Immer wenn ich dieses Lied höre - Lola Lafon - E-Book
SONDERANGEBOT

Immer wenn ich dieses Lied höre E-Book

Lola Lafon

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Dieses Buch bringt Anne Frank zurück in die Literatur. Eine außergewöhnliche Leistung.« Elle.

Lola Lafon hat eine Nacht allein im ehemaligen Versteck der Familie Frank in Amsterdam verbracht. Sie geht von Raum zu Raum, lauscht dem Echo derer, die dort ausharren mussten, und spürt der Dunkelheit nach. Was sie findet, ist nicht nur die Geschichte Anne Franks, sondern auch die Geschichte ihrer eigenen Familie. Selbst zum verbindenden Element geworden, tastet sich Lola Lafon immer weiter vor. Ein beeindruckender dokumentarischer Roman, der gegen das Vergessen anschreibt und etwas Neues erschafft. 

»Ich stellte mir die Nacht als eine Zeit der Stille vor. Ich stellte mir vor, dass sie die Abwesenheit von Anne Frank aufnehmen würde. Aber ich habe mich geirrt. Die Nacht wurde bewohnt, von Lichtreflexen erhellt; im Herzen des Hinterhofs lauerte eine Dringlichkeit, die es zu finden galt. « Lola Lafon.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

In ihrer Nacht im Anne-Frank-Haus in der Prinsengracht 263 begibt sich Lola Lafon mit großer sprachlicher Eleganz und Sensibilität auf die Suche nach dem Menschen hinter der Ikone Anne Frank. Wer war sie als Schriftstellerin? Wer war das Mädchen, das jeder vor Augen hat und über das kaum jemand etwas weiß? Umsichtig bewegt sich Lola Lafon durch die rekonstruierten Räume des ehemaligen Verstecks. Stück für Stück beleuchtet sie die wechselvolle Publikationsgeschichte des Tagebuchs und hinterfragt die posthume Vereinnahmung des weltberühmten Mädchens. Auf der Suche nach Anne Frank stößt sie aber auch auf ihre eigenen Erinnerungen und ihre Familiengeschichte. Denn als Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden ist Lola Lafon persönlich betroffen. Konfrontiert mit ihrer eigenen Wurzellosigkeit, steht sie auf der Schwelle des Zimmers, in dem das berühmte Tagebuch geschrieben wurde, und gibt uns eine Perspektive von unschätzbarem Wert.

Über Lola Lafon

Lola Lafon wuchs in Sofia, Bukarest und Paris auf. Nach einer kurzen Karriere als Tänzerin widmete sie sich dem Schreiben und Singen. Heute arbeitet sie erfolgreich als Journalistin, Schriftstellerin und Musikerin in Paris. »Immer wenn ich dieses Lied höre« löste in Frankreich eine Welle der Begeisterung bei Kritik und Publikum aus und wurde mehrfach ausgezeichnet. 

Elsbeth Ranke studierte Romanistik und Angewandte Sprachwissenschaft und übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Jean Rouaud, Frédéric Lenoir, George Sand, E. O. Wilson, Dave Goulson und Hélène Beauvoir. 2004 erhielt sie den André Gide-Preis.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Lola Lafon

Immer wenn ich dieses Lied höre

Im Versteck von Anne Frank

Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Buch lesen

Dank

Impressum

»Die Menschen sind mitschuldig an allem, was sie gleichgültig lässt.«

George Steiner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche

»Schau’ auf das Seiende, obgleich es abwesend ist: Für das geistige Auge ist es da auf zuverlässige Weise.«

Parmenides, Sein und Welt. Die Fragmente

Da ist sie. Eine Gestalt am Fenster, aus dem Schatten, ein aufgewecktes kleines Mädchen. Sie beugt sich vor, die Hand auf dem Geländer, angelockt wahrscheinlich vom murmelnden Lachen auf der Straße: ein eleganter Aufzug aus Satinkleidern und dunklen Anzügen.

Sie dreht sich um, scheint jemanden zu rufen: eine Hochzeit, komm, komm schauen. Nachdrücklich winkt sie, voller Ungeduld, noch einmal ruft sie, jetzt komm schon, schnell. Das ist so schön, die schillernden Stoffe, die schimmernden Frisuren. Da ist sie, im zweiten Stock eines ganz normalen Wohnblocks, eine kleine Gestalt, die dank eines zufälligen Kameraschwenks in die Geschichte eintritt.

Sie lebt, sie zappelt, wo man sie sonst doch nur reglos auf Schwarzweißfotos kennt. Sie ist zwölf Jahre alt. Vier bleiben ihr noch zu leben.

Es sind die einzigen bewegten Bilder von Anne Frank. Stumme Bilder, aus einem kurzen Amateurfilm von 1941, gedreht vermutlich von Bekannten des Brautpaars. Sieben Sekunden Leben, kaum ein Wimpernschlag.

So viel Liebe zu diesem jüdischen Mädchen, das nicht mehr ist. Das einzige jüdische Mädchen, das so irrsinnig geliebt wird. Anne Frank, imaginäre Schwester von Millionen Kindern, die, hätte sie überlebt, betagt wie eine Großmutter wäre; Anne Frank, der ewige Backfisch, heute könnte sie meine Tochter sein, behält man doch ewig das Alter, in dem man aufhört zu leben.

Anne Frank, alle Welt kennt sie und weiß doch kaum etwas von ihr. Ein Bild: Ein blasses Mädchen sitzt, mit einer braven Spange im Haar, an ihrem kleinen Schreibtisch, einen Stift in der Hand. Ein Symbol, aber wofür eigentlich? Für die Pubertät? Die Schoah? Das Schreiben?

Wie soll man es nennen, ihr berühmtes Tagebuch, das jedes Schulkind gelesen hat und an das sich kein Erwachsener richtig erinnert? Einen Zeugenbericht, ein Testament, ein Werk? Das Werk einer Heranwachsenden, die eingesperrt ist, um nicht zu sterben, deren Worte keine Ruhe geben.

Das Werk eines Mädchens, das zum Verreisen nur eine einzige Treppe hinauf- und hinuntersteigen kann, weniger als vierzig Quadratmeter Auslauf, siebenhundertsechzig Tage lang.

Anne Frank, der Lieder gewidmet sind, Gedichte und Romane, Requiems und Symphonien. Ihr Gesicht prangt auf Briefmarken, Tassen und Postern, ihr Porträt wird auf Wände gesprüht und auf Medaillen geprägt. Ihr Name schmückt die Fassaden Hunderter Schulen und Bibliotheken, 1995 wurde er einem Asteroiden verliehen. Ihre Schriften gehören seit 2009 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO, an der Seite der Magna Carta.

Anne Frank, die im Sommer 2021 in den Niederlanden Schlagzeilen macht. In Amsterdam recken Corona-Demonstranten ihr Porträt in die Luft und skandieren: »Freiheit, Freiheit.«

Anne Frank, verehrt und mit Füßen getreten.

Am 18. August 2021 habe ich eine Nacht im Hinterhaus des Anne-Frank-Museums verbracht.

Ich war da, um den Raum am eigenen Leib zu spüren, denn die Zeit ist nicht mehr spürbar. Man kann sich nicht vorstellen, wie schwer die Stunden wogen, wie zäh die Wochen sich schleppten. Wie soll man sich fünfundzwanzig Monate Leben zu acht in diesen winzigen Räumen ausmalen?

So werde ich also die ganze Nacht von einem Raum zum anderen gehen. Vom Zimmer ihrer Eltern zum Badezimmer, vom Dachboden zum kleinen Wohnzimmer, ich werde die Schritte zählen, die Anne Frank zur Verfügung standen, so wenige Schritte.

Wie soll man sie nennen? Ich sage Anne, aber bei dieser falschen Vertraulichkeit ist mir unwohl. Ich kann nicht Anne sagen, irgendetwas hält mich davon ab, und im Lauf meiner Nacht wird sich das darin konkretisieren, dass ich unmöglich ihr Zimmer betreten kann. Also sage ich Anne Frank, wie bei einem Namensaufruf, wie man sich die einstige Klassenbeste in einem phantomhaften Gymnasium ins Gedächtnis ruft. Zweieinhalb Silben.

Die Nacht stellte ich mir vor wie eine Einkehr, eine Stille. Ich malte mir aus, die Nacht würde sich eignen, die Abwesenheit von Anne Frank zu erfahren. Ich machte mich bereit, mich auf die Leere einzustimmen, sie aufzunehmen.

Ich täuschte mich. Die Nacht war bewohnt, von Spiegelungen durchzogen; im Herzen des Hinterhauses verbarg sich noch etwas Drängendes, das es zu finden galt.

In diesem Mai 2021 ist Amsterdam, wie Paris, noch halb im Lockdown. Das Gespräch mit dem Museumsdirektor Ronald Leopold wird am Bildschirm stattfinden. Dieses Gespräch ist entscheidend; nur er kann mir erlauben, eine Nacht im Hinterhaus zu verbringen. Wir sprechen von diesem und jenem, einfach um uns etwas kennenzulernen. Zwar freut sich der Direktor, welchen Widerhall Anne Franks Geschichte weiterhin findet, aber er bedauert, dass diese Verehrung für das Mädchen ihr Werk in den Schatten stellt, das Werk eines literarischen Wunderkinds.

Manche kommen seit Jahrzehnten jedes Jahr in ihr Zimmer und halten Einkehr. Sie lassen Briefe zurück, Stofftiere, Gebetsketten, Kerzen. Gar nicht so selten weigert sich eine Museumsbesucherin, das Hinterhaus zu verlassen, weil sie sich für die Wiedergeburt des Mädchens hält.

Wie man sich derart identifizieren kann, ist dem Direktor ein Rätsel. Auch sie beim Vornamen zu nennen, wie es manche seiner Kollegen tun, findet er befremdlich.

Natürlich schafft die tägliche Arbeit im Museum eine Nähe zu ihr, aber Anne Frank ist weder eine Verwandte noch eine Freundin.

Übrigens, Leopold will mich keineswegs verhören, aber er wüsste schon gerne: Was bedeutet das Mädchen für mich?

Ich tue so, als beruhte mein Projekt auf etwas Rationalem. Ich nehme einen gleichgültigen Ton an, spreche von meiner Arbeit, den jungen Mädchen, um die meine Romane kreisen: Alle haben damit zu kämpfen, welchen Raum man ihnen lässt. Und alle haben erlebt, wie ihre Worte uminterpretiert wurden, umgeschrieben von Erwachsenen.

Ich improvisiere.

Ich traue mich nicht die Wahrheit zu sagen, weil ich befürchte, Ronald Leopold könnte mich für eine Schwärmerin halten, besessen von Anne Frank. Ich kann ihm nicht erklären, dass dieses Schreibprojekt ein Wunsch ist, den ich selbst nicht verstehe, er verfolgt mich, seit er vor ein paar Wochen Gestalt angenommen hat.

Eines Nachts im April tauchen zweieinhalb Silben aus meiner Kindheit auf, vielleicht habe ich sie im Schlaf ausgesprochen. Anne. Frank.

An den Tagen davor habe ich nicht an sie gedacht, nichts über sie gelesen. Ich erinnere mich kaum noch an das Tagebuch. Ihr Name drängt sich der Nacht auf. Anne Frank ist der Gegenstand meines Erwachens, das Thema, das sich in den nächsten Tagen durch nichts zerstreuen lässt. Sie ist im Einklang mit etwas, was mir noch nicht bewusst ist.

Ich kann dem Direktor nicht gestehen, dass ich nicht weiß, was sie für mich bedeutet, diesen Text aber unbedingt schreiben muss.

Sogar über den Bildschirm muss mein Unbehagen greifbar sein. Ronald Leopold beruhigt mich, ich brauche ihm gar nicht sofort zu antworten. Am selben Abend schicke ich ihm eine Mail. Natürlich gibt es »objektive« Gründe für meinen Wunsch, dieses Projekt anzugehen. Wie so viele Kinder habe auch ich von meinen Eltern das Tagebuch geschenkt bekommen, ich habe zu schreiben begonnen, um es ihr gleichzutun. Meine Mutter wurde als Kind im Krieg versteckt. Ich bin Jüdin. Aber ich glaube, das alles ist belanglos, oder zumindest reicht es nicht als Erklärung für meinen Willen, diesen Text zu schreiben. Ich beende meine Mail mit einer Pirouette, zitiere Marguerite Duras: »Wenn man etwas von dem, was man schreiben wird, wüsste, bevor man es tut, bevor man schreibt, würde man nie schreiben. Es wäre nicht der Mühe wert.« Die Antwort folgt auf dem Fuße: Ronald Leopold schlägt mir ein virtuelles Treffen mit einer inzwischen emeritierten Literaturwissenschaftlerin vor.

Laureen Nussbaum ist eine der letzten lebenden Personen, die die Franks gut kannten, und außerdem ist sie eine Pionierin: Seit den 1990er-Jahren erforscht sie das Tagebuch als literarisches Werk.

Vom Bildschirm lächelt mir eine elegante, lebhafte Dame entgegen. Laureen spürt, was ich so dringend wissen möchte. Seit über sechzig Jahren stellt man ihr immer dieselbe Frage: Wie war sie als Kind, das Mädchen, das Laureen immer noch ihre »kleine Nachbarin« nennt?

»Anne war … vorlaut. So vorlaut! Sie hasste es, wenn sie Unrecht hatte. Die Erwachsenen fanden sie anstrengend, aber auch hinreißend. Ich war vierzehn, Anne elf. Für mich war sie die Kleine, die Schwester meiner Freundin Margot. Beide wurden von ihrem Vater sehr verwöhnt. Er war für damalige Begriffe ein moderner Mann: Die Bildung seiner Töchter lag ihm sehr am Herzen, sie sollten sich ihr eigenes Bild von der Welt machen. Sehr viel haben sie davon ja nicht gesehen …«

Wie die Franks müssen Laureens Eltern 1933 nach dem Sieg der NSDAP aus Deutschland fliehen.

Sie emigrieren in die Niederlande: Im Ersten Weltkrieg ist das Land neutral geblieben.

In Amsterdam treffen die beiden Familien am Merwedeplein aufeinander, wo viele Flüchtlinge aus Mitteleuropa unterkommen.

»Nach wenigen Monaten sprachen Margot, Anne und ich fließend Niederländisch. Wir spielten ohne Unterschied mit evangelischen und katholischen Kindern. Wir hatten das Gefühl, eine Zuflucht gefunden zu haben.«

Am 15. Mai 1940 kapitulieren die Niederlande.

Die Franks versuchen, die USA zu erreichen, aber die amerikanischen Behörden verlangen zu viele Papiere, unmöglich, sie rechtzeitig zusammenzubekommen. Die Grenzen schließen.

»Ganz allmählich griffen die antijüdischen Maßnahmen um sich. Wir weigerten uns, uns davon berühren zu lassen, wir mussten den Kopf hoch halten. Es war uns verboten, mit der Bahn zu fahren oder ein Fahrrad zu besitzen? Dann gingen wir eben zu Fuß. Wir durften nicht mehr ins Kino, ins Konzert? Egal, dann musizierten wir eben zu Hause. Im Sommer 1941 erstellten die Gymnasialdirektoren Listen mit Schülern ›jüdischen Bluts‹. Wir mussten uns im Klassenzimmer abseits setzen. Kurz danach wurden wir der Schule verwiesen. Margot war am Boden zerstört, sie wartete vor dem Schulhaus auf ihre Klassenkameradinnen, so sehr fehlten sie ihr.

Die jüdischen Kinder durften nicht mehr in die Schule? Wenn’s nur das war, es gab sehr gute jüdische Lehrer, dann eröffneten wir eben unsere eigenen Schulen.

Wir klammerten uns an jede noch so kleine Freude. Otto lieh Filme aus, die er seinen Töchtern vorführte, Anne bastelte Eintrittskarten und schickte sie ihren Freundinnen. Alles war perfekt nachgemacht: die Uhrzeit, die Platznummer.«

Laureen schiebt ihren Stuhl näher an den Schreibtisch, blättert ein Buch durch – auf dem Cover erkenne ich kurz das Profil von Anne Frank –, sie rückt ihre Brille zurecht, räuspert sich:

Samstag, 20. Juni 1942

Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3–5 Uhr einkaufen, außer in Läden, auf denen jüdisches Geschäft steht; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter, und wir durften dies nicht und das nicht. Jacque sagt immer zu mir: »Ich traue mich nichts mehr zu machen, ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.«

»Diese Seite in ihrem Tagebuch ist die erste, die von anderen Dingen berichtet als ihrem Schulalltag … Ich erinnere mich noch an ein anderes Verbot«, ergänzt Laureen. »Die Juden durften keine Tauben mehr besitzen. Die Nazis dachten an alles … Der Judenstern wurde im Januar 1942 obligatorisch. Es war so eine Demütigung, als Aussätzige gekennzeichnet zu werden. Ich traute mich nicht mehr nach draußen. Es gab Razzien, im Herzen Amsterdams verhafteten die Nazis Hunderte Juden, zwangen sie, auf die Knie zu gehen und … Dinge zu tun, die … entwürdigend waren. Man wusste, dass sie sie nach Mauthausen deportierten. Alle Familien hatten Angst, einen sogenannten ›Aufruf‹ zu bekommen. Den schickte die Gestapo an junge Juden zwischen 16 und 20 Jahren. Neun Tage hatten sie Zeit, um sich bei der Polizei zu melden. Margot und ich waren gerade 16 geworden.«

Am Montag, den 6. Juli 1942 erscheint Margot nicht zum Unterricht. Besorgt beschließt Laureen, zu ihrer Freundin nach Hause zu gehen. Die Tür zur Wohnung der Franks steht offen. Die Räume sind leer, die Betten abgezogen.

Tags zuvor hat ein Gestapo-Mann bei Franks geklingelt und den gefürchteten Aufruf gebracht: Margot muss ein paar Sachen packen und bei dem Transport erscheinen, der sie in ein »Arbeitslager« bringen wird.

Laureen erinnert sich zwar an ihre Bestürzung, aber überrascht hat die Abreise von Familie Frank sie nicht.

»Mister Frank sagte immer häufiger, er würde nicht abwarten, bis die Gestapo sie holen käme. Alle dachten, sie wären in die Schweiz geflohen. Niemals hätte ich mir ausmalen können, dass Margot und Anne so nah waren, in derselben Stadt wie ich …«

Bis heute nennt Laureen ihn Mister Frank, diesen eleganten Herrn, Direktor einer kleinen Marmeladenfabrik, der sie als Kind mit seiner Bildung und seiner gelassenen Art so beeindruckte.

Ein liberaler Jude mit modernen Erziehungsmethoden: Gleich nach ihrer Ankunft in den Niederlanden meldet er seine Jüngste im Montessori-Kindergarten am Merwedeplein an.

Ein deutscher Jude, Heeresoffizier im Ersten Krieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Vielleicht, wahrscheinlich denkt er, das werde ihn schützen. Aber für die Nazis ist Mister Frank zuerst Jude und dann Deutscher.

Laureen sollte ihn erst im Juni 1945 wiedersehen – unkenntlich, ausgemergelt und erschöpft. Ein Überlebender von Auschwitz-Birkenau, ein Witwer. Edith ist am 6. Januar 1945 in Auschwitz gestorben.

Ich nehme Laureen Nussbaum nicht auf, mache mir lieber Notizen. Otto Franks furchtbarer Leidensweg ist in meinem Heft eine Abfolge von Zahlen. Fünf Monate wandert er, irrt er umher und versucht, zurück nach Amsterdam zu gelangen.

Am 27. Januar 1945 erreicht die Rote Armee das Vernichtungslager. Otto ist so schwach, dass er nicht weg kann, bis er wieder etwas zu Kräften gekommen ist. Im Februar toben in weiten Teilen Europas noch die Kämpfe; es wäre gefährlich, jetzt zu reisen. Als Otto Frank endlich den Heimkehrerschein erhält, muss er wieder warten, die polnischen Straßen sind zerstört.

Am 5. März erreicht Otto Frank Kattowitz. Dort bleibt er drei Wochen. Am 1. April nimmt er den Zug nach Odessa, die Fahrt dauert beinahe vier Wochen. Von dort schafft er es mit anderen Geretteten auf ein Schiff nach Marseille. In Frankreich findet er einen Zug ins niederländische Roermond. Am 2. Juni bringt ihn ein Auto von Roermond nach Amsterdam.

Als er an einem Sonntag bei Loreens Eltern an der Tür klingelt, hat »Mister Frank« weder eine Unterkunft noch eine Familie noch die ruhige Selbstsicherheit, die sie an ihm kannte. Ein Verirrter unter den Lebenden.

Er spricht nur von ihnen, er muss seine Töchter wiederfinden. Er weiß, dass sie nach Bergen-Belsen deportiert wurden. Er klammert sich an ihre Jugend. Bestimmt werden sie überlebt haben.

In den niederländischen Zeitungen lässt er diese Annonce drucken: »Bitte um Informationen zu Margot Frank, 19 Jahre, und Anne Frank, 16 Jahre, im Januar im Transport nach Bergen-Belsen. Tel: 37 059.«

Jeden Morgen steht er vor dem Büro des Roten Kreuzes, sobald es öffnet. Er zieht ein Foto aus der Tasche. Vielleicht haben Sie Nachricht von Margot, von Anne?

Er klappert die Krankenhäuser ab. Haben Sie Anne und Margot gesehen? Er läuft durch die Bahnhöfe, in denen allmählich die wenigen Überlebenden aus Bergen-Belsen eintreffen. Er spricht sie an, jeder zeigt er das Foto seiner Töchter.

Wenn Mister Frank sonntags zu Laureens Eltern zum Essen kommt, spricht er im Indikativ, nie im Konjunktiv. Er sagt: »Wenn ich sie gefunden habe«.

Am 18. Juli 1945 hört Otto Frank zu suchen auf. Der Brief, den er gerade erhalten hat, ist kurz, fünf Zeilen von einer jungen Krankenschwester aus Bergen-Belsen, Lientje Brilleslijper.

Lientje wurde mit ihrer Schwester Janny deportiert, beide waren im Widerstand tätig; sie wurden in den Lagern Westerbork, Auschwitz und dann Bergen-Belsen festgehalten. Wie die Schwestern Frank.

Lientjes Brief bestätigt den Tod von Ottos beiden Töchtern.

Laureen entschuldigt sich, sie steht auf und zieht sich zurück, verschwindet vom Bildschirm. Ich höre ein Plätschern, dann kehrt die zierliche Gestalt mit einem Glas Wasser zurück.

Ich fürchte, dass unser Gespräch sie anstrengt, und wir vereinbaren, uns an einem anderen Abend noch einmal zusammenzurufen.

Als ich gerade die Verbindung trennen möchte, bedeutet mir Laureen, noch zu bleiben. Sie würde mir gerne ein bisschen vom Tagebuch



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.