Kommt und Seht - Die Gastfreundschaft als grundvoraussetzung des interreligiösen Dialogs -  - E-Book

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Beschreibung

Insgesamt zeigte das Fachkolloquium, dass Gastfreundschaft in allen Religionen und Kulturen eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Zusammenleben spielt. Die durchaus auch kontroversen Diskussionen kreisten um eine religiös begründete (absolute) Gastfreundschaft in Spannung zu (verantwortungsethischen) Regulierungen und Begrenzungen, z. B. von Migrationsbewegungen. Die Verwurzelung in Gott zeigte sich als tiefster Grund der Überwindung von abgrenzenden Identitätsbildungen. Anders als bei einem bunten Nebeneinander (diversity) führt dies aber zum Versuch eines radikalen dialogischen Fremdverstehens, das auch den Wahrheitsanspruch des Anderen anerkennt und dem die je aus den Traditionen der beteiligten Religionen heraus begründete gastfreundliche Auf- und Annahme vorausgeht.

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Seitenzahl: 158

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Herman Weber

Aufhebung des Fremden: Differenzerfahrung inmitten der Globalisierung

Georgi Kapriev

Gastfreundschaft und Toleranz des Gastes als Basis des produktiven Dialogs. Anselm von Havelberg in Konstantinopel

Ilona Anna Urbán

Hospitality in the Light of the Rabbinic Literature and its Current Practice

Lingchang Gui

Ordnung und Vorbestimmung – die religiösen Aspekte der ostasiatischen Gastfreundschaft

Carlos Miguel Gómez

Rincón

Towards an Intercultural Hermeneutics of Amazonian traditional medicine in Colombia

Milan Dordevic

Religion and Social Change in South-Eastern Europe – the Macedonian Case

Davor Dzalto

Quo Vadis Europa? On Christianity, Hospitality, and the Refugee Crisis

Autorenverzeichnis

VORWORT

Der vorliegende Band ist eine Dokumentation der KAAD-Alumni–Konferenz die vom 26. - 29. November 2019 in Ohrid/Nordmazedonien stattfand. Neben Alumni des KAAD aus Nordmazedonien, Bulgarien und Serbien sowie Mitgliedern der Fachgruppe „Religion im Dialog“ aus China, Kolumbien und dem Iran waren der Generalsekretär Dr. Hermann Weber und der Referatsleiter Osteuropa Markus Leimbach dabei. Vorbereitet wurde die Konferenz von Pfr. Prof. Dr. Milan Dordevic von der theologischen Fakultät in Skopje.

In seinem Einführungsvortrag entfaltete Dr. Hermann Weber begriffliche Zugänge zum Fremden. Ausgehend von psychoanalytischen und theologischen Ansätzen diskutierte er die postmoderne Begriffsbildung und Metaphorik („Wurzellosigkeit“ etc.) kritisch und zog Schlussfolgerungen für die Arbeit des KAAD im Rahmen der internationalen Bildungsmigration.

Der bedeutende Byzanzforscher Professor Georgi Kapriev von der Universität in Sofia/Bulgarien setzte in seinem Vortrag bei der historischen Dialogkonstellation des Theologen Anselm von Havelberg im Konstantinopel des 12. Jahrhunderts an. Dieser definiert Toleranz als eine Tugend (beider Dialogpartner), sodass Gastfreundschaft und Toleranz für ihn Ansätze zu einem interreligiösen Dialog wurden.

Der hellenistische Ansatz der Gastfreundschaft findet sich auch im Judentum wieder, wie die ungarische Judaistin Ilona Urban ausführte. Aktiv Gäste suchen und nicht auf die Gäste warten, vorbereitet sein, Gäste zu empfangen, all dies ehre den Gastgeber. Es komme nicht darauf an, wer als Gast komme, sondern dass ein Gast komme. Die Einladungspraxis, Gäste zum Sabbatmahl willkommen zu heißen, wird heute weitergeführt.

Lingchang Gui stellte die Aussage von Jacques Derrida: „dem Gast ist die Gastfreundschaft zunächst selber fremd“ an den Anfang seiner Ausführungen über Gastfreundschaft im asiatischen Kontext. Diese ist in Ostasien keine einseitige Entscheidung. Sie ist Teil der moralischen Ordnung und der historischen Tradition. In der ostasiatischen Kultur gibt es kein Außen („das Fremde“), daher müssen beide Seiten die Rituale (ein-)üben. Vor allem in der chinesischen Tradition ist die Vorbestimmung bzw. das Schicksal Teil der Gastfreundschaft. Der Begriff „Yuanfen“ (affirmatives Schicksal) beschreibt dieses traditionelle Verhalten, welches auch heute noch von etwa 70% aller Studenten in China akzeptiert wird.

Professor Dr. Carlos Gómez (Bogotá, Universidad del Rosario) stellte in seinem Vortrag den Schamanismus der indigenen Völker im Amazonasgebiet vor. Die Schamanen sind sowohl Ärzte als auch politische Führer und geistliche Betreuer, wobei die geistliche Betreuung in dieser erforschten Gruppe auch auf einem christlichen Glauben beruht. Gastfreundschaft ist hier ein grundsätzliches und natürliches Element des Umgangs miteinander. Die interkulturelle Hermeneutik ist für den Forscher ein wichtiges Element, um den Schamanen und seine Position im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge verstehen zu können.

Professor Milan Dordevic richtete im Rahmen einer historischen Analyse der interreligiösen Dialogpraxis in Nordmazedonien einen kritischen Blick auch auf das Verhalten der orthodoxen Kirche. Diese sei bei Veranstaltungen immer nur Gast, da sie selber kaum etwas organisiere oder zu Veranstaltungen einlade. In der jetzigen Zeit des Umbruchs bestehe aber die Notwendigkeit, dass die Religionsgemeinschaften, besonders auch die Kirche, durch eine wechselseitige Gastfreundschaft den Boden für einen fruchtbaren Dialog, der jeweils intrinsisch motiviert sei, bereiten.

Der serbische Wissenschaftler Davor Dzalto ging in seinem Vortrag näher auf das Thema Flüchtlinge im Kontext von Gastfreundschaft ein. Beginnend mit der Frage, warum Flüchtlinge ihr Land verlassen, wies er darauf hin, dass dies ein natürlicher Vorgang sei, der seit den letzten Jahrhunderten kontinuierlich stattfinde. In unserer heutigen Zeit werde dies jedoch zu sehr als Bedrohung wahrgenommen. Auch einzelne Kirchenvertreter würden auf den populistischen Zug aufspringen und schürten die Angst vor Flüchtlingen, während andere Gruppen, vor allem Privatpersonen, oftmals Flüchtlinge unterstützten. Er konstatierte eine allgemein vorherrschende Angst vor dem Fremden und vertrat die Meinung, dass man bei der Hilfe für Flüchtlinge realistisch in Bezug auf mögliche Gefahren vorgehen solle. Nicht nur die unkonditionierte Aufnahme sei wichtig, sondern vor allem auch die Fluchtursachenbekämpfung.

Insgesamt hat das Fachkolloquium gezeigt, dass Gastfreundschaft in allen Religionen und Kulturen eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Zusammenleben spielt. Die durchaus auch kontroversen Diskussionen kreisten (zusammenfassend) um eine religiös begründete („absolute“) Gastfreundschaft in Spannung zu (verantwortungsethischen) Regulierungen und Begrenzungen, z. B. von Migrationsbewegungen. Die Verwurzelung in Gott zeigte sich als tiefster Grund der Überwindung von abgrenzenden Identitätsbildungen. Anders als bei einem „bunten“ Nebeneinander („diversity“) führt dies aber zum Versuch eines radikalen dialogischen Fremdverstehens, das auch den Wahrheitsanspruch des Anderen anerkennt und dem die je aus den Traditionen der beteiligten Religionen heraus begründete gastfreundliche Auf- und Annahme vorausgeht.

AUFHEBUNG DES FREMDEN: DIFFERENZERFAHRUNG INMITTEN DER GLOBALISIERUNG

HERMANN WEBER (BONN)

Abstract

This contribution discusses concepts and metaphors of (cultural) „foreignness“ ollowing a dialectical path („Aufhebung“) of the concept in a triple (German) sense of saving, canceling and moving to a higher level. Starting from Freuds famous psychoanalytic approach, it moves to ethical-political concepts (“cosmopolitan”, Julia Kristeva), cultural anthropology (postmordern thinking of “rootlessness”, including an interpretation of the novel “Boussole” by Mathias Énard) and finally to theological aspects of radical foreignness rooted in God. The distincition between an (esthetic) concept of “diversity” and an ethical one (“difference”) leads finally to a reflection on the principles of the hosting organization KAAD and its understanding of “foreignness” and “hospitality”.

Einleitung

„Die Bruderliebe soll bleiben. Die Gastfreundschaft vergeßt nicht. Durch sie haben ja manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,1f.) Die Schlussermahnungen des neutestamentlichen Hebräerbriefes erinnern uns vorrangig an die Gastfreundschaft: Unmittelbar nach der Philadelphia, ja wie als deren wichtigste Konsequenz, nennen sie die Philoxenia, die Liebe zum Fremden, denn in ihr kann sich – unbemerkt, sagen wir: unbewusst, verborgen (griech. élathon) – die Begegnung mit etwas ganz Anderem abspielen, das für unser Leben entscheidend ist, hier als „Engel“ bezeichnet. Auch die gehemnisvollen drei Männer, denen Abraham in Genesis 18 huldigt und die er bewirtet bzw. durch Sara bewirten lässt wie fremde Fürsten, werden in der Tradition mit Engeln identifiziert. Auf einer sehr frühen christlichen Mosaikdarstellung in S. Maria Maggiore in Rom ist der Mittlere von ihnen durch einen Ätherkreis herausgehoben: ihr Sprecher, wohl Jahwe selbst, so in jene auratisch nahegekommene Ferne ge- und entrückt, die der Erfahrung des Heiligen eigen ist. Nach Rudolf Otto ist es ja „Mysterium fascinosum“ und „Mysterium tremendun“ zugleich. Die Engel, die sich im Fremden verbergen können, sind eben nicht die lieben Engelein, die wir gemütlich und mit gut arrangiertem Zeremoniell in unseren warmen Stuben aufstellen können. Möglicherweise bringen sie auch so wunderbare und wunderliche Kunde wie die von der Fruchtbarkeit der alten Sara, über die diese zunächst nur lachen kann…

Sind das nicht uralte Erzählungen, Mythen? Was bedeuten sie in einer globalisierten Welt, in der uns das Ferne und Fremde unablässig nahezukommen scheint, real, durch stetig wachsende und beschleunigte Migration jeder Art, und virtuell, durch unerschöpflich scheinende Vernetzungs- und Visualisierungs-möglichkeiten, technologisch offenbar alternativlos vorangetrieben? Fremdes und Fernes scheint aufgehoben, schnell zuhanden, Geheimnisvolles weggeklickt…

Vor diesem Hintergrund sollen die folgenden Überlegungen begriffliche Zugänge zum „Fremden“ in Erinnerung rufen und dabei psychologische, ethisch-politische, kulturanthropologische und theologische Konzeptionen miteinander in Beziehung setzen, verstanden als Vorüberlegungen zu unserer gemeinsamen interreligiösen Annäherung an das Phänomen der Gastfreundschaft in einer durch Migrationen und Identitätsansprüche gezeichneten Welt. Zum Schluss soll auch ein Blick auf die uns zusammenführende Institution, den KAAD, geworfen werden, der als „Ausländer-Dienst“ seit seiner Gründung vor über 60 Jahren immer auch der Gastfreundschaft verpflichtet war.

Das Unheimlich-Vertraute des Fremden

Sigmund Freuds Abhandlung „Das Unheimliche“ von 1919 beginnt mit einer linguistisch-philologischen Recherche nach Synonymen zum deutschen Wort „unheimlich“. Nur im Griechischen, der Sprache auch des Neuen Testaments, stößt er auf „xénos“, den Fremden, im Hebräischen und Arabischen, Sprachen der heiligen Schriften des Judentums und des Islam, fällt es mit „dämonisch“ zusammen (vgl. Freud, 139f.), was, wie später zu lesen ist, auch auf die heimlich-unheimliche Präsenz der Götter älterer, gestürzter Religionen deuten könnte. In einer weitausholenden Analyse der „Gefühlsregungen“ des Unheimlichen, die embryonale und frühkindliche Stadien genauso einbezieht wie Träume, neurotische Überspannungen und Todeserfahrungen, dabei immer wieder literarische Zeugnisse aufruft, kommt Freud zu einer Schlussfolgerung, welche schon eine Bedeutungsnuance der deutschen Sprache – bei der „heimlich“ und „unheimlich“ zusammenfällt – ahnen ließ: „denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.“ (Freud, 160f.)

Dies „von alters her Vertraute“ kann Regressionen einschließen, sowohl in animistische Stufen der Menschheitsgeschichte, noch lebendig etwa im kindlichen Spiel, als auch in die Geborgenheit des Mutterleibes, kann unheimlich-heimlich Ängste in Lust umschlagen lassen. Für eine Aufarbeitung dieser – nennen wir es einmal so – Differenzerfahrung ist also die Erkenntnis entscheidemd: „Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.“ (168f.)

Das Verborgene und Ferne des Fremden ist also nach dieser Analyse das uns Entfremdete, das wir – im Rückwärtsgang – einholen, aus seiner abgespaltenen, uns bedrohlich gegenüberstehenden Erscheinungsweise in uns zurückholen, als das uns eigentlich Vertraute wiedererkennen können. Im Unbewussten, dem sich die psychoanalytische Arbeit und Therapie nähert, fallen heimlich und unheimlich, vertraut und fremd letztlich zusammen, werden in ihm aufgehoben. Diese Arbeit ist nun weder einfach noch je abschließbar; schon gar nicht schafft sie das Fremde durch besseres Wissen aus der Welt. Nebenbei bemerkt ist es beachtenswert, welch hohe Bedeutung Freud bei dieser Arbeit am Fremden dem Erzählen und Schreiben, der literarischen Gestaltung, beimisst.

Das Fremde als gemeinsame „negative“ Identität

Freuds ‚identifizierende‘ Analyse des Fremden wirkt bis heute nach. An sie knüpft auch die französische Intellektuelle, Psychoanalytikerin, Literaturtheoretikerin und Philosophin Julia Kristeva an. Aus Bulgarien stammend, aus einem orthodoxen Umfeld, bei Dominikanerinnen in die Schule gegangen, ist sie überzeugte Europäerin und Kosmopolitin geworden. In ihrer Abhandlung „Fremde sind wir uns selbst“ (französisch: „Ètrangers à nous-mêmes“) verbindet sie die psychoanalytischen Erkenntnisse über unsere eigene – unbewusste – Fremdheit, die – verrängt und dann abgespalten – auf den zu uns kommenden Fremden projiziert, externalisiert wird, mit der (ethisch-politischen) Option auf eine Gesellschaft, letztlich Weltgesellschaft, ohne Fremde. Da wir uns selbst als Fremde erkennen, können wir auch den Fremden, konkret: den Migranten in den europäischen Einwanderungsgesellschaften, anerkennen und integrieren. Soweit die dezidiert aufklärerische Intention in der Perspektive einer Überwindbarkeit spaltender Differenz (vgl. Kristeva, 104). Die Vergegenwärtigung von geschichtlichen „Momenten“, in denen die Menschheit dieser (utopischen) Perspektive nahegekommen ist, gibt Kristevas Buch Substanz. Dazu gehören neben antiken Beispielen auch frühchristliche, zudem auch der Blick ins Alte Testament mit der Geschichte der fremden Moabiterin Ruth (vgl. 85).

Von einer Aufhebung des Fremden (im Hegelschen dreifachen Sinn) kann gesprochen werden, da das Fremde am Anderen als das verdrängt Eigene, der Fremdenhass als Selbsthass erkannt wird, damit Fremdheit als ein „négatif universel“ aus dem Unbewussten ans Licht der Vernunft gehoben und gemeinsam in Richtung auf wachsende Vertrautheit und schließlich Versöhnung bearbeitet werden kann. Fremdheit wird damit im Durchgang durch eine Negation (der Differenz) zu einer höheren, negativ-gemeinsamen Identität, in der sich alle Menschen wiederfinden, jener „guerre identitaire“, der abgrenzenden, stigmatisierenden Identitätssetzung, aber gerade entzogen, insofern post-identitär. Ideengeschichtlich schwingt dabei jene kosmopolitische Identität der Stoiker, die sich als in eine fremde, kontingente Welt geworfen erlebten, genauso mit wie die Diasporaexistenz der Juden und frühen Christen, die ihre Gemeinschaften auch aus gemeinsam leidvoller Fremdheitserfahrung heraus schufen.

Wie für Freud, ist auch für Kristeva das bleibende, nie ganz überwindbare Unversöhnte im Verhältnis zu uns selbst, zu unserem Unbewussten, wie im Verhältnis der Menschen zueinander nie ausgeblendet. Vielleicht könnte man, zugespitzt folgernd, den eigentlichen Universalismus in der „Ökumene“ derer verorten, die gemeinsam an ihrer Fremdheit und Differenz (wechselseitig) arbeiten und diesen nicht durch vorschnelle identitäre Zuschreibungen oder gar Stigmatisierungen ausweichen. Im Blick auf das Gesamtwerk Kristevas zeigt sich zudem noch eine andere – gewissermaßen prä-identitäre – Aufhebung der Fremdheit, wenn sie im Zuge ihrer spezifischen, ideologiekritischen Denkform des Feminismus das Unbewusste mit dem von ihr auch „semiotisch“ genannten vor-identitären Raum des Mütterlichen in Verbindung bringt.

Anthropologie post-migrantischer Wurzellosigkeit

Die traditionell naheliegendste Frage an einen als fremd identifizierten Menschen, dessen Migration unterstellend, sei er als Gast willkommen oder als Eindringling Gegenstand von Ängsten, ist die nach der Herkunft. Herkunft kann so auch ein Stigma abgrenzender Differenz werden. Theorien, die in unseren Zeiten der Globalisierung mit ihren quantitativ angewachsenen und zunehmend beschleunigten Migrationsbewegungen geradezu einen qualitativen Sprung gegenüber den menschheitsgeschichtlich immer prägenden (Völker-) Wanderungen sehen, versuchen eben diesen Sprung in eine Aufhebung des Migrationsbegriffs und seiner potentiellen Diskriminierung des Fremden weiterzudenken, hin zu „postmigrantischen“ Gesellschaftsformen. Die zugrundeliegende (kultur-)anthropologische Logik hat Raluca Radulescu in einer unserer Alumnikonferenzen nahe Bukarest mit den beiden Begriffen „Wurzellosigkeit“ und „Ähnlichkeit“ charakterisiert. Kern dieses neuen Kategorienschemas ist die Ersetzung der Metapher von der „(Erd-)Wurzel“ (identifizierende Herkunft von Kulturen und Individuen) durch das „Rhizom“, die „Sprossachse“, den „Wurzelstock“ (im Anschluss an Deleuze/Guattari 1992, vgl. Radulescu, 40f.). Im unentwirrbaren Geflecht eines Rhizoms oder – mit einer anderen Metapher – angesichts der „Luftwurzeln“ (von Orchideen) wird die Herkunftsfrage überhoben; den Menschen einer postmigrantischen – oder, wie ich sagen würde: hyper-migrantischen – Gesellschaft erwächst ihre „Würde“ gerade aus ihrer „Wurzellosigkeit“ (vgl. 38).

Ich möchte diese zugrundeliegede, dem postmodernen Denken entstammende und in der Rhizommetapher verdichtete Logik noch idealtypisch folgender-maßen verdeutlichen: An die Stelle von Hierarchien tritt ein Netz mit seinen Knoten, aus eindeutigen Kausalverbindungen werden Verflechtungen; fixierende Punkte werden in Linien aufgelöst, Binome oder Polaritäten (etwa die der menschlichen Geschlechter) in Kontinua; positionierende Festlegungen verflüchtigen sich in jederzeit und jeden Orts möglichen Brüchen. Statt eine synthetisierende Einheit im Denken anzustreben, zeigen sich Bezüge aufgrund von „Ähnlichkeit“ (vgl. 42, im Anschluss an Bhatti/Kimmich 2015). Migrantische Identität und Fremdheit erscheinen vor diesem Hintergrund, wo Wurzellosigkeit Herkunft ablöst, (negativ) aufgehoben. Jede Form eingrenzender Heimat bleibt hinter „nomadischer“, Grenzen durch Überschreitung aufhebender Existenz zurück. Identität wäre in fluider Form als je neue ‚Inkarnation‘, vorübergehende Erdung, als ‚Avatar‘ und Maske zu denken.

Als kritische Anfrage bliebe, ob ein solches Kategoriengerüst Migranten und Flüchtlingen inmitten der real existierenden Globalisierung gerecht werden, ihre Rechte und Würde begründen kann, oder ob hier nicht das Selbstbild einer global zirkulierenden, kosmopolitischen Elite zum konzeptionellen Maß einer postulierten postidentitären und postmigrantischen Weltgesellschaft wird…

Literarischer Exkurs: Die Rosen der Alhambra und der Fluss der Religionen

Im Horizont der zuletzt skizzierten Anthropologie sei illustrativ ein Roman einbezogen, der in (fiktiven) biographischen Verflechtungen zugleich die Frage nach Verwurzelung wie auch die nach einer – flottierenden – Inter-religiosität, die für unsere dialogisch ausgerichtete Konferenz von (methodischer) Bedeutung ist, narrativ thematisiert.

Sein Autor, der 1972 geborene, in Barcelona lebende französische Schriftsteller und Orientalist Mathias Énard errang seinen literarischen Durchbruch mit dem Roman „Zone“ (2008). In einem einzigen, atem- und punktlosen Satz vergegenwärtigt hier ein ehemaliger kroatischer Söldner auf seiner Fahrt nach Rom die Massaker des 20. Jahrhunderts in der Mittelmeer-„Zone“, besonders den Jugoslawienkrieg. Mit seinem umfangreichen Roman „Boussole“ (2015; deutsch „Kompass“) hat Énard auch das deutsche (gelehrte) Publikum erreicht, bis hin zum Preis der Leipziger Buchmesse (2017). Als Roman ist das Werk zugleich ein weitverzweigter Essay, die Rollenprosa einer durchwachten Nacht des Wiener Musikwissenschafters und Orientalisten Franz Ritter, ein erinnertes Ineinanderspiralen der Zeiten seines Lebens im Angesicht der Grenze, die eine vielleicht tödliche Diagnose setzt. Der Gedankenstrom integriert eingehende Mails und frühere Texte der geliebten Sarah, einer erfolgreichen jüdischen Orientalistin, aber auch (Bild-)Dokumente und Quellen, darunter viele mit Bezug zur französischen und deutschen Romantik. Liest man „Kompass“ als erzählte Wissenschaft, dann wäre die Kernthese (gegen E. Said), dass Orient und Okzident sich jeweils gemeinsam (als Selbst- und Fremdbilder) konstruieren und – auch in ihren je dominanten Religionen – so ineinander verwoben sind, dass ihre Andersheit nicht mehr ohne Zusammengehörigkeit denkbar ist. Daran wird erkennbar, dass Énards Werk für interreligiöse Dialogfundierungen anregend sein kann.

„Es gibt kein Original. Alles ist in Bewegung. Zwischen den Sprachen. Zwischen den Zeiten […] Die Übersetzung als metaphysische Praxis. Die Übersetzung als Meditation.“ (368f.) – Was hier an Hafis-Übersetzungen – kongeniale Aufhebungen der Zeit – als Gedankenfigur durchgespielt wird, bekommt wenig später im Text eine nahezu ‚katholisch‘-religiös gefärbte Wendung, wenn es vom heiigen Christophorus heißt: „er ist der Heilige des Übersetzens, derjenige, der einem hilft, Flüsse zu überqueren, der den Christ von einem Ufer zum anderen getragen hat, der Schutzheilige der Reisenden und der Mystiker.“ (378) Der Primat des „Zwischen“, der Bewegung des „Über-setzens“ gilt in Énards Text genauso zwischen den Religionen wie zwischen den Sprachen – gegen gewaltsame Fixierungen in (fremden oder vertrauten) „Identitäten“, gegen vorschnelle Verwurzelung in einer feststellbaren Herkunft. Der Roman, der mittels zahlreicher zitierter Quellen wie in fiktiven Erzählbewegungen auch ein mystisches Sprachgeschehen ‚praktizieren‘ will, wird so zu einer Gestalt ‚säkularer Inter-religiosität‘, die mit den Erinnerungen des individuellen Lebens (Ritters) und der Begegnungsgeschichte von Orient und Okzident auch die (Sprach-) Traditionen der Weltreligionen, zuallerst der abrahamitischen, ineinander verflicht. Der „Übersetzungs“-Vorgang, den auch jeder Dialog zwischen den in Sprache gefassten Offenbarungen der großen Religionen darstellt, kommt ihnen hier gespiegelt entgegen als gewissermaßen ästhetisches Angebot einer fluiden Inter-Religiosität (ohne transzendenten Brennpunkt), das allerdings den Charakter eines monologisierenden Sprachexperiments nicht aufbrechen kann und will.

Anschaulich wird das schon früh im Text an der Donau, die zu einer fluiden Metapher, zu einem Fluss der Religionen, wird, Katholizismus, Orthodoxie, Islam und Judentum miteinander verbindend und ineinanderführend (vgl. 25). Katholizismus bzw. Christentum bleiben dabei in Énards Roman bzw. Ritters Reflexionen unterbelichtet (und damit auch die wichtige kulturelle Rolle der orientalischen Christen in dieser Region); die Taufe des Protagonisten erscheint nur wie eine verdrängte Identitäts-Bezeichnung. Islamische Kunst, Musik und Literatur halten da eher mystische Erfahrungsräume bereit, so am eindrücklichsten in der Istambuler Süleymaniye-Moschee (vgl. 77ff.). Der Roman bewegt sich zum Ende hin mit Sarahs Forschungs- und Reise-Evasionen (Darjeeling, Vietnam) immer weiter in seine „Kompass“-Richtung Ost und integriert hinduistisches und buddhistisches Gedankengut. Mit der ursprünglich brahmanistischen Vorstellunge von Sansara, dem Kreislauf der Wiedergeburten, ist es allerdings schon in der Eingangsszene präsent. Dies Bild bewegten All-Zusammenhangs, der das individuelle Leben als ganzes immer wieder in den „Traum eines Opiumsüchtigen“ verflüchtigt (8), steht nicht nur für sinnlose Kontingenz, das Prinzip Zufall, sondern als „Wollknäuel des Lebensrads“ (391) in Sarahs „Vision“ vor den Rosen der Alhambra (wo sie einen Kongress besucht) gerade auch für grundlose, von identitären Fixierungen befreite Vielfalt und Schönheit:

Und vielleicht hatte ich, weil ich aus einem Kongress von Historikern kam, die geduldig an Lebensberichten schreiben, die Vision eines Europa, das ebenso unterschiedslos, ebenso mannigfaltig, ebenso bunt ist wie die Rosensträucher der Alhambra, die ihre Wurzeln, ohne es zu wissen, so tief in die Vergangenheit und die Zukunft strecken, dass man unmöglich angeben kann, woher sie wirklich kommen. Und dieses schwindelerregende Gefühl war nicht unangenehm, im Gegenteil, es versöhnte mich einen Moment lang mit der Welt, offenbarte mir für einen Augenblick das Wollknäuel des Lebensrads. (391)