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Beschreibung

Im Zentrum der Komplementärberatung steht der Nutzen für die Unternehmen: Das Nacheinander oder Nebeneinander von Beratungsansätzen ist aus Kundensicht nicht mehr zielführend. Die Autoren dieses Bandes kommen sowohl von der Systemischen Prozessberatung als auch aus dem Fachberatungsfeld, der Wissenschaft und dem Management. Sie zeigen, wie eine Vorgehensweise aussehen kann, die die Zusammenarbeit der oft im Widerspruch stehenden Fach- und Prozessberater charakterisiert. Es wird deutlich: Der Schlüssel einer gelungenen Umsetzung der Komplementärberatung liegt sowohl in der Haltung der Berater als auch der Kunden. Die Herausgeber sind dafür bekannt, dass sie die Brücke zwischen Beratung, Management und Wissenschaft spannen und Tools für die Werkzeugkiste von Praktikern zur Verfügung stellen.

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Einleitung

1. 

Umfeld und Kontext von Beratung

1.1 Mit welchen gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen sind wir Berater konfrontiert? Unser Bild von der Zukunft

1.2 Mit welchen Herausforderungen kämpft die Wirtschaft?

1.3 Welche zentralen Widersprüche, Dilemmata beschäftigen die Unternehmensspitze?

2. 

Zur Entwicklung der Komplementärberatung

2.1 Grenzen der systemischen Prozeßberatung

2.2 Grenzen der klassischen Fachberatung

2.3 Unsere Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit klassischen Fachberatern

2.4 Ergebnisse der Begleitforschung: Die »reflexiv-differenzierende Beratung«

2.5 Die historischen Wurzeln des Widerstreits zwischen Fach- und Prozeßberatung

2.6 Grenzen der klassischen Psychiatrie und ihre Überwindung

3. 

Der komplementäre Beratungsansatz

3.1 Das Komplementär-Modell

3.2 Haltung und Werte in der Komplementärberatung

3.3 Produktbeispiel: Komplementäre Systemdiagnose – »Perspektivwoche«

3.4 Produktbeispiel: »NewCo & Transactions«

4. 

Erfahrungen: Fallbeispiele der Komplementärberatung

4.1 Ende? Anders? Weiter so? – Ja, aber!

4.2 Ein gesunder Händler rüstet sich für die Zukunft: Kostenreduktion – Effizienz – Kulturverträglichkeit

4.3 IT und Change – warum Veränderungen nicht per Mausklick funktionieren

4.4 Planungsprozeß im »Turn around« – wirklich gewollt?

4.5 Verbessertes Supply Chain Management – Zukunftsbilder überwinden Abteilungsegoismen

4.6 Zukunftswerkstatt als Innovationstreiber – durch die Bank »jung und wild«

4.7 Eine neues Produktionssystem – alle ziehen an einem Strang

4.8 Verträge, Vereinbarungen, Vertrauen – auch Juristen lassen sich beraten

4.9 Aufbau einer Fabrik – komplementärer Ansatz, nein danke!

4.10 Mediationsverfahren am Flughafen Wien – Ende gut, alles gut

4.11 Entwicklungskonferenzen: Schnell – transparent – integrierend

4.12 Nachhaltigkeit als Prinzip: OE – Stellenabbau – Zukunftskompetenz

5. 

Schlußbemerkungen

Literatur

Herausgeber und Autoren

Reihe Systemisches Management

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book ISBN 978-3-7992-6762-5

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen.

© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2006. Ab Oktober 2008 – Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht [email protected]

Einbandgestaltung: Dietrich Ebert, Reutlingen

Satz: Typomedia GmbH, Ostfildern

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Ein Tochterunternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt

Einleitung

Das Konzept »Komplementärberatung« hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte repräsentiert gleichzeitig unseren eigenen Entwicklungspfad, den wir in diesem Buch mit beschreiben. Der Ansatz ist für uns kein goldener Weg zum Gipfel, sondern eine Gratwanderung, die aber bekanntlich besonders schön ist, weil sie einen weiten Rundumblick ermöglicht.

Über drei Jahre hinweg konzipierten wir die Idee in einem stabilen Forschungs- und Entwicklungskreis, bestehend aus Fach- und Prozeßberatern. Manager und Kunden haben wir immer wieder als resonanzgebende Gäste e ingeladen, z. B. Wulf Walter, Lars Längauer, Wolfgang Kappl, Wolfgang Schwaiger und Sebastian Schuh1. Unsere Begleitforscher Ulrike Froschauer und Manfred Lueger gaben uns wertvolle Hinweise. Die Resümees verschiedener Supervi sionsergebnisse von Kundenprojekten und Entwicklungswerkstätten flossen in unsere Reflexionsräume mit ein. Folgende Kollegen arbeiteten dabei besonderes eng mit uns zusammen: Uwe Cichy, Uwe Dahl, Gerhard Jochum, Ulrich Königswieser, Erik Lang, Christian Matul, Patricia van Overstraeten, Peter Panholzer.

Man kann diesen komplexen Entwicklungs-, Lern- und Reflexionsprozeß so darstellen wie in Abb. 1.

In unseren Diskussionen haben wir uns immer wieder die Frage gestellt: Wie kann man über Beratungskonzepte sprechen ohne ein tiefes Theoriewissen von Organisationen, Interventionen, Wirtschaft, Gesellschaft, Netzwerken, Ökonomie, ohne differenzierte Theorie des Wandels, des Lernens oder des Umgangs mit Paradoxien und Dilemmata? Wir haben versucht, uns diesen Anforderungen zu stellen und dabei die für uns stimmige Tiefendimension und gleichzeitig auch einen praxisorientierten Zugang zu finden.

Abb. 1: Entwicklung des Komplementäransatzes und Unternehmensentwicklung

Wir wollen mit diesem Buch in erster Linie Beraterkollegen ansprechen, die sowohl von der Fach- als auch von der Prozeßseite kommen, weil wir meinen, daß mit dem komplementären Ansatz ein qualitativer Sprung in der Beratung und ein deutlicher Mehrwert für den Kunden möglich wird. Es ist uns durchaus bewußt, daß wir damit in vielerlei Hinsicht ein schwieriges Terrain betreten, das uns herausfordert und uns damit von verschiedenen Seiten angreifbar macht. Die Systemiker könnten uns »Nestbeschmutzung« vorwerfen, die Fach- bzw. Businessberater achselzuckend denken: »Die sind nach wie vor Systemiker«. Eine dritte Gruppe könnte sagen: »Was ist daran neu, das machen wir ja immer schon so«. Aber unsere feste Überzeugung ist: Wer nicht bereit ist, »anstößig« zu sein, der liefert auch keine Anstöße.

Der Aufbau des Buches ist so gestaltet, daß wir erst den für uns gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Kontext für Beratung betrachten, dann aus der Analyse der jeweiligen Grenzen der Fach- und Prozeßberatung heraus, die sowohl konzeptionell, vor allem aber auch aus dem Erfahrungswissen begründet sind, das Konzept der Komplementärberatung beschreiben. Den Fallbeschreibungen räumen wir breiten Raum ein, weil wir davon ausgehen, daß auch für diese Darstellung die Differenz von Wissen und Können gilt: So wie man Skifahren nicht aus Büchern lernen kann, so kann man sich Beratungskompetenz nur durch Praxiserfahrung aneignen. Dabei stellen Fallschilderungen eine gewisse Brücke zur Praxis her; das gilt insbesondere auch für nicht erfolgreiche Projekte. Wir haben dabei versucht, in den Projektbeschreibungen das Spezifische des Komplementäransatzes herauszuarbeiten, beschreiben auch in einigen Fällen ein »Tool«, das möglichst konkrete Einblicke in die praktische Umsetzung bieten soll. Dabei wird aber hoffentlich deutlich, daß es auch hier keine Gebrauchsanweisungen geben kann, sondern daß die Haltung der Berater der Schlüssel zu einer professionellen Komplementärberatung ist. Ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet. »Welche Haltung, welche Werte machen den komplementären Ansatz aus?«

Wir haben bewußt in Kauf genommen, daß es Redundanzen gibt, weil wir die einzelnen Beiträge in sich argumentativ abrunden wollen, ohne zu viele Querverweise einzubauen. Die Autoren haben unterschiedliche Schreibstile; wir haben diese absichtlich nicht vereinheitlicht. Die Fälle – ob bzw. inwieweit wir darüber berichten können – haben wir entweder mit dem Kunden abgestimmt oder stark verfremdet. Alle Autoren sind Netzwerkpartner oder Kunden und haben mehr oder weniger intensiv an dem erwähnten Entwicklungsprozeß mitgewirkt.

Wir setzen in diesem Buch Basiskenntnisse der Fachberatung und des systemischen Ansatzes, d. h. des Paradigmas aber auch der Interventionsebenen wie Architekturen, Designs und Techniken voraus. Wir haben diese Grundlagen an anderer Stelle ausführlich dargelegt. (vgl. Königswieser/Exner 2002; Königswieser/Hillebrand 2005a); deshalb beziehen wir uns immer wieder darauf, beschreiben sie aber nicht nochmals.

Es war nicht einfach, für diesen Ansatz, der neue Denkfiguren und vor allem ein anderes Selbstverständnis der Berater impliziert, eine Sprache zu finden, die vielgebrauchte Wortschablonen meidet und die den Kern der beabsichtigten Botschaften und unserer starken Erlebnisbilder trifft.

Es bleibt uns noch, unseren Mitforschern und -entwicklern, unseren Feedback-Gebern, von denen nur einige namentlich genannt sind, allen Netzwerk-partnern und Kollegen, die mit uns in den Beratungsprojekten gearbeitet und gerungen haben, und unseren Kunden, die uns und unserem Ansatz vertrauen, aufrichtigen Dank zu sagen. Wir bedanken uns speziell bei unserem Begleiter Gerhard Jochum, der in vielfältigen Rollen in dem aufregenden Entwicklungsprozeß mitgewirkt und das Buch intensiv mitgestaltet hat. Darüber hinaus danken wir unserem wissenschaftlichen Kollegen und Lektor Johann Ortner, der mit uns das Manuskript kritisch besprochen und konstruktive Beiträge geliefert hat. Ohne die unermüdliche Schreib- und Korrekturarbeit unseres Offices und ohne die Unterstützung durch Barbara Niehues als Projekt- und Officemanagerin wäre die Arbeit an diesem Buch parallel zu unserer Beratungsarbeit nicht so glatt gelaufen. Danke.

Wir möchten noch darauf hinweisen, daß wir für alle personenbezogenen Bezeichnungen wie »Berater« etc. der einfacheren Schreibweise halber nicht die genderneutrale Form »BeraterInnen« gewählt haben, aber selbstverständlich immer weibliche und männliche Personen gleichberechtigt meinen. Aus Gründen des Platzsparens haben wir für »Königswieser & Network« die Kurzform »K&N« gewählt.

1 Dr. Wulf Walter, Bereichsleiter Marketing Services, Swiss Re Germany AG, Deutschland;

Lars Längauer, Leiter Strategie-Entwicklung/Controlling, Migros-Genossenschafts-Bund, Schweiz;

Dr. Wolfgang Kappl, Senior Manager Corporate and International Finance, Oberbank AG, Österreich;

Dr. Wolfgang Schwaiger, Leitung Kommunikation und Investor Relations, VA Technologie AG, Österreich;

Dr. Sebastian Schuh, Leiter der Strategischen Personalentwicklung von Generali Vienna Group und Generali Akademie, Österreich.

1. Umfeld und Kontext von Beratung

Immer wenn es um anspruchsvolle Beratung, – z. B. um Change- und Entwicklungsprojekte – geht, wird dabei implizit mit Annahmen über aktuelle und zukünftige Einflußfaktoren, über die mögliche und erwünschte Zukunft und über die angestrebten konkreten Ziele der Entwicklung operiert. Wir wollen hier die Hypothesen über die mit solchen Annahmen verbundenen aktuellen und künftigen Anforderungsfelder für Beratung und

Management darstellen, denn diese bestimmen unsere Vorstellungen über Interventionsrichtungen mit.

1.1 Mit welchen gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen sind wir Berater konfrontiert? Unser Bild von der Zukunft

Roswita Königswieser, Ebrû Sonuç, Jürgen Gebhardt, Martin Hillebrand

Wir wissen: Die Zukunft kann man nicht vorhersagen, man kann sie nur mitgestalten. Angesagte Zukunftstrends sind meist Hochrechnung der Gegenwart oder Wünsche und Träume (vgl. Wippermann 1993/1995; Bosshart/Frick 2003). Aber auch wenn es nur wenig Gewißheit gibt, so gibt es doch Wahrscheinlichkeiten, mit denen innerhalb einer Bandbreite möglicher Szenarien zu rechnen ist, denn »die Zukunft hat schon begonnen«, wie der Zukunftsforscher Robert Jungk feststellte. Nicht nur Zukunftsforscher, sondern auch Unternehmen beschäftigen sich mit möglichen Entwicklungsszenarien, weil sie auf die Zukunft vorbereitet sein, ihre Frühwarnsysteme verbessern und Innovationsimpulse setzen wollen.

Die Differenz zwischen aktueller Situation und Zukunftsszenario stellt den Kontext für unsere beraterische Arbeit dar. Wir gehen davon aus, daß es vielschichtige Wechselwirkungen zwischen unternehmerischen und gesellschaftlichen Phänomenen gibt. Der gesellschaftliche Wandel spiegelt sich im organisationalen und persönlichen Wandel wider. Solange man nur die Dynamik des einzelnen Unternehmens im Blick hat, versteht man nicht, inwiefern sie mit den Umfeldbedingungen direkt oder indirekt zusammenhängt.

Abb. 2: Spiegelungsphänomene auf verschiedenen Ebenen

Versucht man, die Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen, dann verschieben sich auch die Bedeutungen im Naheliegenden. Für dieses Verstehen helfen uns interdisziplinäre Arbeitsweisen, Reflexion und Studien. Bewußt oder unbewußt gehen auch wir Berater immer von Annahmen über zukunftsfähige Entwicklungen in der Gesellschaft und von Organisationen aus: Annahmen, die unsere Zielvorstellungen und Interventionsstrategien steuern. Hier wollen wir diese Hypothesen als Denken in Möglichkeitsräumen skizzieren.

Bei allem, was uns heute beschäftigt und beunruhigt – dem tiefgreifenden Wandel der Bevölkerungsstruktur, der Liberalisierung der Wirtschaft, der Globalisierung, der Deregulierung des Arbeitsmarktes, dem Umbau des Sozialstaates, der steigenden Virtualisierung von Prozessen, dem globalen Informationsaustausch, dem technologischem Fortschritt, der verstärkten Dezentralisierung und der um sich greifenden Krise der Hierarchie, der veränderten Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten (»Prosumer«), zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, – geht es um Teilaspekte einer allgemeinen Entwicklung, deren Opfer und Täter wir gleichzeitig sind.

Setzt man sich mit den Ergebnissen der Zukunftsforschungen und mit »Megatrends« auseinander, so wird klar, daß – neben der Ressourcenknappheit von Wasser und Energie – der demographischen Entwicklung eine zentrale Bedeutung zugesprochen werden muß. In den kommenden fünfzig Jahren wird (nicht nur) die europäische Gesellschaft durch Geburtenrückgang, Überalterung und außereuropäische Zuwanderer tiefgreifend verändert. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen jung und alt kehrt sich um. Diese Entwicklung wird alle anderen Probleme in den Schatten stellen (vgl. Miegel 2002).

Die in der Vergangenheit angehäuften Lasten der Gegenwart können nicht mehr in die Zukunft verschoben werden, – der Generationenvertrag funktioniert schon jetzt kaum noch. Weil die nationalen Haushalte zu explodieren drohen, wird allerorten die soziale Umverteilung »zurückgefahren«. Dadurch steigt in großen Teilen der Gesellschaft die Angst vor der Zukunft, und der Schwund der Kaufkraft, vor allem bei der steigenden Zahl der Alten, führt zur Dämpfung des Konsums. Weil mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Erhöhung des Pensionsalters) und der Reduktion von Sozialleistungen ein Ausweg aus der Krise der Sozialsysteme gesucht wird, werden sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung, ihre Erwartungen, Interessen, ihr Arbeits- und Konsumverhalten, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse erheblich verändern.

Die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gültigen Maximen wirtschaftlichen Handelns werden nicht mehr eherner Maßstab für Erfolg und Mißerfolg sein können. Damals gab es eine einzigartige Periode stürmischen Wirtschaftswachstums, als selbstverständlich erlebte Sozialleistungen, Arbeit für alle und die Überzeugung, ein Recht auf staatliche Versorgung und Sicherheit zu haben. Von einer »Gesellschaft des Mehr« entwickeln wir uns zu einer »Gesellschaft des Weniger« (vgl. Beck 2005). Dabei wird es nicht mehr selbstverständlich um Expansion, um Wachstum, um Vollbeschäftigung gehen können, sondern um Rückbau und Umbau (vgl. brand eins 2004).

Wir können daher davon ausgehen, daß das »Recht auf Arbeit«, auf »Lebensanstellung« der Vergangenheit angehören wird, daß es in vielen Unternehmen nur kleine Stammbelegschaften geben wird und eine große Schar nomadisierender Beschäftigter, die als »Lebensunternehmer« (vgl. Lutz 1997) mehr Freiheit, aber auch weniger Sicherheit haben werden. Der Begriff »Arbeit« muß neu definiert werden. Statt langfristiger Bindungen wird es eher kurzfristige Beziehungen geben, die in projektartige Arbeitskontakte eingebettet sind. Der Variabilität der Belegschaftsgröße werden vielfältige Formen der Beschäftigung entsprechen. Es wird verstärkt Zeitarbeitskräfte, Subunternehmen, Netzwerkstrukturen usw. geben (vgl. Königswieser 2006).

Natürlich wird es die Art von Loyalität gegenüber Organisationen, wie wir sie von der älteren Mitarbeitergeneration kennen, in dieser Form nicht mehr geben. An ihre Stelle tritt »Employability«. Unternehmen können keine Sicherheit des Arbeitsplatzes mehr garantieren, sie können nur unterstützend dafür sorgen, daß die »Marktfähigkeit« ihrer Mitarbeiter erhalten bzw. gefördert wird.

Die relative Flüchtigkeit von Beziehungen wird im privaten wie im beruflichen Bereich der Normalfall sein. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1990) beschreiben in ihrem Buch »Das ganz normale Chaos der Liebe«, wie sehr sich der Trend von lebenslangen Ehen hin zu Konzepten wie »Lebensabschnittspartnern« und damit auch »Patchworkfamilien« verstärkt; dasselbe Muster ist auch im Berufskontext zu beobachten. Der »Finanzguru« George Soros hat diese Veränderung in dem Satz zusammengefaßt: »An die Stelle von zwischenmenschlichen Beziehungen treten Transaktionen« (vgl. Soros 1998). Der amerikanische Nobelpreisträger und Ökonom Paul A. Samuelson (2005) sagt ganz grundsätzlich: »Der Markt hat kein Herz«.

Die temporären Beziehungen in und zwischen netzwerkartigen, virtuellen, flexiblen Organisationen benötigen einen bestimmten Typ Mensch. Akteure, die cool »mit jedem oft virtuell und unsentimental in Projekten arbeiten können«, die nicht darunter leiden, daß sie nichts mehr »ganz machen« können, und die in der Lage sein müssen, rasch von einem Problem und Gegenstand zum anderen überzugehen (vgl. Sennett 2005).

Diese Veränderungen haben aber einen hohen Preis. Gezwungenermaßen wird es insgesamt mehr »Oberflächlichkeit« geben. Neben positiven Folgen dieser Entwicklungen –wie weniger Abhängigkeiten, Autonomie, Ausbau des eigenen Fähigkeitspotentials, der Möglichkeit, zwischen vielen Optionen auswählen zu können (vgl. Gross 1994) – gibt es auch problematische Folgen. Geografische, geistige und emotionale Heimaten, Zugehörigkeiten gehen damit verloren. Das Wort »Heimat« steht dafür, daß sich Dinge grundsätzlich wenig ändern, daß etwas immer erkennbar, vertraut bleibt, das Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit gibt. Das hat gravierende Folgen für die persönliche Identität. Weil Identitäten nicht mehr über eine konsistente »Lebensgeschichte« und klar gegliederte Zugehörigkeiten aufgebaut werden können, werden sie sich verstärkt auf situative Befindlichkeiten und temporäre Sozialisation stützen. Bei Identität geht es nicht bloß um die Frage, wer man ist, sondern vielmehr darum, mit wem man welche Beziehungen hat und wo man sich zugehörig fühlt. Auch die Verkürzung der Zeitperspektive – nach dem Motto: »Was ich in fünf Jahren mache, wird sich herausstellen« – trägt zusätzlich zur Desorientierung der Menschen bei. Das alles setzt eine große Flexibilität und Veränderungsbereitschaft voraus, die aber die sicherheitsspendenden mentalen und emotionalen »Anker« lockert. Hand in Hand damit wird die Sehnsucht nach Sinn und Orientierung verstärkt spürbar sein.

Entschleunigung, Auszeiten, Nachdenken wären als Gegenmaßnahme gegen den steigenden Zeit- und Selbstinterpretationsdruck sinnvoll, sie passen aber nur schlecht zu der Dynamik der Lebensbedingungen. Die zentrale Kompetenz wird daher generell die Fähigkeit sein müssen, mit Unsicherheit und Veränderung so umzugehen, daß Menschen nicht unter Streß, Burnout und Depressionen leiden oder Zuflucht zu Drogen oder reduktionistischen «Heilslehren« suchen.

Hinter der Liberalisierung, der Deregulierung und Individualisierung steht daher die Frage: »Wieviel Freiheit kann sich der Mensch zumuten – wieviel Unsicherheit kann er ertragen?« Damit hängt schließlich auch die Frage zusammen, welche Rolle der »Staat« bzw. die über politische Meinungsbildung aufgebauten regulativen Strukturen demokratischer Gesellschaften spielen. Eine »souveräne« Gesamtintegration gesellschaftlicher Prozesse wird wegen der Zersplit terung in unterschiedlichste Interessenslagen, der notwendigen Dezentralisierung von Steuerungsmacht und wegen der autonomen Selbstorganisationslogiken der Teilsysteme bei gleichzeitiger Interdependenz von Problemzusammenhängen immer schwieriger. Der Wirkungsbereich des Unbeeinflußbaren wird immer größer.

Die postmoderne Gesellschaft ist durch zwei Strömungen gekennzeichnet, die Gebert (2005) als Werte der »offenen« bzw. der »geschlossenen« Gesellschaft beschreibt. Die Werte der »offenen« Gesellschaft sind unter anderem Individualität, Autonomie, Pluralität, Innovation Flexibilität und Wandel. Da diese aber Menschen vielfach überfordern, sehnen sie sich nach Werten der »geschlossenen« Gesellschaft wie Harmonie, Sicherheit und Ordnung, Sinn, Eindeutigkeit, Kontinuität und Stabilität.

Entwicklungen verlaufen aber eben nicht einfach geradlinig, etwa nur in Richtung der offenen oder in Richtung der geschlossenen Gesellschaft. Wir haben es fast immer mit Bewegungen und Gegenbewegungen zu tun: Jeder Trend hat Gegentrends.

Wir gehen bei unserer beraterischen Arbeit von der Annahme aus, daß drei Konsequenzen der Entwicklung in besonderem Maße für die Bewältigung der Zukunft zu berücksichtigen sind:

Die der modernen Gesellschaft inhärenten Desintegrationsprozesse erfordern dringend Integration. Auch die Integration der Prozeß- und Fachberatung ist ein Symptom dafür.

Autonomie- und Flexibilisierungsanforderungen rufen die Sehnsucht nach Heimat, Zugehörigkeit, Orientierung, Entlastung und Beständigkeit wach und verlangen entsprechende Lösungen.

Komplexität erzeugt das Bedürfnis nach Durchschaubarkeit, Priorisierung, nach Besinnung auf das Wesentliche, auf Einfachheit.

Unsere zentrale Herausforderung wird es sein, mit den steigenden fachlichen und sozialen Anforderungen, Unsicherheiten und Widersprüchen umgehen zu lernen.

Nur durch Lernen, gemeinsame Reflexion bzw. Metakommunikation und durch das intelligente Zusammentragen und Verknüpfen von verschiedenartigem Wissen wird die nötige Problemlösungskapazität entwickelt werden können (vgl. Ortner 2004b). Das gilt insbesondere auch für die Integration des Fach- und Prozeßwissens.

1.2 Mit welchen Herausforderungen kämpft die Wirtschaft?

Dirk Baecker

In diesem Interview mit dem Soziologen Dirk Baecker, der seine Position nicht auf die Perspektive der Ökonomie reduzieren läßt, sondern eine Metaperspektive einnimmt, stellen wir hier jene Kernfragen, die uns Berater und unsere Kunden besonders interessieren.

Mit welchen Herausforderungen kämpft die Wirtschaft?

Welche »Wirtschaft« meinen Sie, das weltweit operierende Wirtschaftssystem der Märkte und Zahlungsströme, oder die kleinen, mittleren und großen Unternehmen, die sich selbst mit dieser Wirtschaft verwechseln? Die Weltwirtschaft der Weltgesellschaft kämpft mit mindestens zwei Herausforderungen, mit der Herausforderung der Internalisierung externer ökologischer Effekte und mit der Herausforderung der Sicherstellung der Partizipation der Gesamtbevölkerung an der Wirtschaft. Gesellschaftlich betrachtet handelt es sich bei diesen beiden Herausforderungen um ein und dieselbe, denn die Kurzsichtigkeit der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf dieser Erde kann nur korrigiert werden, wenn es gelingt, die Gesamtbevölkerung in die Sicherstellung der nötigen Aufmerksamkeit für die Art und Weise, wie wir leben, einzubinden.

Welche Logiken begründen das heutige Paradigma? Wie wird es sich verändern?

In gewisser Weise stecken wir immer noch in den ideologischen Kämpfen der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, in denen es darum ging, die Autonomie der Wirtschaft in der Gesellschaft überhaupt erst einmal durchzusetzen. Diesen Kämpfen verdanken wir eine Wirtschaftswissenschaft, die sich mit ihren Nachweisen möglicher Gleichgewichtszustände auf den Märkten der Gesellschaft zum Wächter dieser Autonomie stilisiert hat, und eine Sozialwissenschaft, die darauf hinweist, daß auch eine autonome Wirtschaft eine Wirtschaft innerhalb der Gesellschaft und nicht außerhalb von ihr ist. Das herrschende Paradigma heute ist jedoch nicht die Industriegesellschaft, sondern die Konsumgesellschaft. Sie ist nicht auf der primären Ebene der Technik, sondern nur auf der primären Ebene der Kommunikation zu verstehen. Sie nimmt die Gesellschaft insgesamt in Anspruch.

Welches ist der Einfluß der Globalisierung?

Der Einfluß der Globalisierung besteht meines Erachtens vor allem darin, daß das Mitlaufen eines Welthorizonts sowohl der eigenen Möglichkeiten als auch der Gefährdung der eigenen Möglichkeiten durch Wettbewerber nicht mehr zu leugnen ist. Je nachdem, ob man den Akzent auf die Möglichkeiten oder auf deren Gefährdung legt, wird man zum Befürworter oder zum Gegner der Globalisierung. Aber beides, die Befürwortung wie die Ablehnung, findet in der Weltgesellschaft statt. Man kann sich nicht aus ihr verabschieden. In meinen Augen ist der Einfluß der Globalisierung dort am sichtbarsten, wo neuartige Arbitragemöglichkeiten zwischen trägen und beweglichen Produktionsfaktoren genutzt werden, um etwa schnelles Kapital mit langsamer Arbeit zu kombinieren. Unternehmen sind zur Bewältigung ihrer eigenen Ängste vor dem Wandel ihrer Märkte darauf angewiesen, Anhaltspunkte für Inelastizitäten und Inflexibilitäten zu finden, die es ihnen erlauben, anspruchsvollere, d. h. langfristigere Planungen in Angriff zu nehmen. Gegenwärtig bedeutet Globalisierung vor allem, daß solche Inelastizitäten und Inflexibilitäten dramatisch abnehmen und daß sich schon deswegen zum einen die Kurzfristigkeit der Planungshorizonte verstärkt, zum anderen jedoch nach neuen Formen der Projektplanung gesucht wird – etwa mit Hilfe sogenannter »Product Life-cycle Management«-Software – die es erlauben, den Markt mit Entscheidungsdynamiken zu überformen, die so attraktiv sind, daß viele Akteure mitmachen und dergestalt den Markt mit temporären Trägheiten versorgen. Man weiß, daß jeder Lebenszyklus zu einem Ende kommt, kann jedoch auch verschiedene Phasen unterscheiden, die es trotzdem erlauben, erst einmal eine Reihe von Gelegenheiten auszubeuten.

Welchen Stellenwert hat die Weltwirtschaft für die Zukunft?

Man wird sich darauf einstellen müssen, daß die Logik wirtschaftlicher Opportunitäten nach den beiden Möglichkeiten der Teilnahme an der Weltwirtschaft und des versuchten Schutzes vor ihr strukturiert ist. Das ist ja nun auch wahrhaftig nichts Neues, sondern kennzeichnet die Wirtschaft der Stammesgesellschaften ebenso wie die der Hochkultur. Es wird immer Unternehmen geben, die die Möglichkeiten des Fernhandels, wie man früher sagte, nutzen, um sich mit Einkünften zu versorgen, die den Rahmen der eigenen Herkunftsgesellschaft sprengen. Und es wird immer Unternehmen geben, die die Politik dafür einzuspannen versuchen, daß sie eher für die lokalen Märkte und aus den lokalen Märkten arbeiten. Die Politik hat die Wahl zwischen der Abhängigkeit von den einen und der Abhängigkeit von den anderen. Immerhin, solange sie die Wahl hat, sind beide Abhängigkeiten keine vollständigen.

Wie kam es zu den paradoxen Shareholder-Value-Dynamiken? Welche Auswirkungen könnte dies in der Zukunft haben?

Meines Erachtens liegt ein wichtiger Grund für den Erfolg des ShareholderValue-Modells darin, daß es die Führungsspitzen von Unternehmen in dem Moment wieder mit Einflußchancen versorgte, als sie diese an die Abteilungen dezentralisierter Unternehmensorganisationen zu verlieren drohten. Der Shareholder-Value ist die Maßregel, mit der ein Vorstand ein Unternehmen disziplinieren kann, das gerade eben entdeckt hat, daß es dort draußen auf den Märkten Kunden gibt. Damit der Blick der Mitarbeiter und des Managements jedoch nicht nur nach draußen, sondern auch noch nach oben geht, inszeniert der Vorstand einen Shareholder-Value, der umso weniger negierbar ist, als er ebenfalls auf einen Markt verweist, nämlich den Markt der Kapitalaufnahme des Unternehmens. Der Streit darüber, mit welchen kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen man die eigenen Kunden so gewinnen kann, daß der ShareholderValue eher steigt als sinkt, strukturiert seither den inneren Konflikt des Unternehmens. Je illusionsloser man zur Kenntnis nimmt, daß es sich bei diesem Konflikt um das Zentrum immer wieder neu zu beobachtender Dynamiken auf allen Märkten des Unternehmens handelt, um so größer ist die Chance, daß die Paradoxien des Shareholder-Values das Unternehmen mit fruchtbaren strukturellen Spannungen, mit Lebendigkeit, versorgen.

Was bedeutet das für die Arbeitsformen der Zukunft?

Vicki Smith, Soziologin am Department of Sociology an der University of California in Davis, California, hat in ihrem Buch »Crossing the Great Divide« (2002) die Paradoxie herausgearbeitet, daß wachsende Unsicherheit des Arbeitsplatzes die Bereitschaft zur Einbindung in anspruchsvolle Leistungssysteme nicht senkt, sondern sogar eher steigert. Diese Paradoxie kann man nur scheinbar mit wachsender Arbeitslosigkeit erklären, denn diese ist für höher qualifizierte Arbeitskräfte, die sich im Gegenteil auf Anbietermärkten knapper Arbeitskraft bewegen, nicht maßgeblich. Wie also kommt es, daß mit der Unsicherheit der Arbeitsplätze die Bereitschaft zur Bindung, das Commitment, eher steigt als sinkt? A ntwort: Qualifizierte Arbeitskräfte steigern ihre individuelle Kompetenz und Qualifikation, indem sie sich auf anspruchsvolle Arbeitsplätze einlassen, und erhöhen damit ihre Chancen auf Weiterbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt. Je anspruchsvoller die Arbeiten sind, auf die sie sich einlassen, desto knapper wird der Faktor Arbeit, den die Unternehmen in diesem Bereich nachfragen. Welche individuelle und kollektive Strategie wäre besser geeignet, die Unternehmen von jener Arbeitskraft abhängig zu machen, die von ihnen abhängig ist? – Um diese Arbeit braucht man sich demnach keine Sorgen zu machen. Um so mehr Sorgen muß man sich jedoch nach wie vor um diejenige Arbeitskraft machen, die keine Chancen hat, am freien Spiel der Preise teilzunehmen. Sie kann sich selbst nicht verknappen und wird daher auch nicht zum Gegenstand wirtschaftlicher Sorge und Vorsorge.

Welche Konsequenzen für Führung ergeben sich daraus?

Es liegt auf der Hand, daß eine Diskussion über die Rolle von Führung überf ällig ist. Netzwerkorganisationen beruhen auf Formen der lateralen und horizontalen Verknüpfung, die nur ausnahmsweise, nämlich zur Bewältigung temporärer Problemstellungen, vertikal hierarchisiert werden. Führung, könnte man sagen, flaggt die Zentren aus, an die man sich wenden kann, wenn solche Problemstellungen auftauchen. Aber das Problem entsteht ja erst daraus, daß diese Führung dazu tendiert, an ihren Einflußmöglichkeiten auch dann noch festzuhalten, wenn das jeweilige Problem (Kapitalzugang, Personaleinstellung, Einführung einer neuen Technologie, Verhandlungen mit Kooperationspartnern) längst bewältigt ist. Wir diskutieren deswegen heute über eine Führung, die ebenso eingreifen wie loslassen kann, eine Führung, die um die Vorteile der Selbstorganisation weiß und für diese den erforderlichen Rahmen setzt. Und wir beobachten, daß das Führungspersonal, mit dem man es heute zu tun hat, sein Verhalten, seine Vorstellungskraft und seine Urteilsfähigkeit erst ganz allmählich auf die Bedingungen der Netzwerkorganisation einstellt. Man muß der Führung helfen. Ich teile die Befürchtung von Henry Mintzberg und anderen, daß die mittlerweile klassische Managementausbildung an Fakultäten der Betriebswirtschaftslehre und an Business Schools in hohem Maße geeignet ist, Typen von Persönlichkeiten auszubilden, die zwar in der Lage sind, jeden Unternehmenserfolg sich selbst und jeden Unternehmensmißerfolg anderen zuzurechnen, die aber kaum in der Lage sind, eine unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, die diesen Namen verdient. Nicht auszudenken, wohin man käme, wenn die Zurechnungsvirtuosität, die hier bereits an den Tag gelegt wird, für die Verrechnung unternehmerischer, kultureller und gesellschaftlicher Kontexte genützt würde. Im Moment sind die Kapitalmärkte der Weltwirtschaft die einzige Instanz, die sicherstellen kann, daß Führungskräfte unter den Druck einer Exit Option gesetzt werden, d. h. nicht nur eingestellt, sondern auch entlassen werden können. Niemand weiß, ob das reicht, denn offensichtlich ist es dem Top-Management gelungen, das Spiel zu den eigenen Gunsten zu wenden, indem sie sich zur Zurechnungsadresse für Investorenerwartungen machen. Um so unmöglicher wird die Herausforderung an Führungskräfte, die diesen Namen verdienen. Sie müssen den Systemzusammenhang, auf den sie angewiesen sind, auf seine eigenen, meist sogar funktionsnotwendigen Blindheiten durchschauen und behutsam gegensteuern, mindestens jedoch reflektieren. Die einzige Ressource, auf die sie sich dabei stützen können, ist ihr persönlicher Witz und Verstand. Und der Rest der Gesellschaft hätte die noble Aufgabe, dem Führungspersonal der Wirtschaft klarzumachen, daß es auch dafür, für diesen Witz und Verstand, ein Publikum gibt.

1.3 Welche zentralen Widersprüche, Dilemmata beschäftigen die Unternehmensspitze?

Roswita Königswieser, Ebrû Sonuç, Jürgen Gebhardt, Martin Hillebrand

In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit der spezifischen Situation der Unternehmensführung, die in besonderer Weise, über die unmittelbar unternehmensrelevanten Aspekte hinaus, Themen der Wirtschaft und der Gesellschaft widerspiegelt. Wir gehen davon aus, daß das Verstehen dieser oft widersprüchlichen Erwartungen besonders für den komplementären Ansatz von großer Wichtigkeit ist, weil die Akteure meist unsere Auftraggeber sind und die Beratung, zusätzlich zur höheren Befähigung der beratenen Systeme, auch – direkt oder indirekt – zu erweiterten Handlungsoptionen um Umgang mit den hier beschriebenen Widersprüchen führen sollte.

In der öffentlichen Meinung gehört die Rolle des Vorstandes bzw. Geschäftsführers eines Unternehmens zu den erstrebenswertesten Positionen in unserer Gesellschaft und erweckt folglich auch Neid: »Er genießt Ansehen, hat Macht und Geld.« Schaut man allerdings hinter die Kulissen und beschäftigt man sich mit den Befindlichkeiten der Unternehmensführer, so erfährt das oberflächliche »Hochglanzbild« eine dramatische Veränderung. Wir stoßen mehr und mehr auf Widersprüche, Ängste, Unzufriedenheit, Hilflosigkeit, Überforderung, Schuldgefühle und nicht erfüllbare Wünsche. Goffman (2003) unterscheidet das »Impressionsmanagement« auf der »Vorderbühne«, auf der über die offensichtlichen Themen gesprochen wird, und im Gegensatz dazu das Agieren auf der »Hinterbühne«, wo der »Selbstentwurf stets in Gefahr ist«, weil es hier um Unsicher heiten, blinde Flecken und um Dilemmata geht.

Abb. 3: Themen der Vorderbühne und der Hinterbühne

»Vorderbühne« – offensichtliche Themen

Zeitdruck

Fragt man CEOs selbst, was ihre größten Probleme sind (vgl. Porter 2005), dann kommt am häufigsten spontan die Antwort: »der Kampf mit der Zeit«. Die Kalender sind mit Terminen interner Sitzungen, externer Treffen mit wichtigen Kunden, Analysten, Wirtschaftsjournalisten, Politikern und Aufsichtsratssitzungen »vollgepflastert«. Die Zeitprobleme vergrößern sich noch durch den Anspruch, rund um die Uhr erreichbar, mit allen vernetzt zu sein und quer über alle Kontinente reisen zu müssen (vgl. Glotz 1999).

Wenn die Prioritäten von »außen« bestimmt werden, entsteht vielfach das Gefühl, ein Getriebener zu sein und »die Bodenhaftung zum Alltagsgeschäft zu verlieren«, oder, radikaler formuliert: die Angst vor Kontrollverlust. Das ist auch das Ergebnis einer Umfrage, die das Managementzentrums St. Gallen im Frühjahr 2003 mit 526 Führungskräften im deutschsprachigen Raum durchführte (vgl. Buchhorn 2004). Zeitprobleme sind aber meist ein »Deckthema«, hinter dem sich eine nicht artikulierte Überforderung verbirgt.

Informationsmangel

Die Führungsspitze muß nicht über jedes Detail der Vorgänge in ihrem Unternehmen und dessen Umwelt informiert sein, denn dann würde sie in einer Flut von Informationen ersticken. Unter Bedingungen einer immer komplexeren und dynamischeren Unternehmensumwelt reichen jedoch Selektionsregulative, Standards, Vereinbarungen oft nicht aus, um das Neue, das Unvorhersehbare zu beurteilen und in ein differenziertes Bild zu integrieren, um Entscheidungen daraus ableiten zu können. Beurteilungs-, Interpretations- und Entscheidungskompetenzen müssen nach unten abgegeben werden. Damit kommen aber Positionsk ämpfe und Beziehungsdynamiken ins Spiel, und vorselektierte Informationen bzw. nicht gelieferte Informationen müssen – naturgemäß lückenhaft – interpretiert werden. Mitarbeiter haben gelernt, Fehler zu vert uschen, und schlechte Nachrichten werden nicht gerne überbracht. Hinter dem Gefühl von Top-Managern, unter Informationsmangel zu leiden, steckt neben der grundsätzlichen Problematik, das Relevante zu selektieren, zum Teil auch ein Vertrauensproblem, denn das Gefühl des Mangels drückt aus, daß man der Vorselektion nicht wirklich traut (vgl. Sprenger 2002).

Mangel an direktem Einfluß.

CEOs geben an, daß ihr direkter Einfluß wesentlich geringer sei, als von ihnen erwartet wurde und von ihrem Umfeld angenommen wird. In erster Linie geht es eben an der Spitze um indirekte Steuerung, um strategische Orientierung, z. B. um das Schaffen von Rahmenbedingungen durch die Auswahl von Schlüsselpersonen, durch die Entwicklung von Management-Steuerungsinstrumenten, durch die Vorgabe von Entscheidungskriterien oder durch das Initiieren von Unternehmensentwicklungsprozessen. Es geht nicht darum, durch direkte Anweisungen in dafür ohnehin viel zu komplexe, vielschichtige Prozesse direkt einzugreifen. Das wissen alle Akteure. Dennoch bleibt der Wunsch, direkten Einfluß auszuüben, unverändert stark bestehen.

Die Wahrnehmung des begrenzten Einflusses steht im krassen Widerspruch zu der Allmachtsphantasie des Umfeldes: »Der Vorstand hat gesagt …«; »Der Vorstand will …«. Eine bedeutender Konzernchef Deutschlands sagte uns im Gespräch: »Alle glauben, ich wäre so einflußreich, aber ich selbst fühle mich nur wie der Heizer einer Lokomotive, die auf Schienen fährt.« Ein anderer, nachdenklicher Top-Manager drückt die von D. Claessens (1974) beschriebene klassische Dissonanz zwischen Rolle und Macht mit folgendem Kommentar aus: »Mit einer höheren Position wurde zwar mein Machtzuwachs größer, aber das war nicht mit einem größeren Freiheitszuwachs verbunden. Ich habe nach meinem Funktionswechsel auch schmerzlich erlebt, daß diese Macht ausschließlich an meine Rolle gebunden war, nicht an meine Person, wie ich es mir naiverweise gewünscht hatte.«

Die Gründe für die beschränkte Einflußmöglichkeit liegen auch im System der Aufsichts- bzw. Verwaltungsratsgremien. Diese überprüfen die Leistungen der Vorstände, treffen letztlich die wichtigen Grundsatzentscheidungen – und das, obwohl sie nicht immer die Interessen des Unternehmens vertreten, häufig auch mit ihrer Verantwortung nicht professionell umgehen (vgl. Königswieser/ Artho/Gebhardt 2004).

»Hinterbühne« – Dilemmata

Die drei eben angeführten Themen – Zeitdruck, Informationsmangel, zu wenig direkter Einfluß – werden als Hauptgründe für den Druck genannt, den Mitglieder der Führungsspitze verspüren. Auf der Hinterbühne geht es aber noch um weitere Themen, um Dilemmata, die man selbst nicht so klar formulieren kann.

Dilemmata sind sehr schwierige Situationen, »Zwickmühlen«, in denen keine eindeutige Lösung gefunden werden kann. Was bzw. wie auch immer man entscheidet, es ist – auch – falsch. Bateson (2001) spricht von Double-bind-Situationen. Auf drei der für uns wichtigsten Dilemmata wollen wir hier eingehen.

Ansprüche des Kapitalmarktes – Ansprüche der Mitarbeiter

Die Globalisierung der Finanzmärkte und die zunehmende Deregulierung haben eine unglaubliche Dynamik freigesetzt und damit Unternehmen selbst zu Spekulationsobjekten gemacht. Das Vertrauen in die Führung kapitalmarktorientierter Unternehmen wurde schwer erschüttert, weil Top-Manager durch ihre exorbitant hohen Gehälter und nicht zuletzt durch die Aktienoptionsprogramme unglaubwürdig erscheinen, was ihnen den Vorwurf einbrachte, »Söldner« zu sein, die nur an kurzfristigen Wertsteigerungen und nicht mehr an der grundsätzlichen Zukunftsfähigkeit des Unternehmens interessiert sind.

Innerhalb von Unternehmen gibt es auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Interessenlagen. Während die Unternehmensspitze im engen Austausch mit den Kapitalmärkten steht, sind das Mittelmanagement und der einzelne Mitarbeiter eher an Werten interessiert, welche die eigene Person (z. B. sinnvolle und befriedigende Arbeit, ein sicherer Arbeitsplatz, soziale Annerkennung, usw.) und das Unternehmen betreffen und mittel- und langfristigen Ziele nicht außer acht lassen (vgl. Weber/Hirsch/Müller 2004).

Auch Familienunternehmen mit ihrem über Generationen entwickelten Wertegerüst haben mehr Distanz zu kurzfristiger Orientierung. Ihre Führungskräfte denken über lange Zeithorizonte hinweg eher an das Erhalten des Lebenswerkes des Gründers und haften meist mit dem eigenen Vermögen. Wenn das Interesse des Unternehmens im Mittelpunkt steht und dies nicht durch Streit in der Eigentümerfamilie oder dadurch beschädigt wird, daß die Rücksicht auf die Familie wichtiger wird als das Unternehmen selbst, dann gehören Familienunternehmen sicher eher zu den auf nachhaltige Zielerreichung angelegten Unternehmen (vgl. Wimmer u. a. 1996). Top-Manager sind im Gegensatz dazu stärker versucht, einseitig und kurzfristig zu agieren.