Kommissarin Moll und die Tote aus der Speicherstadt - Isabel Bernsmann - E-Book
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Kommissarin Moll und die Tote aus der Speicherstadt E-Book

Isabel Bernsmann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Als die Freundin des Junior-Chefs ermordet in der ehrwürdigen Hamburger Bank »Severin und Partner« aufgefunden wird, übernehmen Kommissarin Frederica Moll und ihr Partner Christian Lauterbach die Ermittlungen. Sie finden heraus, dass eine Gruppe junger Programmierer und Mathematiker an einer Version des Bitcoins arbeitet, die nicht nur eine Bedrohung für Spekulanten darstellt, sondern auch vom organisierten Verbrechen genutzt werden könnte. Eine Mischung, die sie ins Visier gefährlicher Gruppierungen rücken lässt …

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Isabel Bernsmann

Kommissarin Moll und die Tote aus der Speicherstadt

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliches Versprechen Eine junge Frau liegt bewusstlos und dem Koma nahe im Konferenzraum der Hamburger Bank »Severin und Partner«. Sie ist Mathematikerin und eine Angestellte des Hauses. Kurz darauf wird die Freundin des Junior-Chefs ermordet und auf grausame Weise in der ehrwürdigen Bank ausgestellt. Kommissarin Frederica Moll und ihr Partner Christian Lauterbach finden heraus, dass eine Projektgruppe junger Mathematiker für »Severin und Partner« eine verbesserte Version der Kryptowährung Bitcoin entwickelt, die sicherstellen soll, dass alle Transaktionen zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden können. Geldwäsche und Schwarzgelder in Millionenhöhe, die sich bis jetzt einer staatlichen Kontrolle entzogen haben, wären für die Behörden sichtbar. Aus der akademischen Übung wird schnell ein Spiel um Leben und Tod, als Spekulanten und Kriminelle aus dem organisierten Verbrechen die Jagd auf die Programmierer eröffnen. Ein Spiel, das Kommissarin Frederica Moll unter allen Umständen gewinnen muss, um weitere Morde zu verhindern.

Isabel Bernsmann wurde 1967 als Kind einer wortkargen Norddeutschen und eines redseligen Rheinländers geboren und wuchs in den USA, Belgien und halb Deutschland auf. Nach ihrem Studium der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entschied sie sich für eine berufliche Zukunft in den Medien und zog in ihre Wahlheimat Hamburg. Mittlerweile arbeitet sie in Berlin in der Fernsehbranche. Gelegentlich aufkeimende Mordgelüste und Heimweh kompensiert sie durch das Schreiben von Hamburg-Krimis. »Kommissarin Moll und die Tote aus der Speicherstadt« ist ihr zweiter Kriminalroman um die Hamburger Kommissare Moll und Lauterbach.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Originalausgabe erschienen 2020 im Eigenverlag der Autorin, © Isabel Bernsmann

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Claudio Testa / unsplash

ISBN 978-3-8392-7476-7

Widmung

Für Peter

Prolog

11. Mai 2018, 2.30 Uhr Gotthardstraße 43, Zürich, Schweiz

Urs wischte sich müde über das Gesicht und trat sofort wieder in die Pedale. Er spielte nervös mit der Gangschaltung und zwang seine Augen, die regennasse Straße vor sich zu fixieren. Er schüttelte den Kopf. Das alles konnte nur Einbildung sein. Der Schnaps war schuld, das musste es sein. Als Strafe für seine Disziplinlosigkeit würde er seinen Konsum an Horrorfilmen, insbesondere denen von John Carpenter, in nächster Zeit einschränken. Er fixierte weiter die Straße, während seine Beine nur zögerlich vorwärtstraten. Vielleicht war es einfach zu leer auf den Straßen. »Massive Attack« würde ihm jetzt guttun. Über seine Ambient-Kopfhörer steuerte er »Unfinished Sympathy« an und erhöhte seine Trittfrequenz.

Er schaffte gerade mal zehn Meter, bevor er wieder nach dem Wagen suchte. Dieser Blick über die Schulter hatte sich zu einer zwanghaften Handlung entwickelt, seitdem er das riesige schwarze Ungetüm zum ersten Mal gesehen hatte. Es war vor der Kneipe aufgetaucht und hatte sein Fahrrad mit einem grellgelben Lichtkegel markiert. Ihm war der riesige Kühlergrill aufgefallen, der wie ein Rammbock vor der Motorhaube hing und von den kreisrunden Scheinwerfern, wie von zwei Leibwächtern, umrahmt wurde. Er hatte das alberne Ding ignoriert und sich, leicht schwankend von den vier Bier, auf den Weg nach Hause gemacht. Er konnte sich nicht erinnern, wann die gelben Schatten angefangen hatten, ihn zu jagen. Er wusste nur, dass sie immer wieder hinter ihm aufgetaucht waren, egal, wie oft er um eine Ecke verschwunden war.

Instinktiv hielt er an und sah sich wieder um. Da waren sie. Die gelben Lichter blieben kurz stehen und fuhren dann langsam an ihm vorbei. Der Nieselregen malte dunkle Schlieren auf die Scheiben, sodass er den Fahrer nicht erkennen konnte. Gab es überhaupt einen Fahrer, oder war das Ding direkt aus der Hölle gekommen? Er schwang sich wieder auf den Sattel und konzentrierte sich auf die Musik. »You’re the book that I have opened …«

Der Wagen war einige Straßen weiter nach links abgebogen. Urs atmete tief ein und trat wieder schneller in die Pedale. Er konnte ja noch nicht einmal mit Sicherheit behaupten, dass es immer derselbe Wagen war. Warum auch? Wer sollte es auf ihn abgesehen haben? Claires Verschwörungstheorien konnte er nicht ernst nehmen. Sie war immer schon misstrauisch gegen alles und jeden gewesen, doch seit sie in Deutschland diesen Bankjob angenommen hatte, fühlte sie sich regelrecht verfolgt. Ihre gemeinsame Forschungsarbeit an den Kryptowährungen hatte bereits darunter gelitten, weil die herausragende Mathematikerin Claire Muller Gespenster sah.

Plötzlich hörte er einen Motor hinter sich aufheulen. Seine Füße verloren ihren Tritt und sein rechter Knöchel schlug schmerzhaft gegen die Pedale. Sein Körper bemühte sich, sein Gleichgewicht auf dem Rad zu halten, während sein Kopf panisch versuchte, ihn vor dem gelben Abgrund zu retten, der hinter ihm auf ihn zuraste. Die Feuchtigkeit hatte die Scheinwerfer des Wagens zu riesigen Schlünden aufgezogen, die ihn bereits umhüllten. Verzweifelt trat er gegen seinen kaputten Dynamo, der sich auch durch die rohe Behandlung nicht wieder zum Leben erwecken ließ. Urs suchte erneut sein Gleichgewicht und trat schneller und schneller zu dem Trip-Hop-Stück in die Pedalen, bis er doppelt so schnell war wie der Beat. Der gelbe Nebel wurde blasser, und obwohl ihm plötzlich speiübel wurde, verringerte er sein Tempo nicht mehr. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Schnitt ins eigene Fleisch. Claire hatte recht gehabt.

Schneller und schneller, lauter und lauter. LIKE A SOUL WITHOUT A MIND! Bloß nicht darüber nachdenken, weg von der Straße. Nach Hause, die Tür abschließen und sich im Bett verkriechen. Und auf den Morgen warten. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sein rechtes Bein. Er war wieder aus dem Takt geraten und diesmal mit dem linken Fuß von der Pedale gerutscht.

Er wollte nicht glauben, dass ihm jemand durch die Züricher Nacht mit der Absicht folgte, ihn zu töten. Aber vielleicht wollte derjenige ja nur reden? Wenn er ihm alles sagte, was er wüsste, dann würde doch wieder alles gut werden?

Ihm war mittlerweile kalt und sein Hemd klebte ihm unangenehm am Rücken, als er zu »Really hurt me, baby!« endlich in die Gotthardstraße abbog. Sofort sah er die Frau, die in gekrümmter Haltung vor dem Grünstreifen stand und auf die er in gerader Linie zuhielt. Neben ihr saß ein Hund, der ihn lustlos anzustarren schien. Sollte er sie um Hilfe bitten? Aber er hatte es nicht mehr weit und die Lichter waren ihm seit einigen Minuten nicht mehr gefolgt. Er umrundete das Pärchen schneller, als er »how can you have a day without a night?« brüllen konnte, und verschwand in die Nacht. Diesmal hatte er sich nicht umgesehen.

Christiane Semmling kniff ihre Augen zusammen. Schlaflosigkeit war eine Geißel, die sich gegenüber den anderen Wehwehchen, die ein 85 Jahre alter Körper produzierte, gerne als Königin aufspielte. Da war es fast Schicksal, dass ihre Sandy ihr Wasser nicht mehr halten konnte und sie zu jeder Tages- und Nachtzeit vor die Tür zerrte. Wenigstens war es nachts angenehm leer auf den Straßen.

Doch was war das? Missbilligend formten sich ihre Augenbrauen zu gekrümmten Fragezeichen. Waren das die Umrisse eines dunkel gekleideten Fahrradfahrers, der aus der Glärnischstraße in gerader Linie auf sie zugefahren kam? Konnte er sie überhaupt sehen, ohne Licht? Irritiert hörte sie, wie er lautstark sang. Falls er damit andere Verkehrsteilnehmer warnen wollte, war ihm das hiermit gelungen. Sie zog Sandy an der Leine näher zu sich, als der Fahrradfahrer in einer ausladenden Bewegung an ihnen vorbeifuhr.

Sie konnte seinem rhythmischen Gebrüll noch einen Moment folgen, bevor es durch einen lauten Knall abrupt endete. Erschrocken sah sie die Straße hinunter. Der Regen hatte etwas zugenommen und ihre Augen konnten im engen Lichtkegel der Straßenlaterne wenig ausmachen. Aber es war ein zufriedener Knall gewesen, so, als wenn jemand mit einem Stock gegen eine riesige Mülltonne aus Eisen geschlagen hätte. Sie drehte sich um und zog wieder ungeduldig an der Leine. Drei Straßenlaternen weiter war ein dunkler SUV kurz stehen geblieben, um sie mit seinen roten, geschlitzten Rücklichtern abschätzen zu können, machte einen U-Turn und bog dann mit quietschenden Reifen wieder in die Claridenstraße ab, von wo aus er sein Opfer abgefangen hatte. Frau Semmlings Augen suchten beunruhigt die Fahrbahn ab. Doch vom Fahrradfahrer fehlte jede Spur.

»Sandy, komm, lass uns nachsehen, was passiert ist.«

Sie fanden ihn an der nächsten Straßenecke, zusammengekrümmt auf dem Asphalt. Das Fahrrad lag einige Meter entfernt, grotesk verbogen, als wollte es sich über seinen Besitzer lustig machen. »Sandy, Platz!«, befahl Frau Semmling und beugte sich über den Mann. »Können Sie mich hören?«

Der Mann hörte auf zu wimmern, aber er antwortete nicht. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf. Sie versuchte noch einmal, mit dem Mann zu sprechen. Doch seine Atmung war bereits zu flach. Im Licht der Straßenlaterne konnte sie einen kleinen Gegenstand erkennen, der hinter dem Verletzten im Rinnstein glitzerte. Sie ging um den Mann herum, nahm es auf und hielt es ins Licht. Es sah aus wie ein Schlüsselanhänger, nur ohne Schlüssel. Ein kleiner, weißer Terrier, der unnatürlich in die Länge gezogen war, als wollte er zu einem weiten Sprung ansetzen. Irgendwo hatte sie das Tier schon einmal gesehen. In einem Buch vielleicht?

Der Mann stöhnte auf. Sie ließ den Anhänger achtlos zu dem Handy in ihre Hosentasche gleiten, nahm die Hand des Fremden und sprach beruhigend auf ihn ein.

Nach endlosen Minuten traf der Notarzt ein. Gespenstisch flackerte das Blaulicht seines Wagens durch die dunkle Nacht. Sandy fiepte leise.

Um 3.10 Uhr konnte der Arzt nur noch den Tod von Dr. Urs Wendeler feststellen. Todesursache war ein Schädelhirntrauma, verbunden mit schweren inneren Verletzungen und einem gebrochenen Halswirbel.

Kapitel 1

Einen Monat später

Der Wachmann Jürgen Minski reckte seine Arme nach oben und sah sich in der Reflexion seines Glaskastens genüsslich beim Gähnen zu. Endlich 23 Uhr. Gleich würde er zu seiner letzten Runde aufbrechen. Er musste keine Übergabe machen, da der Wachmann für die frühen Morgenstunden bereits vor Jahren wegrationalisiert worden war. Er konnte also in einer Stunde das Licht ausmachen, die Türen abschließen und ins verdiente Wochenende verschwinden. Und mit ein bisschen Glück würde Monika noch da sein, bevor ihre Schicht im Krankenhaus begann … Er gähnte genüsslich ein zweites Mal, nahm die Taschenlampe in die linke Hand, schob mit der rechten ein Wurstbrot in den Mund und machte sich auf den Weg.

Die Büroräume des Finanzhauses Severin & Partner lagen in der Speicherstadt des Hamburger Hafens. Was von außen immer noch nach einem alten Fabrikgebäude aus dem 19. Jahrhundert aussah, war im Inneren zu einem modernen Bürobau mit einem großen Atrium umgebaut worden. Fast alle Innenwände waren aus Glas. Die Etagen, die man teilweise über das Foyer einsehen konnte, verband ein gläserner Fahrstuhl. Im Eingangsbereich hatte man im klassischen Hamburger Understatement ein paar Chesterfield-Ledergarnituren um einen eleganten Springbrunnen platziert. Teile der Fassade und des Mauerwerkes waren kunstvoll in den Umbau integriert worden, was selbst einem architektonischen Laien wie Jürgen Minski positiv aufgefallen war. Er konnte die bunt bedruckten Kaffeesäcke, die hier jahrhundertelang gelagert worden waren, noch förmlich riechen. Aber eine gelungene Fusion zwischen alter Hanse und der Moderne interessierte den fußlahmen Wachmann weniger als die offenen Korridore, die man bequem von Weitem einsehen konnte, ohne sie ganz hinuntergehen zu müssen.

Schnaufend stieg er durchs Treppenhaus. Die Büros der Banker lagen verwaist auf den Fluren. Um Milliarden zu verschieben, benötigte man nur noch ein Smartphone. Doch als er im vierten Stock die Brandschutztür aufstieß, sah er im Konferenzraum noch Licht. Die Investmentbankerin, mit der er sich am frühen Abend unterhalten hatte, hatte wohl vergessen, es auszumachen. Typisch, diese Jugend von heute. Nichts war für die von Wert, wofür andere hart arbeiten mussten.

Der Konferenzraum verfügte über einen Sichtschutz, der jetzt vollständig zugezogen war. Jürgen Minski wollte eigentlich nur die schwere Glastür einen Spalt öffnen, nach dem Schalter tasten, das Licht löschen und weitergehen. Stattdessen blieb er, wie angewurzelt, im Türrahmen stehen. Mit der Präsenz eines anderen Menschen hatte er nicht gerechnet. Am Kopfende des langen Konferenztisches saß noch jemand. Er fuhr sich durch die Haare. Vielmehr, lag da noch jemand. Der Oberkörper war längs über den Tisch gefallen und die Arme hingen schlaff zur Seite herunter, als hatte derjenige vorgehabt, den schweren Konferenztisch alleine anzuheben. Vor dem Körper lagen ein Notebook und ein aufgeschlagener Notizblock. Die Person war zu weit weg, als dass er hätte sagen können, wer sie war und was sie genau da trieb, aber der Kleidung nach zu urteilen schien es die Investmentbankerin zu sein. Unschlüssig blieb er an der Tür stehen. Sollte er rufen? Er entschied sich zunächst für ein lautes Räuspern. Keine Reaktion.

»Guten Abend, ich wollte Sie nicht stören«, sagte er als Nächstes, sehr laut und sehr deutlich, aber immer noch reagierte sie nicht. Dann fasste er sich ein Herz und ging zu ihr. Zaghaft schüttelte er sie an der Schulter. Nichts. Er ging um sie herum und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Gesichtszüge entspannt. Nichts an ihr war irgendwie auffällig, außer, und das nahm er mit wachsender Besorgnis wahr, dass sie nicht mehr zu atmen schien. Er legte seine Finger an ihren Hals, um nach ihrem Puls zu fühlen, aber er war sich nicht sicher, ob er in seiner Aufregung nur seinen eigenen zählte. Verunsichert musterte er sie einige Sekunden länger. Sie war ein so junges Ding, an einen Herzinfarkt oder Schlaganfall wollte er nicht glauben. Vielmehr hörte man ja immer davon, wie exzessiv diese Leute feiern konnten. Champagner und Koks gehörten zu den Grundnahrungsmitteln, sagte man. Er kannte sich mit solchen Dingen nicht aus und hatte Angst, etwas zu unternehmen, was dem Ruf des Bankhauses schaden könnte. Er mochte seinen ruhigen Wachjob, mit dem er seine Rente aufbessern konnte, und wollte ihn nicht gleich wieder verlieren. Langsam wurde er ärgerlich. Schlief sie nur ihren Rausch aus oder musste er doch einen Arzt rufen?

Er überlegte immer noch, was er tun sollte, als er sich plötzlich an das erinnerte, was ihm der Chef der Sicherheitsabteilung, Martin Terborn, bei seinem Antrittsbesuch gesagt hatte: Wenn irgendetwas, und ich meine irgendetwas, Ungewöhnliches passieren sollte, rufen Sie mich jederzeit an, auch wenn Sie es nicht für wichtig halten.

Aber sollte er ihn hierfür anrufen? War es etwas Ungewöhnliches? Er sah noch einmal auf die leblose Bankerin, die sich so nett mit ihm unterhalten hatte. Ach, was soll’s, und wenn der Arzt ihr nur wegen ihrer Drogensucht ins Gewissen redet, wäre das sicherlich auch gut. Also griff er zu seinem Handy und wählte die Nummer der Feuerwehr. Dann warf er einen letzten Blick auf die Frau und machte sich auf den Weg ins Foyer, um die Nummer vom Sicherheitschef zu suchen.

Während es klingelte, spürte er seinen Puls bis hoch in die Schläfen. Niemand hatte ihm beigebracht, wie man mit dem obersten Chef sprach. Als seine Aufregung den Höhepunkt erreichte, bellte ihn die Stimme von Martin Terborn an.

»Ja?«

Jürgen Minski musste erst einmal schlucken. Was hatte sein Kollege gesagt? Pass auf den auf, mit dem ist nicht gut Kirschen essen.Wenn dem nicht passt, wie du deinen Job machst, bist du ganz schnell weg vom Fenster, SecurTec hin oder her. »Guten Abend, Herr Terborn, hier ist Jürgen Minski von der Sicherheitsfirma. Ich sollte mich bei Ihnen melden, wenn etwas Ungewöhnliches passiert …«

»Minski … ach ja, ich erinnere mich, Sie sind der neue Wachmann aus der Nachtschicht. Ist etwa eingebrochen worden?« Das Bellen schlug in Belustigung über. »Oder haben einige unserer Erfolgsbanker ihren Abschluss mal wieder zu heftig gefeiert?«

Also hatte er recht mit seiner Vermutung. Er setzte sich erleichtert auf seinen Stuhl. »Eingebrochen wurde wahrscheinlich nicht.«

Er bereute seine Antwort sofort. Das Bellen nahm einen scharfen Ton an. »Was heißt hier ›wahrscheinlich‹? Sie werden doch wohl Einbruchspuren erkennen können? Womit haben Sie noch mal vor Ihrer Rente Ihr Geld verdient?«

Jürgen Minski konnte sich nicht erinnern. Er hätte am liebsten aufgelegt und den Job hingeschmissen. Aber er dachte an Monika und die Kreuzfahrt, die sie sich schon so lange wünschte, und riss sich zusammen. »Tut mir leid, ich meine, da liegt eine Frau im Konferenzraum im vierten Stock, ich glaube, sie ist im Investment tätig. Sie ist nicht ansprechbar.«

Er konnte Terborn langsam ein- und ausatmen hören, bevor dieser weitersprach. »Ist sie tot?«

»Ich … ich glaube nicht …«, stammelte er in den Hörer. »Ich habe gerade den Notarzt gerufen und warte jetzt im Foyer. Haben Sie noch Anweisungen für mich?«

»Sie ist aus dem Investment?«

Verzweifelt versuchte der Wachmann, sich an den Namen der jungen Frau zu erinnern. Hatte sie ihn überhaupt gesagt? »Ich weiß ihren Namen leider nicht, aber Herr Bornheim junior hatte mir beim Gehen gesagt, dass eine Dame aus dem Investment noch länger machen würde.«

Martin Terborn räusperte sich. »Oh mein Gott, das kann nur Claire Muller sein. Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?«

»Nein, Herr Bornheim junior war der Letzte um 20.30 Uhr, das heißt, er meinte, dass – Frau Muller? – noch eine oder zwei Stunden bleiben würde. Ich habe gedacht, sie wäre schon längst weg. Außer ihr ist niemand mehr hier.«

»Gut, gut … Tun Sie erst einmal nichts, ich werde Sie in fünf Minuten wieder anrufen. Und leisten Sie Erste Hilfe, Mann, das werden Sie ja wohl gelernt haben. Aber ansonsten fassen Sie nichts an.«

Nichts anfassen? Bevor Jürgen Minski sich über die Ansage wundern konnte, hatte Martin Terborn bereits aufgelegt.

Kapitel 2

Das Abendessen bei ihrer Mutter hatte kein Ende nehmen wollen. Die anderen Gäste waren bereits vor einer Stunde gegangen, doch ihre Mutter hatte sie gebeten, noch etwas zu bleiben. Frederica fühlte sich zunehmend unwohl und leitete den Abschied ein. »Danke, Mama, aber ich muss jetzt los. Ich habe Bereitschaft, da darf ich sowieso keinen Alkohol trinken.« Frederica Moll sah abweisender aus als nötig, um sich gegen die neuen Vorhaltungen zu rüsten, die gleich auf sie niederprasseln würden. Zur Sicherheit verschränkte sie noch die Arme vor der Brust. Aber ihr war klar, dass das alles nur unzureichende Sicherheitsmaßnahmen gegen eine Freya Moll, geborene Anckelmann, sein würden. Was sie im wirklichen Leben keine Mühe kostete, nämlich die Welt auf Abstand zu halten, konnte ihr bei ihrer Mutter, mit der sie neun Monate in symbiontischer Beziehung gelebt hatte, niemals gelingen. Sie legte ihre Hände auf den Esstisch und suchte einen Fluchtpunkt in ihrer leeren Kaffeetasse, die seit dem Dessert nicht mehr aufgefüllt worden war.

»Rufbereitschaft. Nach dem Tod deines Vaters hatte ich eigentlich gedacht, diese Ausrede nie mehr hören zu müssen. Soll ich dir noch Kaffee bringen lassen?«

Wenn ihre Mutter doch wenigstens nicht so scharfsinnig wäre. Frederica fühlte immer noch den Selbstmord ihres Vaters, Klaus Moll, der sich vor 20 Jahren erschossen hatte. Falls er sich erschossen hatte. Er war ein guter Polizist und Vater gewesen. Und kein Feigling. Sie sah ihrer Mutter ins Gesicht. Es war ihr eigenes und sie fragte sich, warum sie nicht einfach mitspielte. »Bitte bemühe dich nicht, ich muss wirklich gehen. Bei dem Wetter werden es sicherlich wieder einige Leute für eine gute Idee halten, sich mit einem Kopfsprung ins Flachwasser der Alster abkühlen zu wollen.«

Ihre Mutter wirkte ernsthaft verwirrt. »Wäre das denn ein Fall für die Mordkommission? Oder bist du da jetzt auch nicht mehr? Was mir Henning von deiner letzten Festnahme berichten musste, war wirklich alles andere als vorteilhaft.«

Frederica zuckte zusammen. Ihre Mutter besaß das Talent, ihre Version der Geschichte zu den unmöglichsten Gelegenheiten hervorzuholen und sie damit aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die sie natürlich von »Henning« hatte. Henning Marquardt. Senator für Inneres und Sport und damit ihr ranghöchster Chef, ehemaliger Partner ihres Vaters und guter Freund der Familie. »Alles andere als vorteilhaft? Ich wäre fast ermordet worden!« Sie konnte sich nicht länger beherrschen und setzte schnippisch nach: »Wenn ein Apotheker, der jahrelang durch das Strecken von Medikamenten den Tod Hunderter von Menschen in Kauf genommen hat, dich entführt und zu töten versucht, ist das sicherlich wenig vorteilhaft.« Sie sah in die amüsierten Augen ihrer Mutter und sofort wieder in die Kaffeetasse. Langsam zählte sie bis zehn, visualisiert in Form von bunten Geburtstagskerzen, wie sie es sich in der Lehr­analyse, der sich jeder in seiner Ausbildung zum Psychoanalytiker unterziehen musste, beigebracht hatte. »Ja, ich bin noch bei der Mordkommission und nein, über die Leitung einer Cold Case Unit ist noch nicht entschieden worden.« Und dabei konnte es auch bleiben, wenn es nach ihr ginge. Eine Beförderung, von der ihre Mutter ausging, dass sie sie ihrem Einfluss auf Marquardt zu verdanken habe, musste sie zwangsläufig ablehnen.

Nach dem Tod ihres Vaters war für sie klar gewesen, dass sie nicht in seine Fußstapfen treten wollte, und war Psychoanalytikerin geworden. Doch je älter sie geworden war und je mehr eingebildete Kranke in ihre Praxis gekommen waren, umso intensiver hatte sie das Bedürfnis gespürt, ihm und seiner Arbeit nahe zu sein. Es war ihr egal gewesen, dass es Henning Marquardt gewesen war, der sie zur Mordkommission geholt hatte. Er fand, dass eine Psychoanalytikerin dem Dezernat gut zu Gesicht stehen würde, und sie hatte nicht widersprochen. Doch sie wusste, dass er damit eine eigene Agenda verfolgte. Zuerst war es nur eine Ahnung gewesen, doch seit vor ein paar Monaten ihr damaliger Vorgesetzter, Hauptkommissar Christian Lauterbach, bei dem Einsatz um die Überführung des Apothekers lebensgefährlich verletzt und zunächst für tot gehalten worden war, war sie sich sicher: Henning Marquardt wollte sie unter Kontrolle halten. Sie wusste nur noch nicht, warum.

Zunächst hatte sie fälschlicherweise Christian verdächtigt, im Auftrag Marquardts ihre Bewegungen zu überwachen. Diese Fehleinschätzung hätte ihn fast das Leben gekostet.

Es sei ihre Schuld gewesen, war die gängige Aussage unter den Kollegen. Sie habe ohne Christians Einwilligung weiter in dem Fall recherchiert und den Apotheker alleine konfrontiert, während Christian ein Lagerhaus überprüft hatte. Wäre sie bei ihm gewesen, hätte man ihn nicht überfallen, ihm ein Messer in die Seite gerammt und ihn – im Glauben, er sei tot – in die Elbe geworfen.

Freya Moll strich sich eine Strähne ihres perfekt gefärbten Bobs aus dem Gesicht und schenkte sich Champa­gner nach. »Die arme Marion. Gut, dass sie das nicht mehr erleben musste. Drei Generationen im Apothekergewerbe und nun das. Ihr Sohn lebenslänglich im Gefängnis.« Sie sah ihre Tochter nachdenklich an. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum du seine Verhaftung nicht jemand anderem überlassen konntest. Jemandem, der sich mit so was auskennt.« Sie trank einen Schluck. »Und der keine andere Wahl hat, als zu gehorchen.«

Der das Geld braucht, wolltest du doch sagen, aber da­rüber spricht man natürlich nicht. »Mama, ich habe dir doch schon erklärt, dass wir nicht genügend Beweise hatten, um ihn verhaften und anklagen zu können. Ich musste improvisieren. Sonst hätte er weiter Chemotherapien mit Kochsalzlösung gestreckt und unzähligen Krebspatienten die Aussicht auf Heilung genommen. Um einen Narzissten überführen zu können, muss man ihn über seine Selbstwahrnehmung provozieren.«

»Und dich dabei in Lebensgefahr bringen? Ich bitte dich. Musste das sein?«

Kein »Ich mache mir Sorgen um dich« …

»Weil er versucht hat, mich zu töten, konnte die Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen und ihn aufgrund eines Indizienprozesses verurteilen. Dafür waren doch die beiden Verweise, die ich erhalten hatte, ein angemessener Tausch.«

»Und die Suspendierung.«

Jetzt musste Frederica lächeln. »Ja, Mama, das hast du prima mit Marquardt eingefädelt. Eine Suspendierung, die zeitlich so schön passend mit meiner Rekonvaleszenz zusammengefallen ist. Und bevor du wieder fragst: Ich habe Christian nur einmal, kurz nachdem sie ihn gefunden hatten, gesehen. Ich habe mich bei ihm für meine unprofessionelle Vorgehensweise entschuldigt und seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen.« Sie zerknüllte ihre Serviette und zog sie wieder glatt. »Er ist immer noch in der Reha und will mich nicht sehen.«

»Ich will dich nie wiedersehen«, waren seine genauen Worte.

Sie konnte sich den trotzig wirkenden Zusatz nicht verkneifen: »Zufrieden?«

Freya Moll blieb unbeeindruckt. »Kollegen kommen und gehen, habe ich mir sagen lassen. Aber vielleicht hättest du etwas länger Urlaub nehmen sollen. Du wirkst noch angespannt.« Sie dachte kurz nach. »Wie lange liegt der Vorfall jetzt zurück? Fünf Monate? Ist denn jetzt genug Gras über die Angelegenheit gewachsen? Soll ich Henning noch einmal auf die Cold-Case-Abteilung ansprechen? Es wird Zeit, dass du in deinem Alter endlich eine Abteilung übernimmst, sonst ist es bald zu spät.«

Die Serviette wurde wieder zu einem Ball. »Ich bin erst 38. Kann Steffen für deine Freundinnen nicht mit sportlichen Highlights dienen?«

Freya trank noch einen Schluck. »Sei nicht unappetitlich. Dein Bruder wird schon noch Kapitän seines Eishockeyteams. Ich könnte über eine Spende nachdenken. Aber vielleicht wird er auch abgeworben? Dann wäre das hinausgeworfenes Geld. Schade, dass er keine Freundin hat. Dass ich von dir keine Enkel zu erwarten habe, hast du mir ja deutlich gemacht. Aber Steffen sollte nicht kinderlos bleiben. Er wäre so ein liebevoller Vater.«

Frederica war die gedanklichen Sprünge ihrer Mutter gewohnt. Trotzdem war sie ratlos, was ihre Mutter meinte. Was stellte sie sich unter »Enkel haben« vor? Sie einmal in der Woche zum Tee begrüßen? »Noch ist es bei mir ja nicht zu spät. Und habe ich jemals gesagt, dass ich keine Kinder will?«

Freya Moll sah ihre Tochter verwundert an. »Hast du nicht? Wie merkwürdig. Hast du denn einen Mann?«

»Oh Mama, musst du denn …« Frederica wurde durch den Ruf eines Käuzchens erlöst. Sie sah auf das Display ihres Telefons. Der Kriminaldauerdienst. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie ihrer Mutter ein wichtiges Gespräch signalisierte und in den Flur trat.

*

»Du bist ja weiß wie eine Wand. Ist etwas passiert?« Terborns Freundin Inge, mit der er zusammenlebte, war, mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand, ins Wohnzimmer zurückgekommen. »Wer ruft denn so spät noch an?«

Martin sah geistesabwesend hoch. Das Telefonat mit diesem idiotischen Wachmann hatte seine alten Instinkte, die er glaubte, gut weggeschlossen zu haben, wieder geweckt. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Robert Bornheim, das sie vor etwa einem Jahr geführt hatten und das jetzt wie ein Marktschreier um seine Aufmerksamkeit buhlte. Es war sein Einstellungsgespräch gewesen und Robert hatte ihm gerade seine zukünftigen Aufgaben als Sicherheitschef in der Privatbank seiner Familie erklärt, als dieser plötzlich leiser geworden war und sich zu ihm vorgebeugt hatte. Es hatte etwas nach Verschwörungstheorie und Paranoia geklungen, irgendetwas mit Bankgeschäften im Netz, was Martin kaum interessiert hatte. Jetzt aber rekapitulierte er in Sekundenschnelle die wesentlichen Inhalte des Gesprächs, die sein Unterbewusstsein für ihn katalogisiert hatte. Es war um virtuelle Währungen und deren Potenzial in einem modernen Finanzmarkt gegangen, der keine staatlichen Reglementierungen dieser Kryptowährungen kannte. Viel konnte er zwar immer noch nicht damit anfangen, aber irgendetwas davon hatte ihn gerade getriggert.

»Claire Muller hatte einen Zusammenbruch in der Bank.«

»Claire, die Rechenmaschine?«

Martin sprach nicht häufig von seinem Job, aber ein paar Anekdoten konnte ihm seine scharfsinnige Lebensgefährtin regelmäßig aus der Nase ziehen. »Ja, das Mathegenie, das Robert aus London mitgebracht hat. Aus dem Investment.« Er runzelte die Stirn. »Am Montag müssen sie für eine Präsentation nach London.«

»Und mit der stimmt jetzt was nicht?«

»Mit Claire oder mit der Präsentation?« Als er Inges vorwurfsvolle Miene sah, wurde er wieder sachlich. »Der Notarzt wird sich um Claire kümmern. Nur glaube ich irgendwie nicht, dass sie an Erschöpfung leidet.«

»Wer sagt das denn?« Inge setzte sich zu ihm aufs Sofa. »Vielleicht hat sie sich ja einen Virus eingefangen, kuriert sich aufgrund dieses Termins nicht aus und bekommt jetzt die Quittung. Ist mir in der Werbeagentur auch schon passiert.«

Martin schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Ich glaube, dass da etwas anderes dahintersteckt. Robert hat um diese Präsentation einen Riesenwirbel gemacht. Alles ist sehr geheim, auch mir hat er nichts gesagt. Nur, dass die Zukunft der Bank auf dem Spiel stehe. Und der Senior nichts davon wisse.«

Inge legte das Buch zur Seite. Sie sah ihren Freund nachdenklich an. »Der Chef weiß nichts von einem superwichtigen Meeting und die, die das Ganze vorbereitet, ist umgekippt. Da ist wohl ein Vater-Sohn-Gespräch fällig. An deiner Stelle würde ich mich da raushalten.«

»Ich bin der CSO, wie du sehr wohl weißt. Und als Chief Security Officer einer Privatbank trage ich in erster Linie die Verantwortung für die Sicherheit unserer Mitarbeiter im In- und Ausland, dann erst für die technischen Einrichtungen. Ich werde jetzt also Robert anrufen und dann schleunigst in die Bank fahren.«

Inge legte Martin die Hand auf den Arm. »Übertreibst du nicht etwas? Geht es wirklich um alles? Du bist nicht mehr bei der KSK, wo es wirklich um Leben und Tod ging.« Und es ist gut, dass du da weg bist. »Wie wichtig kann schon eine Präsentation sein, an der eine Person arbeitet? Glaub mir, ich kenne mich da aus. Ist es sinnvoll, ihn jetzt schon anzurufen? Ich tippe auf einen Infekt, also nichts, was ein paar Tage Bettruhe nicht heilen könnten.«

»Robert hat mich eingekauft, eben weil ich ein Ex-Soldat bin. Bei meinen Einsätzen ging es nicht nur darum, Leben zu retten, sondern auch um das Erreichen von strategischen Zielen. Robert hat einen klaren Kopf, er wird nicht gleich durchdrehen.« Er nahm sein Handy wieder auf und grinste sie an. »Aber du hast recht, um seinen Vater muss er sich alleine kümmern.«

*

Die Stimme des Juniorchefs klang verwundert. »Martin? Ist etwas passiert?«

»Der Wachmann hat angerufen. Claire soll es nicht gut gehen. Sie ist im Konferenzraum zusammengebrochen und nicht ansprechbar. Ich mache mich gleich auf den Weg und melde mich dann, wenn ich Näheres weiß.«

Roberts Verwunderung schlug in Verständnislosigkeit um: »Was sagst du da?«

Martin ging zur Wohnungstür. »Ich weiß, viel an Information ist das nicht, aber ich bin bereits auf dem Weg. Vielleicht ist es ja auch nur eine Verwechslung.«

»Eine Verwechslung? Der Wachmann ist sich also nicht sicher, ob es Claire ist?«

»Der Wachmann ist neu. Aber wie dem auch sei, einer Person scheint es auf unserem Konferenztisch im vierten Stock nicht gut zu gehen.« Martin zögerte kurz. »Es war doch richtig, dich anzurufen?«

»Ja, natürlich.« Robert Bornheim schien die Neuigkeit noch zu verarbeiten. »Oh Scheiße, wenn das wirklich Claire ist, dann haben wir ein riesiges Problem. Das weißt du, oder?«

Martin war sich da nicht so sicher. Vielleicht war es auch viel mehr als das. Aber eines nach dem anderen. »Ich melde mich wieder.«

Robert Bornheim sah auf die Uhr. Fast Mitternacht. Was hatte Claire noch so spät im Büro zu suchen gehabt? Sie hatten sich gegen 20.30 Uhr voneinander verabschiedet. Claire hatte noch ein letztes Mal die Positionen durchgehen und kleinere Fehler ausmerzen wollen. Länger als bis 22 Uhr hätte das nicht dauern dürfen. Wie lange hatte sie wohl schon so dagelegen? Und wo war der Wachmann die ganze Zeit über gewesen?

Ihre Arbeit. Ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn. Er hätte sie nicht alleine lassen dürfen. Oder wenigstens Martin Bescheid sagen müssen. Sollte Claire etwas zugestoßen sein, stünde nicht nur alles, was er seit Beginn seiner aktiven Laufbahn in der Bank seines Vaters aufgebaut hatte, auf dem Spiel, sondern noch einiges mehr.

Er lief hektisch in seinem Wohnzimmer auf und ab. Seitdem sie sich ihm anvertraut hatte, wusste er, dass sie keine Spielchen mit ihm trieb. Was war also geschehen? An einen gewöhnlichen körperlichen Zusammenbruch konnte und wollte er nicht glauben.

Die Zeiger seiner Uhr verschwammen vor seinen Augen. Martin durfte ihn nicht enttäuschen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn unter falschen Voraussetzungen einzukaufen. Aber jetzt war es zu spät. Lieber noch weitere Eisen ins Feuer legen, falls sich seine Befürchtungen bestätigen sollten.

Kapitel 3

Martin Terborn stieg in seinen 5er BMW Touring und fuhr die Klimaanlage hoch. Hamburg erlebte einen Jahrhundertsommer, in dem die Nächte keine Abkühlung mehr brachten. Als er nach Haus gekommen war, hatte er geduscht und seinen Anzug gegen kakifarbene Chinos, ein hellgraues Polohemd und Segelschuhe getauscht. Hätte er sich noch einmal umziehen sollen? In Uniform fühlte er sich immer noch am wohlsten. Sie gab ihm Schutz und sorgte dafür, dass Rangordnungen automatisch eingehalten wurden. Aber jetzt wollte er nahbar wirken. Und je eher Claires Zusammenbruch als harmlos eingestuft wurde, umso besser. Er startete den Wagen und fuhr auf dem leeren Schwanenwik in Richtung Speicherstadt. In ungefähr 20 Minuten würde er mehr wissen. Aber mehr von was? Die dunkle Alster verschluckte das wenige Licht, das die lang gezogene Wolkendecke übrig ließ.

Was tat er hier eigentlich? Chief Security Officer. Das hörte sich nach langen Arbeitstagen und viel zu viel Verantwortung an. Aber neben der Gebäudeüberwachung, die er mit seinem fünfköpfigen Team neu organisiert hatte, und dem Personenschutz für die wichtigsten Köpfe der Bank, war er hauptsächlich damit beschäftigt, Personen zu überprüfen und Codekarten ausstellen zu lassen. Um ehrlich zu sein, war er kaum mehr als ein Pförtner. Wurde er deshalb oft unwirsch, wenn er mit seinen Mitarbeitern oder Kollegen sprach? Ihm war klar gewesen, dass die »neue berufliche Herausforderung«, die ihm sein Freund Robert Bornheim nach seinem Einsatz in Lagos, bei dem eine Einheimische ermordet worden war, nicht ganz ernst gemeint gewesen war. Wäre da nicht die kleine Zusatztätigkeit, die er ihm vor einigen Monaten als reine Vorsichtsmaßnahme verkauft hatte. Aber jetzt Claires Zusammenbruch.

Er erreichte den historischen Teil des ehemaligen Freihafens, parkte neben dem Rettungswagen und öffnete mit seiner Codekarte den Seiteneingang. Das Foyer lag verlassen vor ihm. Von dem Wachmann und den Rettungskräften keine Spur. Die gedimmte Beleuchtung des Atriums verstärkte in ihm die unwirkliche Atmosphäre eines evakuierten Gebäudes. Ungeduldig sah er auf sein Handy. Er hatte sein Versprechen gehalten und Jürgen Minski fünf Minuten nach dessen Anruf zurückgerufen und ihm Anweisungen erteilt. Eine davon war, ihn im Foyer zu treffen und einen Zwischenbericht abzugeben, bevor Martin mit dem Notarzt sprechen würde. Doch weder stand der Wachmann vor ihm, noch hatte er ihm eine Nachricht geschickt. Sein Blick schweifte nach oben und scannte durch die Etagen. Da oben war er. Der Wachmann schien auf ihn zuzuschweben. Winkend stellte er sich an den Fahrstuhl.

Ungeduld wich Verärgerung, als er in den vierten Stock hochfuhr. Er musterte Jürgen Minski durch den Glaskasten. Ein älterer, dicklicher Mann, der kaum zur Abschreckung taugte. Martin konnte nur hoffen, dass der Wachmann in einer Gefahrensituation die Lage besser einschätzen würde als ein technisches Gerät. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten und Minski ihn nervös begrüßte, registrierte Martin sofort die erhöhte Aktivität von Menschenleben rettendem Personal. Und noch einiges mehr. Wen hatte der Wachmann alles hochgescheucht? Vielleicht sollte er doch lieber mit Bewegungsmeldern arbeiten. »Was ist da drin los?«, herrschte er Minski an. »Haben Sie die alle ohne Sicherheitsüberprüfung hochgelassen?«

Jürgen Minski zog erschrocken seine Hand zurück. »Sicherheitsüberprüfung? Wie hätte ich denn …« Er fing sich und versuchte tapfer, weiterhin professionell aufzutreten. Was ihm gründlich misslang. »Guten Abend, Herr Terborn. Die Polizei ist da.«

Martin vergaß seine unsinnige Anweisung sofort. Seine Augen verengten sich: »Ist sie etwa tot?« Als Minski vollends verstummte, riss sein Geduldsfaden. »Nun reden Sie, Mann! Sie wissen doch, dass sich hier oben niemand Externes ohne Begleitung bewegen darf! Haben Sie wenigstens die Unterlagen gesichert?«

Die Konferenztür wurde geöffnet und erlöste Jürgen Minski aus seiner misslichen Lage. Ein Mann mittleren Alters, leger gekleidet in einer verwaschenen Jeans und kariertem Baumwollhemd, kam auf sie zu. Unter seiner abgeliebten Lederjacke konnte man ein Holster erkennen. Er blieb völlig entspannt vor ihnen stehen und sah den Wachmann an, als erwarte er, dass dieser ihm gleich den Neuzugang vorstellen würde.

Martin ließ seinen geübten Blick über den in etwa gleichaltrigen Polizisten gleiten. Er selber war fast 1,90 und drahtig austrainiert. Der Polizist war vielleicht zehn Zentimeter kleiner, dafür aber breiter, als stemmte er regelmäßig Gewichte, wovon ihn ein offensichtlicher Gehfehler nicht abzuhalten schien. Er merkte, wie auch er ruhig, aber bestimmt gemustert wurde. Der Blick aus wachen, selbstbewussten Augen verriet einen Mann, der wusste, wer er war und was er konnte. Jemand, der sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhielt. Martin spannte instinktiv die Schultern an. Das Gespräch konnte interessant werden.

»Hauptkommissar Christian Lauterbach vom Kriminaldauerdienst. Und Sie sind?«

»Martin Terborn, Sicherheitschef der Bank.« Er lächelte Jürgen Minski an. Noch war er nicht bereit, dem Polizisten etwas anzubieten. »Mein Wachmann hat mir von einem Vorfall berichtet. Eine unserer Investment-Bankerinnen hatte einen Schwächeanfall?«

Die Miene des Polizisten verriet nichts. »Wohl kaum, und das dürfte Ihnen dank unserer Anwesenheit klar geworden sein.« Er nickte in Richtung Glastür. »Kommen Sie bitte mit.«

Martin erwiderte ebenfalls mit einem Nicken. Während er dem Polizisten folgte, drehte er sich noch einmal zu dem Wachmann um: »Wenn die Polizei Sie nicht mehr braucht, können Sie Feierabend machen. Und gehen Sie auf meine Rechnung ein Bier trinken.«

Christian Lauterbach hielt ihm die Tür auf. »Wie aufmerksam. Sie sind sicher ein beliebter Chef?«

Martin verstand die Frage nicht. »Das weiß ich nicht, aber so lange ich respektiert werde, ist mir das herzlich egal. Wollen Sie mir jetzt sagen, was …«, doch weiter kam er nicht. Perplex starrte er auf die Szenerie, die sich ihm hinter der Glastür bot. Neben zwei Rettungssanitätern, die leere Spritzen, Beutel und ein EKG-Gerät einräumten, waren noch vier weitere Personen im Raum. Ein Mann, der von Christian Lauterbach als sein Kollege Amir Aydin vorgestellt wurde, sowie drei in weißen Schutzanzügen gekleidete Spurensicherer. Die Person, um die sich alles drehte, war nicht mehr da. Martin Terborn ließ rasch seinen Blick umherwandern und starrte wie benommen den Polizisten an: »Sie ist also tot?«

Christian Lauterbach musterte den Sicherheitschef kurz. Irgendetwas an seiner Reaktion gefiel ihm nicht. Vielleicht war sie zu persönlich. Aber er tat ihm den Gefallen und spielte mit. Es war noch zu früh, um jemanden zu verdächtigen. »Nein, aber sie liegt im Koma. Sie wissen, wer sie ist und können sie identifizieren?«

Martin strich sich mit der Hand über den Mund. »Wahrscheinlich ist es Claire Muller, eine Mathematikerin aus dem Investment. Sie ist Luxemburgerin, das heißt, sie hat hier keine Familie. Ich könnte sie identifizieren, wenn es notwendig ist.«

»Danke. Können Sie sonst noch etwas zu dem Vorfall beitragen? Was hat sie hier noch so spät gemacht, zudem an einem Freitag?«

Martin wünschte sich, er hätte sich umgezogen. Der Ton des Polizisten war ihm zu fordernd. »Eine Präsentation vorbereitet.« Er schielte zum Tisch, auf dem ein aufgeklapptes Notebook, ein Notizblock sowie ein paar verstreute Blätter lagen, aber kein Telefon. Er sah Christian Lauterbach direkt in die Augen: »Sogar eine sehr wichtige. Herr Lauterbach, ich bin gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten, aber ich muss zunächst die Firmenunterlagen sichern.«

Der Hauptkommissar war dem Blick des Sicherheitschefs gefolgt. »Aha? Sie lassen mich da wohl vorher keinen Blick drauf werfen?«

Martin Terborn machte sich nichts vor. Wenn die Spurensicherung schon da war, war es ernst und dann blieb kein Raum für Höflichkeiten. Dann war die Frage des Polizisten nur rhetorisch. Aber er hatte keine Wahl, solange er nicht wusste, was passiert war, musste er vorsichtig sein. »Nein, tut mir leid, so ohne Weiteres kann ich ihnen die Unterlagen nicht überlassen.«

Der Polizist nickte, als hätte er die Antwort erwartet. »Darauf kommen wir später noch zurück. Was wissen Sie über den allgemeinen Gesundheitszustand von Frau Muller?«

Martin musste nachdenken. »Nicht viel. Sollte ich was wissen?«

»Sie sind der Sicherheitschef.«

Eine leichte Irritation stieg in Martin auf. Fordernd und dann noch frech. Langsam fing er an, den Mann zu mögen. »Was soll diese Fragerei? Soweit ich weiß, ist sie gesund. Ansonsten hatte ich bislang nicht viel mit ihr zu tun.« Er gab auf seinem Smartphone ein paar Tastenkombinationen ein und hielt dem Polizisten ein Foto von Claire Muller vors Gesicht. »Vielleicht können wir erst mal ihre Identität klären? Der Wachmann ist neu und kennt sich noch nicht so gut aus. Das hier ist Claire Muller.«

Der Polizist nickte zufrieden. »Prima, dann sind wir ja schon mal einen Schritt weiter. Medizinische Informationen hat Ihre digitale Personalakte nicht parat?«

So schnell ließ sich Terborn nicht abspeisen. »Es ist also Claire?«

Christian Lauterbach zog eines der beschriebenen Blätter vom Konferenztisch zu sich heran, das ihm Martin Terborn mit einer eleganten Bewegung sofort wieder abnahm. »Ja, dann ist sie es wohl«, sagte er. Und, als müsste er eine Niederlage kaschieren, setzte er flach nach: »Das Gekritzel kann sowieso niemand entziffern.«

Irgendwie versöhnte diese menschliche Schwäche Terborn mit der Anwesenheit der Polizei. »Nein, wir erfassen keine medizinischen Daten, außer, es handelt sich um eine Behinderung, die der Mitarbeiter angezeigt haben möchte.« Sein Blick wanderte zum Unterkörper des Polizisten. »Wir nehmen bei ›Severin & Partner‹ den Datenschutz sehr ernst.«

Christian Lauterbach setzte sich. Der offene Ton des Sicherheitschefs verfehlte seine Wirkung nicht. »Natürlich. Dann sage ich Ihnen jetzt mal, was wir wissen. Der Notarzt hat eine komatöse Frau vorgefunden, die er gerade noch zurückholen und durch das Versetzen in ein künstliches Koma stabilisieren konnte. Mehr war erst einmal nicht möglich. Es müssen weitere Tests durchgeführt werden, aber nach ersten Erkenntnissen ist sie durch eine erhebliche Überdosis Insulin umgekippt.« Er sah zum Tisch, als müsste er sich noch einmal die Szene in Erinnerung rufen. »Jetzt könnte man annehmen, sie hätte sich verrechnet. Der Notarzt ist allerdings stutzig geworden, weil bei der Höhe der Überdosis ein Versehen nahezu ausgeschlossen werden kann.« Jetzt sah er Martin wieder direkt an, als wollte er ihn wie ein Exponat auf ein Blatt Papier stecken. »Deswegen hat er uns gerufen.« Er trat einen Schritt vom Tisch weg, nahm Terborn das beschriebene Blatt aus der Hand und musterte es interessiert. »Sie wissen nichts über einen möglichen Diabetes?«

Martin Terborn zog die Augenbrauen hoch und sah an dem Polizisten vorbei zum dunklen Fenster. Seine Haltung demonstrierte Ahnungslosigkeit. »Diabetes? Nein. Wie gesagt, ich hatte bislang nicht viel mit ihr zu tun. Wir haben immer nur Belangloses ausgetauscht, wir sind Flurkollegen, wenn Sie so wollen.« Er konnte dem durchdringenden Blick des Hauptkommissars nicht weiter ausweichen und kramte in seiner Hosentasche nach seinen Schlüsseln. Warum hatte er nicht wenigstens Socken und Lederschuhe angezogen. »Sie hat sich also bewusst eine Überdosis gespritzt?«

Christian Lauterbach gab Martin Terborn lächelnd das Blatt zurück. »Das wäre ein Suizidversuch.«

Ein leichtes Kribbeln stieg in Martin hoch. Er sah wieder zu der Fensterfront und setzte sich schnell. »Ach, herrje – hören Sie, ich weiß auch nicht, was hier vorgefallen ist, aber das kann ich ausschließen. Jedenfalls vor Montag.«

Die Miene des Polizisten blieb gleichmütig. »Auch wenn Ihnen die Statistik vielleicht entgegenkommt, aber nicht alle Suizide werden an einem Montag verübt.«

Martin überlegte, ob sich Christian Lauterbach über ihn lustig machte. Er kannte solche Typen, in sich ruhend und gleichzeitig abgebrüht. Das waren Menschen, die den Toten schon einmal näher gewesen sind als den Lebenden. Vielleicht rührte daher auch seine Behinderung. Er beschloss, weiter kooperativ zu bleiben. »Claire Muller hat zusammen mit dem Juniorchef der Bank, Robert Bornheim, am Montag eine wichtige Präsentation in London. Sie ist extra für dieses Projekt vor knapp einem Jahr von ihm angeheuert worden. Ihre Karriere hängt von einem erfolgreichen Start ab. Sie ist eine äußerst fähige Mathematikerin und eine sehr ehrgeizige Person. Daher würde sie sich kaum vorher umbringen, wenn überhaupt.« Er setzte, den lakonischen Tonfall des Polizisten imitierend, nach: »Was unsere Mitarbeiter außerhalb der Dienstzeiten treiben, geht mich natürlich nichts an.«

»Für jemanden, der wenig über eine Flurkollegin weiß, sind Sie sehr weitsichtig.« Lauterbach nickte seinem Kollegen zu. »Und vielleicht haben Sie sogar recht. Aber jetzt, wo wir schon mal hier sind, wollen wir auch etwas für Ihre Steuergelder tun. Wo ist Frau Mullers Büro?«

Martin Terborn beobachtete den anderen Polizisten, der zwischenzeitlich die Spurensicherung und die Rettungssanitäter hinausbegleitet hatte und sich nun stumm zu ihnen stellte. »Sie hat kein Büro«, log er. »Homeoffice. Sie wissen schon, immer unterwegs, die Cloud immer dabei. War es das dann?«

Christian Lauterbach sah ihn lange an, als müsste er sich entscheiden, ob er den Sicherheitschef mochte oder nicht. Dann gab er seinem Kollegen ein Zeichen und verabschiedete sich. »Gut, dann werden wir jetzt unseren Bericht schreiben und an die Mordkommission geben. Die wird sich sicherlich bei Ihnen melden. Auch wegen der Unterlagen. Ihre Mitarbeiterin ist übrigens im UKE – das ist das Universitätsklinikum Eppendorf, falls Sie das nicht kennen. Auf Wiedersehen, Herr Terborn.«

Als sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, konnte er sich ein Aufatmen nicht verkneifen. Schnell griff er nach dem Notebook und den Papieren und hastete in sein Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und sah noch einmal zum schräg gegenüberliegenden Konferenzraum. Sollte er sich zuerst auf den Weg ins UKE machen und nach Claire fragen? Oder lieber die Unterlagen durchsehen? Er griff kurzentschlossen nach dem Notebook und klappte es auf. Kopflos losfahren ergab keinen Sinn. Im UKE würden sie ihm sowieso nichts sagen. Und er war viel zu neugierig auf das, wofür Claire wahrscheinlich umgebracht werden sollte. Denn an eine Überdosis aufgrund von Dämlichkeit konnte er bei Claire nun wirklich nicht glauben, ebenso wenig wie an einen Selbstmord. Er hatte die Polizei nicht belogen, als er sagte, dass er Claire nicht gut kenne, aber so viel hatte er schon von ihr mitbekommen: Sie konnte rechnen und sie war gründlich.

Er runzelte die Stirn. Was war nur mit Robert los? Warum war er nicht hier? Hatte er wenigstens seinen Vater informiert?

Der Bildschirm wurde hell und Martin fing leise an zu fluchen. Ausgerechnet jetzt musste Claire, über die sich sonst alle Administratoren beschwerten, seine Anweisungen befolgt haben. Der Bildschirm verlangte ein Passwort. Er lehnte sich frustriert in seinem Bürostuhl zurück. Endstation. Er griff zum Handy und wählte Roberts Nummer.

»Ja?«

»Robert, es ist Claire und sie liegt im Koma. Eine Überdosis Insulin. Wusstest du, dass sie Diabetikerin ist?«

Robert schien überrascht: »Im Koma? Diabetikerin? Ich verstehe kein Wort. Wird sie wieder gesund? Und was ist mit der Präsentation?«

»Die ist hier, wenn auch passwortgeschützt. Keine Ahnung, wie es mit ihr weitergeht, die Ärzte werden mir als Außenstehendem ja sowieso nichts sagen. Apropos: Soll ich irgendjemanden für Claire anrufen? Kennst du ihre Familienverhältnisse?«

»Nein, sie hatte mal Eltern und eine Freundin erwähnt, ich glaube auch, dass sie hier in Hamburg in einer WG lebt, aber Genaueres weiß ich nicht. Darum soll sich das Krankenhaus kümmern. Das Wichtigste ist die Präsentation für Montag. Zur Not kann ich da auch alleine hinfliegen. Aber ich brauche die Unterlagen. Aus Sicherheitsgründen hat sie die einzige vollständige Version mit allen Hintergrundinformationen und Quellcodes auf ihren Geräten abgespeichert.«

Martin zog eine Augenbraue hoch. Wie unverantwortlich. Aber darum würde er sich später kümmern müssen. »Das Notebook ist individuell passwortgeschützt. Da kommt unsere IT auch nicht ran. Wir müssen wohl oder übel warten, bis sie wieder ansprechbar ist.« Er dachte kurz nach. »Oder ihr Smartphone suchen. Vielleicht hat sie das Passwort dort abgespeichert. Wäre dumm, aber jetzt hilfreich.«

Er hörte plötzlich einen lauten Knall, hohles Scheppern und einen weit entfernt fluchenden Robert Bornheim. »Verfluchte Scheiße, das kann doch nicht wahr sein. Wir müssen unbedingt an diese Daten. Sofort. Und sag mir nicht, dass das nicht geht. Das ist dein Job, verdammt noch mal!«

»Robert?« Der Sicherheitschef wartete ab, bis Bornheim sein Handy wieder aufgesammelt hatte. »Die Polizei war hier.«

Robert Bornheim verstummte. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte. »Hast du sie gerufen?«

»Nein, natürlich nicht. Das war der Notarzt. Die Überdosis Insulin war wohl so hoch, dass das kein Unfall gewesen sein kann. Sie werden sicherlich auch mit dir sprechen wollen.«

»Mit mir? Das ist ausgeschlossen. Kannst du dich nicht weiter darum kümmern?«

»Wie du meinst. Aber ich denke, dass es erst einmal um Claire geht. Ich werde versuchen herauszufinden, wie es um sie steht und wie die Polizei das sieht.« Er beschloss, einen Testballon steigen zu lassen. »Vielleicht bist du ebenfalls in Gefahr?«

Die Antwort kam zu schnell. »Rede keinen Unsinn. Und besorg mir sofort die Unterlagen. Ich warte auf deinen Rückruf.« Robert hielt einen Moment inne und setzte dann nach: »Du weißt, was du mir schuldig bist.«

Martin legte wortlos auf, sah durch die Dunkelheit in den Innenhof und wartete auf eine Eingebung. Was war hier bloß los? Warum reagierte der sonst so besonnene Robert nur so aufgebracht? Wusste er mehr, als er zugeben wollte? Er konnte – nein, er wollte nicht glauben, dass hier jemand mit Vorsatz versucht hatte, Claire umzubringen. Auch wenn nichts anderes Sinn zu machen schien. Der Wachmann war zwar kein Raketenwissenschaftler, aber er hätte sicherlich bemerkt, wenn jemand die Bank betreten hätte – ob fremd oder nicht. Aber selbst wenn jemand unbemerkt eingedrungen wäre – wieso hätte er dann das Notebook liegen gelassen? Martin setzte sich auf. Das Smartphone. Noch hatte er keine Ahnung, wo das Ding war. Vielleicht hatte ein unbekannter Besucher es nur darauf abgesehen gehabt? Unsinn. Nein, da musste etwas anderes dahinterstecken und er wollte verflucht sein, wenn er das nicht herausbekäme.

Der Wachmann. Er trieb sich wahrscheinlich immer noch im Foyer herum. Es war besser, ihn nach Hause zu schicken. Tatsächlich traf er den unglücklich wirkenden Mann in seinem Glaskasten an. »Herr Minski, es tut mir leid, dass ich vorhin etwas laut geworden bin. Frau Muller arbeitet derzeit an einem sehr wichtigen Projekt und die Dokumente dafür unterliegen strengster Geheimhaltung. Ich muss Ihnen sicherlich nicht erst sagen, dass der Vorfall heute Nacht ebenfalls unter diese Geheimhaltung fällt.«

Der Wachmann hatte ihm ängstlich entgegengesehen. »Natürlich, Herr Terborn. Und es tut mir wirklich leid, aber der Notarzt und vor allem die Polizei wollten mich nicht dabeihaben und deswegen habe ich vor dem Büro auf Sie gewartet.« Er sah an Martin vorbei in das gedimmte Atrium: »Fehlt denn etwas?«