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In ihrem Roman erzählt Lola Lafon von Frauen, die zu Komplizinnen werden, verstrickt in einem dichten Geflecht aus Schweigen, Scham und Schuld. Eine neue literarische Perspektive auf #MeToo.
Auf den Bühnen des Pariser Varieté werden Schweiß und Schmerz gekonnt weggepudert. Cléo, seit Jahren Tänzerin in den Champs-Élysées, ist in der Maske besonders sorgfältig. Denn kaum eine hat mehr zu verbergen.
Bereits mit 13 träumte sie davon, Tänzerin zu werden, um der stumpfen Mittelmäßigkeit ihrer Familie zu entfliehen. Hoffnungsvoll und mit der ungebrochenen Ambition junger Menschen gerät Cléo in ein Netzwerk der Ausbeutung und Manipulation, in dem die Grenzen zwischen Täter und Opfer geschickt maskiert werden. Kann, wer anderen Leid zufügt, selbst Opfer sein?
Ein ergreifender Roman, der zeigt, wie leicht man zur Komplizin werden kann und wie viel Mut es braucht, sich von dieser Rolle zu befreien.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Auf den Bühnen des Pariser Varieté werden Schweiß und Schmerz gekonnt weggepudert. Cléo, seit Jahren Tänzerin in den Champs-Élysées, ist in der Maske besonders sorgfältig. Denn kaum eine hat mehr zu verbergen.Bereits mit 13 träumte sie davon, Tänzerin zu werden, um der stumpfen Mittelmäßigkeit ihrer Familie zu entfliehen. Hoffnungsvoll und mit der ungebrochenen Ambition junger Menschen gerät Cléo in ein Netzwerk der Ausbeutung und Manipulation, in dem die Grenzen zwischen Täter und Opfer geschickt maskiert werden. Kann, wer anderen Leid zufügt, selbst Opfer sein?Ein ergreifender Roman, der zeigt, wie leicht man zur Komplizin werden kann und wie viel Mut es braucht, sich von dieser Rolle zu befreien.
Lola Lafon
Komplizinnen
Roman
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Hanser Berlin
Die Vergebung, wenn es sie denn gibt, darf und kann nur das Nichtvergebbare, das Unsühnbare vergeben — und also das Un-Mögliche tun.
Jacques Derrida, Vergeben
Und lern vergessen, kannst du nicht verzeihn.
Alfred de Musset, Die Nacht im Oktober
Ces raisons-là qui font que nos raisons sont vaines.
Ces choses au fond de nous qui nous font veiller tard.
Jean-Jacques Goldman, Veiller tard
Sie war durch so viele Kulissen gegangen, durch Scheinwelten, ein Leben aus Nacht und Neuanfang. Sie kannte sich aus mit dem Neuerfinden. Kannte die Backstages so vieler Theater, den Holzgeruch, die verwinkelten Flure, in denen sich die Tänzerinnen drängelten, die rosa, abgenutzten Wände der fensterlosen Garderoben mit verblichenem Linoleumboden, die Spiegel umrahmt von Glühbirnen, die Schminktische, auf denen eine Ankleiderin ihr Kostüm bereitlegte, an einer Stecknadel ein Zettel: CLÉO.
Cremeweißer String, beige Strumpfhose für unter die Netzstrümpfe, BH mit Perlen- und Paillettenbesatz, die elfenbeinfarbenen Galahandschuhe und die hochhackigen Sandalen mit korallenroter Gummiverstärkung über dem Rist.
Cléo kam vor den anderen, sie mochte diese Zeit, in der sonst noch niemand da war. Diese gleichmäßige Stille, kaum gestört von den Stimmen der Techniker, die die Bühnenbeleuchtung testeten. Sie zog ihre Alltagskleider aus, schlüpfte in eine Trainingshose, dann saß sie mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und machte sich an den Prozess, in dessen Verlauf sie schließlich verschwand.
Eine halbe Stunde, um sich zu verflüchtigen: Sie gab die Grundierung Porcelaine 0.1 in die hohle Hand, tupfte den Latexschwamm hinein, das Beige neutralisierte das Rosa ihrer Lippen, das zittrige Blasslila der Lider, die Sommersprossen oben auf den Wangen, die Äderchen auf den Handgelenken, die Narbe von ihrer Blinddarmoperation, das Muttermal auf dem Schenkel, einen Leberfleck auf der linken Brust. Für Rücken und Po musste sie eine andere Tänzerin um Hilfe bitten.
Der Maskenbildner kam um 18 Uhr, um die Taille ein Täschchen, aus dem die Pinsel ragten. Einer puderte er die Stirn nach, einer anderen tupfte er Concealer auf einen Pickel, zog einen verwackelten Lidstrich nach; sein ruhiger, nach Menthol riechender Atem umfächelte die Wangen, das leise Quietschen seines Kaugummis wirkte wie ein Schlaflied, die Mädchen dämmerten im Lackdunst. Um 19 Uhr war Cléos Nachtgesicht das aller anderen Tänzerinnen: eine Namenlose mit falschen Wimpern aus der Requisite, pink leuchtendes Rouge auf den Wangen, die Augen von der schwarzen Umrandung brutal vergrößert, Perlglanz vom Wangenknochen bis unter den Augenbrauenbogen.
Cléo hatte hinter zig samtroten Vorhängen gestanden, hinter Gassenschals, Molton-Backdrops, Hunderte Male hatte sie das immer gleiche Ritual vollführt, diese Tests, sie glichen einer Beschwörungsformel: den Kopf nach rechts und links kippen, um den Sitz der Frisur zu prüfen, auf der Stelle hüpfen, damit die Oberschenkelmuskulatur nicht auskühlte, bis der Regisseur das Zeichen gab, den Countdown, 4—3—2—1. Die Ankleiderinnen tackerten, kürzten, sicherten ein letztes Mal den rituellen Kopfschmuck mit den Federn, diese täuschende Flaumkrone, deren Haltebügel die Schulterblätter einschnürten wie ein eiserner Rucksack.
Cléo und die anderen mochten es, sich die Zuschauer hinter dem Vorhang vorzustellen, deuteten jedes kleine Niesen oder Räuspern: Sieh an, heute waren sie aber nervös.
Kaum aus dem Bus gestiegen — sie kamen aus Dijon, Rodez, vom Flughafen —, nahmen sie ihre Plätze ein, schnatternd wie Achtklässler, geblendet von all den Spiegelungen, auf den Kristallgläsern auf ihrem Tisch, dem kupfernen Champagnereimer, sie waren entzückt über die weiße Rose in einer hauchdünnen Vase, über die Beflissenheit der Kellner, die roten Polsterbänke und die weißen Tischdecken, den von Adern durchzogenen Marmor der Haupttreppe. Die Männer glätteten ihre von der Reise zerknitterten Hosen, die Frauen waren für den Anlass extra beim Friseur gewesen. Die Tickets im Portemonnaie ein Geburtstags-, ein Hochzeitsgeschenk, lange im Voraus gekauft: So eine Summe gab man nur einmal im Leben aus. Dunkel erfüllte den Saal, sie empfingen es mit beglücktem Getuschel, gleich lösten sich darin Sorgen, Schulden und Einsamkeiten in nichts auf. Abend für Abend, wenn Cléo die Bühne betrat, fuhr ihr die staubige Wärme der Scheinwerfer bis ins Kreuz.
Da kamen die Tänzerinnen, wie von einem Faden zusammengehalten in Anmut und Grazie, die Arme zur Seite geöffnet, leicht gerundet, zogen sie den Horizont neu, eine diamantenbesetzte Linie von identischem Lacklächeln, ordentlich aufgereihte Beine, ein Überfluss von Rüschen und Pailletten.
Nach der Vorstellung begegneten die Zuschauer ihnen, ohne sie wiederzuerkennen, blässliche, müde Mädchen, die Haare vom Lack ganz stumpf.
Cléo hatte gelesen: Dass ein spiegelnder Porzellanteller Babys so faszinierte, kam von unserer Urangst vor dem Verdursten.
Sie hatte gelesen: Die Erfindung der Paillette war Zufall. Sie ging auf Henry Rushman zurück, einen Angestellten in einer Fabrik in New Jersey, die ihre Plastikabfälle für die Entsorgung schredderte. Jahrelang stand Rushman im Dröhnen der Maschinen, bis er an diesem einen Tag im Jahr 1934, bevor er die Werkstatt verließ, im Kessel unter den Abfällen ein winziges Steinchen türkis blinken sah. Schwach beleuchtet vom Schein der untergehenden Sonne bestäubten den Schredder Silber und Gold, glänzender Glimmer. Der Abrieb spiegelte das Licht.
Pailletten entstanden aus etwas vermeintlich Unwesentlichem; sie waren von der Schönheit des Ungewissen. Manchmal wurde Cléo vorgehalten, das sei doch alles unecht, wie die Strasskettchen auf ihrer Brust, der rubinrote Glasschmuck um ihre Taille.
Alles war falsch, genau da lag ja die verstörende Schönheit dieser Welt, erwiderte sie. Die Mädchen taten, als wären sie nackt, sie übertrieben auf der Bühne neunzig Minuten lang ihren Frohsinn, ça c’est Paris, dabei kamen sie aus der Ukraine, aus Spanien oder aus Clermont-Ferrand. Der Schweiß machte den Satin ihrer Korsette stumpf, die gelblichen Spuren hielten hartnäckig jeder Wäsche stand, die Strings wurden mit Desinfektionsspray besprüht, die Netzstrumpfhosen gruben sich in die weiche Haut an den Schenkeln und hinterließen dort ein kariertes Muster: Von Weitem sah man nichts davon.
Ein Beleuchter hatte Cléo beigebracht, dass Pannesamt im Scheinwerferlicht schillert; echte Seide dagegen stumpft ab. Das Licht ließ Risse verschwinden, Knitterfalten, Spuren von Cellulite, Narben, es glättete Unebenheiten und kaschierte das Knallrot einer billigen Haarfärbung. Die Korsette mit ihrem Paillettenbesatz hinterließen auf Cléos Flanken zinnoberrote Flecken, dunkelrote Schnitte unter den Achseln: Plastikfetzen, die Kanten vom Schweiß geschärft. Von Weitem sah man nichts davon.
Tanzen heißt lernen, auseinanderzuhalten. Die Füße Dolche, die Handgelenke Bänder. Kraft und Anmut. Lächeln trotz andauerndem Schmerz, lächeln trotz des Schwindels, eine Nebenwirkung der Entzündungshemmer.
Mit zwölf Jahren, fünf Monaten und einer Woche schlagen Cléos Eltern ihr vor, ins Ballett zu gehen, weil es ihnen Sorgen macht, dass sie mittwoch- und samstagnachmittags nur vor dem Fernseher herumhängt. In den Privatstunden bei Madame Nicolle wimmelt es von den Schülerinnen des privaten Collège de la Providence, lauter Domitilles, Eugénies, Béatrices. In der Umkleide die Erzählungen von einem Wochenende in der Normandie, von Urlaub auf den Balearen, Sprachferien in den USA. Mamas Auto, Papas Auto. Die Putzfrau, die Tagesmutter. Das Abo in der Comédie Française und im Théâtre des Champs-Élysées.
Wohlweislich verschweigt Cléo ihre Adresse — das Fontenay der Hochhauskomplexe —, den Ford Escort ihrer Eltern und den Beruf ihrer Mutter, Verkäuferin in einer Damenboutique für Übergrößen.
Die Mütter der Domitilles sehen regelmäßig bei der Stunde zu, auf den Holzstühlen hinten im Saal, die Knöchel übergeschlagen, aber nicht die Knie. Alle umdrängen Madame Nicolle, schmeicheln ihr, fordern mehr Härte gegenüber ihrer Tochter. Greifbar ihr wildes Verlangen, sie an die Tore einer Zukunft zu tragen, die ihnen selbst versagt geblieben ist, dieses Verlangen, glasklare, schwerelose, elfengleiche Töchter zu besitzen, deren Körper gesäubert sind von ihrem eigenen Makel.
Das ganze Jahr über bemüht sich Cléo, die Sprache des klassischen Balletts zu sprechen, so wie man versucht, sich den Klang einer Fremdsprache anzutrainieren, ohne ihn je auf der Zunge zu spüren. Sie versucht, sich die Geziertheit und den hochnäsigen Blick derer anzueignen, die Madame Nicolle ihnen als Vorbild für ihre »Klasse« nennt: Prinzessinnen, Herzoginnen. Ohne Erfolg.
Zum Jahresende legt Madame Nicolle ihr nahe, etwas anderes zu machen: vielleicht Kunstturnen? Cléo fehlt es nicht an Energie. Die Grazie dagegen …
Cléo kehrt in die Eintönigkeit der Samstage vor dem Fernseher zurück. Und genau da sieht sie sie zum ersten Mal: diese Tänzer in funkelnden Wellen wie rauschende Bäche. Sie eröffnen den Vorspann zur Lieblingssendung ihrer Mutter: Champs-Élysées mit Showmaster Michel Drucker.
Als der sie entlässt: Ein kräftiger Applaus für unsere Tänzerinnen, bevor sie von der Bühne gehen, tritt Cléo ganz nah an den Bildschirm heran, um jede ihrer Pirouetten zu entziffern, diese wiederkehrenden Freudenkreisel mit einem finalen Sprung, so ganz anders als die Affektiertheit der Domitilles bei Madame Nicolle: Das hier, das will sie machen.
Gleich bei ihrer ersten Jazz-Stunde im Jugendzentrum, der MJC Fontenay, ist sie erschüttert, mitgerissen, überwältigt. Stan redet von Hüften. Becken. Unterleib. Solarplexus. Kraft. Klatscht Beifall, wenn seinen Schülerinnen eine Schrittfolge gelingt, in seiner Jogginghose und einem schwarzen Top, das den Ansatz der Brustmuskeln erahnen lässt.
Nach zehn Minuten ist die große Glasscheibe der Sporthalle beschlagen, die Wände sind mit winzigen Schweißtröpfchen besetzt, die Lautsprecherboxen überfordert von den Bässen im Remix von Grandmaster Flash oder Irene Cara.
Die Gestalt, die Cléo nach einem Durchgang Chassés, Step-Touchs, Turns aus dem Spiegel entgegenblickt, hat nichts von einer Herzogin, mit ihrem verschwitzten Pony in der Stirn und den krebsroten Wangen. Die Gestalt, die Cléo aus dem Spiegel entgegenblickt, hat sich innerhalb weniger Wochen die kecke Haltung einer Aufreißerin zugelegt, weit entfernt von der steifen Attitüde der hochnäsigen jungen Mädchen, die bei Madame Nicolle Bauch und Po einziehen.
Abends in ihrem Zimmer, den Walkman fest auf den Ohren, zerlegt Cléo die Zeit in Achtersegmente. Liegestütze an der Wand, UND-5-UND-6-UND-7-UND-8. Sit-up-Serien, UND-1-UND-2-UND-3-UND-4. Balance halten, UND-7-UND-8.
Stans Training ist eine Mischung aus Ritual, Party und Konzentration. AGAIN, verlangt Stan, nochmal von vorne, Seitenstechen, Atemnot; Schmerz bedeutet, es geht bergauf, immer höher. Und oben dann: nur noch das Strahlen der Erlösung.
Cléo bemüht sich, genau nachzuahmen, was Stan vormacht, eine Bewegung zu bezwingen, sie sich in die Fasern eines Muskels einzuschreiben, den Cléo sich vorstellt wie ein Steak mit korallenroten Blutstreifen. Das ist es: Der Körper bockt und fleht, sie muss sich gegen ihn durchsetzen.
Cléo kann Dinge, die dreizehnjährige Mädchen sonst nicht können. Gehorchen, ohne zu hinterfragen. Stan nach dem Training Beifall klatschen, selbst wenn er sie eineinhalb Stunden lang zur Schnecke gemacht hat. Ihm dafür sogar danken. Nochmal von vorne anfangen. Abends nicht einschlafen können, so sehr zittern die Beine unter der Decke. Beim Aufwachen die Steifheit der brutal gedehnten Waden spüren. Nach dem Duschen die verkrampften Oberschenkelmuskeln mit Kampfer einreiben. Trotz der belustigten Blicke ihrer Eltern, wenn sie morgens humpelt wie eine alte Frau. Nicht ein Tag ohne neuen Schmerz, hier oder da.
Stan zählt auf, worauf Cléo ab sofort verzichten muss: Skifahren, Rollerskaten, Joggen und darauf, im Eiltempo Treppen hinunterzurennen. Abends, wenn ihre Mutter nach dem Essen in der Küche bügelt, erzählt Cléo von ihrem militärischen Alltag, der sie so begeistert: Sie hat zwei Durchläufe fehlerfrei geschafft, und Stan hat sie befördert, vom letzten Platz auf den vorletzten. Stan hat sich geärgert, dass er ihr die Übung noch einmal erklären musste, aber er hat auch gesagt, sollte sie Profi werden …
Die Zauberworte: Sollte sie Profi werden. Seit sie gefallen sind, vergeht Cléo vor Ungeduld. Scharrt bei Tisch mit dem Fuß. Trommelt mit dem Zeigefinger. Wiederholt ihre Fragen, wenn nicht sofort jemand antwortet. Es kommt ihr vor, als ginge die Gegenwart nicht mehr weiter, als wäre sie erstarrt zwischen den ihr so vertrauten Kulissen: der Schulhof, die Mensa, die kleine Bude, wo die Schüler sich nach dem Unterricht einen Crêpe holen, am Wochenende das Schwimmbad von Fontenay, der Einkauf bei Leclerc mit ihrer Mutter, Abwaschen für fünf Franc, samstags auf dem Sofa vor Michel Drucker und den Champs-Élysées, den Teller auf dem Schoß. Und sonntagabends, zwischen Trauer und Erleichterung, dass der Montag dem Familiengefängnis ein Ende setzt, Haare waschen, föhnen, die Eltern genervt Zahlen nennen hören: Die Nebenkosten im Haus sind schon wieder gestiegen.
Sie ist in der achten Klasse. Noch ein Jahr im Collège, dann noch drei im Lycée, die sie über sich wird ergehen lassen müssen wie eine nicht enden wollende Rede. Die Zeit schleicht dahin, der stotternde Motor springt nur an, wenn er in Stans Training Schweiß und Fingerschnippen getankt bekommt. Das Tanzen schickt ihr Leben ins Wartezimmer, nichts anderes wird es geben, schreibt Cléo mit Pathos in ihr Tagebuch.
Doch nein. Sie kann nicht warten: Sie nimmt die erste Abzweigung, die sich ihr bietet. Cathy öffnet einen Spalt zur Zukunft, und Cléo zwängt sich hinein, einen Fuß in der Tür, die Nase im Wind, bereit, alle Spielfelder zu überspringen. Natürlich ist Cathy eine Illusion in Cléos Leben.
Sie heißt Catherine, lässt sich aber lieber Cathy nennen.
Sie hat Stans Training von der Eingangshalle aus mit verfolgt, wie die Mütter, die ihre Töchter abholen, aber Cathy kommt nicht ihrer Tochter wegen. Sie geht auf Cléo zu, die zerzaust und verschwitzt zur Umkleide geht: Hallo, ob sie wohl einen Augenblick Zeit für sie hat? Noch nie hat jemand Cléo gefragt, ob sie einen Augenblick Zeit für ihn hat. Ihre helle, gerade geschnittene Jeans über kamelbraunen Stiefeln, kamelbraun auch der lange Mantel, abschattierte Apricottöne von den Lippen bis an die Wangenknochen, breite Silberringe an den Ohren und das Lächeln einer Stewardess. Sie heißt doch Cléo? Ob sie den Film Cleo — Mittwoch zwischen 5 und 7 gesehen hat? Nein? Den muss sie unbedingt anschauen!
Cathy repräsentiert eine Stiftung. Hat Cléo eine Ahnung, was das bedeutet?
(Lächeln.) Also, die Fondation Galatée unterstützt junge Mädchen mit besonderen Begabungen, mit einzigartigen Projekten. Cléo denkt an ihren vom Schweiß ganz stumpfen Pony, ihre feuerroten Wangen, hüpft von einem Fuß auf den anderen.
Was für ein Glück, so lange Haare zu haben — Cathy zeigt auf ihren Pferdeschwanz —, sie kann ja nie abwarten, bis ihre so lang werden, sie hat einfach keine Geduld. (Schmollmund. Seufzen. Eine mahagonibraune Strähne um den Zeigefinger gewickelt.)
Um es kurz zu machen: Die Stiftung vergibt Stipendien. In allen Bereichen.
Stan schließt die Tür zum Tanzraum ab: Good work, Cléo.
Das kann man wohl sagen! Cathy hat Cléo unter den anderen sofort entdeckt. Genau das ist nämlich ihr Job: ihren guten Riecher zu beweisen. (Zeigefinger auf der Nasenspitze.)
Cathy ist schöner als eine Mutter und faszinierender als eine Freundin, sie singt eine Melodie, die die Erwachsenen nicht verstehen, spricht fließend eine Jugendsprache voller Zauberworte: Zukunft, entdeckt, einzigartig.
Die hübsche Anne Keller, Gegenspielerin von Sophie Marceau in La Boum 2? Cathy persönlich hat sie in einem Tanztraining entdeckt und den Test ablegen lassen. Den Rest hat die Stiftung erledigt. Bingo. Veronika, auf dem Cover der neuesten 20 Ans? Genau das Gleiche. Cathy persönlich hat sie David Hamilton vorgestellt. Und dabei hat sie längst nicht so ein Charisma wie Cléo.
Cléo zuckt enttäuscht mit den Schultern: Sie will ja weder Model noch Schauspielerin werden.
Aber natürlich nicht! Cathy nennt diese beiden, aber ihr fallen auch Tänzerinnen ein, Sportlerinnen und künftige Modedesignerinnen … Sie müssen eben etwas Herausragendes wollen!
Cléo will doch nicht etwa noch jahrelang in dieser MJC herumhängen? Man muss schon etwas Ehrgeiz an den Tag legen, wenn man Talent hat. Wenn Cléo interessiert ist, könnte Cathy vielleicht ein andermal mehr erzählen? Wie wäre es mit Samstag? Wieder hier?
ENTDECKUNG, ENTDECKT, ENTDECKEN, schwaches Verb: etwas oder jemand bemerken, gewahren, unter anderen ausfindig machen.
Cléo stürzt an den Abendessenstisch, sie muss unbedingt etwas erzählen, ihre Mutter winkt ab, gleich, nach den Nachrichten.
In Paris demonstrieren die Prostituierten von der Rue Saint-Denis gegen ihre so gut wie beschlossene Vertreibung. In Nantes drohen katholische Traditionalisten mit Brandstiftung an einem Kino, in dem der neueste Film von Godard läuft, Maria und Joseph; sie werden von einer Gruppe Punks empfangen, bewaffnet mit Wassereimern, Stinkbomben und Knallern.
Die Schauspielerin Myriem Roussel gerät im Interview in Verzückung über ihr Glück: Jean-Luc Godard hat sie während eines Tanztrainings entdeckt.
Sie muss bis zum Wetter warten, um ihren Eltern erzählen zu können, dass: eine sehr schicke Frau / eine Stiftung / ein Stipendium / unglaubliche Schulen / viel lernen / meine Zukunft.
Suchen die hässliche Entlein?, kichert ihr kleiner Bruder. Nein, kontert sie von oben herab: Ausnahmeprojekte.
Allein schon diese Worte auszusprechen, hebt sie aus der Enge des Esszimmers heraus, aus diesem Leben mit seinen abgegriffenen Rändern. Weit weg von ihren Eltern, die müde auf dem Sofa hängen, mit krummen Rücken, weil sie sich allem beugen; schrecklich, wie langsam sie leben, gefangen in der Endlosschleife ihrer eigenen Bitterkeit wie in einem Labyrinth, ihr Gemecker über den Wetterbericht, der ja doch immer danebenliegt, den Schlussverkauf, der nie einer ist. Ihre Eltern scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, kleine Betrügereien aufzudecken, sie jubeln über jeden nachgewiesenen Rechenfehler auf einem Kassenbon.
Wenn die Bewerbung um das Stipendium etwas kostet, kommt es nicht in Frage. Man hört doch überall von solchen Bauernfängereien. Vielen Dank auch.
Die hochgebogenen Wimpern ihrer Mutter, kurze Stäbchen, steif von Wimperntusche, die abends auf ihre Wangen krümelt; Cathys lange Wimpern dagegen, mit ihrem grazilen Schwung.
Erleichtert zieht Cléo sich in ihr Zimmer zurück, verlässt die familiäre Banalität wie ein Viertel, in dem sie sich jahrelang verlaufen hat.
Alles ist bereit für sie, für ihre Geschichte. Eine rauschende Zukunft winkt ihr entgegen.
Am Samstag ist Cathy zur Stelle, wie versprochen, hinter der Glasscheibe winkt sie ihr unauffällig zu. Lust auf eine Cola im Imbiss?
Sie hört ihr beim Reden zu wie die Menschen in den amerikanischen Serien, mit ernsthaftem Nicken. O welch ein Glück, so gefragt zu werden. Erzähl mir von dir. Ob Cléo schon weiß, in welches Lycée sie gehen wird? Geht sie gern ins Kino? Es ist wichtig für eine Künstlerin, sich auch für andere Kunstformen zu interessieren. Cineastik? Malerei? Was liest sie am liebsten? Hat sie Freundinnen, oder vertraut sie sich lieber ihrer Mutter an? Keine beste Freundin? Das wundert Cathy kaum: sobald du nicht bist wie die anderen … Die meisten Jugendlichen sind derart konventionell, sie hat sich im Collège auch einsam gefühlt. Aber diesen Preis muss man vielleicht bezahlen, wenn man für etwas Besseres bestimmt ist.
Apropos: Hat Cléo eine Liste der Lehrgänge geschrieben, an denen sie gerne teilnehmen würde?
O welch eine Freude, die Namen dieser Orte auszusprechen, von denen sie in der neuesten Ausgabe von Danser gelesen hat: der Sommerkurs in Montpellier und der in der internationalen Ballettschule Rosella-Hightower, in Cannes.
Ja, gut, aber Cléo hat doch wohl keine Angst vor dem Ausland? Sie muss nach Größerem Ausschau halten! Ehrgeiz beeindruckt die Juroren immer: Wie wäre es, wenn sie sich diesen Sommer für die High School of Performing Arts in New York bewirbt? Die Schule von Fame! Den Film hat Cléo natürlich gesehen?
Na ja, also … im Fernsehen ist er noch nicht gelaufen, und ins Kino geht sie nur selten, außerdem ist Englisch nicht gerade ihre Stärke … Und überhaupt würden ihre Eltern sie nie ganz allein so weit weg lassen. Nicht bevor sie fünfzehn ist. Oder sogar sechzehn.
Perfekt! Dann soll sie einfach in ihre Bewerbung aufnehmen, dass sie einen Englischkurs braucht. Und nur keine Sorge: Mit Eltern kennt Cathy sich aus. (Zwinkern.) Sie wird mit ihnen reden. Es ist ganz normal, dass Eltern sich sorgen, aber wer seine Kinder liebt, stellt sich ihren Träumen nicht in den Weg. Sie hat selbst einen Sohn. Er ist fast genauso alt wie Cléo und wohnt bei seiner Großmutter in Südfrankreich. Eine komplizierte Geschichte, er fehlt ihr sehr … Cathy verstummt. (Verschwommener Blick. Stille.) Cathys Sohn, wie beruhigend: Bei einer rührend traurigen Mutter wusste man doch, woran man war.
Und … ist diese Bewerbung für Galatée eigentlich schwer zu erstellen?
Cathy zerzaust ihr den Pony: Keine Sorge, sie kümmert sich um alles.
Cléo muss aber geduldig sein. Und sich nicht gleich vor Begeisterung überschlagen, die Stiftung hat schon ihre Kriterien … Cathy ist nicht in der Jury, sie übergibt nur die Bewerbungen. Aber sie lässt es sich nicht nehmen, die eine oder andere besonders zu empfehlen. (Lächeln. Zwinkern.)
Am Abend schlägt Cléo im Wörterbuch nach: Cineastik / Stichhaltigkeit / Kriterien.
Wenn sie die Augen schließt, erscheint ihr die Fondation Galatée in Gestalt einer historischen Stadtvilla, eine Art cremefarbene Klinik in einem Garten hinter hohen schmiedeeisernen Toren, auf den Fluren Frauen mit geglätteten Haaren, die Arme beladen mit Bewerbungen, die sie Männern in Anzug und Krawatte vorlegen: lauter einzigartige Projekte.
In Cléos schillerndem Tagtraum ziehen Sorgen auf: New York? Da könnte sie nicht einmal nach dem Weg fragen. Und wo sollte sie überhaupt schlafen? Sie kennt da keinen einzigen Menschen. Hätte noch weniger Freundinnen als hier. Sie nickt ein, beschämt über sich selbst, sie ist genauso feige wie ihre Eltern, auch ihr fehlt es an Ehrgeiz, Cathy ist nur noch nicht dahintergekommen.
Am Freitagabend klingelt das Telefon. Ihre Mutter flötet. Sehr erfreut! Cléo hat uns schon viel von Ihnen erzählt. Wunderbar! Was für eine gute Nachricht! Wir danken Ihnen!
Ihre Mutter, um Jahre jünger, vor Freude hüpfend zu Cléo: Du hast die erste Auswahlrunde überstanden!
Cathy will sie treffen, am Mittwoch um 17 Uhr, diesen ersten Erfolg müssen sie unbedingt feiern.
In der Brasserie am Rathausplatz war Cléo noch nie: die bordeauxroten Polsterbänke, die dunklen Westen der Kellner, die leise Hintergrundmusik, es kommt Cléo vor, als würde Cathy jeden Raum, den sie betritt, selbst hier in Fontenay, in eine elegante Bühne verwandeln. Cléo kann sich einfach nicht vorstellen, wie Cathy die Spülmaschine ausräumt oder sich über einen verrutschten Teppich aufregt wie ihre Mutter.
Sie fährt sie nach Hause. Bei abgeschaltetem Motor lehnt sie sich mit dem Rücken an die Scheibe, lass dich mal ansehen.
(Stirn in Falten. Kauen auf der Unterlippe.) Kleider sind wirklich wichtig. Vor allem für Künstlerinnen. Sie sagen der Welt, wer du bist. Und Cléo ist schließlich kein Kind mehr. Sie trägt mehr Kreativität in sich, als ihre Aufmachung vermuten lässt. Einen hübschen Körper darf man nicht verstecken.
Cléo, den Sicherheitsgurt zwischen den Brüsten, die Schamesröte auf den Wangen, wird sich bewusst, wie banal sie angezogen ist: der marineblaue Acrylpullover, eine beliebige Leinenhose, die ihre Mutter ausgesucht hat, ihre Fliegerjacke aus Kunstleder, ein Weihnachtsgeschenk von ihrer Großmutter, während manche Achtklässlerinnen eine echte Chevignon tragen.
Sollen sie am Samstagnachmittag nicht einfach mal zu zweit in Paris shoppen gehen? Sie könnten sich Zeit lassen und einen Stil für sie finden. Das wäre doch supernett! Rollentausch, jetzt ist es Cathy, die die Hände faltet, verschmitzt, flehend, pubertär.
Welches Viertel magst du am liebsten?, fragt Cathy. Cléo erwähnt Créteil Soleil und auch das Forum des Halles, da war sie einmal mit ihrer Cousine.
Cléos Paris ist die Stadt der Weihnachtseinkäufe und des Sommerschlussverkaufs. Die Stadt der Klassenausflüge, Beaubourg in der Sechsten und die Tour Saint-Jacques in der Siebten. Eine ferne Stadt, aber mit der RER A erreichbar, vier Stationen vom feuchten, windigen Bahnsteig von Fontenay aus. Die Züge mit Graffiti auf den Sitzen und dem Gestank nach feuchten Zigaretten, Männer auf dem Platz gegenüber von ihr und ihrer Mutter, die Beine gespreizt, ihre Blicke, die von der einen zur anderen schweifen und in letzter Zeit auf Cléo hängen bleiben. Eine grölende Stadt, auf dem Heimweg sind sie gerädert, erschlagen von den überdrehten Stimmen der Moderatoren auf NRJ, dem Hitsender, der im Forum in allen Läden läuft, es schwindelt ihnen vom komplizierten Zickzack der Passanten, die einander ausweichen, ohne den Schritt zu verlangsamen.
Ihre Mutter gibt ihr fünfzig Franc: Es kommt nicht in Frage, sich aushalten zu lassen. Diese Cathy soll nur nicht denken, Cléo wäre eine Bettlerin.
Cathys Paris ahnt nichts von den Menschenmassen im Forum des Halles, es besteht nur aus verwinkelten Gassen mit breiten Fußwegen, in denen schläfrige Verkäufer über stapelweise vergoldete Antiquitäten wachen, ganz bezaubert von Cathy und ihrem Vogelzirpen, als sie ihren »Hang zum Luxus, eine Vorliebe für das Fantastische« eingesteht.
Cathy, schwarzes Kleid und kurze Lederjacke, fasst sie am Arm, um gemeinsam über die Straße zu gehen, eine Freundin wie im Film. In einer amerikanischen Buchhandlung kauft sie ihr, ohne nach dem Preis zu fragen, eine dicke Zeitschrift, Dancing. In einer Parfümerie auf den Champs-Élysées sprechen Verkäuferinnen in königsblauem Kostüm Cléo mit Mademoiselle an; sie wird mit duftenden Nebeln besprüht, Rose und Bergamotte, zuckersüßer Regen und zarter Moschus, Cléo wird beschnuppert, Feen beugen sich über sie, die emsig ihrer Sillage nachspüren. Cathy in der Umkleide der Galeries Lafayette: Hier, diesen Rock soll sie doch mal anprobieren, mit so einem hübschen Körper kann sie sich alles erlauben. Cléo und Cathy an der Kasse, Cléo ist verlegen, ihre Mutter hat ihr fünfzig Franc gegeben und …
Cathy schneidet ihr das Wort ab: Sie wird doch wohl in ihrem Alter nicht über Geld reden! Cléo versucht sich alles zu merken, die Bouquinisten an den Seineufern, die altrosa Schnauze des Welpen in der Tierhandlung am Quai de la Mégisserie, den Geruch nach Stroh und Urin, die in unsichtbaren Strumpfhosen steckenden Beine der Verkäuferinnen, ihre Füße in engen Lackpumps, die Kraft der lilabraunen Seine und die trübe Nebelwand rund um einen steinernen Horizont: die Brücken.
Im Teesalon bestellt Cathy für sie. Die Kellnerin hält sie für ihre Tochter; Cléo kann es nicht fassen, dass eine Unbekannte an ihr eine Spur von Cathys Lächeln gefunden hat.
Liebe: Ähnelt das dieser Ausgelassenheit, diesem großen Etwas aus Schwindel und Lächeln, diesem Wunsch, die Gegenwart anzuhalten?
Am nächsten Mittwoch, Cathy in der Sporthalle im Gespräch mit einer Blonden mit Dutt, himmelblauem Trikot und dazu passendem Röckchen. Cathy winkt ihr zerstreut zu, ohne zu unterbrechen. Als Cléo aus der Umkleide kommt, ist sie weg.
Verdrängt ersetzt vergessen.
Doch am Samstag kommt sie wieder, in einer Wolke aus Moschus und Gewürzen, ihr mahagonibraunes Haar bis in die Spitzen glatt geföhnt. Klatscht Cléo Beifall, als sie aus dem Training kommt: Neben ihr verblassen alle anderen! Sind ihre Eltern in letzter Zeit mal vorbeigekommen, um ihr beim Tanzen zuzusehen? Nein? Wie schade!
Cathy darf eigentlich nicht darüber reden, aber sie ist einem der Stiftungsmitglieder begegnet, der sich gewundert hat, dass ihre Bewerbung noch nicht fertig ist. Das ist ein hervorragendes Zeichen. Es fehlt ja nur noch ein hübsches Foto. Cathy wird das übernehmen, es ist ja nur eine Formalität. Und sie muss wirklich einmal ihre Eltern treffen, wo sich jetzt alles konkretisiert. Am Samstag?
Ihre Mutter kommt mit Verspätung bei der MJC an. Sie hört nicht mehr, wie Stan ruft: YES, CLÉO!
Lauter Beifall von Cathy, als Cléo durch die Glastür tritt, und von ihrer Mutter ein Kuss mit spitzen Lippen auf die glühenden Wangen über dem schweißnassen Trikot.
Die Mutter unterzieht Cathy einer Reihe pedantischer Fragen: Sollte ihre Tochter wirklich das Stipendium erhalten und nach Cannes oder sonst wohin fahren: Wer würde sie dann begleiten? Nicht, dass sie immer gleich das Schlimmste denkt, aber … Muss sie ein eigenes Bankkonto auf Cléos Namen eröffnen, trotz ihres Alters? Und die Kosten für die Fotos werden sie übrigens nicht vorschießen.
Die Stimme ihrer Mutter stichelt unablässig weiter wie eine quietschende Nähmaschine.
Cathy, seidenweich zu ihrer Mutter: Sie müssen ja sehr stolz auf Ihre Tochter sein.
Ihre Mutter stutzt, dann nickt sie langsam, als hätte man ihr ein kompliziertes Bilderrätsel vorgelegt.
Sag mal, ganz schön schick, deine Cathy; der Mantel ist kein Ramsch, meint ihre Mutter im Auto. Die zahlen gut bei dieser Stiftung.
Die Kundinnen der Boutique für »bequeme, klassische Qualitätsbekleidung« werden immer weniger; ihre Mutter klagt dauernd, dass die Frauen heutzutage nur noch auf Jeans schwören, die ihnen einen platten Hintern machen, oder auf Jogginghosen, die so gut sitzen wie Schlafanzüge. Cathy ist jedenfalls klassisch und tadellos.
Ihre Eltern unterschreiben die Einverständniserklärung: Hiermit gestatte ich meiner Tochter Cléo die Teilnahme an einem Fototermin zur Fertigstellung der Bewerbung für das Stipendium von Galatée.
Sosehr Cléo auch protestiert, »voll peinlich«, dieses Misstrauen, fügt ihr Vater handschriftlich hinzu: Angesichts von Cléos Alter müssen ihm die Fotos vorgelegt werden, bevor sie in Umlauf kommen.
So viel Neues in Cléos Leben. Gerüche: die in Cathys Auto, die süßlichen Vanilleblumen ihres Parfüms, Opium, vermischt mit dem erdigen Duft des Leders. Texturen: die karminrote Seide eines Tuchs, das Cathy sich vom Hals knotet und ihr reicht, als Cléo einmal ihren Schal vergessen hat.
Ihr neuer Jeansrock, das Tuch und der türkise Mohairpulli sichern Cléo innerhalb eines Vormittags die volle Aufmerksamkeit ihrer Klasse. Keine Spur mehr von der langweiligen Cléo ohne Busen und Lidstrich, die sich für nichts als ihr Tanzen interessiert, die weder raucht noch trinkt, sich bei Auchan nie beim Klauen erwischen lässt, keinen Jungen im Visier hat.
Cléo erzählt von der Stiftung, genießt die aufgerissenen Augen und die vielen Fragen. Am nächsten Tag winkt ein Trio Achtklässlerinnen sie in der Pause heran: Sie ist doch Cléo? Wie viel gibt es bei dem Stipendium? Geht das auch mit Sport?
Cléo wird sogar von den weniger leicht zu Beeindruckenden gegrüßt, den Mädchen aus der Neunten, deren hochhackige Absätze durch die Korridore hallen; wenn sie gnädigerweise am Unterricht teilnehmen, kritzeln sie Jungennamen auf ihre Heftränder, die Lehrer seufzen über dem Klassenbuch, schon wieder ein Fehltag, ihre Zigaretten zünden sie lässig mit zugekniffenen Augen an.
Die wenigen Skeptikerinnen kräuseln die Lippen: Irgendwann findet Cléo sich nackt in einer Zeitschrift wieder, das passiert jeden Tag. So ein Quatsch, protestiert eine andere. Cathy ist eine Frau! Kein alter Perverser!
Als wären sie ihr selbst begegnet, wiederholen sie diesen Namen, zu dem sie nur die groben Umrisse kennen, vom langen Mantel bis zu den mahagonibraunen Strähnen, Cathy. Cléo, auf wundersame Weise verwandelt, ist die Heldin einer Geschichte, von der die Mädchen jeden Morgen die Fortsetzung hören wollen, in einer Traube um sie geschart wie bei einer Hochzeit, einer Taufe. Hast du was von Cathy gehört?
Beim Frühstück mustert ihre Mutter sie, vom Pferdeschwanz bis zu den Turnschuhen, die Cléo für den Fototermin ausgesucht hat: perfekt. Die ruhige Straße, in der Cathy parkt, gehört zu einem Paris der schlohweißen Pensionäre in beigen Trenchcoats. Das Wohngebäude ist anmutig wie ein Museum, diese Balkons, die Säulen, die Marmorhalle mit Parkettboden, darauf ein tannengrüner Teppich. Der enge Aufzug hickst beim Halten, Cathy schreckt zusammen wie ein Kind: Alles in diesem Viertel riecht uralt!
In der Wohnung geschlossene Läden, die Vorhänge zugezogen. Ein runder Tisch, ein paar Stühle, ein aufgerollter Teppich wie bei einem Umzug. Cathy leert einen Aschenbecher, schimpft, das hätten sie ja wirklich aufräumen können.
Sie hat eine Engelsgeduld, redet Cléo gut zu, als sie sich »voll hässlich« findet auf den Polaroidfotos, die Cathy ihr nach und nach zeigt. Sie muss sich einfach nur entspannen.
SICH ENTSPANNEN: sich innerlich von den Ursachen für Ängste, einer nervösen oder intellektuellen Spannung befreien, entkrampfen, Konflikte und Aggressivität ablegen.
Der Hundert-Franc-Schein überrascht Cléo und macht sie ebenso verlegen: Es ist ja nicht klar, ob sie angenommen wird, und ihre Eltern wollen doch keine Schulden machen …
Das ist keinesfalls ein Vorschuss für das Stipendium, lediglich eine Entschädigung für ihre Zeit, erklärt Cathy. Und man sagt auch nicht »bezahlen«, sondern »entlohnen«.
Aber das hier — Cathy holt aus einer rosa Plastiktüte ein smaragdgrünes Trikot — ist ein Geschenk.
Ihr Vater pfeift durch die Zähne wie ein junger Mann, als Cléo den Schein aus der Tasche zieht, seine Kleine ist ein Star! Lange betrachtet er die Polaroids, die Cathy ihr geschenkt hat: Schon richtig, das ist seine Cléo, ganz natürlich. Davon könnten sie doch eines der Großmutter schenken.
Cléo besteht darauf, zum Abendessen das Trikot zu tragen, ihre Mutter besieht die Nähte und ist beeindruckt: Repetto ist halt doch etwas anderes als Carrefour. Aber man braucht eben das nötige Kleingeld.
Zwei Tage später ruft Cathy wieder an und schlägt vor, Cléo am Mittwochmittag zum Essen einzuladen, um zu reden, Cléos Vater unkt: Wenn das mal nicht nach schlechten Nachrichten klingt.
Cléo sitzt gegenüber von Cathy in dem Pariser Lokal mit all den Stammgästen an den Wänden: Alain Delon, Christie Brinkley, Brooke Shields. Cléo, dreizehn Jahre, vier Monate und elf Tage, deutet mit dem Finger auf eine Fernsehmoderatorin am Nachbartisch, umgehend wird sie von Cathy mit einem Das gehört sich nicht zurechtgewiesen. Cléo nickt, obwohl sie nicht wirklich begreift, was Cathy meint, wenn sie beteuert, eine Künstlerin müsse offen sein. Nicht verklemmt.
Wenn Cléos Bewerbung angenommen wird, wird sie vor den Juroren ihre Reife beweisen müssen. Ihnen zeigen, was in ihr steckt.
Cléo nickt, obwohl sie wieder nicht wirklich begreift, was Cathy meint, nur, dass diese Worte eine Grenze zwischen ihren Eltern und ihr markieren. Und welch ein Glück, auf der guten, der schönen Seite der Grenze zu stehen. Cléo, von diesem Moment an hoffnungslos verliebt in die Kulisse ihres neuen Lebens: die schwere, makellos reine Tischdecke, gestärkt wie ein Leintuch im Landhausstil, die Beflissenheit des Kellners, Cathys Manieren, die sie zu kopieren versucht: die kleine Gabel für die Scheibe Räucherlachs, die Lippen mit der granatrot umrandeten Serviette abtupfen. Die wohlgesinnten Blicke zweier Männer, die Cathy begrüßen, sie bleiben an ihr hängen, Cathy sei immer in so entzückender Begleitung.
Cléo im Schneidersitz auf ihrem Bett, wo sie abends ihrem Tagebuch schwört, sie werde sich »gewachsen« zeigen. Warum ausgerechnet sie, 1,68 Meter, kastanienbraunes Haar, nussbraune Augen? Und warum eigentlich nicht sie?
Einer der einflussreichsten Juroren hat ihre Bewerbung gelesen und will sie kennenlernen! Cathy verspricht Cléos Mutter, während des Gesprächs bei ihr zu bleiben.
Der Mann, der ihnen die Wohnungstür öffnet, wirkt älter als ihr Vater; Marc spricht sie im bedächtigen Tonfall eines Oberlehrers an: Viele junge Mädchen überschlagen sich gleich vor Begeisterung, sobald sie die erste Auswahl bestehen. Ja, Cathy entdeckt Potenziale, und er hat sich zu vergewissern, dass die Projekte auch das gewisse Etwas besitzen.
Was glaubt sie Besonderes zu haben?