Kommissarin Moll und die Tote vom Grindel - Isabel Bernsmann - E-Book
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Kommissarin Moll und die Tote vom Grindel E-Book

Isabel Bernsmann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

In den Hamburger Grindelhochhäusern liegt eine junge Frau tot in ihrer Badewanne. Offenbar hat sich die verzweifelte Krebspatientin die Pulsadern aufgeschnitten. Doch am Tatort gibt es nichts, womit sie sich die Verletzungen hätte zufügen können, und auch die Krebsdiagnose stellt sich als falsch heraus. Wurde die junge Frau ermordet, um einen Behandlungsfehler zu vertuschen? Kommissarin Frederica Moll und ihr Partner Christian Lauterbach kommen einem abgründigen Medizinskandal auf die Spur - und machen sich dabei mächtige Feinde …

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Isabel Bernsmann

Kommissarin Moll und die Tote vom Grindel

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliches Vertrauen Die Hamburger Kommissare Frederica Moll und Christian Lauterbach gehen von einem Routinefall aus, als sie zu einem Selbstmord in die Grindelhochhäuser gerufen werden. Die Sache scheint klar: Eine junge Frau hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, weil sie unheilbar an Brustkrebs erkrankt war. Allerdings gibt es am Tatort nichts, womit sie sich die Verletzungen hätte zufügen können, und die Gerichtsmedizin findet heraus, dass die Frau zum Zeitpunkt ihres Todes kerngesund war. Die Anzeichen verdichten sich, dass die Tote das Opfer eines zynischen Betrugs geworden ist und es sich bei der Falschdiagnose weder um ein Versehen noch um einen Einzelfall handelte. Durch ihre Nachforschungen treten die Kommissare mächtigen Honoratioren der Hansestadt auf die Füße und bald werden sie von Vorgesetzten offensichtlich bei der Aufklärung des Falles behindert. Frederica und Christian wissen, dass die Verantwortlichen schnell gestoppt werden müssen, um weitere Todesfälle zu verhindern. Doch ihre Gegenspieler sind gefährlich …

Isabel Bernsmann wurde 1967 als Kind einer wortkargen Norddeutschen und eines redseligen Rheinländers geboren und wuchs in den USA, Belgien und halb Deutschland auf. Nach ihrem Studium der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entschied sie sich für eine berufliche Zukunft in den Medien und zog in ihre Wahlheimat Hamburg. Mittlerweile arbeitet sie in Berlin in der Fernsehbranche. Gelegentlich aufkeimende Mordgelüste und Heimweh kompensiert sie durch das Schreiben von Hamburg-Krimis. »Kommissarin Moll und die Tote vom Grindel« ist ihr Debüt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2022

Originalausgabe erschienen 2018 im Eigenverlag der Autorin, © Isabel Bernsmann

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © secretgarden / Photocase.de

ISBN 978-3-8392-7328-9

PROLOG

Egal, was du mit mir vorhast, es wird nicht passieren. Du wirst deinen Spaß mit mir nicht bekommen. Niemals. Denn du kriegst mich nicht. Frederica schlug sich mehrere Male heftig ins Gesicht, damit der Adrenalinschub, der ihren Körper durchflutete, keine Panikattacke auslöste. Sie spürte jedoch kaum mehr als einen freundlichen Klaps, wie sie ihn auch Käuzchen gegeben hätte, wenn er mal wieder zu frech gewesen war. Sie sah an sich hinunter. Das ist wohl so, wenn die Hände gefesselt sind und man ohnehin Mühe hat, während einer Flucht über den dunklen, feuchten Waldboden den Halt nicht zu verlieren. Entmutigt und völlig außer Atem hockte sie sich tief in eine modrige Senke und blickte hinauf zum klaren Sternenhimmel.

War sie tatsächlich erst seit ein paar Minuten unterwegs? Ihr kam es vor, als wären es Tage gewesen, die sie über faulige Baumstämme gestolpert war und im nassen Laub ausgeharrt hatte, um nicht ihr Leben zu verlieren. Wird er mich vonhinten töten? Feige, aber gnädig? Oder kommt er eher von elf Uhr?Offensiv und gar nicht barmherzig? Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu entspannen. Nur kurz, nur bis es wieder geht.

Ob sie mit Hilfe rechnen konnte? Sie war umringt von zahllosen Birken, deren dürre Stämme aussahen, als litten sie an einer leprösen Hautkrankheit. Auch die wenigen Blätter, die dem Winter trotzten und ihr im leichten Wind beruhigend zuzuwinken schienen, gaben ihr weder Hilfestellung noch Antwort.

Sie stand auf und rannte weiter, einfach weiter in die Dunkelheit hinein. Die Taschenlampe, die sie ihm bei ihrer Flucht abgenommen hatte, ließ sie liegen. Ihr Herzschlag pochte von den Zehen bis in die Schläfen. Er wummerte so laut, dass sie befürchtete, ihn allein dadurch auf ihren Standort aufmerksam zu machen. Der weite Lichtkegel der Taschenlampe hätte ihn erst recht zu ihr gelockt. Mühselig strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Trotz der eisigen Temperaturen rann ihr der Schweiß heiß und klebrig zwischen den Brüsten hinunter. Was war das bloß für eine dumme Idee gewesen? Hätte ich nur … Die Panik kam leise und in kleinen Schüben. Die lebensbedrohliche Situation nahm in diesem Moment nur noch wenig Platz in Fredericas Bewusstsein ein. Gewichen war sie ihren Selbstvorwürfen. Ihrer Unfähigkeit, ihrer Hilflosigkeit und ihrem Unvermögen, rechtzeitig um Hilfe zu bitten.

Wie so oft.

PLOPP! – Ein leises Zischen begleitete den kaum wahrnehmbaren Ton.

Sie zuckte zusammen und trat dabei auf einen Zweig. Sofort war sie sich nicht mehr sicher, ob sie vor dem kurzen, harmlosen Knacken tatsächlich einen Schuss gehört hatte. Ohne sich über die Folgen ihrer Handlung klar zu sein, stolperte sie keuchend weiter den Hügel hinauf. Ihre Knie schmerzten. Noch mal ausruhen, nur einen Moment, das wäre schön, dachte sie, während ihre Nebenniere aufhörte, Adrenalin zu produzieren, und ihr Körper langsam anfing nachzugeben. Sie hockte sich erneut hin, um nicht ins Straucheln zu geraten, und versuchte, sich zu beruhigen. Frederica, du weißt, wie das geht, das hast du oft genug bewiesen – reiß dich zusammen!

Sie duckte sich nochmals tief in eine Senke und fragte sich, ob es klug gewesen war, ihre Dienstwaffe nicht mitzunehmen. Aber sie wäre ihr in dieser Situation keine Hilfe gewesen. Da – ein weiteres Knacken auf acht Uhr. Hätte das Pochen in ihren Schläfen nicht vor einigen Sekunden nachgelassen, sie hätte es nicht gehört.

Behutsam richtete sie sich auf, um mit einem Spurt im Dickicht hinter dem Hügel zu verschwinden. Sie zwang sich loszurennen, ohne sich umzusehen. Unverletzt erreichte sie ihr Ziel. Geht doch, machte sie sich Mut, und weiter voran. Blinzelnd spähte sie nach einem weiteren Fluchtweg. Da! Wieder das Knacken, nur jetzt …

»Ah, hier sind Sie. Hat Ihnen unser Ausflug bis hierher denn auch etwas Spaß gemacht? Herzlichen Glückwunsch, dass Sie es so weit geschafft haben! Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut! Aber jetzt wollen wir uns etwas beeilen, nicht wahr? Sie wissen ja, warum.«

Langsam, ganz langsam drehte Frederica sich um.

*

Der Wind pfiff kalt und schmerzhaft um die grauen Wellen, die sich an der Nordseeküste ein ums andere Mal zu blitzenden Betonmauern auftürmten wie von einer unsichtbaren Macht befehligt. Einige wenige Surfer hatten sich herausgetraut, die frierend und etwas lebensmüde in den schmalen Gassen Fahrt aufzunehmen versuchten, bevor sie unter den Wassermassen rasch wieder begraben wurden.

Den Wind überkam Langeweile und er schickte Eispfeile an Land, auf der Suche nach überambitionierten Strandwanderern. Die waren nicht aufzutreiben und so mussten seine Kinder enttäuscht eine Zeit lang mit vertrockneten Algen- und Muschelresten spielen. Bis ihnen ein einsamer menschlicher Besucher auffiel. Schrill pfeifend gewannen sie an Geschwindigkeit, zeternd übereinander herfallend, um ja der Erste zu sein, der ihn erreichen würde.

Niels Lauritz war zwar weder überambitioniert noch ein Strandwanderer, dennoch saß er bei dem Wetter auf dem nassen, klebrigen Sand, nur mit einer dünnen Windjacke und zerrissenen Jeans bekleidet. Hohe Wangenknochen rahmten ein schmales Gesicht ein, das, von Wind und Wetter durchpustet, eine innere Leuchtkraft besaß. Mit seiner durchtrainierten, feingliedrigen Statur und den halblangen zerzausten Haaren wirkte er trotz seines zerschlissenen Outfits elegant und deutlich jünger als seine 40 Jahre. Am Hals, wenig oberhalb des Hemdkragens, zeigte sich ein Tattoo, ein grauer Adler, der mit ausgebreiteten Flügeln zur Landung ansetzte.

Er war so tief in Gedanken, dass ihm die Naturgewalten um ihn herum nichts anhaben konnten. Ein letztes Zerren und Ziehen, ein schneller Eispfeil. Ein dunkles, hartes Versprechen. Wieder keine Reaktion. Der Mensch spielte einfach nicht mit. Sie zogen wütend weiter.

Niels sah sich blinzelnd um, als hätte ihm jemand Unsichtbares auf die Schulter getippt. Erstaunt registrierte er seine abgebrannte Zigarette. Hatte er sie sich nicht erst angezündet? Er mühte sich, den beißenden Wind abzuschütteln und spürte, wie die Kälte ihm unangenehm in die Glieder fuhr. Unbewusst drehte er den Zigarettenstummel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, während er auf das Meer hinausstarrte. Ein leichtes Gefühl der Panik überfiel ihn. Diesmal hatte es länger gedauert als sonst. Fing er an zu vergessen? Er ließ die krümeligen Tabakreste vom Wind verwehen und fummelte sich die nächste Lucky Strike aus der Packung. Trotz des heftigen Windes zündete er sie ohne größere Schwierigkeiten an. Nach einem tiefen Zug nahm seine Miene einen bedauernden Ausdruck an. Schnell setzte er sich auf, um die Bilder in seinem Kopf zu sortieren. Konnte er damit seinen Verrat wiedergutmachen?

Der Film war immer derselbe. Er sah ihn vor sich wie auf Super 8, ohne Tonspur. Es war an einem Tag vor 30 Jahren gewesen, seinem zehnten Geburtstag. Er sah seine Mutter, die lachend die überdimensionierte Schokoladentorte mit den brennenden Kerzen auf den Tisch stellte. Seinen Vater, der aus der Garage die Geschenke holte. Und seine kleine Schwester, die zappelte, um die tanzenden Lichter mit ihren dicken Babyärmchen einzufangen. Warum waren die drei später am Tag mit dem Auto weggefahren und hatten ihn zurückgelassen? Es war doch sein Geburtstag gewesen, sie hätten ihn wenigstens mitnehmen können. Alle seine Freunde waren gekommen und Oma und Opa, die den weinenden, zeternden Jungen hatten zurückhalten müssen, damit er sich nicht schreiend vor den wegfahrenden Wagen warf.

Sie hatten nur kurz weg sein wollen. Aber was bedeutet schon kurz, wenn man zehn geworden ist, Geburtstag hat und sich alleine fühlt? Eine Ewigkeit.

Die weißen tanzenden Lichter der Geburtstagskerzen wurden von blauen rotierenden Lampen der Polizeiwagen abgelöst. Die Ewigkeit nahm Realität an, und die Welt, wie er sie kennengelernt hatte, hörte auf zu existieren.

»Ich hasse euch!« war das Letzte, was seine Familie von ihm gehört hatte. Zwei Stunden später war ihr Auto von dem ins Schleudern geratenen Laster wie eine Ziehharmonika zusammengequetscht worden.

Einige Jahre später waren seine Großeltern gestorben und seine Reise durch Pflegefamilien hatte begonnen. In den langen einsamen Tagen und Nächten war dieser letzte Satz sein ständiger Begleiter, seine wichtigste Erinnerung und sein einziger Freund geworden.

Nur ein paar Stunden, bis ich wieder in Hamburg sein muss, rief er sich ins Gedächtnis. Er warf den Zigarettenstummel in den Wind, zog eine neue Zigarette aus der Packung und versuchte, sie mit klammen Fingern anzuzünden. Doch Njörd war nach wie vor wachsam und forderte diesmal seinen vollen Tribut.

FREITAG

Frederica Moll bog in die Sedanstraße ein und steuerte auf ihre Arbeitsstelle zu. Jedes Mal musste sie den Kopf schütteln, wenn der schmucklose Klinkerbau vor ihr auftauchte. Die Straße war sowieso ein abenteuerliches Bauwerkgemisch aus Hochhäusern, Flachbauten und Unterführungen. Man konnte kaum glauben, dass es mitten in einer Großstadt, und dazu in einer exklusiven Gegend, eine Straße gab, in der mehrere abbruchreife Gebäude standen. Es gab definitiv schönere Ecken in Hamburg. Auch im Regen …

Sie dachte an die Schlösser-Tour durch Frankreich, die sie im letzten Sommerurlaub mit ihrer Freundin Sofie unternommen hatte.

Sofie kannte sie aus dem Sandkasten und heute arbeiteten sie beide bei der Polizei. Frederica als Kommissarin beim Morddezernat und Sofie Al Moghib als operative Fall­analytikerin.

Frederica stieg die Stufen zum Eingang hoch und betrachtete die Fassade. Ihr Arbeitsplatz musste nicht zwingend in einem Schloss untergebracht sein, aber die allzu schmucklose Nachkriegsbauweise, die auch noch den weltberühmten hanseatischen Rotklinker vermissen ließ, setzte Fredericas ästhetischem Empfinden mehr zu, als es ihrem Gemüt zuträglich war.

Brummelnd betrat sie das Gebäude und nahm den Aufzug in den dritten Stock.

Im Fahrstuhl warf sie einen zufriedenen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war weit vor 9 Uhr. Sie war extra früher gekommen in der Hoffnung, dass noch nicht viele ihrer Kollegen da sein würden. Nachdem sie die verglaste Doppeltür aufgestoßen hatte, nahm sie Fahrt in Richtung der altmodischen Kaffeemaschine auf, die neben der Tür zu ihrem Büro im Aufenthaltsraum stand. Das Gerät war eiskalt. Wieder ein zufriedenes Grinsen. Was sie normalerweise als nervig empfunden hätte, war ihr momentan ganz recht. »Kein Kaffee – keine Kollegen«, murmelte sie und begann, sich auf einen ruhigen Morgen zu freuen, während sie nach einem Kaffeefilter kramte.

Das Dezernat war für eine Behörde sehr hell und modern gestaltet. Vielleicht hatte man zu der lieblosen Umgebung vor der Tür einen freundlichen Kontrast setzen wollen, indem man die Großraumbüros, mit Glaswänden voneinander abgetrennt, mit hellen Möbeln und hier und da etwas Chrom eingerichtet hatte.

»Hey, was machst du denn schon hier?«

Frederica drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine und drehte sich um. Christian Lauterbach, Hauptkommissar und ihr Partner, kam freudestrahlend auf sie zu. Der große durchtrainierte Mann hatte normalerweise wenig Mühe, sich den Respekt zu verschaffen, der in seinem Beruf notwendig war. Momentan sah er jedoch aus wie ein großer tapsiger Braunbär, der einen Honigtopf erspäht hatte. Seine langen Arme hatte er von seinem bulligen Rumpf weggestreckt, um die zierliche, 1,60 Meter große Frederica an seine Brust zu drücken.

Mahnend sah sie ihn an, während sie unbewusst einen Schritt nach hinten machte. Ihre Stimme blieb scherzhaft. »Christian, was haben wir zum Thema ›Unangemessene Verhaltensweisen am Arbeitsplatz‹ besprochen?«

Sofort ließ er seine Arme sinken. »Ist ja gut. Ich dachte nur, weil Freitag ist. Und weil du schon da bist. Das hat mich völlig verwirrt.«

Frederica stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Begrüßungskuss auf die Wange. »Auch einen Kaffee?« Seufzend drehte sie sich wieder zur Maschine um. Da waren sie hin, die ruhigen Bürominuten am Morgen.

»Auf jeden Fall. Bist du schon lange da?« Er stellte sich neben Frederica an die Maschine und verschränkte die Arme.

Friedlich gemeinsam schweigend warteten sie auf den Kaffee. Die Rollenverteilung des Ermittlerpaares wirkte auf Außenstehende aufgrund ihrer Optik selbstverständlich. Christian war Frederica nicht nur physisch weit überlegen, sondern auch mit seinen 45 sieben Jahre älter als Frederica, der Dienstältere und außerdem ihr Vorgesetzter. Trotzdem hatten beide immer das Gefühl, als wäre er das alles nicht. Auch weil sie diese gemeinsame Erkenntnis jeweils für sich behielten.

Frederica klappte die Kaffeemaschine auf, um nachzusehen, ob das Wasser bereits durchgelaufen war. Da sich allerdings noch jede Menge im Filter befand, bekleckerte sie sich ihre Stiefel. Ihre Antwort fiel daher schärfer aus, als sie es beabsichtigt hatte. »Nein, bin auch gerade erst gekommen.«

Was sie jedoch zu einem perfekten Gespann machte, war ihr synchronisiertes Bauchgefühl. So hätte sich ein Beobachter gewundert, warum sich in diesem Augenblick beide wie auf Kommando dem Flur zuwandten. Kurz darauf war der Fahrstuhl zu hören sowie das Bellen eines Hundes. Eines sehr großen Hundes.

»Uns bleibt aber auch wieder mal gar nichts erspart!«, rief Christian den Flur herunter, die Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt. Sofort nahm die unsichtbare Bedrohung Fahrt auf und schob mit einer massiven Druckwelle ihr Dänisches-Doggen-Hinterteil um die Kurve, noch bevor die Schnauze wusste, wo sie hinwollte. Kurz vor Christian rammte sie ihre tellergroßen Pfoten ins dunkelgrüne Linoleum und kam quietschend, aber einigermaßen lässig vor den beiden zum Stehen. Erwartungsvoll fixierte das schwarze Ungetüm Frederica, wahrscheinlich weil sie fast genau auf Augenhöhe war. Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man meinen können, der Hund würde nach einem Kaffee verlangen.

»Alfred, was hatten wir zum Thema Anbetteln besprochen?!« Tanja Buchholz, die Teamsekretärin und Rechercheurin für alles, bewegte ihren Rollstuhl surrend auf die Menagerie zu. Sie schob ihren Hund zur Seite und prüfte kurz die Sachlage: »Moin zusammen, heute was Spezielles los?«

Christian starrte den Hund an und dann Frederica. Er zog die Ellenbogen an den Körper und ließ die Handgelenke abklappen, täuschend echt wie ein bettelnder Alfred. »Bekomme ich einen Hundekeks, wenn ich das nächste Mal daran denke, dich nicht zu umarmen?«

Tanja sah Frederica fragend an, die den Kopf schüttelte. Sie holte einen weiteren Becher aus dem Hängeschrank und beantwortete Tanjas Frage. »Nein, bin nur aus dem Bett gefallen und dachte, ich könnte mir ein paar nette Stunden mit den überfälligen Berichten machen.«

Tanja verzog das Gesicht. »Ach, so ein Tag. Kannst gern Bescheid geben, wenn du Hilfe brauchst, ich bin nämlich so weit durch. Meinetwegen kann der nächste Mord kommen.«

Christian befüllte die Kaffeebecher. »Lass das nicht den Wolf hören, sonst wirst du abgezogen.«

Tanja brach in schallendes Gelächter aus. Christians Miene nach zu urteilen, hatte er diese Reaktion auf seine Bemerkung über ihren Chef beabsichtigt. Sie rollte näher an ihn heran und zeigte auf eine Satteltasche, die rechts an ihrem Rollstuhl angebracht war. »Gut, dass du mich vorwarnst, ›Q‹ hat mir ein Geheimfach eingebaut.«

Frederica riss sich mühsam vom durchdringenden Blick der Dogge los und machte sich auf in ihr Büro. »So, jetzt alle an die Schreibtische, wir haben zu tun!«, scheuchte sie Mensch und Tier vor sich her.

»Warum so eilig? Weißt du was, was ich nicht weiß?«, fragte Christian, als sie sich gesetzt und ihre Systeme hochgefahren hatten.

Frederica packte eine Tüte weißer Mäuse aus. »Nö, bin auf dem Herweg nicht über Leichen gestolpert, falls du das meinst. Gehst du mit Sofie und mir heute Abend ein Bier trinken? Bring gern Annabelle mit.« Christians Frau war neben Sofie eine kleine Heimat für Frederica – auch, wenn sie das niemals laut gesagt hätte.

»Ich dachte schon, du würdest nach dem Fiasko vom letzten Mal nie wieder fragen«, seufzte Christian. »Annabelle brennt darauf, dir ein paar neue Typen vorzustellen. Frag mich aber nicht, wer die sind, ich hab keine Ahnung.«

»Sadist. Schön, um acht im ›Albers-Eck‹. Strafe muss sein. By the way, wo ist eigentlich der Wolf?«

»Keine Ahnung – vermisst du ihn?«

»Nein, aber es ist immer gut zu wissen, wo sich ein Dezernatschef gerade aufhält.«

Ihr Chef, Thomas Wolf, gehörte mit seinen 60 Jahren und seiner herrschaftlichen Diensteinstellung zu den letzten Patriarchen des 21. Jahrhunderts. Er war morgens immer der Erste und abends der Letzte, verlangte dieselbe Arbeitseinstellung aber nicht von seinen Mitarbeitern. Er hielt nicht viel von flachen Hierarchien und umfassender Kommunikation, stellte sich jedoch sofort breitbeinig vor sein Dezernat, wenn ein Außenstehender Kritik üben wollte. Am Ende des Tages war er zwar ein Bürokrat, doch konnte das Dezernat auf einen verlässlichen, engagierten Chef vertrauen.

Frederica nahm sich den nächsten Bericht vor. »Komm, lass uns fertig werden.«

Beide saßen konzentriert über ihren Akten, als gegen 13.30 Uhr das Telefon klingelte.

»Frederica Moll … ja, hallo … okay, wir kommen.« Ihre Augenwinkel verengten sich leicht.

Für Fremde war diese Reaktion kaum sichtbar, aber Christian sah sie sofort erwartungsvoll an. »Ist etwas passiert?«

»Ja, wie es aussieht, ein Suizid, wir sollten natürlich trotzdem hinfahren. Man weiß nie. Und wenn wir damit nur die Streife und den Notarzt entlasten.«

»Kein Thema, ich bin gerade fertig geworden. Etwas frische Luft wird uns guttun.« Er bemerkte seinen Fauxpas und fragte schnell: »Wo müssen wir hin?«

Frederica musste trotzdem grinsen. »Grindelhochhäuser. Eine junge Frau.«

»Scheiße. Wer ist vor Ort?«

»Peter Neureuther, er war derjenige am Telefon.«

»Ach, der. Verschleißt der nicht ständig seine Kollegen? Ich habe gehört, dass er schon wieder einen neuen hat.«

Frederica trank ihren Kaffee aus und überlegte, was sie antworten sollte. Christian und sie waren längst nicht immer einer Meinung, was Weltanschauung und Ermittlungsmethoden anging. Das hing sicherlich damit zusammen, dass sie zunächst als Psychoanalytikerin gearbeitet hatte, bevor sie zur Polizei gegangen war. Irgendwie vermisste sie an ihm eine gewisse Beobachtungsgabe, wie es bei den meisten Menschen der Fall war, die sich nicht auf das Leben einlassen konnten. Aber dieses Manko wurde von seiner Gutmütigkeit und seiner Loyalität und ja, auch von seiner Unbeirrbarkeit im beruflichen wie auch im privaten Bereich ausgeglichen. In der Regel tickten die Leute einfacher, als man vermuten würde.

»Peter ist in Ordnung. Er gehört zu den Leuten, die ihren Job als Berufung verstehen und schon deswegen angenehme Kollegen sind.« Sie griff zur Tüte mit den weißen Mäusen, sah sie kurz an und entschied sich für eine Tüte Lakritz-Schnecken aus ihrer Schreibtischschublade. Ohne sie auszurollen, stopfte sie sich eine in den Mund und zog ihre hellgraue Bomberjacke aus Wildleder über. Weiches, sattes Wildleder – ein unerhörter Luxus im ewig feuchten Hamburg. Dazu schwang sie sich einen farblich passenden Rucksack aus Glattleder über die Schulter.

Christian griff sich seine vergammelte braune Lederjacke, überprüfte den Sitz seiner Dienstwaffe und ging in die Offensive. »Ich fahre, Fresssack.«

Da musste er deutlich früher aufstehen. »Bitte etwas mehr Contenance, mein Lieber. Davon abgesehen, dass ich auch mit ausgerollter Schnecke eine herausragende Fahrerin bin, bist du eh heute dran.«

»Für Ersteres trägst du immer noch die Beweislast und Letzteres ist prinzipiell richtig.« Christian fügte sich erstaunlich schnell in ihre Argumentation und zeigte auf die Lakritze. »Ich will auch eine.«

*

Niels Lauritz war ein Kleinkrimineller, wie es sie zu Tausenden in den Großstädten Deutschlands gab. Er war weder außerordentlich geschäftstüchtig noch besonders gewalttätig. Er hatte keinen festen Wohnsitz und wenig weltlichen Besitz. Wenn er eine Frau abschleppte, antwortete er auf die unausweichliche Frage nach seinem Job immer mit einer Gegenfrage: Was hättest du denn gerne, das ich bin? Irgendwie schien das immer die romantische Ader in den Frauen zu treffen und er war alle weiteren Erklärungen los. Bei Männern verfuhr er ähnlich. In der Regel setzte er auf sein sonniges Gemüt bei jedem, der ihm vor die Füße lief, anstatt sich mit lächerlichen Kräftemessen abzugeben, bei denen er ohnehin den Kürzeren gezogen hätte. Alles in allem kam er so auf der Straße ganz gut klar.

Nur momentan, da lief es nicht. Es lief einfach nicht, und er hatte keine Idee, wer oder was ihn auf die richtige Spur setzen könnte. Frustriert sah er durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Vor ihm zog sich der Hofweg wie eine lange, gelangweilte Schlange durch den Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Direkt vor ihm war das italienische Restaurant, in dem er in 20 Minuten endlich seinen neuen Chef treffen würde. Er atmete tief durch und versuchte, seinen Puls herunterzufahren. Es gelang ihm nur mäßig. Entnervt warf er sein Handy auf den Beifahrersitz des heruntergekommenen Wagens. Also, noch mal von vorn!,hämmerte es in seinem Hirn. Warum geht Torben nicht ran? War seine Menschenkenntnis so schlecht, dass ihn dieser Idiot so einfach hatte verarschen können? Scheiße, er brauchte den Job.

Vor sechs Monaten hatte er einen pickligen, fast noch halbwüchsigen Gelegenheitsdieb, der betrunken über die Reeperbahn getorkelt war, vor dem Überfahren-Werden gerettet. Damit hatte er keine besondere Taktik verfolgt, er hatte einfach instinktiv den Jungen, der sich später als Torben vorgestellt hatte, vor dem heranrasenden Taxi weggezogen. Ehrensache, dass sie auf den Schreck ein Bierchen hatten trinken müssen. Sein neuer bester Freund hatte sich nicht nur als jung, sondern auch als redselig herausgestellt. Und hallo, hatte der ein paar Geschichten auf Lager gehabt. Bei einer hatte Niels dann aufgehorcht. Er würde da so ein paar Leute kennen. Klasse Typen, besonders der eine. Piekfein, sogar mit einem geregelten Job. Und wie man leicht ein paar Euros machen könne, ohne Risiko. Niels hatte innerlich jubiliert. Volltreffer. Endlich ein Lichtblick nach dem Desaster in Frankfurt. Damals, vor einem Jahr, war er dummerweise ein paar wichtigen Typen zu heftig auf die Füße getreten, sodass er ziemlich schnell hatte verschwinden müssen. Er war zu unwichtig, als dass sie ihn über die Landesgrenzen hinaus verfolgt hätten, aber eine Rückkehr würde sofortige Sanktionen nach sich ziehen. Hamburg kannte er von früher, und er hatte gehofft, hier schnell Fuß fassen zu können. Seine Hoffnung schwand, da sich wenig ergeben hatte. Gerade genug, um sich über Wasser halten zu können. In den letzten sechs Monaten mit Torben war er über die Erledigung kleinerer Botendienste nicht hinausgekommen. Wenn jetzt nicht langsam etwas passierte, dann …

Er sah auf die Uhr und steckte sich eine Zigarette an. Noch zehn Minuten. Enttäuscht dachte er an den Vorfall vor einigen Tagen zurück, als er auf eine echte Chance spekuliert hatte. Sie waren auf dem Kiez unterwegs gewesen und hatten einiges getrunken, als Torben ihn plötzlich genötigt hatte, es einer Nutte mit einer heftigen Hasenscharte mal so richtig zu zeigen. Niels hatte ihn etwas ungläubig angesehen und im selben Moment gehofft, dass Torben von seiner Abscheu nichts mitbekäme – was bei dessen Alkoholpegel glücklicherweise wenig wahrscheinlich gewesen war. Für Kinderspiele hatte er den Job eigentlich nicht angenommen. Er war sich sicher gewesen, dass es sich um eine Art Initiationsritus gehandelt hatte. Das hätte zu Torbens unausgereiften sexuellen Fantasien bestens gepasst. Wenigsten hatte er keine Leiche verschwinden lassen müssen. Aber das kam ohnehin nicht so oft vor, wie Tatort-Land einem weismachen wollte. Widerwillig hatte er seinen Hosenschlitz geöffnet und war mit einer hoffentlich Furcht einflößend wirkenden Drohbewegung auf sein Opfer zugegangen. Mitleid hatte er keines empfunden, war ja schließlich ihr Job. Sie hatte gebührend verstört ausgesehen, als Niels sie gepackt und ihr in den Schritt gegriffen hatte. Allerdings hatte er sie sofort wieder losgelassen, als hätte sie die Krätze, und sich fragend zu Torben umgesehen. Der hatte bereits brüllend vor Lachen unter dem Tisch gelegen.

»Sie« war ein »Er« und irgendwie hatten es beide witzig gefunden, ihn zu verarschen. Echt jetzt? Niels war weniger verärgert als genervt gewesen. Er hatte bislang keine Gelegenheit gehabt, sich bei dem piekfeinen Schnösel Thomas Haas zu profilieren, und es hatte nicht so ausgesehen, als würde Torben ihm in nächster Zukunft die Möglichkeit verschaffen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Nicht heute und nicht in Zukunft.

Er nahm wieder sein Handy und steckte es in die Jackentasche. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare. Langsam gingen ihm die Ideen aus. Und heute das Treffen mit Haas. Nein, vielmehr ein Herbeizitiert-Werden. War das jetzt gut oder schlecht? Torben hatte ihn mit verschwörerischer Stimme angerufen, aber nichts weiter dazu gesagt. Oder hatte er nicht gedurft? Er war schon auf dem Weg gewesen, irgendwelche Medikamenten-Rezepte abzuholen, was Torben ihm am Tag zuvor als Job aufgetragen hatte, aber zur Planänderung »Treffen mit Haas« war Torben plötzlich sehr wortkarg geworden. Er hatte nur noch gemeint, dass Haas ein Problem mit »dem Neuen« habe, Niels solle sich deshalb sehr respektvoll verhalten. Niels hatte dann lieber nicht weiter nachgefragt.

Seitdem ging Torben nicht mehr an sein Handy. Frustriert fing er an, an seinen Nägeln zu kauen. Arschloch. War das noch einer seiner dämlichen Scherze? Würde da wieder irgendeine Transe auf ihn warten? Er hatte null Ahnung, was Thomas Haas von ihm hielt. Ob er ihm überhaupt schon einmal aufgefallen war. Das war hier schließlich keine Rockerbande, die sich täglich in ihrer Stammkneipe traf und deren Sozialisierungsspielchen viel Raum zum Beschnuppern boten. Kann gut sein, dass er ihn einfach für einen Versager hielt, maximal für einfache Botengänge zu gebrauchen. Wenn dem so wäre, würde er es jedenfalls zu nichts bringen.

Niels sah wieder sehnsüchtig auf das italienische Lokal, als würde dort regelmäßig der Heiland einkehren. Vielleicht würde es endlich ernst werden. Würde er seine Chance bekommen? Hastig zündete er sich eine neue Zigarette an, als könnte er sich hinter dem beißenden Qualm vor seinem Leben verstecken.

Plötzlich fühlte er sich beobachtet und zuckte kurz zusammen. Seine Mimik entspannte sich schnell zu einem Grinsen. Es war nur eine junge Frau, die am Wagen vorbeiging und ihm zulächelte. Er lächelte automatisch zurück. Was soll’s. Ich schaffe das auch ohne Torben. Er stieg aus dem Wagen und betrat das Lokal durch die breite Fensterfront. Drinnen roch es lecker nach Knoblauch und Tomatensoße. Das Interieur war einfach, aber geschmackvoll gehalten. Plötzlich zog kalte Luft an seinem Hals vorbei. Er trug eine Windjacke und eine Jeans, unangenehm klamm und sandig spürte er sie auf der Haut.

An einem Ecktisch konnte Niels sofort einen einzelnen Mann ausmachen, der ihn teilnahmslos musterte. Obwohl es mitten am Tag war, stand eine Flasche Rotwein vor ihm auf dem Tisch, ein gefülltes Glas befand sich in seiner Hand. Niels ging tapfer auf ihn zu.

Bevor er etwas sagen konnte, sprach ihn der Mann an: »Du kommst zu spät.« Die melodische, tiefe Stimme, die eine gute Erziehung erkennen ließ, traf ihn wie ein Schlag in den Nacken. »Hast du das getan, was dir aufgetragen wurde?«

Im winterlich trüben Halbschatten des Eingangsbereiches wirkte der Adler, als wollte er gleich wieder durchstarten. Niels blieb vor dem Tisch stehen. Zumindest nicht die Transe. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, blaffte er seinen neuen Chef an. Ruhig bleiben, das war viel zu aggressiv. Keine Angst zeigen. Du weißt nicht, worum es geht, und das stimmt ja sogar. Hoffentlich hatte er nicht schon zu dick aufgetragen.

Thomas Haas, der eloquente Vertriebschef eines namhaften Pharmakonzerns, bedachte ihn mit einem milden Lächeln. »Ts ts ts, aber nicht doch. Bist du sicher, dass das die Antwort ist, die du mir geben möchtest?«

Niels strich dem Adler beruhigend über die Flügel. Er ist also nicht wütend. Er speicherte die Information für später ab. »Ich weiß nur, was Torben gesagt hat, nämlich dass ich Sie hier treffen soll. Sonst hat er nichts gesagt.« Seine Stimme klang nun fest und ruhig. »Ich hatte mich schon gewundert, warum Sie mich sehen wollten, aber Ihr Wunsch ist mir natürlich Befehl.« Eine leichte Spur von Ironie kroch in seine Mundwinkel. Er hoffte, dass Haas sie bemerken und ihm etwas respektvoller begegnen würde.

Zumindest Letzteres tat er nicht.

Flucht nach vorn. Niels setzte sich an den Tisch. »Haben Sie einen Auftrag für mich?«

Haas’ Blick war fragend, ehe er sich schnell verfinsterte. Er setzte das Rotweinglas ab, griff an seine Brusttasche und holte eine Lesebrille heraus. Niels fiel auf, dass Haas einen sehr gut geschnittenen grauen Anzug trug und einen dazu passenden Haarschnitt hatte. An seinem maßgeschneiderten Hemd blitzten elegante silberne Manschettenknöpfe auf. Er las sich einige weiße Zettel durch, die er aus seiner Brieftasche geholt hatte, und reichte einige davon an Niels weiter. Neugierig nahm der sie entgegen. Es waren Rezepte für Medikamente, deren Namen Niels nichts sagten.

»Hol meine persönliche Ware vom Apotheker ab – das dürfte ja nicht zu kompliziert für dich sein.«

Niels ließ sich seine Verwirrung nicht anmerken. »Natürlich, kein Problem, ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Das wäre zu begrüßen.« Haas nahm seine Lesebrille wieder ab und gab dem Kellner ein Zeichen, ohne sich weiter um Niels zu kümmern.

Niels wartete das Eintreffen des Obers nicht ab, stand auf und verließ grußlos und ohne sich noch einmal umzusehen das Lokal. Als sich seine Anspannung zu lösen begann, schlug der Adler plötzlich heftig mit den Flügeln. Niels rannte auf seinen Wagen zu, den er auf der überfüllten Straße illegal auf dem Radfahrweg geparkt hatte. Gierig sog er die kalte Luft in seine Lungen, als wäre er soeben von einem langen Tauchgang an die Oberfläche zurückgekehrt. Nach ein paar tiefen Zügen hatte sich der Raubvogel beruhigt.

Niels setzte sich hinter das Steuer. Er betrachtete seine hageren Gesichtszüge im schummrigen Hamburger Tageslicht, das ihn plötzlich älter aussehen ließ, als er sich heute ohnehin schon fühlte. Was war das denn eben gewesen? Wieso hat er mich erst abgecheckt und dann mit einem improvisierten Auftrag wieder gehen lassen? Er kramte nach einer Wasserflasche und fühlte das eisige Wasser seine Speiseröhre hinunterlaufen, erfrischend, erfrierend, frei.

War das endlich ein Anfang oder sollte es schon das Ende sein?

Er startete den Wagen und machte sich auf den Weg Richtung Innenstadt.

*

Die Grindelhochhäuser im Nobelviertel Harvestehude waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von den Briten für ihre Besatzungstruppen geplant worden. Die waren jedoch mit ihrem Hauptquartier nach Frankfurt gezogen und hatten großherrlich die Fundamente für die zwölf Stahlbauten zurückgelassen. Gebaut hatte Hamburg sie trotzdem. Heute standen die wenig eleganten Gebäude, die wie schräg zueinander aufgereihte Dominosteine aussahen, unter Denkmalschutz.

In einem der vorderen Gebäude war das Bezirksamt untergebracht, und wer ins Kundenzentrum wollte, nahm einen Paternoster. Als Kind hatte Frederica – wie alle ihre Freunde – die Fahrt als Mutprobe absolviert. Was passiert, wenn ich oben nicht aussteige?Fahre ich auf dem Kopf wieder runter? Oder werde ich zerquetscht, falle ich durch die klappernden Sehnen des Monsters, muss ich vielleicht sterben? Sterblich sein. Was bedeutete das für ein Kind? Damals hatte Frederica sich vor Angst fast übergeben. Heute wusste sie es kaum besser.

Die Wohnung lag im ersten Gebäude hinter dem Bezirksamt. Frederica und Christian hatten völlig unerwartet einen Parkplatz an der Hallerstraße gefunden und kamen von hinten über die Grünflächen an die Gebäude heran. Die einzelnen Zugänge zu den Häusern waren weitläufig verglast und mit seitlich ausgestellten Vestibülen versehen. Die Bewohner benutzten sie teilweise als Kunst- und Werbeflächen, was dem Ganzen ein etwas merkwürdiges Aussehen verlieh, da niemand die Fenster zu putzen schien.

Es hatte angefangen zu regnen. Die Wolken blieben in den Baumwipfeln hängen und verdunkelten die Wohnungen. Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Im Erdgeschoss spielten Kinder hinter ein paar vertrockneten Kübelpflanzen Fangen. Der Boden war schmutzig, entweder war das Wetter wenig schmeichelhaft für die Fliesen oder sie waren lange nicht mehr gefeudelt worden. Die Wohnungstür im vierten Stock stand sperrangelweit offen, einige orange Gestalten liefen im Flur herum. Was suchten die da? Wollten sie den Geist der Toten einfangen? Dann wäre es dumm, dass jemand das Fenster im Flur auf Kipp gelassen hatte.

Nachbarn waren nirgends zu sehen, der Hamburger an sich war ja bekanntlich diskret.

Die Atmosphäre war abweisend und gleichgültig.

»Wohnt nicht Tanja hier irgendwo?«, fragte Christian niemanden im Speziellen.

Niemand fühlte sich bemüßigt, ihm zu antworten.

Frederica trat ans Fenster und sah auf den nassen Horizont. Die Wolken zogen wie in Zeitlupe um die Häuserblocks, zickig und wachsam. Papi, wie war das für dich? Wir haben nie über deine Toten gesprochen. Abrupt drehte sie sich zu Christian um. Jeder Tod hatte seine eigenen Regeln, und keine davon war in Stein gemeißelt.

»Kommst du?«

Sie nickte und vermied es, Christian anzusehen, während sie gemeinsam auf die geöffnete Wohnungstür zusteuerten. In Frederica wechselten sich Neugierde und Furcht in einer Art Waffenstillstand ab. Sie fragte sich, was sie wohl erwarten würde. Egal wie oft, mit welcher Information, wie schnell oder langsam sie einen Tatort betraten und bewerteten – immer mussten sie vorher mit demütig gesenkten Häuptern das Regelwerk des Opfers erfragen. Der von der Seele verlassene Körper brauchte Zeit, um sich an den Tod zu gewöhnen, und in dieser Zeit hatten die Lebenden zu schweigen. Zu schweigen und zuzuhören.

Sie grüßten kurz die orangefarbenen Torwächter und betraten rasch die Wohnung. Frederica blieb direkt hinter der Eingangstür stehen, während sich Christian an ihr vorbei in den großzügig geschnittenen Wohnbereich vordrängelte und erst einmal aus dem Fenster blickte.

Obwohl in der Wohnung einige Sanitäter und Polizisten hätten anwesend sein müssen, war niemand zu sehen. Die Wohnung schien weitläufiger zu sein, als man auf den ersten Blick vermutet hätte. Frederica schaute kurz in einen überdimensionierten Garderobenschrank, der neben der Eingangstür stand, und schloss danach seine Flügeltüren. Nun konnte sie vom Eingangsbereich aus alles überblicken und sah sich prüfend um. Die Einrichtung traf nicht ihren Geschmack, aber sie war nicht ohne Stil. Das Appartement war modern mit viel Holz und in weiß eingerichtet. Ein besonders weibliches Ambiente, ein Mann hätte so nicht dauerhaft hier gewohnt.

Sie schloss die Augen. Vom Flur hinter ihr und im Appartement selbst hörte sie tiefes Stimmengemurmel. Die Geräusche der Großstadt waren im vierten Stock und bei geschlossenen Fenstern nicht zu hören. Auch von den Nachbarn kamen keine Geräusche, vielleicht waren sie nicht zu Hause. Mit einem Ruck öffnete sie die Augen, als würde ihr jemand die Lider hochziehen.

Das war’s. Neugierig blickte sie um sich. Noch wollte der Ort nicht mit ihr reden, sie wusste nicht, warum. Ungeduldig schaute Frederica zu Christian, der nach wie vor am Fenster stand und etwas in sein Handy tippte. Wollte er sich nicht mal umsehen? Seine Arbeit machen, irgendjemandem irgendwelche Fragen stellen, zuhören, was geantwortet wird? Richtig zuhören? Oder waren die Antworten es ihm nicht wert? Eine junge Frau war tot, irgendwo hier in ihrer eigenen Wohnung war sie gestorben. Hatte es lange gedauert? Hatte sie gewusst, was passieren würde? Hatte sie Schmerzen gehabt? Warum hatte man sie nicht geliebt? Bereute sie ihre Entscheidung, sich das Leben genommen zu haben? Frederica atmete tief durch. Damit die Heimat, der Zufluchtsort, zur tödlichen Bedrohung wurde, musste das Draußen verdammt wenig Trost zu bieten gehabt haben.

Jemand war bereits seit langer Zeit nicht mehr glücklich gewesen. Früher irgendwann mal, ja, als die vielen Dekoartikel mit Liebe gekauft und mit Sorgfalt arrangiert worden waren. Heute, im trüben Tageslicht, lagen darauf dicke Staubschichten. Im Regal standen einige Vasen unterschiedlicher Größe, einen frischen Strauß gab es nicht. In der Küche stapelten sich einige Kaffeebecher und etwas Besteck in der Spüle, keine Teller oder Töpfe.

»Die Möbel sehen echt abgeranzt aus, Geldprobleme kommen hier also schon mal infrage.«

Frederica riss sich los und sah Christian zweifelnd an, der zu ihr in den Flur gekommen war. »Abgeranzt? Das nennt sich Shabby Chic, und billig war das in keinem Fall.« Sie ärgerte sich über seine flapsige Bemerkung, ließ sich aber nichts anmerken. Um die Irritation loszuwerden, wechselte sie das Thema. »Wieso ist hier eigentlich niemand? Wo ist Peter?«

Die letzte Frage hatte sie etwas lauter gestellt, woraufhin sich ihnen sofort ein Kopf von links hinten entgegenstreckte. »Wir sind hier im Bad!«, rief der Streifenpolizist. In dunkelblauer Uniform und mit wachem Gesichtsausdruck sah er sehr vertrauenerweckend und sogar etwas weltmännisch aus. »Hi erst mal, schön, dass ihr so schnell kommen konntet.« Er gab den Kollegen von der Mordkommission die Hand und zeigte aufs Badezimmer. »Kommt rein, hier ist genug Platz für alle.«

Frederica zögerte einen Moment, unmerklich für die Männer um sie herum. Um Christian den Vortritt zu lassen, trat sie einen Schritt zur Seite und fing an, in ihrem Rucksack nach den Latexhandschuhen zu kramen.

Sie sah zurück zum Fenster und blinzelte die Wolken an. Es war also so weit. Welcher Hilferuf würde sie heute einholen, bittend, immer wieder fragend, warum denn keiner hörte? Zu spät ihre Reaktion. Viel zu spät. Und keine Möglichkeit der Erklärung, der Abbitte.

Als Kind war sie immer im letzten Stockwerk ausgestiegen. Als Erwachsene hatte sie nie wieder einen Paternoster betreten.

Sie schritt zu den Männern ins Bad und streifte sich die Handschuhe über. Peter hatte nicht übertrieben, das Bad war sogar im Verhältnis zum Rest der Wohnung tatsächlich sehr groß. Es war mit einer Eckdusche, zwei Waschbecken und einer Badewanne ausgestattet. Peters breiter Rücken verdeckte größtenteils die Badewanne und was wahrscheinlich darin lag. Er sah sie erwartungsvoll an und sie lächelte zurück.

Peter sagte: »Mal was anderes, oder? Von Gewaltanwendung jedenfalls keine Spur.«

Frederica musste ihm recht geben. Die Szene präsentierte sich auffallend friedlich. Es roch angenehm nach Badezusätzen, ein zitrusfruchtiger, erfrischender Duft. »Revitalisierend«, stand auf einer der Flaschen. Das eine Waschbecken schien unbenutzt zu sein. In dem anderen lagen ein paar lange blonde Haare, und die Keramik war stellenweise von Puderresten verschmiert. Auf dem Rand und der Ablage darüber waren Tiegel und Tuben bunt durcheinander aufgereiht. Frederica bemerkte, dass es nur eine Zahnbürste und ein Stück Seife gab. Außerdem konnte sie nirgendwo einen Rasierer finden. Sie kramte sich weiter durch die Hängeschränke, die sie nacheinander auf- und zuklappte. Dabei vermied sie es sorgfältig, in die Spiegel zu sehen. Außer dem üblichen Durcheinander an Wattepads, Ibuprofen und Mundwasser konnte sie nichts Interessantes finden.

Gut, fangen wir an. Sie ließ die Schränke Schränke sein und drehte sich zur Wanne.

Die junge Frau schien zu schlafen. Ihr Kopf ruhte sanft auf einer Nackenrolle, die man mit Noppen am Badewannenrand befestigen konnte. Ihr Körper lag auf dem Rücken lang ausgestreckt, die Arme schwebten entspannt an ihrer Seite. Zumindest glaubte Frederica das, denn bis auf den Kopf lag die Frau unter Wasser.

Und das war undurchsichtig.

Sie suchte nach einem Vergleich für die herrlich blutrote Farbe, die den Körper umschloss. Rot wie eine Kardinalsrobe? Nein, die war eher purpurn. Es war eine schöne, satte Farbe. Rote-Beete-Saft. Kraftvoll und – ja – sauber. Reinigend. Erlösend.

Frederica öffnete ihr Herz und hörte zu. Der Geist war noch da und ganz in der Nähe. Wenn sie sich beeilte, dann …

Peter sagte: »Ihr Name ist Sabine Gross, sie war 32 und alleinstehend.« Die beiden Männer sahen ungerührt auf die Leiche. »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.«

»Ein Klassiker«, konstatierte Christian. »Aber wieso liegt sie da immer noch drin?«

»Wir haben auf euch warten wollen«, meinte Peter, »der Notarzt konnte eh nur den Tod feststellen, und da ja alle Suizide erst mal als ungeklärte Todesursache eingestuft werden, habe ich alles so gelassen, wie wir es vorgefunden haben.«

»Meinetwegen. Wo ist eigentlich der Notarzt? Läuft der auf dem Flur rum, und wenn ja, warum?«

»Nein, der hat sich verabschiedet, er hatte den nächsten Notfall, ein Kind ist in die Alster gefallen.«

Frederica traute ihren Ohren nicht. »Wieso hat er nicht auf uns gewartet? Und wieso ein Kind? Hatte es keine Schule?«

»Ist doch egal!« Christian zog seinen Zeigefinger aus dem Badewasser: »Eiskalt, aber die Totenflecken haben sich schön auf Höhe der Wasserkante gebildet.« Er drückte mit seinen behandschuhten Fingern auf die Flecke. »Noch wegdrückbar, scheinen aber schon zu verschwimmen. Sie ist seit einigen Stunden tot, aber noch nicht länger als gestern? Peter, was sagt der Notarzt?«

»Ja, so in etwa. Genauer konnte er den Todeszeitpunkt nicht bestimmen, da das Messen der Körpertemperatur hier natürlich keinen Anhaltspunkt geben kann.«

Während Peter und Christian sich weiter um die Leiche kümmerten, sah Frederica doch in den Spiegel. Sie wusste, dass sie dem Notarzt gegenüber ungerecht gewesen war, aber sie konnte den Umstand, dass dieser Tod nur einer von vielen Einsätzen für ihn heute sein würde, nicht mit der Ungeheuerlichkeit des Prozesses an sich vereinbaren. »Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte sie etwas zu genervt. »Hat sich wohl auch verabschiedet?«

»Ja, wohnt aber nebenan.« Peter, der gute Teamplayer, der über den Einsatz nicht mehr nachdachte als über alle anderen auch, konnte Fredericas Stimmungswechsel nicht einordnen und vermied es, sie anzusehen. In einer Übersprunghandlung zog er seinen Notizblock aus der Hosentasche, obwohl er die Daten frisch im Kopf hatte. »Sie ist eine ältere Dame, Tatjana Horvath, 68. Heute Morgen gegen 8 Uhr hat sie ihren Hund ausgeführt. Als sie circa eine halbe Stunde später wiedergekommen ist, hat sie die offene Tür bemerkt. Sie stand nur einen Spalt offen, was sie sehr verwundert hat, weil Frau Gross immer sehr aufs Abschließen geachtet habe. Sie hat daraufhin in die Wohnung hineingerufen, und als keine Antwort kam, ist sie nachsehen gegangen. Sie hat Frau Gross in der Wanne gefunden und sofort die Feuerwehr alarmiert. Wir sind zeitgleich mit den Kollegen eingetroffen. Mein neuer Partner, Jan Meyer, sollte an der Tür stehen, habt ihr ihn nicht gesehen?«

»Doch, doch«, beeilte sich Christian zu sagen, »der stand an der Tür, als wir gekommen sind.«

Frederica zog sich eine Lakritz-Schnecke aus dem Rucksack. Christian kannte den Mann nicht einmal, aber gab ihm schon Rückendeckung. Sie ließ es auf sich beruhen. Sie waren mittlerweile an der Wohnungstür angelangt, an der wie durch Zauberhand ein junger Polizist Aufstellung genommen hatte.

»Da bist du ja. Irgendwas Auffälliges gewesen?«, fragte Peter.

»Nein, alles ruhig.« Jans Blick flackerte etwas, was außer Frederica niemandem aufzufallen schien.

»Die Tür scheint jedenfalls nicht aufgebrochen worden zu sein.« Christian untersuchte die Zargen. »Alles jungfräulich. Warum sie wohl vergessen hat, die Wohnungstür zu schließen?«

»Vielleicht hat sie sie absichtlich offen gelassen, damit man sie findet?«, vermutete Peter. »Frauen sind doch immer auf ihr Äußeres bedacht, und wenn man sie erst nach – sagen wir mal – zwei Wochen gefunden hätte, wäre der Teint nicht mehr wirklich instagramtauglich gewesen.«

Blutrot, kraftvoll, sauber. Jemand hüstelte. Im Flur wurde das Fenster mit einem Plopp geschlossen.

»Lasst das Wasser ab«, forderte Frederica, »und bringt sie in die Gerichtsmedizin. Von dem Badewasser bitte auch eine Probe mitnehmen. Und holt die Spurensicherung.«

Peter nickte und eilte telefonierend Richtung Bad. Christian, der gerade seine Nachrichten gecheckt hatte, sah sie verwundert an. Er baute sich vor ihr zu seiner vollen Größe auf und zog den Bauch ein. Neben seiner bulligen Statur wirkte die zierliche Frederica regelrecht kindlich.

»He, die Ansagen mache immer noch ich. Und wieso hast du die Spusi angefordert?«

Frederica sah an dem Bergmassiv hoch und steckte sich wie gedankenverloren die nächste Lakritz-Schnecke in den Mund. »Wer sich längs die Pulsadern ohne Werkzeuge aufschlitzt und dabei weder Alkohol noch Tabletten benutzt, verdient unsere ganze Aufmerksamkeit. Findest du nicht?«

*

Nach der zweiten Zigarette hatten sich Niels’ Nerven etwas beruhigt. Er griff nach seinem Handy und rief noch einmal Torben an. Schon wieder die Mailbox. Er hasste Mailboxen. Und diese ganz besonders. Entnervt pfefferte er das Telefon zurück auf den Beifahrersitz und überlegte kurz. Wo sollte er hin? Ach ja, zur Apotheke. Welche war das noch gleich? Irgendwo am Gänsemarkt. Da war er leider in die falsche Richtung gefahren. Er setzte den Blinker, machte verbotenerweise einen U-Turn und gab Gas.

Als er über die Kennedybrücke Richtung Innenstadt fuhr, verlangsamte er seine Geschwindigkeit und genoss einen Moment lang den Panoramablick Richtung Jungfernstieg. Er vermisste eines der wichtigsten Wahrzeichen Hamburgs, die majestätisch anmutende Wasserfontäne, die mitten auf der Alster bis zu 60 Meter in die Höhe schoss. Im Winter war sie eingelagert. Es war wenig los bis auf ein mittelgroßes Aufgebot an Rettungskräften am Flussufer. Muss wohl jemand ins Wasser gefallen sein. Die Sonne war durchgekommen und schien auf eine Kolonne aus Polizeiautos und Krankenwagen, die die rechte Abbiegerspur Richtung amerikanischer Botschaft versperrt hatten. Er ließ sich vom Anblick des funkelnden Wassers ablenken, bis der entnervte Pendler hinter ihm anfing, seine Hupe zu traktieren. Niels sah in den Rückspiegel. Nur ein Pinneberger. Also erst genüsslich eine Zigarette anstecken, bevor er das Tempo wieder anziehen würde. Torben, du Arsch, ruf gefälligst zurück! Wir haben ein Problem. Ich hab ein Problem.

Während er ins Parkhaus fuhr, klingelte sein Handy. Er sah aufs Display. Endlich. Mitten auf der Auffahrt blieb er stehen, um den Empfang nicht zu verlieren, und ging ran. »Mensch, Torben, geht’s noch? Wieso machst du dich rar? Ich war so gut wie am Arsch!«

»Gemach, Alter, ist doch nichts passiert.« Niels konnte die grinsende Zahnlücke im pockennarbigen Gesicht seines besten Kumpels förmlich sehen. »Hab die Rezepte selber abgeholt und dem Boss gebracht. Hab ihm gesagt, du wärst nicht so ganz auf dem Damm. Stoned, verstehste?« Wieder dieses hörbare Grinsen.

Rezepte? Wieso Rezepte? Niels dachte kurz an die Begegnung mit Haas zurück und an seinen ursprünglichen Auftrag von Torben, der undurchsichtig geblieben war. »Was meinst du mit Rezepten? Für Medikamente? Aber den neuen Job hab ich gerade erst von Haas bekommen?«

In der Leitung gluckste es. »Bro, was bist du ahnungslos. Doch nicht seine eigenen. Welche, die man zu Geld machen kann. Ich hab dir doch versprochen, dass der Mann was draufhat.«

Niels ahnte etwas. Aber er war verwirrt. Das Geschäft drehte sich also um Rezeptbetrug? Da waren seine Informationen wohl nicht ganz korrekt gewesen, die in Richtung Mädchenhandel gegangen waren. Das Geschäft mit dem Verkauf illegal erworbener Medikamente war zwar mindestens ebenso lukrativ, erforderte allerdings etwas mehr Feingefühl. Wieso vertraute Haas dann so einem Trottel wie Torben? Niels zündete sich eine neue Zigarette an, um sich besser konzentrieren zu können. »Nee, verstehe ich nicht. Wir waren uns doch einig, dass ich endlich richtig mitmachen soll. Und du wolltest ein gutes Wort für mich einlegen. Und dann hast du mir gesagt, ich soll Haas in diesem Lokal treffen, weil er auf mich aufmerksam geworden sei und mir wichtige Aufgaben übertragen wolle. Hast du mich etwa damit verarscht? So wie mit der Transe?«

»Ey, spinn nicht rum, Alter. Natürlich nicht. Hab dich empfohlen und der Boss war einverstanden. Warum er dich heute treffen wollte, kann ich dir auch nicht sagen. Was weiß ich, was in seinem teuren Köpfchen so vor sich geht. Und die Lieferung heute hatte es echt in sich, Alter, das hat mein ganzes Gekönne erfordert.«

Niels rollte mit den Augen. »Gekönne? Echt jetzt? Und? Lebt er noch?«

»Kannst du Gedanken lesen, Alter? Cool. Jedenfalls hat der Typ jetzt andere Sorgen – oder keine mehr, wie man’s nimmt.«

Niels sah ungläubig auf die Etagenmarkierung des Parkhauses, die am Ende des Fahrstreifens zu erkennen war. Wieso waren die Zahlen und Buchstaben immer in bunten Farben? »Du willst mir aber jetzt nicht sagen, dass du jemanden für ein paar lausige Rezepte umgebracht hast? Spinnst du, Mann? Das gibt dumme Nachfragen und jede Menge Ärger.«

»Hey, ich kann nichts dafür!« Torbens Stimme klang mit einem Mal weinerlich. »Der ist gleich nach den paar Schellen umgekippt und liegen geblieben. War ja eh krank, ist wohl kaum meine Schuld, wenn der nicht wieder aufsteht.«

Wahrscheinlich orientierten sich die Analphabeten an den Farben. »Okay, schon gut. Sag mir lieber, wieso Haas mich dann nicht darauf angesprochen hat und mich zur Apotheke jagt, um seine Medikamente abzuholen.« Niels hatte plötzlich eine Idee, die ein komisches Gefühl in seiner Bauchgegend erzeugte. »Was genau hast du ihm eigentlich über mich erzählt?«

»Nicht so neugierig, Bro. Mach dir mal keine Sorgen, wir sind doch Freunde. Und der Boss mag dich auch, du wirst schon sehen. Ich kümmere mich um dich. Muss jetzt aber los, so long.«

Arschloch. Und was soll der blöde Slang? Es nervt, wenn die Leute zu viel Fernsehen gucken. Als wollten sie der Banalität des realen Verbrechens, den langweiligen, aktionslosen Tagen und kurzen, manchmal tödlichen Nächten irgendwie einen individuellen Stempel aufdrücken. So long – mein Arsch!

Hinter ihm ertönte ein Hupkonzert. Stimmt, er stand ja noch mitten im Parkhaus. Schnell startete er den Wagen und suchte sich einen Parkplatz. Auf dem Weg zur Apotheke überdachte er seine Lage. Torben war ein Idiot, daran bestand kein Zweifel. Aber er war sein Idiot. Sein Ticket in ein geregeltes Kleinganovenleben. »Mein Leben gehört jetzt dir«, hatte Torben dankbar gelallt, nachdem er ihn davor bewahrt hatte, vor ein fahrendes Taxi zu torkeln. Seitdem wartete Niels auf seine Chance. Auf seine letzte Chance. Torben würde ihn nicht ewig hinhalten können.

Niels betrat die Apotheke und sah sich um. Krass, wie die immer mehr aussehen wie Drogeriemärkte. Cremetiegel, Duftseifen und Zahnbürsten waren im Wechsel mit Hygieneartikeln und Schlüsselanhängern in die langen Regale einsortiert. Im Schaufenster standen zur Deko eine alte Apothekerwaage und ein paar braune, bauchige Fläschchen. In einer großen runden Schütte lagen, bunt zusammengewürfelt, diverse Schachteln im Sonderangebot. Niels schüttelte den Kopf. Früher hießen diese Leute Bader und haben dich mit Urin und Spucke umgebracht.

»Kann ich Ihnen helfen?«