Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity - Isabel Bernsmann - E-Book

Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity E-Book

Isabel Bernsmann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Hauptkommissarin Frederica Moll und ihr Kollege Christian Lauterbach stehen vor einem Problem: Sie müssen eine Cold Case Unit aufbauen und wühlen sich seit Wochen erfolglos durch alte Fälle. Bis ihnen ihr Chef den Fall einer nicht identifizierten Leiche überträgt. Die junge Frau wurde vor sieben Jahren in einer Baugrube in der Hamburger HafenCity gefunden. Doch wenn sie damals niemand vermisst hat, wie sollen sie heute neue Spuren finden? Erst als Frederica alternative Ermittlungsansätze ins Spiel bringt, wendet sich das Blatt. Mit einem schockierenden Ergebnis …

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Isabel Bernsmann

Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliches Vergessen Hauptkommissarin Frederica Moll und ihr Partner Christian Lauterbach stehen vor einem Problem: Sie müssen die erste Cold Case Unit für Hamburg aufbauen und wühlen sich zusammen mit ihrer Rechercheurin Tanja Buchholz bereits seit Wochen durch die alten Fälle der Hansestadt – bislang erfolglos. Daran ändert sich auch nichts, als ihr Chef ihnen den ungeklärten Todesfall einer jungen, unbekannten Frau überträgt. Die bis heute nicht identifizierte Leiche wurde vor sieben Jahren in einer Baugrube im neu errichteten Hamburger Stadtteil HafenCity gefunden. Doch wenn die Frau damals niemand vermisst hat, wie sollen Frederica und Christian heute ihre Identität klären, geschweige denn ihren Mörder finden? Erst als die unkonventionelle Frederica alternative Ermittlungsansätze ins Spiel bringt, wendet sich das Blatt. Mit einem schockierenden Ergebnis …

Isabel Bernsmann wurde 1967 als Kind einer wortkargen Norddeutschen und eines redseligen Rheinländers geboren und wuchs in den USA, Belgien und halb Deutschland auf. Nach ihrem Studium der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entschied sie sich für eine berufliche Zukunft in den Medien und zog in ihre Wahlheimat Hamburg. Mittlerweile arbeitet sie in Berlin in der Fernsehbranche. Gelegentlich aufkeimende Mordgelüste und Heimweh kompensiert sie durch das Schreiben von Hamburg-Krimis. »Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity« ist ihr dritter Kriminalroman um die Hamburger Kommissare Moll und Lauterbach.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Moritz Ludtke / unsplash

ISBN 978-3-8392-7456-9

Vor 12 Jahren

Die junge Frau trank gierig die kalte Cola, doch der gewünschte Effekt blieb aus. Ihr Durst wollte nicht verschwinden.

Wie das flaue Gefühl im Magen.

Sie stieß durch die Kohlensäure einen ätzenden Geschmack auf und hielt sich den Bauch. Auf dem Bahnhofsvorplatz blieb sie stehen und strich ihren feuchten Pony aus der Stirn. Diese Hitze hatte sie nicht erwartet. Sie kam vom Meer, Hamburg lag am Meer, fast wenigstens, und sie war davon ausgegangen, dass ähnliche Temperaturen wie zu Hause herrschten. Doch hier mussten an die 30 Grad sein. Die gefütterte Jacke und ihren Pullover hatte sie bereits ausgezogen und über den Griff ihres Rollkoffers gehängt. Sie hätte gerne ihre Jeans gegen einen Rock getauscht, doch das schmale Gepäck enthielt alles, was sie besaß, und eine Sommergarderobe gehörte nicht dazu. Vielleicht wäre ihr wenigstens nicht so schlecht, wenn sie etwas im EC hätte essen können. Da war sie bereits seit 20 Stunden auf den Beinen gewesen und hatte nach ihrem Frühstück nichts mehr zu sich genommen, um Geld zu sparen. Was eine dumme Idee gewesen war. Das Abteil mit dem Bordrestaurant war geschlossen gewesen und sie hatte das Schild, das an der Schiebetür klebte, mit ihren wenigen Deutschkenntnissen nicht entziffern können. Ihr Russisch war ganz passabel, nur sprach das hier niemand. Mit ein paar englischen Brocken hatte sie dann von einem anderen Fahrgast erfahren, dass sie auf der langen Reise im Zug nichts zu essen und zu trinken kaufen konnte.

Fast wäre sie wieder umgekehrt, wenn das in einem Zug so einfach möglich gewesen wäre. Doch sie dachte an ihren Plan. Sie hatte ein Ziel, sie hatte lange dafür gespart und sie würde es schaffen.

Als ihr einfiel, dass die Deutschen auch Pfand erhoben, zog sie die kleine Plastikflasche wieder aus dem Müll und legte sie, einen Kiosk weiter, stumm auf den Tresen. Der Verkäufer nickte und holte ihr eine volle Flasche aus dem Kühlschrank.

»Sonst noch was?« Er zeigte auf die Regale hinter sich.

Sah man ihr an, dass sie ihn nicht verstand? Wieder wortlos schüttelte sie den Kopf und bezahlte.

Mit der zuckrigen Limonade im Blut schwamm wenigstens ihr Kopf nicht mehr. Auf ihrem Handy googelte sie die Adresse und machte sich auf, Richtung Elbe.

Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ging einfacher als gedacht. Bereits nach einer guten halben Stunde stand sie vor dem gesuchten Gebäude.

Sie sah in den wolkenlosen Himmel und strahlte mit dem Feuerball um die Wette. Sie hatte es geschafft. Sie war hier.

Schützend legte sie ihre Handfläche über ihre Augen und beschloss, die Hitze gut zu finden und die heißen Sonnenstrahlen zu genießen.

Als würde sie ahnen, dass sie auf dem Weg in die Dunkelheit war.

Kapitel 1

Hauptkommissar Christian Lauterbach sah sich stirnrunzelnd um. Vor drei Monaten hatte man ihnen die neuen Räume im dritten Stock zugewiesen. Er hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Jetzt fand er sie scheußlich. Dabei konnte er seine destruktive Gemütslage an nichts Besonderem festmachen. Alles sah so aus wie früher. Sie waren nur einen Stock tiefer gezogen, in dem genau dasselbe abgenutzte tiefgrüne Linoleum lag, sie hatten ihr Mobiliar mitgenommen und selbst die Büroaufteilung war geblieben. Frederica und er arbeiteten gegenüber Tisch an Tisch. Der Arbeitsplatz ihrer Rechercheurin Tanja Buchholz stand schräg zu den ihren in dem Großraumbüro ein Stück entfernt. Alles sah genauso aus wie ihr ehemaliger Arbeitsbereich in der Mordkommission. Trotzdem war alles anders. Verändert. Er hasste Veränderungen. Sie brachten Unsicherheit und Chaos. Sie gaben ihm das Gefühl »zur richtigen Zeit am falschen Ort« zu sein.

Er zog seine Lederjacke aus, die er seit 20 Jahren bei Wind und Wetter trug, warf sie auf seinen Schreibtisch, ging zum Fenster und blickte auf die Straße. Das Kommissariat spiegelte sich wellenförmig in den Fenstern der gegenüberliegenden Gebäude, als würde es sich langsam in Luft auflösen.

Wie seine Karriere.

Das Polizeikommissariat 17 in der Sedanstraße, im Hamburger Stadtteil Rotherbaum, war seit vielen Jahren sein Zuhause. Er mochte das seltsam anmutende vierstöckige Bauwerk, das aussah, als hätte ein Fünfjähriger sich zum ersten Mal an Tetris versucht. Die Straße war schmal und ruhig und hatte bis auf das Kommissariat und ein paar Nebengebäude der Uni nichts zu bieten. Er dachte wieder an ihr altes Büro ein Stockwerk höher, als er noch Abteilungsleiter bei der Mordkommission gewesen war. Er hatte es geliebt und wäre gerne mit ihm in Würde gealtert.

Vorbei das Kapitel. Er fuhr sich durch seine blonde Kurzhaarfrisur. Wenigstens sein volles Haar hatte er trotz seiner 46 Jahre behalten. Ein schwacher Trost. Sein bulliges Kreuz verzerrte die Karos seines Hemdmusters zu Rhomben. Wollte er wirklich weiter mit Frederica zusammenarbeiten? Mit ihr gemeinsam die neue Cold Case Unit aufbauen? Hatte sie ihn nicht durch ihre Alleingänge und Aktionen, die sie abseits jeglichen Protokolls durchführte, mehrfach in Lebensgefahr gebracht? Ja, am Ende des Tages hatten sie immer Erfolg gehabt und die Fälle gelöst. Aber zu welchem Preis? Hatte sie ihn nicht quasi gezwungen, seinen heiß geliebten Job zu wechseln? Dabei war Frau Dr. Frederica Moll noch nicht einmal eine richtige Polizistin. Jedenfalls in seinen Augen nicht. Man kam nicht aus reichem Hause, wurde Psychoanalytikerin und ging dann mit Mitte 30 in den Polizeidienst. Wie sollte jemand, der nie die volle Härte des Daseins zu spüren bekam, sein letztes Hemd geben, um die Straßen von Verbrechern frei zu halten?

Ein leises Surren, gefolgt von hellem Klackern auf Linoleum, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er sah weiter aus dem Fenster. »Moin, ihr beiden.« Er wischte sich schnell über die Augen. Erst dann drehte er sich um.

»Moin, du alleine.« Tanja Buchholz fuhr ihren Rollstuhl hinter ihren Schreibtisch. Alfred setzte sich dicht vor Christian und legte sein sabberndes Kinn an seinen Bauch.

»Oha, in letzter Zeit zu wenig Sport gemacht? Vor ein paar Wochen wäre Alfred noch abgerutscht«, grinste Tanja hinter ihrem Monitor hervor. Für einen Septembermorgen war es viel zu dunkel, ein häufiges Phänomen in dem zumeist wolkenverhangenen Hamburg, und ihr Gesicht wirkte in dem bläulich-fahlen Licht wie falsch geschminkt. Das konnte aber auch an der Farbe ihrer Perücke liegen, die sie kurz an der Stirn anhob und einen Millimeter nach rechts rückte.

Christians Tochter Rieke würde das Neongrün des kinnlangen Bobs gefallen. Aber Rieke war auch erst fünf. Blinzelnd schob er die schwarze Dänische Dogge beiseite, die sich zufrieden in ihr riesiges Hundebett legte. Sofort füllte Alfreds sonores Schnarchen den Raum. »Wo findest du die Teile bloß immer und vor allem warum?«

Tanja tat nicht so, als würde sie ihn nicht verstehen, und zuckte mit den Schultern. »Irgendwie muss man ja auffallen und auf Tattoos stehe ich nicht. Außerdem erspare ich mir so das häufige Haarewaschen.«

Christian, der für alle Körperstellen dasselbe Duschgel aus dem Supermarkt benutzte, war mit Tanjas Antwort überfordert. An einem anderen Tag hätte er sich vielleicht gefragt, ob sie wegen ihrer Behinderung Probleme bei der Körperpflege hatte, aber heute war nicht dieser Tag. Stattdessen sah er nervös auf seine Uhr. »Wo bleibt Frederica? Um neun haben wir einen Termin beim Wolf und es ist schon zehn vor.«

Alle drei sahen zur Tür, als schnelle Schritte den Flur entlang kamen. Es war kein klackerndes Geräusch, wie man es von High Heels oder Stiefeln mit hohen Absätzen kennt, sondern glich dem Takt einer klassischen Melodie. Vertraut, aber der Titel blieb unbekannt.

Die Schritte verstummten vor der Tür und ein Papptablett, beladen mit drei großen Haselnusskaffees von Balzac und einer Tüte Hundekekse, schwebte in den Raum. Daran hing eine zierliche, nur 1,60 Meter große Frau, die fast vollständig hinter der Kaffeelieferung zu verschwinden schien.

Frederica stellte das Tablett auf ihrem Schreibtisch ab. Trotz des mulschigen Wetters trug sie ein hellgraues Hemdblusenkleid und dunkelblaue Sneakers aus Wildleder ohne Strümpfe. Ihre langen dunklen Haare hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Doch auffälliger als ihr smartes Erscheinungsbild waren ihre Augen. Unsichere Menschen sahen Kritik in ihrem Blick und wichen ihm schnell aus. Menschen, die wenig reflektierten, plusterten sich auf und erklärten sich. Nur diejenigen, die mit sich im Reinen waren, erkannten darin ihren leisen Humor und ihre unbedingte Menschenfreundlichkeit, die gar nicht so tief in Frederica verborgen lagen. Doch von diesen Menschen gab es nicht viele. Die meisten hätten ihren Blick als grau beschrieben, grau und statuenhaft.

Jetzt blitzte er durch das Großraumbüro: »Entschuldigt die Verspätung, bei Balzac war die Hölle los. Bei euch alles gut?« Sie schob Alfred aus dem Weg, der sich vor ihr aufrichtete und gefährlich nah an ihrer Nasenspitze hing, um die erschnüffelten Kekse einzufordern, und verteilte den Kaffee.

»Moin, Frederica«, grummelte Christian, während er sich den Gaumen verbrühte, »wir müssen zum Wolf.«

»Ich weiß. Hoffentlich hat er einen Fall für uns, bei dem wir nicht sofort wieder die Akte schließen müssen.«

Tanja gab ihr recht: »Wäre schön, wenn wir endlich loslegen könnten. In alten Fällen rumzuwühlen und immer wieder feststellen zu müssen, dass wir keinen neuen Ermittlungsansatz finden, ist frustrierend.« Sie rückte ihre Perücke erneut gerade. »Wenigstens müssen wir keine staubigen Akten durchforsten, sondern können auf digitalisierte Unterlagen zurückgreifen – zumindest in den jüngeren Fällen.«

Frederica gab Alfred ein paar Kekse, der sich damit zufrieden wieder in sein Bett verzog. »Vielleicht war meine Idee doch nicht gut, uns erst die jüngeren offenen Mordfälle vorzunehmen.«

Christian winkte ab: »Die Idee war schon richtig. Ich habe mir auch mehr davon versprochen, wenn wir digitale Spuren wie Handydaten oder Internetprotokolle auswerten können. Die Fälle, bei denen die Chance bestand, die sichergestellten Spuren mit modernen forensischen Methoden noch einmal zu untersuchen und vielleicht den Täter zu finden, waren bereits vor der Gründung unserer Unit wieder aufgenommen worden. Bleiben uns also quasi nur die jüngeren Fälle. Die Cold Cases sind schwierig, weil die damaligen Kollegen keine Beziehungstaten nachweisen konnten. Ihr wisst so gut wie ich, dass wenn wir weder ein Familienmitglied noch jemanden aus dem Bekanntenkreis des Opfers mit einem Motiv und einem Tathergang verbinden können, es so gut wie unmöglich ist, den Täter zu finden. Wir können nur hoffen, dass die Kollegen etwas übersehen haben. Eine Spur, einen Zeugen.« Er trank seinen Kaffee aus. »Auch wenn es mir nicht schmeckt, Kollegen ihre Ermittlungsfehler aufs Brötchen zu schmieren.«

»Wir machen alle Fehler.« Tanja nahm Alfred die restlichen Kekse weg und warf sie auf ihren Schreibtisch, der keine Hürde für eine ausgewachsene Dogge darstellte. »Darum geht es nicht. Die Kriminaltechnik hat sich allein in den letzten fünf Jahren so weiterentwickelt, dass wir durchaus neue Ermittlungsansätze bei den jüngeren Fällen finden können. Neue Spuren, neue Zeugenaussagen, Fortschritte eben in der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin. Nicht zu vergessen die neuen Methoden bei der Fallanalyse. Wir können die Fälle aufrollen, ohne die ehemaligen Ermittler an den Pranger stellen zu müssen. Ich bin definitiv für die jüngeren Cold Cases. Wer will sich schon durch Hunderte Papierseiten wühlen und alte Beweisstücke aus der Asservatenkammer holen, an denen doch nichts zu finden ist.«

»Christian hat es schon gesagt. Als die DNS-Analyse so weit war, sind alle alten Mordfälle mit noch brauchbaren Beweisstücken bereits untersucht worden«, meinte Frederica. »Wir können uns nur vorrangig um die Fälle kümmern, für die keine verwertbaren Beweisstücke vorliegen. Und um Erfolg zu haben, müssen wir hier anders denken. Kreativ werden. Notfalls – oder eher wahrscheinlich – müssen wir uns darauf einstellen, den Aktenseiten neues Leben einzuhauchen.«

»Dann gehen wir mal dem Wolf neues Leben einhauchen.« Christian nahm seine Lederjacke vom Schreibtisch, warf sie über die Lehne seines Bürostuhls und machte in Fredericas Richtung eine einladende Handbewegung. »Wenn ich bitten darf?«

*

»Moin, Maureen, siehst ja heute richtig gut aus«, grinste Christian die Assistentin seines Chefs an.

Maureen Thalbach sah von ihrem Laptop hoch. Christians Bemerkung prallte an ihr ab wie ein Medizinball an der Turnhallenwand. »Pink macht Urlaub, also kein Grund zur Freude.« Ihre Verehrung für die Popsängerin war nicht nur allgemein bekannt, sondern auch regelmäßig Gesprächsstoff unter den Kollegen, da sie sich wie ihr Idol zu stylen pflegte. Maureen störte das wenig, ebenso wie ihren Chef Thomas Wolf, was wiederum ebenfalls regelmäßig für Verwunderung sorgte, wenn Maureen in hautengen Leggings und frischem Undercut, pink gefärbt, zur Arbeit erschien. Heute war sie jedoch beinahe adrett gekleidet und trug ihre Haare in ihrer eigenen brünetten Farbe frisch geföhnt zur Seite. »Ihr seid spät dran. Moin, Frederica, geht gleich durch, in einer halben Stunde hat er schon den nächsten Termin.«

»Steht etwas Wichtiges an?« Christian blieb gerne auf dem Laufenden. »Irgendein hoher Besuch?«

Maureen blickte wieder auf ihren Laptop. »Gut, dass du deine speckige Lederjacke im Büro gelassen hast. Und nu macht hinne. Die Arbeit wartet nicht.«

Künstliches Vanillearoma holte zur Attacke aus und fegte durch Thomas Wolfs Büro. Frederica unterdrückte ihren Hustenreiz, setzte sich vor den Schreibtisch und zog ihr Kleid glatt. Ihr Dezernatsleiter hatte kürzlich, mit Anfang 60, mit dem Rauchen aufgehört und war auf E-Zigaretten umgestiegen. Anders als bei herkömmlichen Tabakwaren warnte kein blassdunkler Qualm die Augen und das Gehirn vor dem kommenden Angriff, dem der Geruchssinn hilflos ausgeliefert war.

Eine perfekte Überrumpelungstaktik, musste Frederica beinahe anerkennend zugeben. Auch wenn das süßliche Vanillearoma nicht zu Wolfs patriarchalischer Art der alten Schule passen wollte. Frederica sah zu ihrem Chef, der wie immer korrekt gekleidet im Anzug mit Seidenkrawatte hinter seinem großen Eichentisch saß und sie, auch wie immer, missbilligend musterte.

»Frau Dr. Moll, Herr Lauterbach …«, anders als im Polizeidienst üblich, siezte er seine Mitarbeiter, »… wir haben ein Problem. Unsere Cold Case Unit besteht bereits seit über drei Monaten und wir haben noch keinen Erfolg vorzuweisen. Der Innensenator erwartet Ergebnisse.« Er zog an seiner E-Zigarette und verdampfte Vanillearoma in ihre Richtung. »Ich erwarte Ergebnisse. Seitdem die Presse davon Wind bekommen hat, dass wir alte Fälle aufrollen, steht mein Telefon nicht mehr still. Jeder Hinz und Kunz will wissen, welchen Fall wir zuerst bearbeiten und wann wir den Mörder hinter Gitter bringen.« Er warf die E-Zigarette auf den Tisch. »Ich habe das Gefühl, als gäbe es nur noch Ihre Abteilung.«

Die Nachricht, dass die Hamburger Polizei eine Cold Case Unit aufbaute, war eingeschlagen wie eine Bombe. Die Zentrale wurde seitdem von Anfragen von Hinterbliebenen überhäuft, die Morde an ihren Partnern, Verwandten oder Freunden endlich aufgeklärt wissen wollten. »Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit. Die Menschen müssen erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist«, meinte Frederica, »das müssen wir respektieren.«

Und nichts ist respektloser als die Untätigkeit, sagte sich Christian. »Wir können nicht mehr tun, als uns durch die alten Fälle zu wühlen. Außerdem finde ich drei Monate jetzt echt nicht lang«, erwiderte er etwas kleinlaut. »Unsere Kollegen haben damals weder geschlampt oder Spuren fehlinterpretiert noch können wir mal eben auf die Schnelle neue Ermittlungsansätze aus dem Hut zaubern.«

»Was möchte Henning Marquardt denn genau?« Frederica lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Dass wir mit dem SEK Türen eintreten, bevor wir konkrete Beweise vorliegen haben, wird wohl kaum in seinem Sinne sein?«

Henning Marquardt war Senator der Behörde für Inneres und Sport und damit ihr Vorgesetzter. Sicherheit, Ordnung und Sport waren eine kuriose Mischung, begleitet von der Tatsache, dass die Senatoren in Hamburg »Präses« genannt wurden. Was Thomas Wolf momentan herzlich egal war. »Wie immer scharf analysiert, Frau Dr. Moll. Herr Marquardt hat in der Tat ein spezielles Anliegen.« Er warf eine sehr dünne Akte in ihre generelle Richtung. Christian zuckte zur Seite. »Keine Sorge, Herr Lauterbach, das ist nur eine Zusammenfassung. Die Details kann Ihnen Frau Buchholz aus den digitalen Akten holen.«

Frederica nahm sich die Akte und überflog das einzelne Blatt Papier, das etwas verloren darin lag. »Eine unidentifizierte Frauenleiche in der HafenCity. Sie wurde vor Fertigstellung des Bauabschnitts gefunden?«

Wolf nickte. »Im Quartier Brooktorkai, Bauabschnitt 2 und 8, wenn ich mich nicht irre. Dort wurden wegen der zu erwartenden starken Verkehrslärmbelästigung hauptsächlich Bürotürme hochgezogen, fast keine Wohnungen. Wenn die Bauarbeiter nicht aufgrund einer Nachbesserung wiedergekommen wären, hätte man die Leiche nicht mehr entdeckt und sie läge immer noch im Fundament.«

Christian beugte sich zu Frederica über das Blatt. »Woran ist sie gestorben?«

»Genickbruch«, antwortete Wolf.

»Und sonst nichts weiter?«

Wolf saugte an seiner Vanillestange. »Ein paar Abschürfungen und Prellungen kurz vor oder nach ihrem Tod. Jedenfalls nichts, was ein Fall in eine acht Meter tiefe Baugrube nicht erklären könnte.«

»Hat sie lange dort gelegen?«

»Nein«, sagte Frederica und las den letzten Satz, »sie soll kurz vorher hineingelegt worden sein.«

»Eher hineingeworfen«, meinte Thomas Wolf nüchtern. Derjenige, der sie dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen wollte, hatte die richtige Idee.«

»Ein Unfall wurde ausgeschlossen?« Frederica legte die Akte zurück auf den Tisch. »Sie kann nicht im Dunkeln hineingefallen sein und sich das Genick gebrochen haben?«

»Ob ein Unfall grundsätzlich ausgeschlossen wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist Ihr Job. Gefunden wurde sie vor fast sieben Jahren im Januar. Wir hatten damals wochenlang um die minus zehn Grad. Der Körper war steif gefroren, als die Bauarbeiter sie fanden. Und die waren seit zwei Wochen aufgrund des hart gefrorenen Bodens nicht mehr vor Ort gewesen.« Er lächelte Frederica an. »Aber um Ihre Frage nach einem unglücklichen Fall in eine Baugrube zu beantworten, Frau Dr. Moll: Die Tote war nur mit einem T-Shirt und Shorts bekleidet.«

Frederica lächelte nicht zurück. »Also unwahrscheinlich, dass sie durch einen Unfall gestorben ist.« Sie tippte auf die Akte. »Warum möchte Herr Marquardt, dass wir diesen Fall vorrangig behandeln? Gibt es neue Entwicklungen?«

»Nein.« Ihr Dezernatsleiter zupfte seine Krawatte zurecht. »Die Eigentümer des Bürogebäudes haben von unserer neuen Abteilung gehört und der Polizeistiftung eine substanzielle Summe gespendet, damit wir uns der Sache annehmen.«

»Wenn der Präses seine Finger im Spiel hat, sicherlich noch etwas mehr.« Christian versuchte, dem süßlichen Geruch auszuweichen, der wie von Geisterhand in seine Richtung wehte. »Gesponserte Mordfälle kommen jetzt in Mode?«

»Das habe ich überhört. Ich bitte Sie darum, die Identität der Frau festzustellen, damit sie endlich von ihren Angehörigen in Würde beerdigt werden kann. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Außerdem ist es doch die Aufgabe Ihrer Abteilung, alte Fälle aufzuklären?« Thomas Wolf sah zur Tür, als wäre das Gespräch beendet. Ihm schien noch etwas einzufallen, doch Frederica vermutete, dass er diesen leicht erstaunten Gesichtsausdruck, den er ihnen nun präsentierte, vor dem Spiegel geübt hatte. »Haben Sie sich mittlerweile auf eine Leitung geeinigt?«

Frederica und Christian sahen sich nicht an. Wolf hatte mehrfach deutlich gemacht, dass Christian als Fredericas ehemaliger Vorgesetzter in der Mordkommission versagt hatte. Beide wollten das Thema auf sich beruhen lassen.

Frederica fixierte ihren Chef zum ersten Mal an diesem Tag. Der Dezernatsleiter senkte den Kopf und zupfte wieder an seiner Krawatte. Fredericas kühler, grauer Blick, der alles sah und nichts kommentierte, schien in ihm Kurzatmigkeit auszulösen. Frederica ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie sollte die CCU leiten, das war ursprünglich der Plan zwischen Marquardt und Wolf gewesen. Wie sie von ihrer Mutter wusste. Allein deshalb hatte sie in den letzten Wochen die Leitung mehrfach abgelehnt. Sie hatte gehofft, dass sich das Thema damit erledigen würde. Aber sie wusste natürlich, dass die Unit eine Leitung brauchte. Dass Wolf nicht Christian fragen würde, war sowohl Christian als auch ihr klar gewesen. Schade, dass es tatsächlich so gekommen war. Doch nicht jeder war für Führungsaufgaben geeignet. »Wir sind der Auffassung, dass eine dreiköpfige Abteilung ohne Leitung auskommt.« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Oder planen Sie, die Abteilung zu vergrößern?«

Wolf hob seufzend die Augenbrauen. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie einmal eine Frage beantworten könnten, anstatt immer nur weitere zu stellen. Für Ihre Abteilung habe ich im Übrigen den Kauf meiner neuen Büroeinrichtung aufs nächste Jahr verschoben.«

»Och, die hier ist doch noch gut«, brach es jovial aus Christian heraus. »Mach es ungeliebtem Besuch bloß nicht zu gemütlich, sage ich meiner Frau immer, dann bleibt er nicht zu lang.«

Frederica zuckte innerlich zusammen. Sarkastische Bemerkungen gehörten gewöhnlich nicht in Christians Repertoire. Wahrscheinlich hing ihm die Leitungsfrage noch immer nach. Sie hoffte nur, dass sie ihm irgendwann erklären konnte, warum sie sie nicht wollte.

Mit der Bemerkung – so unpassend sie ihrem Chef gegenüber war – hatte Christian allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen. Wolfs Büro lud nicht zum Verweilen ein. Das Einrichtungskonzept folgte repräsentativen Zwecken. Ausladende Eichenmöbel, eine lange Vitrine an der Längsseite des Büros, die bis auf ein paar lieblos angeordnete Sport-Trophäen leer war und darüber hinaus keine Erfrischungen für Gäste bereithielt, sowie dunkelbraune, bodenlange Vorhänge erzeugten eine klaustrophobische Atmosphäre. An den dunkelgrünen Wänden hingen mehrere Ölgemälde mit verstaubten Motiven unbekannten Ursprungs in barocken Goldrahmen. Es gab keine Sitzecke, sondern nur vor dem riesigen Eichentisch zwei ebenfalls barocke Stühle mit Samtbezug, auf denen Wolfs Gäste unweigerlich in Gedanken ihre Sünden zusammenzählten. Ein Ambiente, das darüber hinaus nicht zum Tetris-Bau des Kommissariats passte, egal, was ihr Chef konzeptionell damit ausdrücken wollte.

Wolf hoffte wahrscheinlich auf die erstickende Wirkung seines Büros, da er Christians Bemerkung ignorierte. Seine Miene blieb ungerührt. Stattdessen griff er zum Telefon. »Geben Sie mir einen Namen zu der Leiche und wir sehen weiter. Maureen, ist mein nächster Termin vorbereitet? Danke.« Er legte auf, nahm die Akte vom Tisch und reichte sie Frederica zurück. »Ich gehe davon aus, dass Sie keine weiteren Fragen haben.« Ein leichtes Zucken griff von seinen Mundwinkeln auf seine Augenbrauen über. »Grüßen Sie Ihre Frau Mutter von mir.«

Kapitel 2

»Eine unidentifizierte Leiche?« Tanja kratzte sich unter der Perücke die Stirn. Frederica und Christian kannten sie lange genug, um ihre Unsicherheit zu bemerken, die sich durch Juckreiz äußerte. »Davon haben wir doch nur eine Handvoll pro Jahr. Und das sind in der Regel Obdachlose oder ausgesetzte Neugeborene.«

»Vielleicht will der Bauherr deshalb, dass wir ihre Identität herausfinden. Sie ist etwas Besonderes.« Christian trat zu Tanja hinter ihren Schreibtisch und blickte auf den Monitor, auf dem sie die Akte aufgerufen hatte. »Der Geist einer Toten im Fundament stört den Hausfrieden, besonders bei abergläubischen Personen.« Seine Augen weiteten sich. »Vor allem, wenn die Tote sehr jung und hübsch war. Sie war ja noch ein Kind.«

Tanja überflog den Bericht der Gerichtsmedizin. »Nach ihrer körperlichen Entwicklung, Skelettreife und Zahnentwicklung zu urteilen, muss sie mindestens 20 Jahre alt gewesen sein. Aber ich gebe dir recht, sie sieht eher nach 15 aus.« Sie kratzte sich wieder unter ihrem neongrünen Kopf. »Oha.«

»Hast du etwas gefunden?« Frederica saß an ihrem Schreibtisch und suchte aus einer Tüte Gummibären die grünen heraus, die sie Christian zuwarf.

»Der ausführende Rechtsmediziner war Hans-Werner Bommel.«

Christian verschluckte sich. »Hätte ich gleich draufkommen können.« Er warf sich die restlichen Zuckerbomben in den Mund und richtete sich theatralisch auf. »Ladys, wir sind am Arsch.«

Frederica warf die Tüte Gummibärchen in ihre Schreibtischschublade zurück. »Eine Koryphäe seines Fachs, nehme ich an?«

»Das war er tatsächlich, bis ihn seine Frau verlassen hat. Damit ist er nicht klargekommen, wurde in den frühzeitigen Ruhestand geschickt. Mit 55.« Christian zog die Stirn kraus. »Das war so vor sechs oder sieben Jahren. Die rechtsmedizinische Untersuchung unserer Toten wird also eine seiner letzten Amtshandlungen gewesen sein.«

Tanja klickte sich durch die Seiten. »Er mag ja Alkoholiker gewesen sein …«

»… nee, so einfach hat er es der Obrigkeit nicht gemacht, er hatte sich irgendwelche Pülverchen angemixt …«, unterbrach Christian sie.

»… ist doch egal«, redete Tanja unbeeindruckt weiter, »er war jedenfalls ein Sammler. Es liegen noch Gewebeproben unserer Jane Doe vor. Und ein paar weitere Asservate. Ihre Kleidungsstücke und ein paar Bodenproben.«

»Hört sich mal nicht nach einem Plan an.« Christian klang beleidigt. »Solange wir keinen Ermittlungsansatz haben, brauchen wir keine weiteren Untersuchungen alter Asservate.«

»Und wenn Dr. Bommel sie damals nicht sauber durchgeführt hat? Könnte doch sein, dass wir mehr Glück haben.«

»Mit Glück würde es dann weniger zu tun haben«, meinte Frederica. »Ich stimme Christian zu. Bevor wir keinen Ermittlungsansatz haben, sollten wir keine neuen Untersuchungen anfordern. Wir müssen der Rechtsmedizin nicht so offensichtlich schlampige Arbeit unterstellen. Zumal wir gar nicht wissen, ob es so gewesen ist.«

»Oder den ermittelnden Kollegen«, ergänzte Christian. »Manchmal bleibt ein Fall einfach ungelöst.«

»Erst mal müssen wir neue Beweise finden«, sagte Tanja, »dann können wir immer noch überlegen, ob wir dann einfach doch nur Glück gehabt haben – oder eben nicht.«

»Es ist jedenfalls wichtig, dass wir diplomatisch vorgehen. Wir setzen Beispiele für zukünftige Cold-Case-Bearbeitungen und ich möchte jedenfalls nicht als Nestbeschmutzer in die Historie eingehen«, sagte Christian. »Mein Vorschlag wäre, erst mal mit dem Autopsiebericht zu K. H. zu gehen.«

Tanja schob die Gummibärchen, die Christian ihr zugedacht und auf ihren Schreibtisch gelegt hatte, aus Alfreds Reichweite. »Ich rufe ihn an. Bestimmt kann Dr. Hausschildt euch kurz einschieben.« Sie winkte beide aus dem Büro. »Fahrt ruhig schon mal los, ich hab noch einen gut bei ihm.«

Das Institut für Rechtsmedizin am UKE, dem Universitätsklinikum Eppendorf, lag knapp vier Kilometer vom Kommissariat entfernt. Christian steuerte den Dienstwagen auf die Straße Beim Schlump am exklusiven Lehmweg und am Isebekkanal vorbei Richtung Troplowitzstraße. Der Tag hatte aufgeklart und warf ein untypisches Licht auf die weiß getünchten Villen und ihre opulenten Gärten, die sich mit ebenso eleganten Mehrfamilienhäusern mit zu vielen Autos und Fahrrädern auf den Bürgersteigen die engen Straßen teilten. Im frühen 18. Jahrhundert hatten Hamburger Kaufmannsfamilien ihre Sommerhäuser in Eppendorf gebaut, um der stickigen Hitze innerhalb der Wallanlagen zu entkommen, und das weltberühmte großbürgerliche Architekturbild geschaffen, umsäumt vom bunten Herbstlaub der Kastanien und Buchen. Christian jedoch, für den stilvolle Villen charakterlos waren, hatte nur Augen für den schleichenden Verkehr. Für Frederica, die selbst aus einer der alten Hamburger Kaufmannsfamilien stammte, waren sie immer noch Sommerhäuser.

»Warst du schon mal in der HafenCity?« Christian hupte einen Kleinwagen an, dessen Fahrer an der grünen Ampel vor sich hinträumte. Er dachte an einen ihrer früheren Fälle, der sie bereits in den neuen Hamburger Stadtteil geführt hatte, und formulierte seine Frage um: »Ich meine privat?«

Frederica räumte im Handschuhfach die Süßigkeitenabteilung auf. »Wo sind die Lakritzschnecken hin? Nein, ich finde die Atmosphäre dort zu steril. Außerdem wüsste ich nicht, was ich da sollte.« Sie zog ihre große Handtasche, einen Shopper von Jimmy Choo, vom Rücksitz nach vorne und kramte weiter. Sie fand eine Tüte Color-Rado und verstaute sie im Handschuhfach. »Du etwa?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Seele drin.« Er sah auf die schmucken Häuserzeilen. »Ich wohne lieber in einem neueren Bau gemütlich in Niendorf. Ich bin froh, dass uns meine Eltern ihr Haus überlassen haben, selber hätte ich mir das nie leisten können.« Er schielte zu Frederica rüber. »Aber explodierende Immobilienpreise können dir ja egal sein.«

Frederica überhörte seinen Sarkasmus. Sie war solche Spitzen gewohnt, von Christian und von allen anderen. Irgendwie hatten sie recht. Und irgendwie auch wieder nicht. »Mich lässt es nicht kalt, wenn junge Familien keine Dreizimmerwohnung bekommen, ob in Harvestehude oder am Mümmelmannsberg. Und ältere Menschen vereinsamt in großen Wohnungen leben müssen, weil sie noch sehr günstige Mieten zahlen und sich die kleineren Wohnungen ebenfalls nicht leisten können. Dann wird ein neuer Stadtteil erschlossen und anstatt mit entsprechenden Bebauungen für den Aufbau einer ausgeglichenen, gemischten Bevölkerungsansiedlung zu sorgen, werden hauptsächlich Bürogebäude hochgezogen, die niemand braucht.« Sie korrigierte den Anschnallgurt nach unten. »Die Mieten in der HafenCity kann sich niemand leisten, der auch wirklich dort leben und Nachbarschaftsverhältnisse aufbauen möchte.« Sie ruckelte weiter, bis sie zufrieden war. »Außerdem sind die Wohnungen hässlich.«

Christian bog in die Straße Butenfeld ein, die Adresse der Rechtsmedizin, und parkte ein. »Hässlich und teuer. Kann deine Familie, die Hamburg quasi mitgegründet hat, nichts dagegen ausrichten?«

Frederica lachte. »Nicht, solange die Familien, die Hamburg quasi mitgegründet haben und die die politische und damit gesamtgesellschaftliche Entwicklung gutheißen, sich in der Mehrheit befinden. Außerdem müsste ich dann in die Politik und das ist …«

»… gar nichts für dich«, unterbrach Christian sie. »Sorry, eigentlich wollte ich nicht …«

Frederica schnallte sich ab und stieg aus. »Ich weiß. Lass uns reingehen.«

Sie sah an dem Gebäude hoch und zwang sich, ihre innere Unruhe zu unterdrücken. Das UKE hatte mit seiner Gründung 1889 zunächst aus einstöckigen Pavillons bestanden, die weit getrennt voneinander gebaut worden waren, um der Verbreitung von Infektionskrankheiten vorzubeugen. Mit der Zeit hatten Gebäude die Pavillons ersetzt, die dem Tetris-Spiel des Kommissariats verblüffend ähnelten.

Frederica kam nicht gerne hierher. Es waren nicht die lieblosen Gebäude und auch nicht die Toten. Es waren die aggressiven Gerüche wie in Krankenhäusern, die eine menschliche Annäherung und Empathie verhinderten. Eine Blockade aus Feindseligkeit. Aber wenigstens musste sie sich hier nicht um die Lebenden Sorgen machen.

Christian zog seine Lederjacke an und rannte ihr hinterher. »Hey, ich war noch nicht fertig. Wir haben noch nicht mal richtig angefangen und schon fühle ich mich wieder in der Defensive.« Er hatte Frederica eingeholt. Als sie nicht reagierte, wurde er lauter. »Kennst du das Gefühl, zur richtigen Zeit am falschen Ort zu sein? Ich war mal dein Chef. Dass du befördert wurdest und wir jetzt beide Hauptkommissare sind – damit bin ich fein. Obwohl dich nicht zu interessieren scheint, was ich davon halte. Vielleicht bin ich auch damit fein, wenn du die CCU leitest. Was ich nicht verstehe, ist, warum du die Leitung nicht willst?«

Frederica zog an der Eingangstür und ging den Flur entlang zu K. H.s Büro. Christians Frage ließ sie unbeantwortet. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass er ihre Antwort nicht verstand und richtig einschnappen würde. Außerdem kannte sie ihre Beweggründe selber noch kaum. »Warum heißt es ›unidentifizierte Leiche‹? Als wäre die Suche nach dem Leben einer Person ein bürokratischer Vorgang, wie die Verlängerung eines Personalausweises?«

Christian schien merkwürdigerweise keine Antwort erwartet zu haben. Vielleicht unterdrückte er aber auch nur seinen Ärger. »Weil Erika Mustermann noch dämlicher klingt.«

»Und Doe auf Deutsch eine Damhirschkuh ist.« Dr. Hausschildt kam ihnen breit grinsend entgegen. »Ich freue mich, Frau Dr. Moll, dass Sie wie immer die richtigen Fragen stellen.«

»Sie sind aber gut gelaunt. Und so redselig.« Christian schob sich an dem Rechtsmediziner vorbei in dessen Büro und setzte sich vor den übervollen Schreibtisch. »Hat Tanja gesagt, worum es geht?«

K. H. stand nicht für die Initialen von Klaus Hausschildt, sondern kam von Kaspar Hauser, dem »rätselhaften Findling«, der 1828 wie aus dem Nichts in Nürnberg aufgetaucht war und wenig Sprache besaß. Der Rechtsmediziner kannte seinen Spitznamen, der ihm von einem Kollegen verliehen worden war, und begrüßte ihn sogar, da er es in der Regel vorzog, seine Untersuchungsergebnisse in knapper Schriftform mitzuteilen. Heute schien er jedoch eine Ausnahme zu machen. »Wussten Sie, dass Eskimos Kühlschränke benutzen, damit ihre Lebensmittel nicht einfrieren?«

»Heißen die nicht korrekt Inuit?« Christian beugte sich verwirrt nach vorne. »Wurde unsere Jane in einem Kühlschrank warm gehalten?«

»Oh, da täuschen Sie sich«, erklärte K. H., der Christians erste Frage erwartet zu haben schien. »Eskimo ist nur ein Sammelbegriff, kein Schimpfwort. Auch wenn er von den Kolonialisten eingeführt wurde. Besonders die Stämme in Alaska haben den Begriff ›Eskimo‹ angenommen und möchten nicht als Inuit bezeichnet werden.« K. H. setzte sich an seinen Schreibtisch und schob ein paar Haufen Akten auf die Seite. »Was ich damit sagen will, ist, dass wir genau hinsehen müssen, bevor wir uns ein Urteil erlauben können.«

Bevor K. H. weiter ausholen konnte, ließ Frederica sich auf dem verbleibenden Besucherstuhl nieder. »Die Leiche war gefroren, das wissen wir bereits. Hatten Sie Zeit, sich den Fall anzusehen? Können Sie uns etwas sagen, was nicht in den Ermittlungsakten oder dem Autopsiebericht steht?«

Der Rechtsmediziner machte seinem Spitznamen heute wirklich keine Ehre. Normalerweise hätte er kurz den Kopf auf dem langen, schlaksigen Körper geneigt und gegrunzt. Stattdessen beugte er sich nach vorne, stützte die Ellenbogen auf und legte seine Hände zu einem Dreieck zusammen. »Frau Dr. Moll, da ich weiß, dass Sie meine Zeit nicht verschwenden werden, erübrige ich für Sie so viel davon, wie Sie brauchen.« Seine Miene nahm einen ernsten Ausdruck an. »Insbesondere, wenn die Obduktion mein einst hochgeschätzter Kollege Dr. Bommel durchgeführt hat.«

Frederica ignorierte vorerst die letzte Bemerkung. »Vorrangig stellt sich uns die Frage, warum die junge Frau nicht identifiziert werden konnte. Es gab demnach keine auffälligen Merkmale an der Toten?«

K. H. schüttelte den Kopf. »Eine junge Frau um die 18 bis 24 Jahre, circa 1,75 groß und 60 Kilogramm schwer, europäischer Phänotyp.«

»Könnte sie aus einem Krisengebiet geflohen sein?«, fragte Christian. »Wenn sie zum Beispiel nicht aus Deutschland ist, auch nicht registriert wurde und keine Angehörigen oder Freunde hier hat, könnte das erklären, warum wir ihre Identität nicht feststellen konnten.« Er drehte sich erklärend zu Frederica. »Tanja hatte mir noch hinterhergerufen, dass keine Vermisstenmeldung zum Zeitpunkt des Auffindens gepasst hat.«

Frederica zog die Gummibärchentüte aus ihrem Shopper und hielt sie den Männern hin. Sie nahmen sich jeweils eine Handvoll und schoben sie sich in den Mund. K. H. sprach kauend weiter. »Sie war gesund, hatte keine Anzeichen einer Mangelernährung, die toxikologische Untersuchung zeigte keine Auffälligkeiten. Ihre letzte Mahlzeit hatte aus Müsli mit Hafermilch bestanden.«

Christian verdrehte die Augen. »Die versucht mir meine Frau neuerdings auch anzudrehen. Wäre besser für meine Blutfettwerte und tierfreundlicher. Dabei ist das noch nicht mal Milch, sondern dünner Haferschleim. Ich hasse das Zeug.«

»Dann soll Annabelle dir Mandelmilch füttern. Die wird dir schmecken.«

»Hast du dich schon wieder mit meiner Frau abgesprochen? Und wieso soll ich diesen Abfall essen?«

»Weil es gut für deine Blutfettwerte ist und tierfreundlich.«

Christian triumphierte: »Ach, und was sind dann deine Gummibärchen?«

»Das ist was anderes. Außerdem…«

Der Rechtsmediziner schien beleidigt, dass man ihn so offensichtlich ignorierte. Er unterbrach die beiden: »Falls es jemanden interessiert, wir haben keine Anzeichen einer Vergewaltigung feststellen können. Was nicht bedeutet, dass keine stattgefunden hat. Sie könnte bewusstlos gewesen sein oder betäubt, die Toxikologie findet nicht alles. Schläge gegen die Schläfe manifestieren sich erst später oder die blauen Flecken und Abschürfungen, die wir gefunden haben, haben zur Bewusstlosigkeit geführt. Wobei diese auch aufgrund des Abwurfs der Leiche in die Baugrube entstanden sein könnten. Ob sie ante oder post mortem zugefügt wurden, hat Dr. Bommel nicht feststellen können. Sie ist durch einen Genickbruch gestorben, der …«

Christian fuhr sich durchs Haar. »Mann, haben Sie Sabbelwasser getrunken? Ich bin schon ganz wirr im Kopf.«

Frederica ging schnell dazwischen. »Ich habe erst nach Dr. Bommels Pensionierung meine Praxis aufgegeben, um in den Polizeidienst einzutreten, vielleicht können Sie mir etwas über ihn erzählen. Ich habe gehört, dass Ihr Kollege persönliche Probleme hatte. Können Sie abschätzen, inwieweit diese sein professionelles Urteilsvermögen getrübt haben könnten?«

Als K. H. sie schweigend ansah, setzte sie fort: »Ich frage mal anders: Wenn Sie die Autopsie vorgenommen hätten, hätten Sie etwas anders gemacht? So, wie jeder seine persönliche Herangehensweise hat und dadurch einen anderen Blickwinkel?«

K. H. nickte und legte seine Hände wieder zu einem Dreieck zusammen. »Ja, natürlich. Der Ablauf einer Autopsie – oder Obduktion, wie Sie wollen, die Begriffe werden synonym verwendet – ist selbstverständlich streng geregelt. Aber wenn dabei keine verwertbaren Spuren für die kriminologische Untersuchung sichergestellt werden können, muss man von vorne anfangen, um einen Tathergang zu rekonstruieren oder Hinweise auf den Mörder zu finden. Dass es gar nichts gibt, ist selten. Ich persönlich glaube, dass man nur richtig suchen muss. Und dafür die richtigen Fragen stellen.«

»Was nach sieben Jahren schwierig werden könnte.« Christian sah Frederica herausfordernd an und nahm sich noch eine Handvoll von den Gummibären. »Wo ist die Leiche überhaupt abgeblieben? Werden unidentifizierte Leichen verbrannt?«

»Die Frage ist berechtigt. Sie und Ihre Kollegen haben es sehr selten mit unidentifizierten Leichen zu tun und wenn, sind diese nicht unbedingt einer Straftat zum Opfer gefallen. Eine Feuerbestattung ist in einem solchen Fall nicht zulässig. Es erfolgt eine Erdbestattung. Eine zweite Leichenschau wird jedoch nur bei einer Feuerbestattung vorgenommen, daher haben wir nur den Obduktionsbericht von Dr. Bommel und seinem Team. Ich habe aber bereits für Sie vorrecherchiert. Die beiden Assistenzärzte, die seinerzeit an der Autopsie beteiligt waren, sind nicht mehr bei uns. Trotzdem habe ich bereits mit einem von ihnen, Frank Weber, telefoniert. Er meinte, ihm sei nichts Ungewöhnliches aufgefallen.« Er besah sich seine Fingerspitzen. »Auch nicht an der Vorgehensweise meines Kollegen.«

»Natürlich. Das sagen wir auch immer, wenn uns jemand nach der Arbeit eines Kollegen fragt«, meinte Christian. Er zuckte unter dem strengen Blick des Rechtsmediziners kurz zusammen. »Wenn sich Dr. Bommel penibel an die Richtlinien gehalten hat, wird das auch so sein. Hat er doch, oder?«

»Natürlich.« K. H.s Antwort hörte sich wie ein Echo an. Die späte Reflexion einer bedeutungslosen Schallwelle. Als müsste er noch darüber nachdenken, wie er den Ruf seiner Abteilung schützen konnte. »Wir haben der Toten Gewebeproben und DNS entnommen, die Ihnen zur Verfügung stehen – sobald wir die DNS mit einer anderen Probe vergleichen können. Ob wir anhand einer Untersuchung der Gewebeproben neue Erkenntnisse gewinnen können, wird sich zeigen.«

»Oder wir lassen die Leiche exhumieren.« Christian hob ein Blatt Papier auf und legte es auf den Stapel zurück, von dem es wie von Geisterhand heruntergeschwebt war.

»Davon würde ich Ihnen abraten. Viel wird nicht übrig sein.«

»Vielleicht suchen wir nach etwas, was man nicht exhumieren kann.« Frederica stand auf und gab K. H. die Hand. »Vielen Dank für Ihre Zeit.«

»Warum sind wir so schnell gegangen?« Christian entriegelte den Dienstwagen und stieg ein. »Und was meintest du mit der Bemerkung eben?«

Frederica schnallte sich an. »Ich bin zwar keine Medizinerin, aber Psychoanalytikerin. Nach der Beweislage glaube ich nicht, dass K. H. uns etwas verschweigt. Du hast den Obduktionsbericht gesehen. Dr. Bommel mag unrühmlich abgetreten sein. Aber schlampige Arbeit wird er nicht unbedingt abgeliefert haben. Vielmehr hat im Zusammenspiel aller Abteilungen niemand die richtigen Fragen gestellt. Da bin ich ganz bei K. H. Das ist nicht unprofessionell, sondern lediglich nachlässige Ermittlungsarbeit.«

»Moment mal, nur weil niemand weiß, wer die Tote ist, haben die Kollegen …«

»Das will ich damit nicht sagen«, unterbrach ihn Frederica. »Aber man muss den Toten zuhören. Sie brauchen jemanden, der an sie glaubt und ihnen erklärt, warum sie gestorben sind. In der Polizeiarbeit geht es dagegen immer nur um das Wie. Das Motiv, also das Warum ist sekundär. Vielleicht hilft das Warum bei der Ermittlungsarbeit, dem Täter auf die Spur zu kommen, aber ansonsten zählt es nur vor Gericht für die Festlegung des Strafmaßes.« Sie löste das Gummi aus ihrem Haar und band ihren Pferdeschwanz neu zusammen. »Woran sie gestorben ist, wissen wir. Wie sie gestorben ist, wissen wir noch nicht ganz. Aber das Warum ist wichtig. Nicht nur, warum sie getötet wurde. Warum lag sie in einer Baugrube? Warum wurde sie entsorgt wie ein altes Möbelstück, für das man zu faul war, zum Sperrmüll zu fahren? Warum wurde sie in der HafenCity an der Ericuspromenade abgelegt? Da kommt man nicht mal eben vorbei.«

»Auch mit einem Geständnis brauchen wir das Wie, um den Täter überführen zu können. Das weißt du ebenso gut wie ich. Warum jemand tötet, bringt uns nicht weiter, weil die Motive immer dieselben sind. Eifersucht und Habgier. Neid und Habgier. Die meisten Morde begehen Familienangehörige oder Bekannte.«

»Richtig, daher ist es besonders wichtig, bei denen, die davon abweichen, die Motivation hinter dem Mord zu verstehen.« Sie sah Christian an. »Als ich bei euch anfing, war ich sehr überrascht, wie emotional ihr an die Dinge herangeht. So als wäre jeder Mord etwas Persönliches. Persönlich für euch, aber eben nicht für das Opfer.«

Christians Blick verfinsterte sich. Frederica konnte nicht sagen, ob es an dem Fußgänger lag, der bei Rot die Straße überquerte, oder an ihrer Aussage. »Was soll das jetzt wieder heißen?« Christian hatte den Fußgänger nur knapp verfehlt, der sich im Rückspiegel wild gestikulierend beschwerte. »Natürlich nehme ich jeden Mord persönlich. Aber haben wir uns denn bereits auf Mord geeinigt?«

Frederica schaute aus dem Seitenfenster. »Wir haben es wenigstens mit einem unnatürlichen Tod zu tun. Vielleicht war es auch nur ein Unfall mit Entsorgung der Leiche. Wir werden sehen, wohin der Fall uns bringt.«

Christian blieb an der Kreuzung zur Süderfeldstraße stehen und sah Frederica fragend an. »Und wohin bringt er uns jetzt? Zurück ins Büro?«

»In der Pathologie werden wir nicht weiterkommen. Dr. Bommel können wir allenfalls Gleichgültigkeit vorwerfen und K. H. wird nur tätig, wenn wir ihm einen konkreten Hinweis liefern.« Sie rief auf ihrem Handy die Ermittlungsakte auf, die Tanja ihnen freigeschaltet hatte. »Mal sehen, wer der ermittelnde Beamte gewesen ist.« Als sie den Namen fand, weitete sich ihr Blick und sie sah Christian an. »Zurück ins Büro. Schnell.«

Kapitel 3

»Henning. Was kann ich für dich tun?« Thomas Wolf stand am Fenster seines Büros und versuchte, den künstlichen Vanillegeruch durch Stoßlüften zu vertreiben. »Maureen? Bringen Sie uns bitte zwei Tassen Tee. Und ein paar Kemm’sche Kuchen.« Er drehte sich zu Henning Marquardt um.

Wenn Präses Henning Marquardt einen Raum betrat, verstummten die Gespräche. Er war sich seiner Wirkung bewusst und nutzte sie regelmäßig zu seinem Vorteil. Thomas Wolf musste zugeben, dass er neidisch war. Er war jedoch klug genug zu wissen, dass diese Art der Ausstrahlung eine Gabe war und nicht antrainiert werden konnte.

Sein Präses füllte das Büro und machte keine Anstalten, sich zu setzen. »Hier sieht es ja immer noch aus wie in einem bankrotten Herrenklub.«

»Das ist dein Verdienst, wie du sehr wohl weißt. Die Mittel hast du ins CCU umgeleitet.«

»Richtig, jetzt erinnere ich mich.« Marquardts Miene verriet dem Dezernatsleiter, dass er es keineswegs vergessen hatte. Wolf konnte Ränkespielen nicht viel abgewinnen. Er beließ es bei einem Nicken. Glücklicherweise hielt sich sein Chef bei ihm nicht mit Smalltalk auf. »Hat sie die Erklärung geschluckt?«

Deswegen war er also hier. Es gab in seinem Leben offensichtlich wirklich nur noch die neue Abteilung. Er fing an, den Namen Moll zu hassen. »Woher soll ich das wissen? Ich werde aus dieser Frau nicht schlau. Und ich habe weder Lust noch Zeit, sie zu babysitten.«

»Wenn deine Mitarbeiter in ihrem Job besser wären, hättest du das Problem nicht.«

»Hauptkommissar Lauterbach ist Mordermittler, kein ›Ich halte dich von der Akte deines Vaters fern‹-Aufpasser. Und ziehe bitte nicht Frau Buchholz da auch noch mit rein. Ich bin nicht gut in Schach.«

»Wie misslich. Aber deswegen bin ich nicht hier.« Marquardts Körper straffte sich, wie durch innere Zufriedenheit, und Wolf wappnete sich für das, was ihm sein Vorgesetzter mitzuteilen hatte. »Ich habe seine Akte vernichtet.«