Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit - Gisela Mayr - E-Book

Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit E-Book

Gisela Mayr

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Beschreibung

Sprachlich heterogene Klassen sind zum Normalfall geworden. Dies bedarf neuer didaktischer Ansätze, die es nicht nur ermöglichen, Lernprozesse in einem mehrsprachigen Kontext durch gezielte und individualisierte Maßnahmen zu fördern und zu unterstützen, sondern die Mehrsprachigkeit auch als Ressource anerkennen und aktiv in den Lernprozess integrieren. Nur so werden die Lernenden dazu befähigt, jene Kompetenzen zu erwerben bzw. zu erweitern, die eine aktive Partizipation in einer durch kulturelle und sprachliche Fluidität und Vielstimmigkeit gekennzeichnete Lebenswelt ermöglichen. Die mehrsprachige komplexe Kompetenzaufgabe stellt einen Versuch dar, diesem Umstand Rechnung zu tragen.

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Seitenzahl: 714

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Gisela Mayr

Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit

Eine unterrichtsempirische Studie zur Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz in der Sekundarstufe II

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8358-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0191-2 (ePub)

Inhalt

Danksagungen:Verzeichnis der Abkürzungen:VorwortTEIL I Mehrsprachigkeit und Sprachenlernen in der EU1. Ziele, Gegenstand und Struktur der Studie2. Sprachenvielfalt und Sprachenlernen in der EU2.1 Sprachenlernen im GER2.1.1 Die Mehrsprachigkeit im GER2.1.2 Rahmenstrategien zur Mehrsprachigkeit2.2 Aktualisierung der Deskriptoren: der CEFR/CV2.3 Der FREPA/CARAP oder A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to languages and Cultures – Competences and Ressources2.3.1 Pluralistische didaktische Ansätze2.3.2 Savoir s’engager – ein unberücksichtigter Kompetenzbereich2.4 Mehrsprachigkeit als Priorität schulischen Handelns2.4.1 Inklusion und Sprachenvielfalt2.4.2 Curriculare Verankerung von Mehrsprachigkeit2.4.3 Aktuelle Projekte zur Mehrsprachigkeitsdidaktik3. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze und neue Perspektiven3.1. Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner3.2 Die Interkomprehension und ihre Didaktik3.2.1 Metakognition und Language Monitoring3.2.2 Interlingualer Transfer3.3 Das Tertiärsprachenlernen oder TLA (Third Language Acquisition)3.3.1 Spracherwerbsprozesse fruchtbar miteinander verknüpfen3.3.2 Psychotypologie und Lernbereitschaft3.4 CLIL / Bilingualer Sachfachunterricht3.4.1 Lebensweltliche und wissenschaftliche Relevanz3.4.2 Abstraktes Denken und soziales Lernen3.5 Unerfüllte Desiderate3.5.1 Latein als Brückensprache3.5.2 Aktive Teilhabe am transkulturellen sozialen Diskurs3.5.3 Literarisches Lernen und Sprachproduktivität3.5.4 Mehrsprachiges Schreiben3.5.5 Forderung nach neuen didaktischen AnsätzenTeil II Theoretische Modellbildung4 Theoretische Modellierung Mehrsprachiger Kommunikativer Kompetenzen (MKK)4.1 Kompetenz: Eine Begriffsdefinition4.2 MKK und symbolische Kompetenz4.2.1 Die symbolische Form als Baustein für die Identitätsbildung4.2.2 Kulturelle und soziale Rekontextualisierung4.2.3 Ambiguitätstoleranz in multiplen Diskursen4.3 MKK und Sprach(en)bewusstheit4.3.1 Die performative und soziale Dimension4.3.2 Die emotionale Ebene4.4 Psycholinguistische und soziolinguistische Aspekte der MKK4.4.1 Das Faktorenmodell4.4.2 Das DMM (Dynamic Model of Multilingualism)4.5 MKK – Mehrsprachige Gesprächspraktiken und einfaches Sprachmanagement4.5.1 Code-switching4.5.2 Language Mode und Sprachwechsel4.5.3 Translanguaging4.5.4 Code-mixing4.6 MKK und Emotion4.6.1 Sprachen erfassen Emotionen unterschiedlich4.6.2 Die gefühlsbedingte Sprachentlehnung4.6.3 Die affektive Sozialisation4.7 Schlussfolgerung für die Modellierung von MKKTeil III Datenerhebung und Auswertung5 Soziales und geschichtliches Umfeld der Studie5.1 Von der Zwei- zur Mehrsprachigkeit in Südtirol5.1.1 Der lange Weg bis zum 1. Autonomiestatut5.1.2 Vom 2. Autonomiestatut bis heute5.1.3 Südtirol in der Gegenwart5.1.4 Von der Zweisprachigkeit zur Mehrsprachigkeit5.2 Das Mehrsprachencurriculum SüdtirolTeil IV Forschungsdesign und Datenanalyse6 Forschungsdesign6.1 Aufgabenorientierung und Task-Approach6.1.1 TBLT6.1.2 Die Komplexe Kompetenzaufgabe nach Hallet6.1.3 Die mehrsprachige Kompetenzaufgabe6.1.4 Aktuelle und relevante Themen und Inhalte6.1.5 Fazit für die Modellierung MKK:6.2 Datenerhebungskontext: Das schulische Umfeld6.2.1 Die Wahl der Klasse6.2.2 Die Datenerhebung6.2.3 Aufbau und Abfolge der Unterrichtsmodule6.2.4 Von der Lehrperson zur Forscherin6.2.5 Gütekriterien6.3 Dokumentation und Analyse der Datensätze6.3.1 Fragebögen zur Sprachbiographie6.3.2 Audio- und Videodateien6.3.3 Stimulated Recalls (SR)6.3.4 Das Forschungstagebuch6.3.5 Die retrospektiven Interviews6.3.6 Triangulation der Daten6.3.7 Kodierung und Modellbildung6.4 Die Module6.4.1 Alternierend einsprachig/mehrsprachiges Modul: Political Speeches6.4.2 Aufbau der Unterrichtseinheit: Political Speeches7 Auswertung der Aushandlungsprozesse7.1 Aufzeichnung 1: Mehrsprachigkeit als Kommunikationsinstrument7.1.1 Geschichtliche und kulturelle Verortung von Sprache(n)7.1.2 Codes7.2 Aufzeichnung 2: TL als Unterrichtspraxis und MKK als diskursstrategisches Mittel7.2.1 Mehrsprachiges Sprechen – eine Herausforderung7.2.2 Codes7.3 Aufzeichnung 3: Mehrsprachige Texterschließung und symbolische Kompetenz7.3.1 Mehrsprachigkeit und Bildungssprache7.3.2 Codes7.4 Aufzeichnung 4: Intertextualität und Mehrsprachigkeit7.4.1 Mehrsprachige Identitätsbildung7.4.2 Codes8 SchülerInnenauswertung8.1. Amelie – Diglossie und Sprachverweigerung8.1.1 Verhalten in den Aushandlungsprozessen8.1.2 Kommunikationsverweigerung8.1.3 Sprachrollen als mehrsprachige Lernstrategie8.1.4 Erweiterung des sprachlichen Repertoires und Überwindung von Sprachbarrieren8.1.5 Dialekt und literarisches Worldmaking8.1.6 Polysemie und Unübersetzbarkeit8.1.7 Eine neue Mehrsprachigkeit entdecken8.1.8 Inklusion durch sprachliches Verhalten in heterogenen Gruppen8.1.9 Stimulated Recall 1: Mehrsprachigkeit – Eine kognitive und emotionale Herausforderung8.1.10 Stimulated Recall 2: Modifikation des Language Mode und Beschleunigung der Sprachaktivierung8.1.11 Stimulated Recall 3: CS – Mehrsprachiges Scaffolding8.1.12 Retrospektives Interview: Mehrsprachiges literarisches Lernen als Third Space im Spiel unterschiedlicher Referenzsysteme8.1.13 Zusammenschau der Ergebnisse8.1.14 Codes8.2 Sarah: Minderheitensprache und Sprachverdrängung8.2.1 Verhalten der Schülerin in den Aushandlungsprozessen8.2.2 Mehrsprachigkeit, Sprachregulierung und Language Monitoring8.2.3 Empowerment durch Mehrsprachigkeit8.2.4 Stimulated Recall 1: Sprachrollen und Identität8.2.5 Stimulated Recall 2: Neue Lernwege entdecken und Inklusion8.2.6 Stimulated Recall 3: Neue mehrsprachige Kommunikationsformen entdecken8.2.7 Retrospektives Interview: Jede Sprache ist an ein Gefühl gebunden8.2.8 Zusammenschau der Lernprozesse8.2.9 Codes8.3 Andrea: Lebensweltliche Zweisprachigkeit Italienisch-Deutsch8.3.1 Verhalten der Schülerin im Aushandlungsprozess8.3.2 Bildungssprache und Mehrsprachigkeit8.3.3 Bedeutungserweiterung und Bedeutungsentleerung im mehrsprachigen World Making8.3.4 Stimulated Recall 1: Reizüberflutung und Vieldeutigkeit8.3.5 Stimulated Recall 2: Innere und äußere Mehrsprachigkeit8.3.6 Stimulated Recall 3: Literarisches Lernen, Sprachwahrnehmung und Symbolik8.3.7 Retrospektives Interview: Schreiben in mehreren Sprachen8.3.8 Zusammenschau der Lernprozesse8.3.9 Codes8.4 Vera: Diglossie und schulische Mehrsprachigkeit8.4.1 Sprachübergreifende Selbstkorrektur8.4.2 Soziales und ungesteuertes Lernens im MS-Unterricht8.4.3 Stimulated Recall 1: Gesprächsstrategischer Einsatz von CS8.4.4 Stimulated Recall 2: Veränderte Kompetenzwahrnehmung8.4.5 Stimulated Recall 3: Bildungssprache und Mehrsprachigkeit8.4.6 Retrospektives Interview: Mehrsprachige Texte verfassen als textstrukturierende Strategie8.4.7 Zusammenschau der Ergebnisse8.4.8 Codes9 Abgleich: MKK theoretische Modellierung und Daten9.1 Auswertung und Kreuzung der Daten9.2 Symbolische Kompetenz9.3 Gesprächsstrategischer Einsatz von MKK9.4 Sprach(en)bewusstheit9.5 Identitätstheorie und soziales Lernen9.6 Sprache und Gefühle9.7 Neue Kernkategorien9.7.1 Mehrsprachiges Recherchieren im Internet9.7.2 Mehrsprachiges Schreiben9.7.3 Mehrsprachiges literarisches Lernen10 Kompetenzmodell Mehrsprachigkeit: Savoirs10.1 Erkenntnisse zur Zielsetzung und Implementierung des mehrsprachigen Kompetenzmodells10.2 Savoir10.3 Savoir Être10.4 Savoir Faire10.5 Savoir Apprendre10.6 Savoir s’engager11 Schlussfolgerungen für die Implementierung mehrsprachigen kompetenzorientierten Unterrichts11.1 Ausblick12 Literaturverzeichnis12.1 Primärliteratur12.2 SekundärliteraturAppendix I Texte AmelieAppendix II: Texte SarahAppendix III: Texte AndreaApendix IV: Texte Vera

Danksagungen:

Ich möchte mich besonders bei Herrn Professor Hallet und Frau Professor Martinez für die intensive Betreuung und die konstruktive Kritik an meiner Arbeit bedanken. Ihre Feedbacks haben mich immer zum Überdenken meines Vorhabens angeregt und zu Verbesserungen geführt. Prof. Hallet hat mich zudem mit viel Geduld wieder in die Kunst des wissenschaftlichen Schreiben eingeführt. Weiters möchte ich Prof. Legutke und Prof. Burwitz-Melzer für ihre Anregungen danken, die mir geholfen haben, die anfänglichen Schwierigkeiten zu überwinden und einen völlig neuen Kurs in meiner Projektplanung einzuschlagen, der sich als erfolgreich erwiesen hat. Die Korrekturen meiner Lektorin und Freudin Andrea waren für mich eine Stütze, ohne die ich es nicht geschafft hätte. Zuletzt wollte ich noch meinem Mann David für seine Geduld und Zuwendung danken, meinen Kindern Laetitia und Clemens, die mich immer wieder angespornt haben, weiter zu machen, insbesondere Clemens der mir bei der Transkriptionsarbeit zur Hand gegangen ist.

Verzeichnis der Abkürzungen:

CS:

Code-switching

CLIL:

Content and Language Integrated Learning

CLIN:

Cross Linguistic Interaction

CM:

Code-mixing

DLC:

Dominant Language Constellation

DM:

Dokumentarische Methode

DMM:

Dynamic Model of Multilingualism

FLA:

Foreign Language Anxiety

FLAM:

Foreign Language Acquisition Model

FREPA:

Framework of References for Pluralistic Approaches

FSU:

Fremdsprachenunterricht

GER:

Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen

GT:

Grounded Theory Method

INVALSI:

Istituto nazionale per la valutazione del sistema educativo di istruzione e di formazione

LOTE:

Languages Other Than English

MKK:

Mehrsprachige Kommunikative Kompetenz

MLA:

Multilinguales Bewusstsein

MSCS:

Mehrsprachencurriculum Südtirol

SLA:

Second Language Acquisition

TBLT:

Task Based Language Teaching

TL:

Translanguaging

TLA:

Third Language Acquisition

PISA:

Programme of International Student Assessment

Vorwort

Als ich vor mehreren Jahren begann, mehrsprachige Module in den Regelunterricht einzubauen, bemerkte ich sofort, dass die Lernenden große Freude daran hatten, ihr gesamtes sprachliches Repertoire auszuprobieren und im spiele­rischen mehrsprachigen Umgang miteinander gestalterisch tätig zu sein. Sie erschlossen durch die gleichzeitige Arbeit mit mehreren Sprachen und Kulturen unterschiedliche Bedeutungsdimensionen und waren im Idealfall in der Lage, selbst Bedeutung kreativ zu konstruieren.

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes – durchgeführt am Gymnasium „Walther v.d. Vogelweide“- in Bozen- wurde simultane Mehrsprachigkeit im Unterricht mittels experimenteller Unterrichtsmodule im Laufe des Schuljahres sukzessive in den Sprachunterricht eingebaut. Jedes Modul erstreckte sich über 10 bis 20 Unterrichtsstunden und verfolgte das Ziel, den Lernenden auf der Basis multimodaler Arbeitsunterlagen die Möglichkeit zu bieten, simultane Mehrsprachigkeit im schulischen Alltag zu (er)leben. Auch die Outputs waren mehrsprachig: Narrative, poetische sowie Sachtexte, Vorträge, Gedichte, Sketches und kurze szenische Darbietungen wurden gleichzeitig in mehreren Sprachen vorgetragen.

Die Verwendung mehrerer Sprachen in einem alltagsnahen Setting ermöglichte einen sprachübergreifenden Vergleich von Genres und damit eine Kompetenzerweiterung in verschiedenen fachsprachlichen Bereichen. Ein weiteres didaktisches Ziel bestand darin, durch Sprachvergleich das Bewusstsein dafür zu wecken, dass sprachlicher Umgang und Ausdrucksformen geschichtlich bedingt sind und dass sich Kulturen und ihre Sprachen in ihrer unterschiedlichen Erfassung von Realität geschichtlich verorten lassen (vgl. Bredella et al. 2000).

Es handelte sich dabei folglich um den Versuch, Ausschnitte der komplexen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit, so wie sie für viele Lernende bereits alltäglich ist, ins Klassenzimmer zu bringen und in Richtung einer bildungssprachlichen Mehrsprachigkeit weiterzuentwickeln, einer Mehrsprachigkeit mit größerer syntaktischer und lexiko-grammatischer Komplexität. Dabei wurde im Rahmen der empirischen Untersuchung überprüft, welche Lernprozesse stattfinden und wie sich mehrsprachige kommunikative Kompetenz und mehrsprachige Sprachhandlungskompetenz (MKK) entwickeln und sich im Sinne einer Operationalisierung im Unterricht modellieren lassen.

Die Datenerhebung erfolgte auf mehreren Ebenen: Auf der sprachlich-pragmatischen Ebene, bei der der Fokus auf Sprachmanagement und funktioneller Mehrsprachigkeit lag (vgl. De Angelis 2005; De Angelis & Selinker 2001; Arabski 2006; Cenoz et al. 2002), auf der Ebene des Einsatzes von Transferstrategien und der Aktivierung des mehrsprachigen Lexikons im Rahmen mehrsprachiger kommunikativer Settings, auf der Ebene der Funktionsweise des Language Mode (vgl. Norton 2000; Grosjean 1982, 1989, 1992, 2007) und dessen möglichen Veränderungen. In engem Zusammenhang damit standen auch Erhebungen bezüglich der Entwicklung des metasprachlichen Bewusstseins und der Wahrnehmung der Psychotypologie von Sprachen.

Sprachhandlungsfähigkeit – in diesem Falle mehrsprachige Sprachhandlungsfähigkeit – ist Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung, da sich Identität durch Sprache gestaltet und darstellt (vgl. De Florio-Hansen 2003a; 2003b: VIII). In einem plurilingualen Umfeld tragen völlig neue und unbekannte Erkenntnisfaktoren zur Persönlichkeitsbildung bei und können diese nachhaltig positiv beeinflussen. Dabei spielt die Sprachbiographie und die damit einhergehende Einstellung den unterschiedlichen Sprachen gegenüber eine besondere Rolle (Dewaele 2010; Dewaele & van Oudenhoven 2009). Maßgeblich zur Entwicklung dieser Einstellung zu Sprachen tragen auf emotionaler Ebene Erfahrungen im Umgang mit den Sprachen bei. Jeder einzelne Lernende bringt sprachbiographisch bedingte emotionale Aspekte und damit verbundene Haltungen unbewusst mit in den Unterricht ein (vgl. Busch 2013: 52). Besonders in einer durch historische Brüche gekennzeichneten Gesellschaft gestalten sich diese Biographien sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es Lernende, die zwei- bzw. mehrsprachig aufwuchsen, auf der anderen Seite Familien, welche die Zweitsprache Italienisch noch immer verweigern. Im folgenden Absatz wird der Versuch unternommen, die geschichtlichen und sozialen Gründe, die zu diesen diversen Haltungen führen, anhand eines geschichtlichen Abrisses zu erläutern.

Da im mehrsprachigen Austausch diese unterschiedlichen Auffassungen, Emotionen, Einstellungen und Haltungen aufeinandertreffen und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Pavlenko 2005), konnte überprüft werden, ob durch die hier praktizierte Form des Unterrichts auch Formen der unbewussten Sprachverweigerung bewusst gemacht und somit überwunden werden können (vgl. Edwards & Dewaele 2007; Norton 2000). Aus kontextgebundenem Sprachvergleich wird den Sprechern unmittelbar ersichtlich, dass Kultur in Form von sprachlichem Umgang und sprachlichen Ausdrucksformen geschichtlich bedingt ist und Sprachen Realität unterschiedlich erfassen. Das gleichzeitige Arbeiten mit und zwischen mehreren Sprachen und Kulturen ermöglicht es dem Individuum, die eigene Persönlichkeit neu zu formen: „An die Stelle autonomer Individuen, die in stabile, homogene Nationalkulturen eingebettet sind, treten sich wandelnde Identitäten in kulturübergreifenden Netzwerken.“ (De Florio-Hansen & Hu 2003b : 9) (vgl. dazu auch Kramsch 2011: 205).

Eine Unterrichtsform, die dies im Blick hat, distanziert sich von starren nationalstaatlich geprägten Auffassungen und orientiert sich hin zu mehr Offenheit und zu der Entfaltungsmöglichkeit des gesamten Individuums mithilfe der Gesamtheit seines kulturellen und sprachlichen Repertoires und seiner emotionalen Haltungen. Besonders in einem durch die politischen Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit gekennzeichnetem Land ist dies von Bedeutung.

TEIL IMehrsprachigkeit und Sprachenlernen in der EU

1.Ziele, Gegenstand und Struktur der Studie

Die Situation in Südtirol ist geschichtlich bedingt vom Zusammenleben unterschiedlicher Sprachen und Kulturen geprägt. Zwei- und Mehrsprachigkeit sind deshalb von zentraler Bedeutung für alle bildungspolitischen Maßnahmen und die Entwicklung des Landes. Im Laufe der Geschichte kam es zu Konfliktsituationen, die bis heute nachwirken und teilweise ungelöst blieben. Da außerdem die schulischen Institutionen aufgrund der massiven Zuwanderung aus anderen europäischen Ländern, der Flüchtlingsströme und des zunehmenden Drucks vonseiten der Eltern reagieren müssen, rückt der Begriff der Mehrsprachigkeitsdidaktik immer mehr in den Fokus, vor allem weil immer dringlicher wird, dass Maßnahmen zur Inklusion und Sprachbildung getroffen werden.

Der erste Abschnitt dieser Arbeit setzt sich zunächst mit den Forderungen von Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union und ihrem komplexen sozio-politischen Gefüge auseinander (2.1.). Insbesondere werden jene bildungspolitischen Dokumente hervorgehoben, in denen die Europäische Union richtungsweisend eingreift und eine Definition von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik gibt, auf deren Basis konkrete Maßnahmen zur Umsetzung angedacht werden sollten. Dabei nimmt der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat GER, 2001) eine zentrale Rolle ein, denn er stellt erstmals eine für Europa einheitliche Skalierung der fremdsprachlichen Kompetenzen in Form von Deskriptoren zur Verfügung. Obwohl der 2018 erschienene Ergänzungsband (Council of Europe CEFR/CV, 2018) (2.1.) erst nach der Datenauswertung der vorliegenden Studie erschienen ist, wird auch er in seinem Bezug zur vorliegenden Arbeit kommentiert, da er einen großen Fortschritt in Richtung Mehrsprachigkeit darstellt, weil hier erstmals Deskriptoren für die Kompetenzbereiche Mediation und Mehrsprachigkeit ausformuliert wurden und der Bereich Literarisches Lernen mit den entsprechenden Deskriptoren angeführt wird. Da diese drei Aspekte, die im GER zwar z.T. angeschnitten, aber nicht durch Deskriptoren erfasst wurden, in der vorliegenden Forschungsarbeit einen prominenten Platz einnehmen, erscheint es aus erkenntnistheoretischen Gründen wichtig, den CEFR/CV mit einzubeziehen.

Der Europäische Referenzrahmen für Mehrsprachigkeit ( Candelier et al FREPA 2012) diente zwar als Modell für den Entwurf des vorliegenden Kompetenzmodells für Mehrsprachigkeit, er hat allerdings die gleichen Schwächen wie der Europäische Referenzrahmen für die Sprachen (vgl. hierzu auch Steininger 2014; Quetz 2003; Bausch et al. 2003) (2.3.): In großen Teilen ist der FREPA zu abstrakt und für die Evaluation des Unterrichtes nicht geeignet, da die angegebenen Deskriptoren zwar für den Kompetenzbereich Mehrsprachigkeit von großer Bedeutung sind, aber die Erhebung des Kompetenzzuwachses im Unterricht aufgrund der Abstraktheit der Deskriptoren und der Unübersichtlichkeit des gesamten Dokuments sehr erschwert werden. Es fehlt außerdem größtenteils eine wissenschaftliche Fundierung: Die Deskriptoren wurden lediglich den Erfahrungsberichten von Lehrenden entnommen, weshalb eine wissenschaftliche Fundierung fehlt. Der FREPA lässt außerdem das Savoir s’engager außen vor. Es wird in seiner Wichtigkeit für den mehrsprachigen Lernprozess nicht anerkannt und auch nicht als Desiderat ausgewiesen. Die vorliegende Kompetenzmodellierung hingegen verfolgt das Ziel, das Savoir s’engager in die Modellierung aufzunehmen und unternimmt darüber hinaus erstmals einen ersten Versuch Deskriptoren auszuformulieren (10.2 ff)

Im nächsten Abschnitt wird die Relevanz von Mehrsprachigkeit im schulischen Alltag und im Unterricht behandelt (2.4.). Zunächst wird das Desiderat einer mehrsprachigen Schule, wenn auch nicht erschöpfend, so doch im Ansatz thematisiert. Es wird in der bildungspolitischen Diskussion kaum angesprochen, obwohl es für die Anschlussfähigkeit des Unterrichts an die lebensweltlichen Anforderungen, die an die SchulabgängerInnen gestellt werden, von zentraler Relevanz wäre. In diesem Zusammenhang versteht sich das Forschungsprojekt als Versuch, ein didaktisches Modell zu konstruieren, das den Forderungen eines kompetenzorientierten Unterrichts gerecht wird und gleichzeitig einen Bezugspunkt darstellt, der vermittelnd zwischen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und traditionellem schulischen Fremdsprachenunterricht eingreift, wobei das Erkenntnisinteresse primär auf die Lernprozesse ausgerichtet ist, die im Unterricht stattfinden. Da bislang empirische Untersuchungen zu diesem Thema fehlen, also auf keine empirisch untermauerten Vorlagen aufgebaut werden konnte, war die Erforschung ein Entdeckungsprozess.

Insbesondere werden hier zwei Aspekte hervorgehoben, welche in engem Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt stehen und zentrales Anliegen desselben sind (2.4.1/2.4.2.): Zunächst gilt es, den Begriff der Inklusion und deren Implikationen für schulisches Handeln zu beleuchten und in Zusammenhang zu bringen mit Mehrsprachigkeit, wobei aufgezeigt wird, wie Inklusion nur über mehrsprachiges und transkulturelles schulisches Handeln erfolgen kann. Andererseits wird die Wichtigkeit der curricularen Verankerung von Mehrsprachigkeit unterstrichen, denn nur wenn diese als schulisches Kerngeschäft in ihrer fächer- und stufenübergreifenden Valenz schriftlich verankert wird, kann sie wirklich zur alltäglichen Selbstverständlichkeit werden. Anschließend werden Vorschläge zur Implementierung neuer Ansätze zur Mehrsprachigkeit einhergehend mit einigen laufenden oder soeben abgeschlossenen Projekten vorgestellt.

Im folgenden Abschnitt wird auf mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze der europäischen und außereuropäischen Tradition eingegangen: Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner, Interkomprehensionsdidaktik, Tertiärsprachenlernen und CLIL (3.1-3.5). Bezugnehmend auf das Aufgabenformat der Studie – der mehrsprachigen komplexen Kompetenzaufgabe – werden diese dargestellt und die darin vorkommenden Lernprozesse in ihrer Komplexität aufgezeigt. Da die mehrsprachige komplexe Kompetenzaufgabe einen umfassenden Lernprozess initiiert, der zu großen Teilen alle Kompetenzbereiche der anderen pluralistischen Ansätze beinhaltet, stellt sie ein den anderen Ansätzen unterliegendes Aufgabenformat dar, in das deren Aspekte den Zielsetzungen und Anforderungen der konkreten Unterrichtssituation entsprechend aufgenommen werden. Im Unterschied zu diesen werden im folgenden Absatz jene Desiderate der herkömmlichen mehrsprachigen Ansätze aufgezeigt, die in der mehrsprachigen Kompetenzaufgabe Berücksichtigung finden und für die holistische Entwicklung der Lernenden von grundlegender Wichtigkeit sind.

Im folgenden Absatz steht der Kompetenzbegriff in der Fremdsprachendidaktik im Mittelpunkt (4.1.). Im Vordergrund stehen hier die kommunikative Kompetenz und Texterschließungskompetenz aufgrund ihres engen Zusammenspiels beim Fremdsprachenlernen allgemein und insbesondere in der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Ausgehend von der Definition des Kompetenzbegriffes in den Rahmenrichtlinien für Sprachen für Südtirols Schulen (Schwienbacher et.al 2017) werden verschiedene Traditionen und unterschiedliche Begriffsdefinitionen analysiert und eine für in diesem Forschungsprojekt anvisierte theoretische Modellierung mehrsprachiger Kompetenz sinnvolle Begriffsdefinition versucht, die eine Operationalisierung ermöglichen soll.

Das Erfassen mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) im Unterricht erfordert weiterhin, dass ausgehend von der Fremdsprachendidaktik eine Reihe von Referenzwissenschaften hinzugezogen werden müssen, um der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden, wobei die angewandten Sprachwissenschaften und insbesondere die Mehrsprachigkeitsforschung im Mittelpunkt stehen (4.2.-4.6.). Ohne fundiertes Wissen über die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich ist es nicht möglich, mehrsprachige Lernprozesse in ihrer Komplexität zu erkennen, zu beschreiben und einen Bogen zu spannen in Richtung Fremdsprachendidaktik. Dabei kamen bei der Datenanalyse Aspekte zum Vorschein, die für die Modellierung eines mehrsprachigen kommunikativen Kompetenzbegriffs als Indikatoren herangezogen werden können, um so den Erfordernissen der Deskriptivität nachzukommen. Die theoretische Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) sieht folgende Kompetenzbereiche vor: symbolische Kompetenz, psycholinguistische und soziolinguistische Aspekte der MKK, Sprach(en)bewusstheit, mehrsprachige Gesprächspraktiken, Emotion. Zunächst gilt es, die Begrifflichkeit „einsprachig-, zwei-, und mehrsprachig“ zu definieren, um sie für den weiteren Gebrauch im Forschungsprojekt nutzbar zu machen. Anschließend werden, nach einer Einführung in den Begriff der Multicompetence nach Vivien Cook, unterschiedliche Modelle des mehrsprachigen Spracherwerbs vorgestellt und auf ihre Relevanz für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik hin kritisch hinterfragt.

Psycholinguistische Aspekte der Mehrsprachigkeit stehen im Folgenden im Fokus. Dabei werden all jene mehrsprachigen Phänomene erläutert, die für die Auswertung der Aushandlungsprozesse und der vier Fallstudien von Relevanz sind. So können bei der Datenanalyse die aus der Diskursanalyse und den Stimulated Recalls/Leitfadeninterviews gewonnenen Erkenntnisse in ihrer Wichtigkeit für den mehrsprachigen Spracherwerbsprozess und der Entwicklung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz (MKK) erkannt werden. Es wird dadurch zudem ein tieferes Verständnis der didaktischen Maßnahmen ermöglicht, die zu einem kompetenzbezogenen mehrsprachigen Unterricht führen. Es gilt dabei, in der Datenauswertung zu überprüfen, inwiefern und in welcher Form die in der theoretischen Modellbildung identifizierten Bereiche wiederzufinden sind. Diese dient als Vorlage und Orientierungshilfe, entlang welcher die Daten der Studie geordnet bzw. verifiziert oder falsifiziert werden können. Gleichfalls sollen neue aus der Studie resultierende Kompetenzbereiche/Kategorien, die in der theoretischen Modellierung MKK keine Erwähnung finden, diese ergänzen (vgl. Aguado 2016: 246).

In der Folge wird einleitend das geschichtliche und gesellschaftliche Umfeld umrissen, in dem die Studie durchgeführt wurde (5.1.). Zunächst wird die komplexe sprachliche und bildungspolitische Situation in Südtirol zusammengefasst, indem ein geschichtlicher Abriss vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart aufzeigen soll, wie ein Sprachtrauma, das unsere Region zum Teil auch heute noch prägt, zustande kam und wie auf politischer Ebene versäumt wurde oder nicht möglich war, hier mit gezielten Maßnahmen einzugreifen, um Aufarbeitungsarbeit zu leisten. Erst in den letzten Jahren wurde das Diktat des getrennten Sprachenunterrichtes in dieser Region aufgebrochen, da erstens die Europäische Union die Mehrsprachigkeit mit Nachdruck fordert und zweitens die sprachliche Situation so komplex geworden ist, dass auf bildungspolitischer Ebene reagiert werden muss, und nicht zuletzt, weil immer mehr Eltern Mehrsprachigkeit in der Schule fordern.

Die Situation dieser Region ist durch Besonderheiten gekennzeichnet, die sich maßgeblich auf den Kompetenzerwerb der einzelnen Lernenden auswirkt. Immer noch beeinflussen die geschichtlichen und sozialen Ereignisse, die dieses Land geprägt haben, jede bildungspolitische Entscheidung hinsichtlich Sprachen und Sprachenlernen maßgeblich mit. Bislang waren GER und FREPA im Bereich der Mehrsprachendidaktik Bezugspunkt für Schülerbewertung und Unterrichtsevaluation auch in Südtirol die einzigen Orientierungsrahmen. Es wird deshalb kurz darauf eingegangen, in welcher Form diese Empfehlungen in den letzten Jahren in Südtirol rezipiert wurden, wie die Südtiroler Rahmenrichtlinien für den Sprachenunterricht entstanden sind und wie der Südtiroler Referenzrahmen für die Mehrsprachigkeit aus dem FREPA abgeleitet wurde (Schwienbacher et al. 2017). Des Weiteren werden in diesem Abschnitt das Projekt und seine Forschungsschwerpunkte umrissen und in seinem Umfeld verortet.

Im darauffolgenden Abschnitt wird nach einer allgemeinen Einführung zum aufgabenorientierten Unterricht auf die Besonderheiten der komplexen Kompetenzaufgabe eingegangen und in ihren Eigenschaften erklärt (6.1.). Anschließend wird auf das Forschungsdesign übergeleitet. Zunächst wird der schulische Datenerhebungskontext umrissen, der Wechsel von der LehrerInnen in die ForscherInnenrolle kritisch reflektiert und in diesem Zusammenhang die Gütekriterien, die dieser Arbeit unterliegen, erläutert. Im Folgenden wird die Dokumentation und Analyse der Datensätze detailliert in allen ihren Aspekten transparent gemacht (6.3.).

Anschließend wird eine Unterrichtseinheit in ihrem Modellcharakter vorgestellt und ihr Aufbau beschrieben. Dabei wird die ursprünglich für den einsprachigen Fremdsprachenunterricht konzipierte Komplexe Kompetenzaufgabe von W. Hallet (; Hallet 2006, 2008, Hallet & Krämer 2012a/b) für den mehrsprachigen Unterricht adaptiert. Es wird im Einzelnen angeführt, wie die Kompetenzziele im mehrsprachigen Unterricht z. T. neu definiert werden, indem Aspekten der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit mehr Raum im Unterricht zugesprochen wird. Da die Auswahl der Texte für die einzelnen Module u.a. literarische Texte im weiteren Sinne vorsah, kommt auch den literarischen Kompetenzen, so wie sie in der Tradition der rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik (Burwitz-Melzer 2007) verstanden werden, große Bedeutung zu, da diese im Zusammenhang mit der Lese- und kommunikativen Kompetenz in einem mehrsprachigen Forschungsrahmen in Bezug auf Informationsentnahme und Verarbeitungsprozesse Bestandteil der Modellierung von mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz sind (6.4.).

Darauf folgen die Einzelanalysen der Aushandlungsprozesse. In den auszugsweisen Aufzeichnungen der Aushandlungsprozesse werden für den Lernprozess relevante Stellen im Diskurs hervorgehoben und diskursanalytisch untersucht. Es werden Auszüge analysiert, die in besonderem Maße den Kompetenzerwerb im Bereich der MKK aufzeigen. Die Analyse der Aushandlungsprozesse soll eine Perspektivenvielfalt ermöglichen, die die SchülerInnenauswertung ergänzt und so die Validität der Daten garantiert (7.1.). Auf die Auswertung der Aushandlungsprozesse folgen die vier SchülerInnenauswertungen (8). Sie beinhalten die Auswertungen der Fragebögen zur Sprachbiographie und Auszüge aus den Aushandlungsprozessen. Diese ergeben zusammen mit den Ergebnissen der drei Stimulated Recalls, des abschließenden Leitfadeninterviews, des Forschungstagebuches und der Analyse der selbst verfassten Texte, ein Gesamtbild der individuellen Lernprozesse und der im mehrsprachigen Unterricht geforderten Strategien, Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen Probandinnen. Hier wird die dokumentarische Methode (Bohnsack 2013) herangezogen, da sie aufgrund ihrer Eigenschaften als besonders geeignet erachtet wird, die Entwicklung der symbolischen Kompetenz in ihrer Prozessmäßigkeit im mehrsprachigen Diskurs zu erfassen.

Besondere Berücksichtigung finden in diesem Zusammenhang die persönlichen, kulturellen und sprachlichen Voraussetzungen der einzelnen Lernenden. Ihr Einfluss auf den Kompetenzzuwachs steht in diesem Kontext im Fokus. Dies wirft die Frage auf, welchen Kompetenzzuwachs Lernenden mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen erfahren, wie dieser individuelle Lernprozess sich in Anbetracht der unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen von zwei- bzw. mehrsprachigen und einsprachigen SchülerInnen gestaltet und welche Wechselwirkungen entstehen, wenn mehrsprachige und einsprachige Lernende in einem mehrsprachigen Setting zur gemeinsamen mehrsprachigen Arbeit veranlasst werden. Es stellt sich die Frage, wie sich in diesem Kontext mehrsprachiges soziales Lernen gestaltet und welcher Kompetenzzuwachs sich für alle Beteiligten daraus ergeben kann. Im dann folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse aller Teilanalysen im Vergleich zueinander in einem systematischen Überblick dargelegt (10.1.). Die verschiedenen Aspekte und Daten werden systematisch verglichen und miteinander vernetzt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, die für die konkrete Durchführung mehrsprachigen Unterrichts ebenso wie für den Erkenntnisgewinn des gesamten Forschungsprojekts von Interesse sind. In einem Abstraktionsprozess werden die so erhaltenen Daten in Indikatoren umformuliert, um Kompetenzbereiche herauskristallisieren zu können. Daraus ergeben sich folgende Forschungsfragen:

Wie lässt sich mehrsrapchige kommunikative Kompetenz definieren?

Welcher Kompetenzzuwachs im Bereich MKK kann in einem mehrsprachigen aufgabenorientierten Lernsetting beobachtet werden?

Wie hängt dieser Kompetenzerwerb mit den (sprach-) biographischen Voraussetzungen der einzelnen Lernenden zusammen?

Welche Kompetenzbereiche können identifiziert und welche Deskriptoren formuliert und werden?

Im Abgleich der Daten mit der theoretischen Modellierung werden alle Entsprechungen in tabellarischer Form dargestellt und Leerstellen bzw. neue Erkenntnisse aufgezeigt (9). Aus diesem Datenvergleich lassen sich Ähnlichkeiten, Unterschiede, aber auch Besonderheiten herausarbeiten, die kritisch beleuchtet werden. Ziel ist es aufzuzeigen, inwieweit die Ergebnisse der Datenauswertung mit denen der theoretischen Modellierung übereinstimmen bzw. differieren. Es werden außerdem jene neuen aus der Datenanalyse hervorgegangenen Kompetenzbereiche aufgezeigt und umrissen, die in der theoretischen Modellierung noch nicht vorhanden waren.

Anschließend wird ein erster Ansatz einer Kompetenzbeschreibung einer mehrsprachigen kommunikativen Kompetenz für einen mehrsprachigen kompetenzorientierten Unterricht ausgearbeitet und in Hinblick auf die Operationalisierung im Unterricht transparent gemacht (10). Es werden anhand von Tabellen die aus dem Datenvergleich gewonnenen Deskriptoren anhand von Kompetenzbereichen den fünf Savoirs zugeordnet. Diese vermitteln ein Gesamtbild des erkenntnistheoretischen Wertes der Studie und können in die Diskussion über Sinnhaftigkeit und Durchführbarkeit mehrsprachigen Unterrichts eingebunden werden. In der Zusammenschau der einzelnen Elemente der Studie werden Eigenschaften und Merkmale nochmals gebündelt und – nicht zuletzt in Hinblick auch auf die bildungspolitische Diskussion und die Verankerung des mehrsprachigen Unterrichts an Südtirols Schulen durch die Öffnung der einzelnen Curricula und Schulprogramme in Richtung Mehrsprachigkeit – in ihrem erkenntnistheoretischen Wert offengelegt.

2.Sprachenvielfalt und Sprachenlernen in der EU

Die vorliegende Studie orientiert sich bei der Ausarbeitung der Deskriptoren für mehrsprachige kommunikative Kompetenz maßgeblich an zwei Vorbildern: an der GER und der FREPA. Auf den nach Abschluss der Datenauswertung 2018 erschienenen Ergänzungsband zum GER (Concil of Europe CEFR/CV 2018) wird ebenfalls eingegangen, da hier der Bereich der Sprachmediation eine prominente Rolle einnimmt. Dieser Bereich kristallisiert sich auch in der Datenanalyse als ein besonders wichtiger und facettenreicher heraus. Die entsprechenden Deskriptoren wurden den Kernkategorien Soziales Lernen und Gesprächsstrategischer Einsatz von MKK zugeordnet. Der Ergänzungsband stellt einerseits einen großen Fortschritt bezüglich der Ausarbeitung von Deskriptoren für plurilinguale Kompetenzen, wie sie in dieser Studie anvisiert sind, dar, da der Bereich der Mediation aufgenommen wird, lässt aber dennoch viele Fragen offen bzw. scheint nicht ausreichend ausdifferenziert, vor allem was die literarischen und mehrsprachigen Kompetenzen anbelangt. Auf alle drei Dokumente soll im Folgenden eingegangen werden, um ein besseres Verständnis der nachstehenden Datenanalyse und Modellierung von MKK zu ermöglichen und diese bildungspolitisch innerhalb der Zielsetzungen der EU einzuordnen.

2.1Sprachenlernen im GER

Seit geraumer Zeit ist Mehrsprachigkeit1 und mehrsprachige Bildung ein zentrales Anliegen der Europäischen Union. Der Grundstein dafür wurde 2001 in der Barcelona-Zielsetzung (Europarat 2001) gelegt. Dort wurde zum ersten Mal festgehalten, dass im europäischen Raum der Sprachenunterricht von mindestens zwei Fremdsprachen von früher Kindheit an zu den Zielsetzungen der EU im Bildungs- und Ausbildungsbereich gehört und besonders gefördert werden soll. Es ist demzufolge explizites Ziel der EU, die individuelle Mehrsprachigkeit zu fördern und somit die Sprachenvielfalt innerhalb der Union zu wahren und zu unterstützen. Dies beinhaltet eine klare Absage an das Englische als einzige Lingua franca, das erstmals als Bedrohung wahrgenommen wird (vgl. Fäcke 2008: 7). Seit dem Jahr der Sprachen 2001 ist klar, dass die EU dem Modell des Englischen als einzige dominante Fremd- und Verkehrssprache den Rücken gekehrt hat, um den Sprachenreichtum Europas, die Minderheitensprachen und Randsprachen als kulturelles Gut zu schützen und zu fördern. Damit will man sich nicht darauf beschränken, das Englische in seiner Wichtigkeit als Verkehrssprache in allen Lebensbereichen einzugrenzen, sondern auch den Einfluss dieser Sprache auf andere Sprache zu unterbinden. So hat z.B. laut House eine Reihe von validierten Recherchen deutlich gemacht, dass es bereits Einflüsse der englischen Genres auf Texte in anderen Sprachen gibt (House 2004; Bührig & House 2004; Böttger 2004). Mehrsprachigkeit soll nicht mehr als Hindernis in der Kommunikation empfunden werden, sondern als eine zusätzliche Ressource, ein „wertvoller Schatz“ und ein Potenzial, das es zu schützen und auszuschöpfen gilt (Europarat 2001: 15).

Daher wird wiederholt bekräftigt, dass alle europäischen BürgerInnen mindestens zwei Sprachen neben der Muttersprache zumindest funktionell (d.h. in Teilbereichen) beherrschen sollten: eine zweite Sprache L2, die in den meisten Fällen Englisch ist und eine weitere Sprache L3, im Idealfall eine Nachbar- oder eine Minderheitensprache. Diese Vorgabe spiegelt sich im Prinzip der DLC (Dominant Language Constellation) wider, nach der nicht eine einzelne Sprache Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft ist, sondern eine größere Anzahl von Sprachen für den sozialen Diskurs nötig sind. Laut Aronin und Singleton scheinen im Schnitt drei Sprachen auszureichen, um diese kommunikative Funktionsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft zu gewährleisten (Aronin & Singleton 2012: 59).

Im Zuge der Kompetenzdiskussion in der Fremdsprachendidaktik wurde bereits 2001 ein Instrument zur Erhebung der Sprachkompetenzen ausgearbeitet: Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001). Dadurch wurde zunächst der Kompetenzbegriff für den Sprachenunterricht auf nationaler und europäischer Ebene vereinheitlicht. Es wurden fünf Kompetenzbereiche erarbeitet, die anhand von sechs Niveaustufen durch Deskriptoren detailliert skaliert wurden. Diese Standardisierung ermöglichte es, das Sprachenlernen europaweit nach vereinheitlichten Kriterien zu gestalten und zu evaluieren. Sprachliche Kompetenzen wurden somit vergleichbar gemacht, was zu bürokratischer Vereinfachung führte und die zwischenstaatliche Verständigung erleichterte.

In Südtirol wurde der GER durch die Rahmenrichtlinien für den Fremdsprachenunterricht rezipiert und größtenteils eins zu eins in verkürzter und vereinfachter Form übernommen. Inhalte und Aufbau sowie das Kompetenzverständnis wurden in Südtirol, aufgrund der besonderen schulpolitischen Gegebenheiten, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird, nie kritisch hinterfragt. Eine Diskussion über das Verhältnis von Bildungsstandards und GER, wie sie sich in den Folgejahren in Deutschland entwickelte (Bausch et al. 2005; Burwitz-Melzer 2005), blieb hierzulande aus. Auch jegliche Bezugnahmen auf im GER behandelten Aspekte von Mehrsprachigkeit, wie sie im Folgenden ausgeführt werden, blieben unbeachtet. Aufgenommen wurde lediglich die Öffnung des Unterrichts, allerdings beschränkt auf den Fremdsprachenunterricht, in Richtung interkulturelles Lernen, das im Vorspann der Südtiroler Rahmenrichtlinien für Fremdsprachen erwähnt wird (Autonome Provinz Bozen-Südtirol 2010).

2.1.1Die Mehrsprachigkeit im GER

Im einleitenden Teil des GER wird erstmals Mehrsprachigkeit nicht nur gefordert, sondern auch umrissen sowie ein Definitionsversuch unternommen. Das Sprachenlernen wird nicht mehr als additiver Erwerbsprozess mehrerer Sprachen betrachtet, sondern es steht die Vermittlung kultureller und interkultureller Kompetenzen als integrierter Bestandteil des Sprachenlernens im Mittelpunkt. Das Kennenlernen und das Verständnis für andere Kulturen, deren Gemeinsamkeiten mit der eigenen Herkunftskultur, aber auch deren Besonderheiten, verhilft einerseits zur Fähigkeit, die eigene Kultur zu hinterfragen und aus einer anderen Perspektive zu sehen, und gleichzeitig Ungewohntes, Neues und Fremdes einer anderen Kultur in diesen Wachstumsprozess zu integrieren.

Es folgt eine erste Definition von Mehrsprachigkeit (Europarat GER 2001: 17): Dabei wird zunächst zwischen Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit unterschieden. Vielsprachigkeit greift auf institutioneller Ebene, wie z.B. an Schulen, die ein vielsprachiges Angebot ausarbeiten können, um die Kompetenzen der Lernenden im Bereich Mehrsprachigkeit zu fördern. Mit Mehrsprachigkeit ist die individuelle Erfahrung, der Umgang des Einzelnen mit den Sprachen seines Repertoires und die Erfahrungen der kulturellen Erweiterung, die damit einhergeht, gemeint. Sprachen bilden im Gehirn keine klar voneinander getrennten Einheiten, sondern fächern sich in einer gemeinsamen mehrsprachigen Kompetenz auf. Daher wird von einem parallelen Lernen von Sprachen zugunsten eines synergetisch verstandenen abgesehen. Es sollen sich so gemeinsame, sprachübergreifende Kompetenzen bilden, auf die je nach Bedarf und Kontext zurückgegriffen werden kann. Im Sinne eines lebenslangen Lernprozesses wird Abstand genommen von dem Ideal eines auf muttersprachlichem Niveau zwei- oder dreisprachigen Menschen zugunsten eines Verständnisses von Sprachenlernen, das auch darauf abzielt, sich je nach Bedarf auf den Erwerb von Teilkompetenzen zu beschränken.

So soll die Entwicklung eines sprachlichen Repertoires unterstützt werden, das beim Erwerb weiterer Sprachen oder Teilkompetenzen eine spracherwerbsfördernde und im Idealfall beschleunigende Funktion einnimmt. Die Begriffe „mehrsprachige Kompetenz“ und „sprachliches Repertoire“ werden in diesem Zusammenhang zwar öfter erwähnt, jedoch bleibt eine genauere Definition dieser Begriffe und ihrer Funktion für den Erwerb weiterer Sprachen aus (ibid.: 18f.). Da der Referenzrahmen keine eingehendere Bedeutungserklärung dieser Begrifflichkeiten liefert, fällt es schwer, sich ein vollständiges Bild von der Funktionsweise und der Auswirkung mehrsprachiger Kompetenzen auf den Spracherwerbsprozess zu verschaffen. Es wird lediglich davon gesprochen, dass beim Sprachenlernen die Möglichkeit gegeben werden sollte, diese mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln, wobei der Sprachmittlung in all ihren Formen hier eine besondere Wichtigkeit eingeräumt wird. Es werden auch keine Deskriptoren zur Mehrsprachigkeit angeführt. Es fehlt also ein grundlegender Aspekt, der unverzichtbar ist, will man Mehrsprachigkeit im Unterricht implementieren. Was bleibt, ist lediglich eine allgemeine Definition mehrsprachiger Kompetenzen ohne deren Deskriptoren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der GER zwar ansatzweise einige Grundbegriffe der Mehrsprachigkeit ausformuliert hat, dass aber definitorische Unbestimmtheit vorherrscht und es versäumt wurde, den Bereich Mehrsprachigkeit in seinem Facettenreichtum zu erfassen und zu erläutern (GER Kapitel 6).

Einen wichtigen Beitrag hingegen leistet der GER in Bezug auf funktionale Mehrsprachigkeit, indem abgesehen wird von der Vorstellung einer idealen muttersprachlichen Kompetenz in einer Zweitsprache zugunsten der Ausbildung eines möglichst breitgefächerten Repertoires an situationsgebundenen Sprachfertigkeiten in mehreren Sprachen, die je nach Bedarf im Prozess des lebenslangen Lernens ausgebaut und erweitert werden können (ibid.: 132-134). Diese bereichsspezifischen und situationsgebundenen Sprachkompetenzen können gezielt im Unterricht vermittelt oder durch den Sprachgebrauch in Alltagssituationen erworben werden. Die funktionale Mehrsprachigkeit hat allerdings noch nicht ihren Weg in die Bildungsinstitutionen gefunden und es wäre wünschenswert, dass Schulen sich baldmöglichst auf diese neuen gesellschaftlichen Anforderungen einstellen.

2.1.2Rahmenstrategien zur Mehrsprachigkeit

Nach Fertigstellung des GER konnten in den Folgejahren konkrete Rahmenstrategien für Mehrsprachigkeit ausgearbeitet werden (Council of Europe 2005) und Ansätze mehrsprachiger Erziehung folgten (Council of Europe 2007a,b; 2008a/b/c,). Im Jahr 2008 wurden die ersten Resolutionen über eine gemeinsame europäische Strategie zur Mehrsprachigkeit verabschiedet – dabei handelt es sich um Schlüsseldokumente, die detailliert die Maßnahmen zur Förderung einer mehrsprachigen Bildung vorstellten (Dorner 2008). Auch hier wird auf die Wichtigkeit der Mehrsprachigkeit für die sprachliche und kulturelle Vielfalt innerhalb, aber auch außerhalb Europas hingewiesen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Querschnittsthema“ in Bezug auf Mehrsprachigkeit erstmals erwähnt (Council of Europe 2008a: 1). Dadurch wird Mehrsprachigkeit zum Schnittpunkt nicht nur von Sprachen und Kulturen, sondern auch der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Bildungspolitik sowie allen Bereichen des täglichen Lebens. Von der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit bis zur Bildungssprache sind in der heutigen pluralen und globalisierten Gesellschaft alle Bereiche von Mehrsprachigkeit durchwirkt. Mehrsprachigkeit wird auf diese Weise aus dem sprachen- und kulturübergreifenden Bereich in die alltägliche gesellschaftliche Realität in Europa und außerhalb Europas übertragen. Sie macht die kulturelle Vielfalt der EU aus, und im Zuge des Bewusstwerdungsprozesses darüber soll die Fähigkeit entstehen, das eigene Sprachenrepertoire zu verändern, um es neuen Umständen und Anforderungen anzupassen (Council of Europe 2006). Teil dieses Vorhabens ist auch die Förderung weniger verbreiteter Sprachen, die in diesem Dokument in ihrer kulturellen und sozialen Wichtigkeit unterstrichen wird. Vrings/Vetter bezeichnen Mehrsprachigkeit als eine Schlüsselkompetenz (vgl. Frings & Vetter 2008).

Es wird erstmals festgehalten, dass Mehrsprachigkeit zur Entwicklung von Kreativität beiträgt, indem sie Zugang zu anderen Denkweisen, Weltanschauungen und Ausdrucksformen ermöglicht (Council of Europe 2008b: 2). Dies ist eine für die Zielsetzung des vorliegenden Forschungsprojektes grundlegende Erkenntnis. Neben der individuell-kognitiven und der sozial-konstruktiven Komponenten von Mehrsprachigkeit wird erstmals die emotional-kreative Komponente angesprochen (vgl. Furlong 2009: 365). Es wird auf die Tatsache verwiesen, dass Mehrsprachigkeit divergentes Denken fördern kann und dass sie in sich den Zugang zu neuen Bedeutungsräumen birgt (vgl. Kharkhurin: 2007: 187). Eine solche Erkenntnis muss unterrichtsmethodische Folgen haben, d.h. innovative Unterrichtsmethoden, welche die Verständigungsbrücken zwischen den Sprachen nicht zuletzt in Form der Übersetzung nutzen, sollten bestärkt werden (vgl. hierzu auch Council of Europe 2014a: 2-3). Als solche versteht sich das in dieser Studie herangezogene Aufgabenformat, das Formen des autonomen und selbstgesteuerten Lernens einen großen Spielraum zugesteht und so Kreativität und originelle Problemlösungswege zulässt.

Neu ist im GER auch, dass besonderes Augenmerk auf den Erwerb der Erstsprache gelegt wird, die unterstützende Funktion für den Erwerb weiterer Sprachen hat. Dabei bezieht man sich auf die Schwellentheorie Cummins (Cummins 1981: 27f.), die besagt, dass kognitive Entwicklung und Sprachkompetenz in enger Beziehung zueinander stehen. Es ist demzufolge eine hohe L1-Kompetenz nötig, damit komplexe kognitive Strukturen auf die nachgelernten Sprachen übertragen werden können. Fehlen diese kognitiven und sprachlichen Strukturen, so können auch Folgesprachen nur auf einem unteren Sprachniveau erworben werden, woraus sich wiederum negative Folgen für die kognitive Entwicklung ergeben. Eine hohe Sprachkompetenz wirkt sich bei Zweisprachigen laut Cummins auch auf die kognitive Entwicklung positiv aus. Die Schwellentheorie ist besonders für die sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund relevant, die in den Herkunftssprachen oft ein niedriges Kompetenzniveau mitbringen und daher einer besonderen Förderung bedürfen. Dies gilt in Südtirol teilweise auch für Kinder, die aus einem deutsch-italienisch gemischtsprachigen sozialen Umfeld stammen und in vielen Fällen geringe Sprachkompetenzen in beiden Sprachen aufweisen. Dieser Aspekt wird in der Datenauswertung dieser Studie und der Modellierung einer MKK (Mehrsprachige kommunikative Kompetenz) Erwähnung finden, da sowohl die Sprachbiographie als auch die sprachlichen Kompetenzen der Lernenden in allen Sprachen sich auf die Entwicklung der MKK auswirken. Es hat sich erwiesen, dass die klare Unterscheidung zwischen L1 und L2/Lx in den meisten Fällen nicht möglich ist, da je nach (Sprach)biographie unterschiedliche Formen simultanen Spracherwerbs festgestellt wurden.

In den Rahmenstrategien für Mehrsprachigkeit wird auch das Bewusstsein für Sprachenvielfalt in seiner Bedeutung für die Vermittlung transkultureller Werte und der Teilhabe am mehrsprachigen sozialen Diskurs hervorgehoben. Die durch Migration und Transmigration veränderte Gesellschaft kann sich nicht mehr auf monolinguale Gewohnheiten und Gesprächspraktiken stützen, sondern muss ihren Diskurs den neuen Erfordernissen einer nunmehr mehrsprachigen Gesellschaft anpassen. Das Bewusstsein dafür soll besonders in jungen Menschen gestärkt werden, da es eine aktive Teilhabe an den gemeinschaftlichen sozialen und politischen Prozessen ermöglicht, die in ein mehrsprachiges Umfeld eingebettet und vielfach durch einen mehrsprachigen Ablauf gekennzeichnet sind. Die Bewältigung mehrsprachiger politischer und sozialer Prozesse erfordert ein Wissen um transkulturelle Werte und Kompetenzen, die situationsgebunden strategisch zum Einsatz gebracht werden können und sich in vielfacher Weise von einsprachigen unterscheiden.

Um diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozess aktiv zu begleiten, wären didaktische und pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, die auf die neuen lernpsychologischen Umstände eingehen. Auch die im Unterricht angebotenen Sprachen sowie deren Reihenfolge wären neu zu überdenken. Insbesondere wäre es wichtig, im Sprachenunterricht von den Ausgangssprachen der einzelnen Schüler auszugehen. Folglich muss Unterricht, soll er die Grundlage für eine pluralistische Gesellschaft sein, in der junge Menschen sich zurechtfinden und gefördert werden, umgedacht werden.

Die Form des Task als Unterrichtsverfahren, wie es in den Unterrichtsmodulen durchgeführt wurde, gibt auf diese Forderungen eine konkrete und didaktisch gut operationalisierbare Antwort, da Task-based teaching (Nunan 2004; Hallet 2006, 2008) sich dadurch auszeichnet, dass die soziale Diskursfähigkeit und der Zuwachs kommunikativer Kompetenzen Ziel des Handelns im Unterricht sind. Es wird im Rahmen der Studie die Frage in den Raum gestellt, welche Kompetenzen, Dispositionen, Strategien und Ressourcen junge Menschen entwickeln sollen, nicht nur um sich in einer mehrsprachigen Lebenswelt zurecht zu finden, sondern auch um einen Lernprozess zu initiieren, der schrittweise auf das Kompetenzniveau der mehrsprachigen Bildungssprache und den damit einhergehenden mehrsprachigen kognitiven, motivationalen und emotionalen Prozessen übergeht. In diesem Sinne versteht sich die Studie als wegweisend für die Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden, die mehrsprachiges Arbeiten im Sinne des GER in eine komplexe Kompetenzaufgabe einbaut.

2.2Aktualisierung der Deskriptoren: der CEFR/CV

Der im Januar 2018 erschienene Begleitband zum GER (Council of Europe CEFR/CV 2018) enthält eine Reihe von Erweiterungen und Neuerungen, die den 2001 erschienenen Referenzrahmen aktualisieren und den neuen Anforderungen einer immer pluralistischeren Gesellschaft anpassen sollen. Es wird hier erstmals darauf hingewiesen, dass eine klare Unterscheidung zwischen L1 und L2/Lx nicht möglich ist, da es so unterschiedliche Formen des Sprachenlernens gibt wie (Sprach)lernbiographien und da Sprachen oft parallel erworben werden bzw. Kinder oft zwei oder mehrere Erstsprachen haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Erwerb von L2 und weiteren nachgelernten Sprachen, auch hier gibt es Formen von parallelem Spracherwerb, die eine klare Gliederung nicht zulassen (CEFR/CV: 38).

Besonders hervorzuheben ist ganz im Sinne dieser Studie, dass die Deskriptoren nicht dafür gedacht sind, eine Standardisierung der Lernprozesse im schulischen Alltag voranzutreiben. Es handelt sich vielmehr um ein Instrument, das unterstützende Funktion hat und den Bedürfnissen der Lernenden nachkommen sollte, indem es realweltliche kommunikative Bedürfnisse aufzeichnet. Gleichzeitig soll es auch dazu dienen, qualitativ hochwertige Erziehungsziele auszuformulieren, die Inklusion als Teil des Bildungsprozesses explizit ausformuliert (ibid.: 26, 41). Es geht nicht darum, Lernprozesse zu bewerten und neue Standards aufzustellen, sondern vielmehr sollen die Deskriptoren die Lernenden dabei unterstützen, ausgehend von realen Bedürfnissen, lebensweltlich relevante kommunikative Fähigkeiten zu entwickeln (ibid. 27). Das Absehen von jeglicher Form von Standardisierung zugunsten einer individualisierten Lernbegleitung ist ein besonderes Anliegen dieser Studie und als Grundsatz im italienischen Bildungssystem gesetzlich verankert.

Ganz neu im Vergleich zum GER sind die Deskriptoren im Bereich Mediation (ibid.: 106-125) und Mehrsprachigkeit (ibid.: 159-162). Erstere stellen eine Erweiterung des Verständnisses von Mediation, wie sie im GER ausformuliert wurde, dar. Mediation sieht hier den Lernenden als sozialen Agenten, der im Versuch, Bedeutung zu übertragen, Brücken zwischen den Sprachen baut. Dies geschieht immer dann, wenn in der Kommunikation Raum geschaffen wird für gemeinsames Lernen und für die Ko-Konstruktion von Bedeutung. Das Verständnis von Mediation sieht hier auch Formen des sozialen Lernens vor, bei denen u.a. das Mitteln von Informationen in angemessener Form vorgesehen ist sowie die Fähigkeit, andere dazu zu motivieren, neue Bedeutung zu verstehen oder selbst zu konstruieren (ibid. 103). Erstmals wird auch von emotionaler Intelligenz und Offenheit gesprochen, von emphatischem Verständnis für die Bedürfnisse und Gefühle anderer sowie der Wichtigkeit des Erkennens und Einschätzens unterschiedlicher Kommunikationssituationen (ibid. 106).

Dieser erweiterte Begriff von Mediation überschneidet sich mit den in der vorliegenden Studie identifizierten Kernkategorien Soziales Lernen und Mehrsprachige Gesprächspraktiken. Aspekte wie TL (Translanguaging), CS (Code-switching) und CM (Code-mixing) werden hier allerdings in ihrer Wichtigkeit für den mehrsprachigen und transkulturellen Diskurs nicht erwähnt. Man beschränkt sich vielmehr darauf, unterschiedliche Formen von Mediation vom Schriftlichen ins Mündliche und umgekehrt aufzuzeigen. Besondere Bereiche wie das Erläutern von Graphiken und Daten und das Mitschreiben werden auch anhand von Deskriptoren dargestellt. Erwähnt wird auch der Umgang mit literarischen und kreativen Texten. Hervorzuheben ist hier, dass es sich ausschließlich um rezeptive Kompetenzen handelt und sich auf die Bereiche Persönliche Reaktion auf kreative und literarische Texte und Analyse und Kritik literarischer und kreativer Texte beschränkt. Der aktive kreative Sprachgebrauch hingegen findet keinen Eingang. Außerdem wird der Komplexität der hermeneutischen mehrsprachigen Interaktion mit Texten kaum Rechnung getragen.

Im Bereich der Mediation in der sozialen Interaktion werden unterschiedliche Strategien aufgezeigt, wie ein mehrsprachiger Diskurs gelenkt, unterstützt und verständigungserleichternd geführt werden kann. Diese fallen in der vorliegenden Modellierung MKK mit unterschiedlicher Gewichtung in die Kernkategorie Soziales Lernen, da die Deskriptoren sich ausschließlich auf den schulischen Bereich beziehen und somit mögliche Lernprozesse vorstellen. Da, wie aus der Datenauswertung hervorgeht, alle im CEFR/CV vorgestellten Aspekte der Mediation vorkommen, wird den Lernenden dank des besonderen Aufgabenformats die Möglichkeit gegeben, sich diese anzueignen. Der Bereich Mehrsprachigkeit wird mit lediglich zwei Kompetenzbereichen (Mehrsprachiges Repertoire und Mehrsprachiges Verständnis) umschrieben. Diese kommen mit einigen Unterschieden auch in der Modellierung vor (ibid.: 159 und 160).

Auffallend ist, dass auch in den Ergänzungen zum GER der Bereich des Savoir s’engager nicht berücksichtigt wird. Das kulturkritische Bewusstsein und die Fähigkeit, Kulturen durch ein spezifisch kulturwissenschaftliches Vorgehen kritisch zu evaluieren und zu hinterfragen, ist zwar ansatzweise in allen anderen Savoirs enthalten, wird aber auch hier nicht systematisch aufgezeigt. Es ist kein Zufall, dass man besonders im Bereich Literarisches Lernen und kritische Reflexion über literarische und kreative Texte auf Aspekte stößt, die auch dem Savoir s’engager zugeordnet werden könnten (ibid. 116-117). Trotzdem wird sowohl dem Literarischen Lernen als auch dem Savoir s’engager in dieser Überarbeitung nur ein geringer Platz eingeräumt, der bei weitem nicht die Komplexität der Phänomene erfasst, die ein kritisches Verständnis von Mehrsprachigkeit und Transkulturalität besonders im Bereich Literarisches Lernen fordert. Die vorliegende Modellierung stellt u.a. den Versuch dar, einen ersten Vorstoß in dieses noch unerforschte Gebiet zu wagen.

2.3Der FREPA/CARAP oder A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to languages and Cultures – Competences and Ressources

Von maßgeblicher Bedeutung für die in der vorliegenden Studie anvisierte Modellierung der MKK sind Struktur und Inhalte des FREPA. Er versteht sich als ein Instrument zur Implementierung curricularer Mehrsprachigkeit. Daher diente er in großem Maße auch als Vorbild für das MSCS (Mehrsprachencurriculum Südtirol), auf das im Folgenden noch eingegangen wird. Der FREPA wurde 2012 vom ECML (Europäisches Centrum für Mehrsprachigkeit) ausgearbeitet und stellt einen ersten Versuch dar, mehrsprachige Kompetenzen strukturiert zu erfassen und darzustellen. Unter Bezugnahme auf Byrams Definition von mehrsprachiger Kompetenz versteht es sich als ein Instrument zur Entwicklung eben dieser:

Managing the repertoire [which corresponds to plurilingual competence] means that the varieties of which it is composed are not dealt with in isolation; instead, although distinct from each other, they are treated as a single competence available to the social agent concerned. (Candelier et al. 2012: 8 zitiert Byram 1997: 73)

In dieser Definition wird mehrsprachige Kompetenz mit Repertoire gleichgestellt und festgehalten, dass die Varietäten, aus denen sich das Repertoire zusammensetzt, obwohl sie unabhängig sind, nicht klar voneinander trennbar sind (zur Begriffsdefinition von Kompetenz cf. 4.1.). Sie sind als einzige umfassende Kompetenz für den Nutzer abrufbar. Aufbauend auf diese Definition werden vier dem Byramschen Modell für interkulturelle kommunikative Kompetenzen entnommene Kompetenzbereiche identifiziert, welche diese mehrsprachige Kompetenz ausmachen. Kompetenz ist demzufolge im FREPA die Fähigkeit „individuelle Ressourcen (Kenntnisse, Fertigkeiten und Lernerpersönlichkeit) sowie externe Ressourcen zu mobilisieren, um miteinander verwandte, komplexe Anforderungen meistern zu können“ (Beckers 2002: 57; zitiert nach Candelier et al. 2007: 16).

Im Gegensatz zu Kompetenzen, die komplex und situationsgebunden sind, lassen sich laut Martinez & Schröder-Sura Ressourcen eher definieren und konkret im Unterricht durch geeignetes Unterrichtsmaterial und Aufgaben fördern (Martinez & Schröder-Sura 2011: 71). Daher bedient sich der FREPA der Deskriptoren von Ressourcen. Es gibt vier Deskriptorenlisten: Savoir, Savoir faire, Savior apprendre und Savoir être (zur detaillierten Erläuterung des Aufbaus des FREPA vgl. Martinez & Schröder-Sura 2011: 72ff.). Dabei ist für diese Studie aufgrund der Ergebnisse der Datenauswertung relevant, dass das Savoir apprendre als transversale Kompetenz verstanden wird, es bezieht sich somit auf alle anderen genannten Bereiche (cf. 9.1):

Abb. 2.1. Martinez & Schröder Sura 2011, S. 72

Damit wird veranschaulicht, dass Savoir apprendre, die mehrsprachige Lernkompetenz „eine deklarative (a), prozedurale (b) und personenbezogene Komponente (c) umfasst, welche in einer Wechselwirkung zueinander stehen“ (ibid.: 73). Dabei berücksichtigt der deklarative Aspekt von Savoir apprendre den Wissenstransfer von einem Bereich in den anderen, die prozedurale Komponente die Lernautonomie, das soziale Lernen sowie Lernstrategien und das Nutzen von kulturellem Vorwissen für den Lernprozess. Die persönlichkeitsbezogene Komponente beschreibt hingegen die Lerneinstellung. Die transversale Valenz des Savoir apprendre schlägt sich auch in der Modellierung der MKK nieder, da sie veranschaulicht, dass das mehrsprachige Lernen ein Prozess ist, der alle Aspekte der Persönlichkeit des Lernenden miteinbezieht und ihm Möglichkeiten und Wege offenbart, wie er in Beziehung zum eigenen mehrsprachigen Ich treten kann und zum mehrsprachigen und mehrkulturellen Umfeld.

Die Savoirs können sich laut FREPA nur in einem Klassenzimmer entwickeln, in dem mehrere Sprachen und Kulturen gemeinsam einen Platz finden. Es muss die Möglichkeit zur Begegnung geboten werden. Sprachen und Kulturen sollen nicht mehr als etwas Getrenntes erfahren werden, sondern in Verbindung zueinander gebracht und vernetzt werden. Damit Unterricht mehrsprachige Ressourcen mobilisieren kann, muss er umgedacht werden, denn traditioneller einsprachiger Unterricht kann das nicht. Daher wird ein pluralistischer Ansatz gefordert, denn nur auf Mehrsprachigkeit aufbauend kann interkulturelles/intrakulturelles Lernen auch wirklich gelingen.1

Diese Annahme wird im vorliegenden Forschungsansatz übernommen, wobei ein transkultureller einem interkulturellen Ansatz vorgezogen wird. Laut Kramsch entwickeln sich Kulturen sprachspezifisch und umgekehrt Sprachen kulturspezifisch. Beim Sprechen beziehen sich die Menschen auf gemeinsame Erfahrung und geteiltes Weltwissen, das auch ihre Haltungen und Glauben und Meinungen beinhaltet (Kramsch 1998: 3). Dadurch wird Sprache zum Ausdruck kultureller Realität. Umgekehrt, meint Kramsch weiter, entstehen durch Sprache auch gemeinsame Erfahrungen. Folglich formt Sprache die kulturelle Realität und stellt sie durch ihre Zeichen symbolhaft dar (vgl. auch Byram 2000: 33). Wenn also eine Sprache Ausdruck einer bestimmten Kultur ist, dann kann die Erfahrung über diese Kultur ausschließlich über deren Sprache erfolgen (vgl. hierzu auch Bredella & Christ 2007, 1995; Bredella et al. 2000; Bredella 2000, 2004, 2010,).

Geht man jedoch von der transkulturellen Auffassung von Welsch aus (Welsch 2009: 60), so bedeutet dies, dass über die Sprache(n) Erfahrungen über mehrere Kulturen gleichzeitig gemacht werden können, da Sprachen keinem Reinheitsgebot folgen, sondern hybride Formen sind. Die Dichotomie eigenkulturell vs. fremdkulturell wird somit aufgehoben zugunsten eines sprach- und kulturübergreifenden Denkens, das den Lernprozess umgestaltet. Der transkulturelle Vergleich vollzieht sich vor allem und zuerst auf sprachlicher Ebene durch Sprachvergleich und in der Mehrsprachigkeit. Wenn also Lernende ein Gespür für ihre eigene Transkulturalität entwickeln sollen, dann kann das notwendigerweise nur im mehrsprachigen Kontext geschehen und nicht in einer monolingualen Lernumgebung.

2.3.1Pluralistische didaktische Ansätze

Bereits in den einleitenden Worten des FREPA wird festgestellt, dass pluralistische Ansätze in der Didaktik nicht immer die Anerkennung haben, die sie verdienen, weil ihr Potenzial nicht erkannt wird (Candelier et al. 2012: 8f.). Es wird ihnen im Unterricht lediglich die Funktion der Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit zugesprochen, sicherlich ein wichtiger Aspekt, aber angesichts der Vielzahl an Lernprozessen, die durch den mehrsprachigen Unterricht initiiert werden, bei weitem nicht ausreichend. Ein Grund dafür ist laut Candelier darin zu finden, dass die Verbindung zwischen pluralistischen, aus der kommunikativen Tradition stammenden und kompetenzorientierten Ansätzen bislang gefehlt hat. Die in Europa entwickelte sog. pluralistischen Ansätze sind: das Tertiärsprachenlernen, die Interkomprehension und das integrierte Sprachenlernen (Aronin & Singleton 2012: 128). Sie entwickelten sich aus dem interkulturellen Ansatz nach Hawkins ( Hawkins 1985; Oomen-Welke 2016), beschränken sich jedoch auf Momente des Vergleichs auf grammatischer, lexikalischer und syntaktischer Ebene und sind daher nur begrenzt im Unterricht einsetzbar.

Der Referenzrahmen stützt sich bei der Ausformulierung der Deskriptoren ausschließlich auf die oben angeführten Ansätze, also auf das, was bereits vorhanden und im Unterricht erprobt worden ist. Es wird nicht, wie es hingegen in dieser Studie der Fall ist, der Versuch unternommen, andere Aspekte – insbesondere den psycholinguistischen, soziolinguistischen und emotionalen – miteinzubeziehen. Erklärt wird diese Entscheidung mit der Tatsache, dass es zu wenige wissenschaftlich fundierte Forschungsprojekte auf diesem Gebiet gibt (ibid.: 15). Der FREPA als ein Instrument zur Verbreitung und Implementierung bereits vorhandener kommunikativer Ansätze stützt sich bei der Ausformulierung der Indikatoren ausschließlich auf Erfahrungswerte. Es liegt ihm daher im Gegensatz zu dieser Studie keine empirisch fundierte Studie zugrunde. Die Deskriptoren sind zwei Bereichen zugeordnet: einem epistemologischen und einem praxeologischen. Folglich gibt es einen erkenntnistheoretischen Aspekt, der eine möglichst vielschichtige Erfassung des Phänomens anstrebt, und einen praxisbezogenen, der als ein konkretes Instrument für die Umsetzung im Unterricht gedacht ist (ibid.: 16) .

Bereits nach einer ersten Lektüre wird klar ersichtlich, dass es sich um eine sehr umfangreiche und komplexe Kompetenzbeschreibung handelt. Bei näherem Hinsehen bemerkt man außerdem, dass ein Großteil der Indikatoren (an die 1900) den epistemologischen Aspekt betrifft und für den Unterricht zum Zweck der Unterrichtsevaluation oder Lernstanderhebung nicht nutzbar ist. Außerdem wurde auch keine klar erkennbare Unterscheidung zwischen epistemologischen und praxeologischen Beschreibungen vorgenommen (ibid.: 19). Daher bleibt es den Schulen und Lehrkräften überlassen, sich auf die Suche nach den für Lernstanderhebungen oder Curricula verwendbaren Indikatoren zu machen, wobei die objektive Erfassbarkeit eine ausschlaggebende Rolle spielt. Es war nötig, den Lehrkräften, Schulen und bildungspolitischen Einrichtungen Orientierungshilfen im Umgang mit dem FREPA an die Seite zu stellen, die allerdings bezüglich des Umgangs mit den Deskriptoren keine Erleichterung bringen.

Daher verstehen sich die in den letzten Jahren ausgearbeiteten Zielvorgaben für schulischen Unterricht sowie die Leitfäden für die Ausarbeitung mehrsprachiger Schulcurricula (Beacco et al. 2015a/b/c; Bono & Melo-Pfeifer 2011b; Breidbach 2003; Council of Europe 2014a/b, 2016; Daryai-Hansen et al. 2014) als Ergänzung und Erläuterung zu den Vorgaben und Deskriptoren der Rahmenrichtlinien für Mehrsprachigkeit FREPA (Candelier et al. 2012).

Es stellt sich auch hier die Frage, wie die Bedingungen im Unterricht geschaffen werden können, um den Erwerb mehrsprachiger Kompetenzen zu fördern. Martinez plädiert als erste, und ganz im Sinne dieser Studie, für ein aufgaben- und kompetenzorientiertes Sprachenlernen, da Lernautonomie gefordert und im Verlauf der Problemlösungsprozesse autonomes Lernen unterstützt wird. „Kompetenzorientiertes Lernen leiten die Lernenden an, Ressourcen zu mobilisieren. (Martinez & Schröder-Sura 2011: 75). Dabei sollten die Lernenden im Sinne der Task awareness in der Lage sein, die Aufgabe bewusst zu bewältigen und die Ziele und Ressourcen klar vor Augen haben.

2.3.2Savoir s’engager – ein unberücksichtigter Kompetenzbereich

Die Mobilisierung mehrsprachiger Ressourcen entlang eben dieses kompetenzorientierten Lernens ist die große Herausforderung der Mehrsprachigkeitsdidaktik heute. Genaue Vorstellungen darüber, wie ein solcher Unterricht geplant und gestaltet werden soll, gibt es bislang jedoch nicht. Hier soll die vorliegende Studie Abhilfe schaffen: Anhand eines konkreten Unterrichtsverfahrens wurde mehrsprachiger kompetenzorientierter Unterricht im Klassenzimmer durchgeführt und evaluiert. Durch ein empirisch angelegtes Forschungsdesign wurde erforscht, welche MKK sich im Verlauf des Projektes entfalten und inwiefern sie im Unterricht erhoben werden können. In einem Abstraktionsprozess werden Deskriptoren ausformuliert, die sich nicht ausschließlich auf Best-practice-Beispiele und Erfahrungswerte stützen, sondern empirisch erforscht und in Form eines Modells übersichtlich dargestellt werden. Sie können daher alle der Kategorie der praxeologischen Deskriptoren zugeschrieben werden, jenen Deskriptoren also, die unmittelbar für den Unterricht nutzbar gemacht werden können. Anhand der fünf Savoirs werden durch die Datenanalyse Kompetenzbereiche identifiziert und die gewonnenen Deskriptoren zugeordnet.

Es ist explizites Ziel, in diese Modellierung, im Gegensatz zum FREPA, auch das Savoir s’engager miteinzubeziehen. In Byrams Modell von 1997 ist das Savoir s’engager von zentraler Wichtigkeit. Es steht im Zentrum des Modells und wird von den anderen Savoirs umgeben. Es ist daher nur schwer verständlich, weshalb dieses Savoir vom FREPA und folglich auch vom MSCS ausgeklammert bleibt:

Abb. 2.2.

Dieses Savoir integriert die politische Erziehung in den Unterricht, weil jeglicher Erziehung eine politische Dimension innewohnt. Kulturkritische Bewusstheit wird deklariertes Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts. Byram selbst bezeichnet diese Fähigkeit als “an ability to evaluate critically on the basis of explicit criteria perspectives, practices and products in one’s own and other cultures and countries“ (Byram 1997: 53) und unterscheidet drei Teilbereiche:

Die Fähigkeit, implizite und explizite Wertehaltungen der eigenen und fremder Kulturen in Texten und Aussagen zu identifizieren.

Die Fähigkeit, eine evaluative Analyse von Dokumenten und Gegebenheiten aufgrund präziser Perspektiven und Kriterien vorzunehmen.

Die Fähigkeit der Interaktion und Mediation im interkulturellen Austausch anhand spezifischer Kriterien sowie die Befähigung zur Aushandlung und Akzeptanz aufgrund des erworbenen Wissens, Fähigkeiten und Haltungen. (ibid. 53)

Da im Alltag das Savoir s’engager die Umsetzung aller anderen Savoirs impliziert und somit auch den Weg vom schulischen Handeln in das lebensweltliche Handeln bahnt, soll es nicht vom schulischen Alltag ausgeklammert bleiben. Das Savoir s’engager kann als Kernkompetenzbereich nicht einfach aufgebrochen und, in einige wenige Teilbereiche beschränkt, auf die anderen Savoirs, insbesondere das Savoir être, eingegliedert werden, wie dies im FREPA vielfach geschieht. Es muss in seiner Wichtigkeit anerkannt werden und ebenso wie das Savoir apprendre als eine transversale Valenz angesehen werden. Es ist, wie aus der obenstehenden Graphik hervorgeht, propädeutisch für alle Formen des mehrsprachigen und transkulturellen Lernens, denn erst durch das Savoir s’engager wird das Desiderat eingelöst, dass schulische Bildung dem Anspruch gerecht werden muss, den Heranwachsenden zur Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Diskurs zu befähigen, sie also zu demokratiefähigen und selbstbestimmten BürgerInnen zu erziehen (vgl. Hallet: 2016: 19), also „in der Teilhabe an Politik, Gesellschaft und Kultur und in der Gestaltung der eigenen Lebenswelt diesem Anspruch gemäß zu leben und als mündige BürgerInnen selbstbestimmend zu handeln“ (Klieme et. al.: 2003: 63).

2.4Mehrsprachigkeit als Priorität schulischen Handelns

Im schulischen Alltag ist Mehrsprachigkeit zum Regelfall geworden. Es gibt kaum noch Lernende, die in einem rein einsprachigen Umfeld aufgewachsen sind. Dies ist auf die zunehmende Migration und Transmigration zurückzuführen, aber auch darauf, dass sich verschiedenste Formen der Mehrsprachigkeit im Alltag allein durch die Nutzung der neuen Medien ergeben. Die Schülerpopulation ist mehr denn je heterogen, multikulturell und daher auch mehrsprachig. Es lassen sich zwei Ebenen der Mehrsprachigkeit herauskristallisieren: Eine durch die Globalisierung und Migration bedingte Mehrsprachigkeit der gesamten Gesellschaft. Hier kann Schule sich den veränderten Umständen anpassen, indem streng einsprachige Gewohnheiten aufgegeben werden. Die gesamte Schulgemeinschaft kann mehrsprachig gestaltet werden, indem alle vorhandenen Sprachen als Bereicherung in den Schulalltag eingebracht werden. Wichtige Anregungen, wie die Schule als Haus des mehrsprachigen Lernens umgestaltet werden kann, geben Schader und Baur/Hufeisen (Schader 2000; Baur & Hufeisen 2011).

Von der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit zu unterscheiden ist die individuelle Mehrsprachigkeit. Redevielfalt oder Heteroglossie sind Begrifflichkeiten, die seit Bachtin (Bachtin 1997; Busch 2013, 2011; vgl. hierzu auch Wandruszka 1979) kennzeichnend geworden sind. Die Prinzipien der Multidiskursivität, die unterschiedliche soziokulturelle Welten in den Diskurs einbringt, der Vielstimmigkeit des sprachlichen Ausdrucks, die eine Perspektivenvielfalt ermöglicht und schließlich der Sprachenvielfalt, im Sinne einer soziokulturellen Differenzierung, zählen zu den entscheidenden Faktoren sprachlichen Handelns (vgl. Busch 2013: 10). Dadurch entstehen vielfältige Möglichkeiten der sprachlichen Gestaltung und der Wahrnehmung der mehrsprachigen Lebenswelt (Bachtin, 1986: 163).

Für die Schule bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass von der Problematisierung der Mehrsprachigkeit übergegangen werden muss zu einem Denken, das die gesellschaftliche und individuelle Sprachenvielfalt als Potential und Bereicherung anerkennt. Lernende, die armuts- oder kriegsbedingt aus ihren Herkunftsländern geflüchtet sind, beherrschen neben der Schulsprache Deutsch und L2 Englisch bzw. Italienisch weitere Sprachen zumindest funktionell, da sie zuhause gesprochen werden. Diese Sprachen finden an den Schulen aufgrund ihres geringen sozialen Prestiges kaum Anerkennung und drängen ihre Sprecher an den Rand. Die unterschwellige Anerkennung der prestigereichsten Sprachvarietät als einzige legitime Sprache, so Bourdieu, führt zum Identifikationsdrang mit der kulturell und wirtschaftlich führenden Schicht (Bourdieu 1991: 40 und 50). Randgruppen verstummen dabei, finden weder Ausdruck noch Wertschätzung für ihre Sprache und Kultur und verlieren dadurch auch ihren Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit. Ein mehrsprachiger Unterricht hat die Aufgabe, hier entgegenzuwirken und durch die Anerkennung und Wertschätzung von Diversität neue Voraussetzungen für das schulische Handeln und Lernen zu schaffen.

Wenn von mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen die Rede ist, wird nicht zuletzt wegen der brennenden bildungspolitischen Aktualität meistens auf durch Migration bedingte Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer und den damit einhergehenden Problematiken des DaF- und DaZ-Unterrichts sowie des sprachsensiblen Fachunterrichtes Bezug genommen (vgl. Busch 2011; Bausch et al. 2005; Vetter 2015; López-Gopar et al. 2013; Krifka et al. 2014; Krumm 2004; Schader 2000; Shohamy 2006). Der Versuch, Integration über einen potenzierten DaF/DaZ-Unterricht zu bewerkstelligen, berücksichtigt einen sicherlich sehr wichtigen soziokulturellen Aspekt, indem die Voraussetzung für Integration über die Vermittlung sprachlicher Fertigkeiten ermöglicht wird. Es werden aber viele andere Aspekte transkultureller Vermittlung und transkulturellen Verständnisses nötig sein, um Mehrsprachigkeit und Transkulturalität in einer Schule der Inklusion zu verwirklichen.

Shohamy (2006) stellt sich in diesem Sinne eine Schule vor, in der Lernende ihre mehrsprachigen Kompetenzen konstruktiv in den Schulalltag einbringen können und auch das Recht haben, diese weiter zu entwickeln, um ein höheres Kompetenzniveau zu erreichen. Andererseits muss den Ansprüchen einsprachig aufgewachsener Lernenden Rechnung getragen werden, nicht nur mehrere Sprachen, sondern auch mehrsprachige Kompetenzen im Schulalltag erwerben zu können. Denn werden diese mehrsprachigen Kompetenzen nicht nachdrücklich gefördert, gehen sie da, wo bereits vorhanden, durch Sprachreibung verloren oder werden einfach verdrängt und unterdrückt. (Shohamy 2006: 174). Dies führt, wie bereits erwähnt, zu einem Gefühl der Marginalisierung bei mehrsprachig aufgewachsenen Schülerinnen, wie auch aus den Untersuchungen der vorliegenden Studie hervorgeht, wo sich Schülerinnen aus ladinischen Gebieten mit ihrer Herkunftskultur und Sprache nicht in den Unterricht und den schulischen Alltag einbringen können und folglich in Teilen ihrer Persönlichkeit starke Einschränkungen und ein Gefühl des Nicht-Wahrgenommen-Werdens erfahren.