelle. Der Kerl jedenfalls ist aalglatt und sehr gerissen. Ich glaube nicht, dass man bei ihm so leicht irgendwas finden würde. Und austricksen lässt der sich so schnell auch nicht.“

Ludwig nickte wortlos.

„Was den Mord angeht: Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass er damit was zu tun hat – ganz bestimmt war er es nicht selbst, dazu hat er ein zu gutes Alibi. Aber auch das ist nur ein Gefühl. Wir sollten an ihm dranbleiben. Und wir haben jetzt ‒ für alle Fälle ‒ das hier.“

Stolpe lächelte kühl und hielt mit seinen großen, spinnenartigen Händen den Füllfederhalter an beiden Enden vor Ludwigs Gesicht.

„Es schadet sicher nichts, ein paar Fingerabdrücke von Herrn Rottler in der Schublade zu haben. Und das ist nur inoffiziell! Wir verstehen uns, Bernd?“

Ludwig grinste feist. „Ich weiß von gar nichts und habe noch weniger gesehen. Aber unter uns: Wie lange hast du das denn schon geübt? Ich meine: Der Füllfederhalter ist genau vor seine Füße gerollt. Alle Achtung!“

„Einer meiner Vorfahren war beim Zirkus. Hatte ich das noch nicht erwähnt?“ Stolpe lächelte verschmitzt und lehnte sich dann auf seinem Fahrersitz zurück.

„Schön und gut! Ich verspreche mir allerdings mehr von dem Einbrecher in der Nähe. Gibt es da schon was?“

„Ich hoffe, dass meine Infanterie mir was auf den Tisch gelegt hat, wenn wir wieder im Präsidium sind.“

Ludwig trommelte sich auf den Bauch.

„Aber jetzt habe ich erst mal Hunger. Was hältst du vom Italiener? Da ist gerade einer.“

Stolpe nickte. „Da bin ich dabei.“

Solbert Habakuk Rottler setzte sich in seinen Bürostuhl. Die Hydraulik des Stuhles zischte leise. Ärgerliche Sache, das mit Max Faller. Die Tarnung für seine Informationsgeschäfte war perfekt gewesen. Faller hatte extra ein Konto bei ihm eingerichtet und einige seiner privaten Geldgeschäfte sowie die Finanzierung seiner Stadtwohnung im Nordend völlig einwandfrei über die Gelsenbank abgewickelt, um die Treffen und Telefonate zu erklären. Diese Schnüffelei mit den Telefonverbindungen und dieser lausige Privatdetektiv – das war schon frühzeitig aufgefallen, kein Grund zur Sorge. Ansonsten wurden nie irgendwelche schriftlichen Dinge hinterlassen. Faller erzählte die wichtigen Informationen einfach vor Ort, und wenn es mal nötig war, dann brachte er die entsprechenden Unterlagen kurz zur Ansicht vorbei und nahm sie dann wieder mit. Rottler war schon immer sehr stolz auf sein gutes Gedächtnis gewesen, er konnte sich die Einzelheiten alle problemlos einprägen. Kopien wurden daher nie gemacht, allenfalls codierte Notizen, die für Außenstehende völlig unverdächtig wirken mussten. Und das Finanzielle zu regeln – das war nun das kleinste Problem für ein Bankhaus, erst recht mit Verbindungen, wie Rottler sie hatte.

Nur in letzter Zeit wurde Faller einfach zu gierig ...

Wieder im Präsidium, wartete tatsächlich schon Handke auf Ludwig.

„Und, Sie haben hoffentlich was für mich, Handke? Der Einbruch!“

„Ja, tatsächlich. Da gibt es eine ganze Menge. In der Tasche waren fast dreißigtausend Euro und zehntausend Dollar in bar, recht grobe Einbruchswerkzeuge und – siehe da ...“

„Handke, BITTE! Lassen Sie diesen Mist! Kommen Sie zum Punkt ohne Firlefanz und Traraa“

„... und, äh – ein paar Schusswaffen.“

Ludwig hob neugierig eine Augenbraue.

„Zwei davon sind Polizeiwaffen, die schon vor Jahren als gestohlen gemeldet wurden. Die dritte Pistole ist eine modifizierte Glock, Herkunft bis jetzt unbekannt. Und ein Gewehr: Ein Arctic Warfare Covert aus US-Beständen, auch gestohlen, aber kräftig umgebaut. Hat jetzt einen Lasersuchstrahl. Da war ein sehr professioneller Bastler am Werk. Die genaue Herkunft wird natürlich noch ermittelt, aber ich fürchte, da werden wir nicht viel rausbekommen. Der dazugehörige Schalldämpfer ist auch kein Serienprodukt und, so wie es aussieht, speziell angefertigt worden.“

„Das ist ein Scharfschützengewehr, das auch auf große Entfernung noch gut trifft, wenn ich mich nicht irre, oder? Handke?“

„Hm, vielleicht, das nehme ich an.“

„Sie nehmen es an, Sie nehmen es an! Sie sollen das wissen! Finden Sie es heraus! Könnte eine der Waffen die Tatwaffe im Fall des erschossenen Max Faller sein?“

„Möglich. Das Gewehr, die Glock und eine der gestohlenen Polizeiwaffen wurden vor kurzem abgefeuert.“

„Und das Projektil in Fallers Kopf?“

Handke zog leicht den Kopf ein.

„Da haben wir noch nichts.“

„Was? Wie lahmarschig sind die denn hier alle?“

„Naja, das dauert schon ein bisschen, außerdem hat die kriminaltechnische Untersuchung gerade mit krankheitsbedingter ...“

„Jaaa, jaaa, mit krankheitbedingter Unterbesetzung zu kämpfen, ich weiß. Die ganze KTU hat die Scheißerei. Herrgottsakra! Sonst noch was?“

„Ja, wir haben einen Zeugen, der sehr wahrscheinlich den Einbrecher hat wegrennen sehen. Er hat sich bei uns gemeldet und war auch schon da. Der Einbrecher hatte sich in einer Mülltonnenumfassung versteckt.“

„Was? Und die Kolleginnen und Kollegen haben da nicht überall nachgesehen? Was ist denn das für ein Haufen hier?“

Handke sagte nichts.

„Und weiter?“

„Wir haben den Herrn – einen Herr Schlemann – unsere Kartei mit möglichen Kandidaten durchsehen lassen. Und wir sind fündig geworden! Unser Mann heißt Lars Burg und hat schon wegen Einbruchs, Körperverletzung und Betäubungsmitteldelikten gesessen. Ein alter Bekannter, der sich in letzter Zeit auch immer mehr im mafiösen Milieu rumtreibt, wie mir ein Kollege sagte. Fahndung ist raus.“

„Na, das sind doch mal gute Neuigkeiten.“

Ludwig stutzte und sah seinen Kollegen erstaunt an.

„Nanu? Warum gucken Sie denn so gequält?“

Handke druckste etwas herum.

„Ach wissen Sie, dieser Herr Schlemann war drei Stunden hier und liegt mir immer noch schwer im Magen. Nicht nur, dass er eine unerträglich schrille Stimme hatte, nein, er musste auch zu jedem, wirklich jedem der Fotos, die wir ihm gezeigt haben, seinen abfälligen, rassistischen und besserwisserischen Senf dazu geben, in minutenlangen Vorträgen. Anstrengend, solche Leute, echt! Und das Protokoll hat er erst unterschrieben, nachdem ich zwei Kommafehler korrigiert und das Ganze nochmal ausgedruckt hatte. ,lch setze meine Unterschrift nicht unter falsches Deutsch‘, hat er gesagt.“

„Bleiben Sie tapfer, Handke, das gehört dazu.“

Wieder sagte Handke nichts und zuckte nur mit den Schultern. Dann erzählte er Ludwig die letzte Neuigkeit. Dazu hielt er Ludwig die aufgeschlagene Fallakte unter die Nase.

„Hier, bei diesem Herrn wurde übrigens eingebrochen, den wollen Sie bestimmt befragen. Er hat mehrere Luxus-Wohnungen in Frankfurt. Ziemlich reicher Typ.“

Ludwig las den Namen, dann hellten sich seine Gesichtszüge auf.

„Oh, ja! Das ist in der Tat interessant! Egon Schott! Der Name stand doch auch in der Ermittlungs-Akte von Bender. Na, wenn das mal kein Zufall ist! Vorladen, Zackzack! Und dann fahren wir gleich mal in der Wohnung mit diesem Einbruch vorbei. Ich muss mir sowieso noch den Tatort ansehen.“

„Ist schon Sonntagabend?“

„Handke! Ich bin nicht empfänglich für solche blöden Witze!“

Bernd Ludwig schaute auf die Glasscherben und kraulte sich gedankenverloren am Bauch. Es sah alles ganz nach einem gewöhnlichen, wenig raffinierten Einbruch aus. Irgendwas stimmte hier nicht, er konnte es riechen, aber nicht genau sagen, was es war.

„Handke, haben Sie endlich den Hausmeister auftreiben kö... ach, da sind Sie ja schon, sehr schön, Herr ...?“

„Bruch, Roland Bruch. Isch bin hier de Fassilidie-Mänädscher. Was wolle Se dann wisse?“ 1

„Zunächst mal: Was haben Sie denn mitbekommen von dem Einbruch, Herr Bruch?“